Anarchische Wälder : Henry David Thoreaus "Walden; or, Life in the woods" und Ernst Jüngers "Der Waldgang"

  • Der Wald ist eines der wichtigsten Landschaftselemente im Kulissenfundus der Literatur - mit entsprechender Bedeutungsvielfalt: Die christlich-abendländische Tradition sieht ihn als Ort der Finsternis, der durch das göttliche Licht erhellt werden muss. In den berühmten Eingangsversen der 'Divina Commedia' erscheint er als rauer, wilder und dunkler Raum, Dantes "selva oscura" ist Stätte des Verwirrtseins und Zeichen irdischer Sündhaftigkeit. Aufgrund seiner transzendenten Unermesslichkeit jenseits rein geographischer Dimensionen kommt Gaston Bachelard in seiner 'Poetik des Raumes' zu dem Schluss: "Der Wald ist ein Seelenzustand". Als Metapher für die Seele des Menschen ist der Wald nicht nur in der Romantik beliebt, als Ausdruck des kollektiven Unbewussten interessiert er auch die Psychoanalyse, etwa in Gestalt der Archetypenlehre C. G. Jungs. In seiner Studie 'Masse und Macht' rechnet Elias Canetti den Wald zu den "Massensymbolen", mit durchaus unangenehmen Konnotationen für das Individuum. Da jeder einzelne Stamm, aus denen sich dieser zusammensetzt, fest verwurzelt und unverrückbar in der Erde stehe, sei "der Wald zum Symbol des Heeres geworden: ein Heer in Aufstellung, ein Heer, das unter keinen Umständen flieht; das sich bis zum letzten Mann in Stücke hauen läßt, bevor es einen Fußbreit Boden aufgibt". In diametralem Gegensatz zu diesem Szenario der Bedrohung des Einzelnen durch die Masse zusammengerotteter Bäume erscheint der Wald jedoch gleichermaßen als Ort der Freiheit, als Abbild der ursprünglichen Natur jenseits der einengenden menschlichen Zivilisation, als fruchtbare Wildnis, in der sich das Individuum frei entfalten kann. In dieser Bildtradition stehen zwei Texte, die ungefähr im Abstand von 100 Jahren und auf zwei verschiedenen Kontinenten entstanden sind: Henry David Thoreaus 'Walden' (1854) und Ernst Jüngers 'Der Waldgang' (1951). Wenn diese beiden in ihren historischen Voraussetzungen so unterschiedlichen Essays im Folgenden miteinander verglichen werden, so geschieht dies deshalb, weil sich in den Werken Jüngers und Thoreaus die einschlägige Rede von der Freiheit des Waldes mit einer dezidiert individualanarchistischen Programmatik verbindet, die dieser Raumsymbolik eine neue Bedeutungsdimension verleiht, die bisher in der einschlägigen topologischen Forschung unterbelichtet geblieben ist.

Download full text files

Export metadata

Additional Services

Share in Twitter Search Google Scholar
Metadaten
Author:Rainer Barbey
URN:urn:nbn:de:hebis:30:3-441736
ISSN:1432-5306
Parent Title (German):Komparatistik : Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft
Publisher:Aisthesis Verlag
Place of publication:Bielefeld
Document Type:Article
Language:German
Date of Publication (online):2017/04/27
Year of first Publication:2015
Publishing Institution:Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg
Creating Corporation:Deutsche Gesellschaft für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft
Release Date:2017/04/27
GND Keyword:Jünger, Ernst; Der Waldgang; Thoreau, Henry David; Walden, or life in the woods; Wald <Motiv>; Anarchie <Motiv>
Volume:2014/2015
Page Number:16
First Page:123
Last Page:138
HeBIS-PPN:424664178
Dewey Decimal Classification:8 Literatur / 80 Literatur, Rhetorik, Literaturwissenschaft / 800 Literatur und Rhetorik
Sammlungen:CompaRe | Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft
CompaRe | Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft / Aisthesis Verlag
BDSL-Klassifikation:17.00.00 20. Jahrhundert (1914-1945) / BDSL-Klassifikation: 17.00.00 20. Jahrhundert (1914-1945) > 17.18.00 Zu einzelnen Autoren
Zeitschriften / Jahresberichte:Komparatistik : Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft / Komparatistik : Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft ; 2014/2015
:urn:nbn:de:hebis:30:3-441603
Licence (German):License LogoDeutsches Urheberrecht