Die "tendresse amoureuse" : zur Liebesdidaktik des empfindsamen Theaters

  • In seinem überaus einflussreichen mehrbändigen Standardwerk mit dem schlichten Titel Empfindsamkeit von 1974 ging Gerhard Sauder davon aus, dass "die Empfindsamkeit eine spezifisch bürgerliche Tendenz [habe] und im Zusammenhang mit der Emanzipation des Bürgertums im 18. Jahrhundert zu sehen sei." Mit dieser Definition orientierte sich Sauder an der alten These Fritz Brüggemanns vom "Anbruch der Gefühlskultur in den fünfziger Jahren" des 18. Jahrhunderts, im Zuge deren "der bürgerliche Tugendbegriff mit dem sentimentalen Gefühl durchsetzt" werde. Dass diese These einer genuin bürgerlichen Gefühlskultur problematisch ist, verdeutlicht ein Blick auf die Kategorie der Zärtlichkeit, die in beiden Studien eine zentrale Funktion innehat. Sie kennzeichnet bei Sauder eine erste Phase der Empfindsamkeit bzw. die "erstmals deutlich zutage tretende empfindsame Tendenz", wobei Sauder als "akzeptable Datierung" dieser ersten Phase einer zärtlichen Empfindsamkeit im Anschluss an Brüggemann "das Jahrzehnt 1740-50" vorschlug. Dank neuerer französischer Studien zur Geschichte der Liebesehe (mariage amoureux) im Frankreich des frühen 16. und 17. Jahrhunderts, wie sie insbesondere die Historiker Jean-Louis Flandrin und in der Folge Maurice Daumas vorlegten, wissen wir heute um die Problematik dieser für die Forschung zum 18. Jahrhundert äußerst einflussreichen Datierungen Sauders. Flandrin untersuchte die Positivierung der innerehelichen Sexualität zu Beginn des 17. Jahrhunderts, die sich um diese Zeit zunehmend von der Augusteischen Gnaden- und Sündenlehre zu lösen und zu emanzipieren begann. Im Anschluss an Flandrin entwickelte Daumas seine Genealogie einer tendresse amoureuse, der Entstehung von durch zärtliche Liebe geprägten ehelichen Verbindungen zwischen den Geschlechtern, die er auf den gleichen Zeitraum datierte. Ab Mitte des 17. Jahrhunderts fokussieren Abhandlungen über die Ehe also weniger auf die Vorschriften sexueller Praktiken als vielmehr die emotionale Beziehung zwischen Mann und Frau. Verschiedene Faktoren verbessern das Bild der Ehe, die insbesondere gegen Ende der Herrschaft von Louis XIII. (1601-1643) zunehmend zu einer "Liebe als Passion" im Sinne einer Liebesehe wird, also unter das Vorzeichen der Zärtlichkeit rückt.

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Metadaten
Author:Burkhard Meyer-Sickendiek
URN:urn:nbn:de:hebis:30:3-494171
URL:http://www.passagen.at/cms/index.php?id=314
ISSN:0043-2199
ISSN:2510-7291
Parent Title (German):Weimarer Beiträge : Zeitschrift für Literaturwissenschaft, Ästhetik und Kulturwissenschaften
Publisher:Passagen Verlag
Place of publication:Wien
Document Type:Article
Language:German
Year of Completion:2019
Year of first Publication:2014
Publishing Institution:Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg
Contributing Corporation:Klassik Stiftung Weimar
Release Date:2019/06/06
GND Keyword:Liebe <Motiv>; Empfindsamkeit; Drama; Theater
Volume:60
Issue:4
Page Number:16
First Page:521
Last Page:536
HeBIS-PPN:450680339
Dewey Decimal Classification:7 Künste und Unterhaltung / 79 Sport, Spiele, Unterhaltung / 792 Bühnenkunst
8 Literatur / 80 Literatur, Rhetorik, Literaturwissenschaft / 800 Literatur und Rhetorik
8 Literatur / 83 Deutsche und verwandte Literaturen / 830 Literaturen germanischer Sprachen; Deutsche Literatur
Sammlungen:Germanistik / GiNDok
CompaRe | Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft
Sammlung Musik, Theater, Film / Literatur zum Theater
Germanistik / GiNDok / Passagen Verlag
BDSL-Klassifikation:12.00.00 18. Jahrhundert / BDSL-Klassifikation: 12.00.00 18. Jahrhundert > 12.09.00 Empfindsamkeit
Zeitschriften / Jahresberichte:Weimarer Beiträge / Weimarer Beiträge 60.2014
:urn:nbn:de:hebis:30:3-493626
Licence (German):License LogoDeutsches Urheberrecht