Digitale Praxen und die Entwicklungsoffenheit des Sozialen

  • Das menschliche Leben erscheint heute als in vielfältiger Weise mit seiner Umwelt verbunden. Bio- und neurowissenschaftliche Forschungen über die Interaktionsweisen mit der Umwelt verändern dabei das Bild des Körpers von einem hierarchisch aufgebauten Organismus zu einem organisch-kognitiv-verteilten Netzwerk. Nicht zuletzt Forschungen zur künstlichen Intelligenz haben gezeigt, dass das menschliche Gehirn nicht isoliert betrachtet werden kann, sondern verkörpert, vernetzt und damit in einer wechselwirkenden Abhängigkeit zu Körpern steht (embedded und extended mind). Epigenetische Forschungen haben ebenfalls auf die Umweltabhängigkeit auch genetischer Prozesse verwiesen (Postgenomik) und damit auf komplexe Wechselwirkungen zwischen Biotischem und Abiotischem aufmerksam gemacht. Diese komplexen Wechselwirkungen und Umweltabhängigkeiten zwischen Lebendigem und Nicht-Lebendigem werden inzwischen zusehends zum Gegenstand menschlicher Selbstorganisation. Sie tauchen in veränderter Form in den Plänen zu den sogenannten Industrien 4.0 auf, wenn es darum geht, intelligente Umgebungen mit dem Menschen interaktiv zu vernetzen. Die hierfür notwendigen digitalen Datenmengen stehen aber nur zur Verfügung, wenn Menschen sich aktiv vernetzen. Die Entstehung digitaler Daten- körper wird dadurch zu einem essentiellen Bestandteil sozialer Teilhabe, wodurch Soziales zum entwicklungsoffenen und unbestimmten Prozess wird. Wie sich Menschen wann und wo vernetzen, ist nicht vorherbestimmt. Digitalisierung ist dabei, so die These der Arbeit, sich zur grundlegenden Praxis menschlicher Vernetzung zu entwickeln. Die Arbeit geht Digitalisierung aus einer Perspektive koevolutionärer Entstehungs- und Entwicklungszusammenhänge nach und zeigt, dass digitale Praxen zu einer neuen Form menschlicher Selbstorganisation weltweit geworden sind. Angesprochen wird damit, dass Digitalisierung nicht als etwas dem Menschen Äußerliches betrachtet werden kann, sondern in einen größeren kulturellen Entstehungszusammenhang eingebettet werden muss, der bis zu den Anfängen der Menschheit zurückreicht. Um dies zu veranschaulichen, werden in der Arbeit drei verschiedene Wissensformationen benannt, die sich jeweils in unterschiedlicher Art und Weise mit den aktuellen Veränderungen digitalisierter Lebenswelten auseinandersetzen. Die erste Wissensformation (Kapitel 2) benennt den Humanismus, der im Aufkommen neuer Medientechnologien eine Bedrohung für den Menschen sieht. Eine zweite Wissensformation (Kapitel 3) widmet sich dem „Ende des Humanismus“, indem Ansätze der Science and Technology Studies (STS), der Akteur-Network-Theory (ANT) und des Agentiellen Realismus von Karan Barad diskutiert werden. Mit einer „neuen Ökonomie für eine neue Menschheit“ wird eine dritte Wissensformation (Kapitel 4) benannt, die, von postoperaistischen Ansätzen ausgehend, die These eines „dritten“ oder „kognitiven Kapitalismus“ diskutiert. Hier geht es um die These des Zusammenfallens von Ökonomischem und Sozialem, aus dem neue offene Sozialformationen entstehen. Schließlich wird eine vierte Wissensformation (Kapitel 5) formuliert, die, ausgehend vom Ansatz einer Anthropologie des Medialen (AdM) und dem Modell der Erweiterung kultureller Kapazitäten (EECC) versucht, die als digitalen Wandel bezeichneten Veränderungen in einen größeren Zusammenhang zu stellen. Mit beiden Ansätzen kann schließlich gezeigt werden, dass sich Veränderungen menschlicher Selbstorganisation immer in der biologischen, individuellen, kulturellen und historisch-sozialen Entwicklungsdimension zugleich vollziehen. Dies lässt sich auch für die Prozesse der Digitalisierung zeigen. Nämlich, dass sich der Mensch als Teil der Natur in einem fortwährenden koevolutionären Prozess befindet. Weder Kultur, noch Soziales, noch Technologien sind unnatürlich. Sie können als „indirekte Biologie“, als „Künstliches“ oder als „Kultur der Biologie“ bezeichnet werden, die der Natur aber nie entkommen. Die Erweiterung kultureller Kapazitäten ist deshalb nicht als eine Ausdehnung des Menschen in die Natur hinaus zu verstehen, sondern bezeichnet die im Laufe der Menschheitsgeschichte komplexer werdenden Reichweiten und Zeittiefen menschlicher Selbstorganisation, die immer auf den drei Ebenen von Phylogenese, Ontogenese, Technogenese und der damit verbundenen Soziogenese basieren.

Download full text files

Export metadata

Additional Services

Share in Twitter Search Google Scholar
Metadaten
Author:Sebastian Sierra Barra
URN:urn:nbn:de:hebis:30:3-463244
Place of publication:Frankfurt am Main
Referee:Manfred FaßlerGND, Gisela WelzGND, Miriam Haidle
Document Type:Doctoral Thesis
Language:German
Date of Publication (online):2018/04/16
Year of first Publication:2018
Publishing Institution:Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg
Granting Institution:Johann Wolfgang Goethe-Universität
Date of final exam:2017/11/07
Release Date:2018/04/19
Tag:Digitalisierung; Koevolution
Page Number:168
HeBIS-PPN:428594670
Institutes:Sprach- und Kulturwissenschaften
Dewey Decimal Classification:3 Sozialwissenschaften / 30 Sozialwissenschaften, Soziologie
Sammlungen:Universitätspublikationen
Licence (German):License LogoDeutsches Urheberrecht