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Titel:Diagnosestrategien in der Allgemeinmedizin: Der Beitrag von deduktivem Hypothesentesten und getriggerten Routinefragen
Autor:Seidel, Judith
Weitere Beteiligte: Donner-Banzhoff, N. (Prof. Dr. ) MHSc
Veröffentlicht:2017
URI:https://archiv.ub.uni-marburg.de/diss/z2017/0207
URN: urn:nbn:de:hebis:04-z2017-02072
DOI: https://doi.org/10.17192/z2017.0207
DDC:610 Medizin
Titel (trans.):Diagnostic strategies in primary health care: the contribution of deductive hypothesis testing and triggered routine questions
Publikationsdatum:2017-03-23
Lizenz:https://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/4.0

Dokument

Schlagwörter:
Qualitative Sozialforschung, getriggerte Routinefragen, decision making, cues, CUE, Diagnose, Entscheidungsfindung, Entscheidungsfindung, hypothesis testing, Qualitative Methode, qualitative research, triggered routines, Cues, Hypothesentesten, Entscheidungsprozess, Allgemeinmedizin, general practice, Allgemeinmedizin, Diagnose, diagnosis, family medicine, Qualitative Methode

Zusammenfassung:
Hintergrund: Die Diagnosestellung ist eine der anspruchsvollsten kognitiven Aufgaben eines Arztes. In kurzer Zeit muss eine große Anzahl an diagnostischen Möglichkeiten evaluiert werden. Insbesondere in der Allgemeinmedizin kommt der Anamneseerhebung, die ohne technische Mittel auskommt, eine zentrale Bedeutung zu. Bisherige Untersuchungen zum diagnostischen Vorgehen fanden unter unrealistischen Bedingungen statt und postulierten vor allem ein hypothetiko-deduktives Vorgehen (Elstein et al. 1978). Demnach werden früh Hypothesen gebildet, die dann eine aktive hypothesen-geleitete Informationssuche strukturieren. Dieses Vorgehen ist als kognitiv hoch anspruchsvoll anzusehen. Es ist zu vermuten, dass es nicht in jedem Fall sinnvoll eingesetzt werden kann. Im Sinne einer „adaptiven Toolbox“ (Gigerenzer und Todd 1999) werden vermutlich weitere heuristische Fragestrategien durch Allgemeinmediziner genutzt. Die Rolle von Routinefragen als kognitive Strategie wurde in der bisherigen Forschung kaum beachtet und meist negativ formuliert. In der vorliegenden Arbeit werden getriggerte Routinefragen erstmals als ein positives diagnostisches Instrument formuliert und untersucht. Diese Routinefragen werden durch ein Symptom getriggert und evaluieren ein Organsystem ohne durch eine Hypothese geleitetet zu werden. Ziel der vorliegenden Arbeit war es die Rolle der kognitiven Strategien deduktives Hypothesentesten und getriggerte Routinefragen erstmals an realen empirischen Daten im allgemeinmedizinischen Setting zu untersuchen. Methoden: Es wurde eine Querschnittsstudie mit 12 Allgemeinmedizinern durchgeführt. Unabhängig vom Beratungsanliegen wurden 282 Konsultationen auf Video aufgezeichnet. 134 dieser Konsultationen enthielten mindestens eine diagnostische Episode. Insgesamt wurden 163 diagnostische Episoden ausgewertet. Nach jeder Konsultation reflektierten die Ärzte in einem halb-standardisierten Interview den vorangegangenen diagnostischen Prozess. Die Konsultationen und Interviews wurden transkribiert und anschließend mittels qualitativer und quantitativer Methoden analysiert. Der hierbei verwendete Kodierbaum basierte auf bereits publizierten Theorien, sowie Erfahrungswissen aus der Primärversorgung. Ergebnisse: Deduktives Hypothesentesten konnte nur in 39 % der diagnostischen Episoden identifiziert werden. Die entwickelten diagnostischen Hypothesen variieren je nach Situation zwischen sehr spezifisch und abstrakt. Bei der Hypothesenentwicklung und der Informationssuche spiegelten sich die Besonderheiten des allgemeinmedizinischen Settings stark wieder. Insbesondere konnte eine frühe Hypothesenentwicklung auf Basis von komplexem und vielschichtigem Kontextwissen identifiziert werden. Jeder teilnehmende Allgemeinmediziner nutzte getriggerte Routinefragen als diagnostische Strategie. Getriggerte Routinefragen konnten in 38% der diagnostischen Episoden identifiziert werden. Es fanden sich respiratorische, gastrointestinale, urogenitale und globale getriggerte Routinefragen. Die Fragen sind inhaltlich mit dem Präsentiersymptom des Patienten assoziiert. Sie werden genutzt um eine systematische Übersicht über die Symptome des Patienten zu gewinnen, bei der Reorientierung im diagnostischen Raum und bei der Reduktion der diagnostischen Unsicherheit. Diskussion: Im Ergebnis der vorliegenden Studie wird das hypothetiko-deduktive Modell deutlich relativiert. Deduktives Hypothesentesten bildet nur einen Teil der verwendeten kognitiven Fragestrategien ab. Ein mindestens ebenso relevanter Baustein der „adpativen Toolbox“ des diagnostischen Prozesses sind getriggerte Routinefragen. Getriggerte Routinefragen sind als Bindeglied zwischen offenen Strategien, wie dem Induktiven Streifen und dem sehr spezifischen deduktiven Hypothesentesten zu lokalisieren. Sie helfen interessante Areale des diagnostischen Raumes zu explorieren, wenn eine Informationssuche mittels spezifischer Hypothesen diesen unangemessen einschränken würde und kognitiv zu aufwendig wäre. Deduktives Hypothesentesten und getriggerte Routinefragen als diversifizierte kognitive Fragestrategien sind Bestandteil eines hoch adaptiven Prozesses der Informationssuche in der unsicheren Entscheidungsumgebung der Allgemeinmedizin. Sie können in ein umfassenderes Modell von „bounded rationality“ für komplexe Entscheidungssituationen integriert werden.


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