Westheide, Jens: Neuropsychologie der Depression : Die Bedeutung von Suizidalität und Impulsivität. - Bonn, 2006. - Dissertation, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.
Online-Ausgabe in bonndoc: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:hbz:5-08567
@phdthesis{handle:20.500.11811/2468,
urn: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:hbz:5-08567,
author = {{Jens Westheide}},
title = {Neuropsychologie der Depression : Die Bedeutung von Suizidalität und Impulsivität},
school = {Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn},
year = 2006,
note = {Hintergrund: Im Jahr 2000 wurden in der Bundesrepublik Deutschland über 11.000 Suizide registriert, die Zahl der Suizidversuche wird auf 100.000 bis 500.000 geschätzt. Im Rahmen von psychiatrischen Erkrankungen steigt das Suizidrisiko erheblich. So besteht auch bei der Depression eine erhöhte Suizidgefahr. Aktuell wird die Frage diskutiert, inwiefern Suizidalität (im Sinne eines vorangegangen Suizidversuchs) eine eigene Störung bzw. nosologische Entität darstellt und nicht lediglich komorbides Symptom vieler Erkrankungen ist. Insbesondere scheint ein enger Zusammenhang zwischen Suizidalität und überdauernder Impulsivität und Aggression zu bestehen, was auf einen suizidalen Phänotyp hindeutet. Neurobiologisch ist sowohl Suizidalität als auch Impul-sivität und Aggression mit Veränderungen im frontalen Kortex assoziiert, dort insbesondere mit einer gestörten Funktion des orbitofrontalen Kortex. Ebenso werden sowohl Suizidalität als auch Impulsivität und Aggression mit Veränderungen im serotonergen System in Verbindung gebracht. Diese neurobiologischen Überschneidungen legen die Vermutung nahe, dass eine gemeinsame frontale bzw. mit dem serotonergen System assoziierte Störung existiert, die Grundlage oder zumindest wichtiger Bestandteil suizidalen und impulsiven Verhaltens ist. Veränderungen im frontalen Kortex gehen mit Leistungseinbußen im exekutiven Bereich einher. Bisher existieren erst äußerst wenige neuropsychologische Arbeiten, die sich mit Suizidenten (Patienten mit Suizidversuch in der Vorgeschichte) befasst haben. Diese Untersuchungen konnten nicht klären, ob suizidale Patienten ein spezifisches neuropsychologisches Profil aufweisen, das sie von den anderen psychiatrischen Patienten unterscheidet.
Methodik: Es wurde in der vorliegenden Studie mithilfe neuropsychologischer und persönlichkeitsbezogener Testverfahren versucht, Unterscheidungsmerkmale zwischen depressiven Suizidenten, depressiven Patienten ohne vorangegangen Suizidversuch und gesunden Probanden zu belegen. Dazu wurden 29 Patienten mit Major Depression, die einen Suizidversuch innerhalb der letzten drei Monate verübt hatten, 29 gesunde Kontrollprobanden und 20 teilremittierte Depressive ohne Suizidversuch in der Vergangenheit untersucht. Um die Heterogenität der Stichprobe zu reduzieren wurden nur unipolar Depressive ohne psychotische Symptome eingeschlossen. Die Wahl teilremittierter Depressiver als klinische Kontrollgruppe erfolgte, weil die Gruppe der Patienten mit einem Suizidversuch innerhalb der letzten drei Monate meist schone mehrere Wochen psychiatrisch behandelt wurden und hinsichtlich der Schwere depressiver Symptomatik ebenfalls teilremittiert waren.
Ergebnisse: Erwartungsgemäß waren Aspekte suizidalen Verhaltens mit verschiedenen Facetten von Impulsivität assoziiert. Die Anzahl der bisherigen Suizidversuche korrelierte positiv mit Impul-sivität (Barratt Impulsivitätsinventar), Aggression (Fragebogen für Aggressionsfaktoren) und Ärger (State-Trait-Ärger-Ausdrucksinventar). Hoch impulsive Personen neigten zu Suizidhandlungen, die weniger geplant und potentiell weniger letal waren („Suicide Intention Sca-le“). Patienten, die multiple Suizidversuche verübt hatten, waren impulsiver als die Kontrollpersonen. Wider Erwarten war die klinische Kontrollgruppe der remittierten Depressiven durch eine starke Ärgerdisposition gekennzeichnet und nicht die Suizidenten. Diese unterschieden sich von den remittierten depressiven Probanden durch vermehrt nach innen gerichteten Ärger und Selbstaggression, wobei zu erwähnen ist, dass beide Patientengruppen mehr Ärger nach innen richteten und größere Selbstaggression aufwiesen als die gesunden Kontrollprobanden. Ebenso hatten sie allgemein eine höhere Aggressivität als die gesunden Versuchspersonen. Zusammengenommen schienen Ärger und Aggression nicht per se die entscheidenden Merkmale von Suizidalität zu sein, sondern eher Depressivität zu kennzeichnen. Die Stärke, mit der Patienten diese Emotionen unterdrücken bzw. auf sich selbst richten, war aber charakteristisch für Suizidalität. Bemerkenswert war in diesen Zusammenhang, dass weder Selbstaggression noch nach innen gerichteter Ärger mit der depressiven Symptomatik korreliert waren. Beide Patientengruppen zeigten eine schlechtere verbale Lernleistung als die Kontrollprobanden, jedoch nur die teilremittierten Depressiven hatten ein deutlich schlechteres Langzeitgedächtnis im Vergleich zu der gesunden Stichprobe, was auch in einer verminderten Rekognition zum Ausdruck kam. Das mnestische Profil der Suizidenten entsprach insgesamt nicht dem akut Depressiver und deutete im Gegensatz zu den remittierten Depressiven primär auf eine frontale, nicht aber auf eine temporomesiale Störung hin. Bei den impulsivitätsassoziierten neuropsychologischen Tests konnten die postulierten Defizite bei den Patienten nach Suizidversuch nur teilweise belegt werden: Männliche Suizidenten trafen schlechtere bzw. impulsivere Entscheidungen in der „Iowa Gambling Task“ in der Form, dass sie große Gewinne trotz hoher Verluste kleineren Gewinnen vorzogen, die langfristig ertragreicher wären. In einer „go/no-go“ Aufgabe machten die Suizidenten zwar mehr Auslassungsfehler, nicht aber Fehlreaktionen, welche spezifisch mit Impulsivität in Verbindung gebracht werden. Jedoch begingen sie in der „delayed alternation“ Aufgabe tendenziell mehr Fehler als die gesunden Probanden. Auch im d2 Aufmerksamkeits-Belastungs-Test hatten Suizidenten schlechtere Leistungen als die gesunde Kontrollgruppe. Die remittierten Depressiven wiesen keine exekutiven Defizite auf und lagen in ihren Leistungen numerisch zwischen Suizidenten und gesunden Probanden. Zwischen den klinischen Gruppen bestanden beim direkten Vergleich jedoch keine signifikanten neuropsychologischen Unterschiede.
Fazit: Suizidalität lässt sich nicht von Depressivität durch impulsivitätsassoziierte neuropsychologi-sche Tests separieren. Die exekutiven Leistungsschwächen, die die Suizidenten im Vergleich zu den gesunden Probanden zeigten, sind mit dem Vorliegen einer depressiven Episode vereinbar und weisen nicht auf eine orbitofrontalkonzentrierte bzw. impulsivitätsbezogene Dysfunktion hin. Der fehlende Unterschied zwischen den klinischen Gruppen im neuropsychologischen Bereich verdeutlicht außerdem, dass Suizidalität im Rahmen depressiver Störungen zu keinem spezifischen neuropsychologischen Defizit führt. Wesentlich bedeutsamer scheint die mit persönlichkeitspsychologischen Verfahren messbare Steuerung von persönlichen Gefühlen wie Aggression und Ärger zu sein, die im Rahmen einer depressiven Störung verstärkt auftreten. Dabei ist für Patienten mit suizidalen Handlungen kennzeichnend, dass sie diese Emotionen unterdrücken und sehr auf sich selbst richten. Eine erhöhte Impulsivität scheint nur eine Subgruppe von Suizidenten zu charakterisieren, die multiple Suizidversuche unternommen haben. Diese waren in der vorliegenden Untersuchung zahlenmäßig unterrepräsentiert. Zukünftige Studien mit größeren Stichproben könnten durch eine geeignete Subgruppenbildung die Bedeutung von Impulsivität weiter klären. Die verbal mnestischen Defizite der teilremittierten Depressiven fügen sich in das Bild anderer neuropsychologischer Studien ein, die persistierende Gedächtnisdefizite auch bei weitge-hender Remission beschrieben haben.},

url = {https://hdl.handle.net/20.500.11811/2468}
}

Die folgenden Nutzungsbestimmungen sind mit dieser Ressource verbunden:

InCopyright