Öffentliche Erziehung und Heimerziehung für Mädchen 1945 bis 1975 : Bilder "sittlich verwahrloster" Mädchen und junger Frauen

Gegenstand dieser Arbeit ist die Öffentliche Erziehung und Heimerziehung für Mädchen zwischen 1945 und 1975. Im Rahmen der Öffentlichen Erziehung (Fürsorgeerziehung und Freiwillige Erziehungshilfe) konnten Mädchen und junge Frauen, die von ihrer Umgebung als sozial abweichend oder (sittlich) gefährdet eingestuft wurden, bei drohender oder manifester "Verwahrlosung" zur Disziplinierung in geschlossenen Erziehungsheimen untergebracht werden. Die vorliegende Dissertation zeichnet sich vor allem durch zwei Besonderheiten aus: erstens wird die Realgeschichte der Öffentlichen Erziehung und speziell der Heimerziehung für Mädchen am Beispiel des Rheinlandes auf der Basis eines staatlich-regionalen Archivbestandes für den Zeitraum von 1945 bis 1975 umfassend rekonstruiert; und zweitens wurde der Verbleib ehemaliger Heiminsassinnen ermittelt und damalige Aktenberichte mit narrativen Interviews zu spannungsvollen Porträts verknüpft, bei denen sich Vergangenheit und Gegenwart ineinanderschieben. Die Arbeit ist thematisch in vier Teile gegliedert, im Anhang werden alle statistischen Ergebnisse in tabellarischer Form dargestellt. Die Einleitung behandelt neben der Begründung des Themas, der Fragestellungen und einem Blick auf den Forschungsstand die Auswahl der Quellenmaterialien. In einem historischen Rückblick wird die allgemeine Jugendfürsorge und Heimerziehung bis 1945 skizziert, diese Darstellung schafft erste Grundlagen für einen Vergleich von Kontinuitäten und Diskontinuitäten im zu untersuchenden Zeitraum. Im zweiten Kapitel wird die Öffentliche Erziehung für Mädchen nach 1945 anhand verschiedener thematischer Schwerpunkte dargestellt. Untersucht werden vor allem gesellschaftliche und organisatorische Rahmenbedingungen der Heimerziehung. Einen Großteil der Darstellung nimmt die Beschreibung des Alltags im geschlossenen Heim ein, wobei entsprechende Beispiele als Gradmesser von Veränderungen in Zielsetzungen und Methoden der Heimerziehung für Mädchen herangezogen werden. Der dritte Teil - als eigentlicher Hauptteil der Arbeit - beinhaltet die Ergebnisse der durchgeführten Aktenanalysen. Basis der empirischen Untersuchung und Interpretation sind insgesamt ca. 180 Einzelfallakten aus dem LJA Rheinland und einem evangelischen Erziehungsheim in Düsseldorf. Hierbei werden die semantischen Bilder "verwahrloster" Mädchen und ihrer Familien rekonstruiert. Ausführlich werden die Lebensbedingungen der Mädchen vor der Einweisung untersucht: vor allem Mädchen aus der Arbeiter- und Unterschicht waren bis in die späten sechziger Jahre von einer Einweisung betroffen. Bereits vor der Anordnung der Heimeinweisung waren die Lebensverhältnisse für die Minderjährigen seelisch in einem hohen Maße belastend (beispielsweise wurden 17,5% der untersuchten Mädchen nachweislich vorher sexuell mißbraucht). Eine ebenso wichtige Fragestellung ist darüberhinaus, welche stereotypen Sichtweisen sich aus dem behördlichen Handeln erschließen lassen, und auf welche Weise Stigmatisierungen als ?gesichertes Wissen? in den Berichten fortgeschrieben wurden. Zum Bezugspunkt wird eine geschlechtsspezifische Beurteilung abweichenden Verhaltens und die Feststellung, dass sittliche "Verwahrlosung" bis in die frühen siebziger Jahre der häufigste Einweisungsgrund für weibliche Jugendliche blieb. Des weiteren gelingt auch ein Blick auf die Bedeutung von jugendkulturellen Orientierungen als Gradmesser sozialer Abweichung und schließlich auf verschiedene Reaktions- und Widerstandsformen der zwangseingewiesenen Mädchen. Der vierte und letzte Teil besteht aus neun Fallstudien ehemaliger Heiminsassinnen (geordnet nach den Jg. 1941 bis 1955), in denen die damalige behördliche Sichtweise mit der persönlichen Wahrnehmung der Frauen in der Retrospektive verbunden wird. Ausgehend von einer zu dieser Zeit praktizierten repressiven, Sexualität verleugnenden und moralisch verurteilenden Erziehung soll untersucht werden, welche Spuren der Heim-aufenthalt hinterließ und wie die ehemaligen Heiminsassinnen dieses krisenhafte Ereignis in ihrer Biographie erlebt und bewältigt haben. Die Porträts zeigen, dass sich die Bedeutung des Heimaufenthaltes in differenzierten Nuancen zwischen den Polen "Strafe" und "Schutz" verorten läßt.

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