Neue Konflikte – neue gesellschaftliche Koalitionen? : Die europäischen Wähler und ihre Parteien – Cleavages in West- und Osteuropa

Die Habilitation befasst sich mit dem Thema Parteibindung in West- und Osteuropa in Form klassischer Claevages. 1994 haben Rose und Mishler (1994: 173) festgestellt, dass es keine Cleavages in Osteuropa gibt. Dieser Befund mag vier Jahre nach dem politischen Umbruch durchaus richtig gewesen sein: Cleavages benötigen nicht nur Spannungslinien in der Gesellschaft, die so bedeutend sind, dass Parteien sie aufgreifen oder die widerstreitenden gesellschaftlichen Gruppen Parteien zur Vertretung ihrer Positionen gründen, sie benötigen vor allem Zeit zu ihrer Verankerung. Gerade die Dauerhaftigkeit der Wähler-Partei-Bindung ist eine wesentliche Eigenschaft von Cleavages. Schon die von Rokkan aufgestellten Hürden implizieren: kurzfristige politische Streitfragen schaffen keine langfristige Bindung von Wählern an Parteien, dazu bedarf es schon tiefer in der Gesellschaft verankerter Konflikte und einer zumindest mittelfristigen Überwindung der vier institutionellen Hindernisse Legitimation, Inkorporation, Repräsentation und Mehrheitsmacht. Und dies nimmt in der Regel einen längeren Zeitraum in Anspruch. Reine Zeitpunktmessungen von Wahlverhalten, sei es im Aggregat, oder sei es auf Verhaltensebene der Individuen, können daher Cleavages nur höchst unzureichend abbilden, sie bieten oft nicht mehr als einen Einblick in die Themen der aktuellen politischen Auseinandersetzung. Auch in der vorliegenden Arbeit wurden Querschnittanalysen durchgeführt (Rumänien und Bulgarien), dennoch sind sie geeignet, um Cleavagestrukturen aufzuspüren. Entscheidend hierfür ist die Berücksichtigung von Modernisierungsphasen: Als Abbild des typischen Entwicklungsstandes innerhalb einer Modernisierungsphase kann die zur Analyse ausgewählte Parlamentswahl Auskunft über das Verhalten der Wähler zu genau diesem gesellschaftlichen Entwicklungszustand geben. Die gesellschaftlich-politischen Interessen, die die Wahlentscheidung beeinflussen, sollten die Hauptanliegen dieser Modernisierungsphase sein und damit einen deutlichen längeren Zeitraum repräsentieren als die Untersuchung einer mehr oder minder zufällig ausgewählten Parlamentswahl, sei sie nun zufällig zum gleichen Modernisierungszeitpunkt oder nicht. Wandelt sich die Gesellschaft und schreitet auf dem Weg der Modernisierung voran oder auch zurück, so sollten sich die Hauptanliegen der Bürger verändern. Zudem kann die Wirkmächtigkeit des Cleavages selbst einer Veränderung über die Modernisierungsphasen hinweg unterliegen. Hier hilft der Vergleich der Beziehungen zwischen Wählern und Parteien über die Modernisierungsphasen weiter und ermöglicht gleichzeitig modernisierungssynchrone Vergleiche zwischen Untersuchungsländern, welche den bislang vorliegenden Zeitpunkt-synchronen Vergleichen vorzuziehen sind. Die Zeitspanne dieser Entwicklung und der damit einhergehenden Veränderungen hat sich bereits im Laufe der von Lipset und Rokkan (1967) beschriebenen Cleavage-Genese deutlich verkürzt. Das auch als „Post-Moderne“ (Baumann 1999; Sennett 2007) beschriebene Zeitalter hält nun sogar ein neues Konzept gesellschaftlichen Wandels, die Beschleunigung (Rosa 2005), bereit, das in der Lage ist, neben dem intergenerationellen auch einen intragenerationellen Wandel der Gesellschaft zu beschreiben. Dass diese Prozesse auch in Osteuropa stattfinden, wenn auch nur partiell und nicht in allen Ländern gleichermaßen, konnte in dieser Arbeit ebenso gezeigt werden, wie die Strukturen des Wahlverhaltens, die auf die Existenz von Cleavages in Osteuropa schließen lassen, die mit dem erweiterten, an Rokkan orientierten Cleavage-Begriff erfasst werden können. Forschungsfrage: Lassen sich in den osteuropäischen Gesellschaften nach 1990 Cleavages auffinden und um welche handelt es sich? Wie bereits eingangs angesprochen kann der erste Teil dieser Frage entgegen anders lautender Prognosen (Rose/Mishler 1994) mit ja beantwortet werden. In den osteuropäischen Gesellschaften sind bis 2000 die traditionellen Cleavages Zentrum-Peripherie (Bulgarien und Rumänien), Kirche-Staat (Ungarn und Slowenien), Stadt-Land (Slowenien) und das ideologische Cleavage zwischen Links und Rechts (Bulgarien, Ungarn und Slowenien) zu finden. Zusätzlich existiert in Slowenien ein generationelles Cleavage. Unter den traditionellen gesellschaftlich-politischen Spannungslinien sind nur die ethnische in Bulgarien und Rumänien und die religiöse in Slowenien stark bis sehr stark ausgeprägt. Die anderen aufgefundenen Cleavages besitzen eine moderate oder mittlere Wirkungskraft. Wesentlich wahlverhaltenswirksamer präsentiert sich das ideologische Cleavage: Es erklärt in Ungarn, Bulgarien und Slowenien einen Großteil des Wahlverhaltens. Der früher in Westeuropa so bedeutsame Arbeit-Kapital-Konflikt spielt hingegen (bislang) in keinem der osteuropäischen Vergleichsländer eine bedeutsame Rolle für das Wahlverhalten. Ein Grund hierfür könnte die Selbstidentifikation von Wählern als Arbeiter sein, die eigentlich längst einer anderen Berufsgruppe angehören, sich aber noch als Arbeiter fühlen und so die Eindeutigkeit der Bindung zwischen Arbeitern (objektive Gruppenzuweisung) und linken Parteien verwässern. Neue Cleavages haben sich in Osteuropa nur hinsichtlich der Auseinandersetzung um die sozialistische Vergangenheit gebildet. Das Materialismus–Post-Materialismus-Cleavage erlangt nur in Slowenien eine geringe Bedeutung: Es überschneidet sich dort mit dem generationellen Cleavage und schlägt sich nur deshalb in der Regression nieder, weil die Rentner materialistischer sind als die jüngere Bevölkerung. In der Regel hat das Wertemuster des Post-Materialismus in Osteuropa noch nicht Fuß fassen können, was sich in (verschwindend) geringen Gruppengrößen widerspiegelt und sich konform zur Wertewandelstheorie (Inglehart 1979, 1990) mit ihrem Fundament in der Maslowschen Bedürfnishierarchie verhält. Nur in Osteuropa findet sich das Kommunismus–Anti-Kommunismus-Cleavage. Es dominiert die gesellschaftlich-politische Auseinandersetzung in Ungarn, polarisiert die Gesellschaft und prägt das dortige Wahlverhalten maßgeblich. Dies bedeutet auch, dass es nicht vollständig in den ideologischen Konflikt aufgenommen wird und einen stabilen, eigenständigen Einfluss auf die Wahlentscheidung der Ungarn ausübt. In Bulgarien ist dieses Cleavage ebenfalls stark und in seiner Wirkung für das Wahlverhalten prägend. Eine vergleichbare Bedeutung dieses Cleavages ist in Ostdeutschland festzustellen, das allerdings kein eigenständiges Staatsgebilde darstellt. Es manifestiert sich in der Partei Die Linke/PDS und deren anfängliche Beschränkung auf die neuen Bundesländer. Die Namensveränderung vor wenigen Jahren kennzeichnet dabei recht deutlich die Verbindung des Kommunismus-Anti-Kommunismus- Cleavages mit der ideologischen, soziopolitischen Konfliktlinie. Ein älterer Konflikt, die Auseinandersetzung zwischen Kirche und Partisanen in der Zeit vor dem Sozialismus, überlagert das Kommunismus-Antikommunismus-Cleavage in Slowenien. In der Folgezeit (nach 2000) hat diese ältere gesellschaftlich-politische Spannungslinie an Wirkungsmacht verloren, so konnte 2008 die N.Si, die die Interessen der kirchlich gebundenen Wähler repräsentiert, nicht mehr in das Parlament einziehen. Dafür ist in Slowenien das ideologische Cleavage an diese Stelle getreten und hat an Erklärungswert zugenommen. Definiert man das Kommunismus–Anti-Kommunismus-Cleavage als Konflikt zwischen Anhängern des alten und des neuen Regimes, so ist dieser auch noch 20 Jahre nach dem Ende der Franco-Diktatur in Spanien nachzuweisen. Er erklärt hier einen großen Teil des Wahlverhaltens. Autoritäre Regime wirken demnach noch lange in den politischen Einstellungen, Werten und Interessenlagen der betroffenen Gesellschaften nach, selbst wenn diese längst demokratisch regiert werden. Dies bestätigt eindrucksvoll zum einen den dauerhaften Charakter von gesellschaftlich-politischen Spannungslinien, wenn sie sich erst einmal im Parteiensystem etabliert haben, zum anderen die Dauerhaftigkeit von politischen Kulturen, deren grundlegende Veränderung wohl in der Tat eines Generationenwechsels bedarf.

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