Von Bildungsversagerinnen zu Bildungserfolgreichen - eine empirische Studie zu Bildungskarrieren von muslimischen Mädchen und Frauen mit türkischem Migrationshintergrund

Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist die Untersuchung des Bildungsverlaufs von Frauen mit türkischem Migrationshintergrund, die als Bildungsverliererinnen die deutsche Schule verließen oder nur eine geringe Schulbildung aus der Türkei besaßen, bei gleichzeitigen geringen deutschen Sprachkenntnissen, die nachträglich Bildungserfolge in Form von deutschen Schulabschlüssen bis hin zum Abitur sowie weitere berufliche Ausbildungen bis hin zu Studien erzielten. Bei der Gruppe der Befragten handelt es sich um Teilnehmerinnen türkischer Herkunft, die in den Jahren 1995 bis 2011 in der Migrantinnenorganisation "Begegnungs- und Fortbildungszentrum muslimischer Frauen (BFmF) e.V." einen Hauptschulabschluss Klasse 9, 10A oder einen FOR-Abschluss abgelegt hatten und die im Rahmen der Befragung erreicht werden konnten. Von den insgesamt 153 Absolventinnen mit türkischem Migrationshintergrund, die zum Zeitpunkt des Schulabschlusses zwischen 18 und 45 Jahre alt waren, konnten 63 Prozent erreicht und befragt werden, so dass sich die quantitative Untersuchung auf diese 96 Befragte bezieht. Das besondere an dieser Gruppe ist, dass es sich ausschließlich um sunnitische Musliminnen türkischer Herkunft handelt, die überwiegend hoch religiös sind. Im Gegensatz zu anderen Untersuchungen zu bildungserfolgreichen Migrant/innen war es durch die Tätigkeit der Verfasserin in der muslimischen Migrantinnenorganisation BFmF möglich, Musliminnen für die Befragung zu gewinnen, die von sich angeben überwiegend die fünf täglichen islamischen Gebete und das Fasten im Ramadan einzuhalten und wovon vier Fünftel ein Kopftuch tragen. Dadurch war es im Rahmen der Untersuchung nicht nur möglich die Gründe für das Schulversagen in der deutschen Schule aus der retroperspektivisch subjektiven Sicht der Migrantinnen und die Gründe für den nachträglichen Erfolg im BFmF zu erheben, sondern auch das Wertesystem hochreligiöser Musliminnen türkischer Herkunft. Aus den ehemaligen Bildungsverliererinnen (ein Viertel hatte weniger als 5 Jahre eine Schule besucht und ein weiteres Drittel weniger als acht Jahre) wurden mehrheitlich Bildungserfolgreiche. Viele Frauen wurden langfristig zur Bildung motiviert, so dass sie im Anschluss an den erfolgreichen BFmF-Abschluss weiter lernten, jede fünfte bis zum (Fach-) Abitur, 10 Frauen nahmen (bis 2011) ein Studium auf, wovon zwei promovierten. Die aus einem bildungsfernen Arbeitermilieu stammenden Migrantinnen stiegen so auch sozial auf. Aufgrund der sozialen Lebensbedingungen und Bildung sind die Hälfte der Frauen zum Befragungszeitpunkt einem gut bürgerlichen sozialen Milieu und ein Viertel einem hohen sozialen Milieu zuzurechnen. Nur ein Viertel der Befragten verblieb in dem sozial schwachen Milieu, dem sie durch ihre Herkunftsfamilie entstammen. Die Motivation zu weiterer Bildung sowie die besonderen Bildungserfolge (bescheinigt durch die überwiegenden Zweier- und Einser- Notendurchschnitte der Abschlusszeugnisse) wurden durch die besondere Lehrmethode im BFmF erreicht. Aus der Sicht der Befragten waren insbesondere die Lehrerinnen im BFmF verantwortlich für den großen Lernerfolg der Frauen. Vor allem das motivierende Verhalten der Lehrenden den Lernenden gegenüber und die Intensität des Erklärens der Lehrinhalte stehen im Gegensatz zur deutschen Schule. In der deutschen Schule hatten die Befragten wenig unterstützende Lehrer/innen erlebt, ein Befund, der sich mit den Ergebnissen der Literaturanalyse, die in einem Kapitel der vorliegenden Arbeit durchgeführt wurde, in der neun Veröffentlichungen zu bildungserfolgreichen Migrant/innen analysiert sowie deren übereinstimmende Ergebnisse herausgearbeitet wurden, deckt. So sind als übergreifende Ergebnisse der Studien und der vorliegenden Arbeit festzuhalten, dass sich die deutsche Schule für den überwiegenden Teil der Bildungsversagerinnen, aber auch für die in der Schule bereits erfolgreichen Migrant/innen, zumindest nicht bildungsfördernd, wenn nicht sogar eher Bildungslaufbahn behindernd erwiesen hat. Ein großer Teil der Bildungsaufsteigerinnen erlebte während der Schulzeit abwertende, kulturalistische, demotivierende und z.T. rassistische Bemerkungen von Lehrkräften. Als unterstützend werden weder die Lehrkräfte noch Gatekeeper/innen der Mehrheitsgesellschaft erinnert, sondern die Migrant/innen machen ihre eigenen großen Anstrengungen sowie die Unterstützung durch die Eltern und das eigenethnische Milieu für ihren Bildungserfolg verantwortlich. Das Wertesystem der befragten muslimischen Frauen türkischer Herkunft unterscheidet sich von dem der Elterngeneration in erster Linie dadurch, dass den Eltern der Nationalitäten spezifische Bezug zum Türkischen neben den religiösen die wichtigsten Werte sind, wohingegen die Frauen für sich selbst und als Erziehungsziel für ihre Kinder keine Unterscheidung der Bedeutung des türkischen und deutschen Bezugsfeldes angeben, sie sehen sich als hybride Persönlichkeit. Sie entwickelten mittelschichtnahe Werte in Bezug auf Bildung und individualistische Lebensgestaltung, so dass die Frauen die Erreichung des individuellem Glück für ihre Kinder sogar auf den ersten Rangplatz im Wertesystem wählen. Auch wenn es für die Frauen zu den wichtigsten Werten gehört, auf eigenen Füßen zu stehen und durch gute Berufstätigkeit ein unabhängiges selbstbestimmtes Leben zu führen, sind die religiösen Werte für Eltern, befragte Frauen und als Erziehungsziel für die Kinder (die dritte Generation) die bedeutendsten. Die Wichtigkeit der Identität als Muslimin und die Möglichkeit der Ausübung der Religion sind für die sunnitisch religiösen Frauen türkischer Herkunft zentrale Werte, die ihren emanzipierten Zielen nach Bildung, Unabhängigkeit und Selbstbestimmung nicht entgegenstehen. Die Bewertung der Bedingungen für erfolgreiches Lernen aus der Sicht der Frauen, die als ehemalige Bildungsversagerinnen und letztendliche Bildungserfolgreiche dies aus ihrem Erleben beurteilen sowie der Mangel, der für wesentlich erachteten Faktoren in der deutschen und die für wichtig erachteten im BFmF, in dem es schließlich zum Lernerfolg kam, sind insbesondere für Lehramtsstudenten und deren Lehrende interessant. Ebenso die aus dieser Arbeit hervorgehenden Forderungen an Lehrende "leidenschaftlich" in der Aufgabe des Lehrens zu sein und zu bleiben, um bei Schülerinnen und Schülern die Freude am Lernen für "Lebenslanges Lernen" zu initiieren. Der Vergleich der Bildungssituation in Deutschland zu anderen Ländern zeigt, dass ein "tatsächliches" inklusives Schulsystem zu mehr Bildungsgerechtigkeit führt, da die türkischen Zuwander/innen der gleichen Herkunftsgruppen in anderen Ländern, die zudem Elternhaus unabhängig unterrichten und fördern, wesentlich bildungserfolgreicher sind. Zudem verweist die vorliegende Arbeit darauf, dass Migrant/innenorganisationen, hier exemplarisch das BFmF, als Partner des zweiten Bildungswegs bedeutende integrative Arbeit für die Bildungsverlierer/innen mit Migrationshintergrund, die unser Bildungssystem nach wie vor produziert, sein können.

The aim of this doctoral dissertation is the study of the educational career of women with Turkish migration background. The study focused on girls and women who dropped out of German schools, had had very little schooling back in Turkey, and little command of German language when they came to Germany. They succeeded in acquiring qualifications ranging from secondary school qualifications, including A-Levels, vocational training diploma, and university degrees. The survey group consisted of female participants of Turkish background. From 1995 to 2011, these women completed their secondary school education (ordinary levels and advanced levels) at the non- profit organisation for migrants called “Begegnungs- und Fortbildungszentrummuslimischer Frauen (BFmF)”. Out of the total of 153 participants, aged between 18 and 45, 63 percent could be contacted and surveyed. So the quantitative study refers to 96 former students. What makes this study group special is the fact that they are Sunni Muslim girls and young women of Turkish origin who are to a significant degree observant tomatters of faith. They report that they perform the daily prayers five times a day, do the fasting in the month of Ramadan, and four out of five respondents wear the Muslim headscarf. Therefore it was not only possible to examine the reasons for the initial educational failure and their later success at the BFmF, from the retrospective and subjective point of view of the participants, but also to examine the system of values of highly religious Muslim women of Turkish origin. The respondents were largely able to turn failure into success. Many of these girls and women were motivated to continue their academic education. After graduation from the BFmF, one in five former student continued to do their A-Levels, 10 women started to study and two of them did a post-graduate study. Hence these female migrants, coming from a working class background, which was remote to education, did not only achieve academic success, but also higher social status. At the time of the survey half of the women reported to be of good middle-class and one-quarter said to belong to higher social class. Only one-quarter of the women still remained in a socially weaker environment, which they belong to though their families. The distinctive teaching method at the BFmF was key for the students’ excellent performance (they all had an average of very good and good marks) and their motivation to continue with their educational career. From their point of view, the teachers at the BFmF were decisive for the students’ academic success. It was predominantly the teachers’ encouraging attitude and their way to explain subject contents extensively and intensively that set their teaching method apart from German schools. The respondents explained that they did not teachers who were supportive and encouraging. This is a finding which also corresponds and reflects the results found in the analysis of secondary literature done in one chapter of this dissertation as well. The analysis focuses on nine publications on the topic academically successful migrants. Therefore we can state as overall results of the studies that German schools were not supportive in the educational success but even obstructive in the academic advancement of the study group. A large number of the women experienced derogative, culturally demotivating at times even racist remarks from teachers during their time at German state schools. The respondents in the survey did not remember the teachers or the gatekeepers of the majority society to be supportive and encouraging, but they remembered their own efforts as well as the support from their families to be crucial contributors to their success. The system of value of the surveyed Muslim women of Turkish origin is different form the parents’ with regard to their national and religious identity. The parent generation places the highest value on being Turkish and religious whereas the surveyed group stated that there is no difference between being Turkish or German for themselves and also regarding their aims in the upbringing of the own offspring. They rather see themselves as hybrid personalities. They developed middle-class values regarding their individual way of life, in so far that they even placed their children’s personal happiness top in their value system. Even if it is essential to the women to achieve independence and autonomy in their life by having a good occupation, they see religious values as equally or even as more important. The importance which they place in their identity as Muslims and the possibility to practice their religion do not interfere with their emancipating aims in to achieve academic successes, independence and autonomy. The evaluation of the conditions which ensure successful learning and schooling, based on what the participants of the study reported and assessed, is particularly important to prospective teachers and teacher trainers and others involved teaching. The results are similarly crucial when calling future teachers to be and stay “passionate” when it comes to teaching so that the teachers and initiate the will to learn and motivate to “lifelong learning”. The comparison of the German school system to school systems in other countries reveals that a “truly” inclusive system leads more justice in education. Turkish migrants with the same background as the one surveyed had significantly more success in their state school careers in other countries. Moreover, this dissertation makes clear that organisations such as the BFmF play an important integrative role in the schooling of people with a migration background who have not been schooled successfully in state schools. Our education systems still produces people who need second-chance education.

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