Kinder mit Anenzephalie - eine nur biologische Existenz? : die Stimmen der Eltern als Gegendiskurs zu einer dehumanisierenden Sicht

The autobiographic experience of a prenatal diagnosis of anencephaly to my unborn child triggered this qualitative and autoethnographic research. Supported by methods of reconstructive social research, e.g. documentary method sensu Bohnsack, it investigates narratives published on the internet written by mothers, who decided to continue their pregnancy after the infaust prognosis for their anencephalic child. In the medical mainstream an anencephalic foetus is predominantly seen as an only biological existence lacking specific human features. It is assumed, that continuing the pregnancy has lost any meaning because the diagnosis did destroy the relationship between mother and child, as the mother cannot any longer expect the birth of a viable child. On the basis of seven narratives it is explored how their authors perceived the revelation of the diagnosis and how they elaborated their experience into a autobiographical narrative. The maternal narratives are analysed for two levels. Seeing the maternal texts as sources of information, it can be shown that the revelation of the diagnosis is a devastating moment for both parents evoking acute stress reactions (mental shock). Often the diagnosticians delay the communication of the diagnosis and force the parents to make a decision about abortion. The parents' emotional consternation it mostly ignored. Processes of dehumanization of child and mother can be observed. On a second level the immanent meanings are focused. On this level it seems as if the revelation of the diagnosis did not terminate the authors' relationship to their unborn children. Instead of that attachment and bonding processes are preponed and intensified. Naming the child, emphasizing equal treatment and normalization and cultivating an inner dialogue with the unborn child belong to the typical pattern of behaviour reported in the maternal narratives. The emplotment of the narratives equates to the hero's journey as described by Joseph Campbell and reveals the five act structure of a classical drama. It is striking that the process-related moments of the parental new orientation process are made nearly invisible in the mothers' narratives. There are only rare references of how the parents made their decision for continuing the pregnancy, how they reconstruct their relationship to the unborn child and how they negotiate the derangement of their identity. Disguising these aspects can be understood as the development of salutogenetic factors like comprehensibility, manageability and meaningfulness, as possible functions of this representation restrict the experience of chaos and reject the pretended autonomy of decision-making assigned to women in prenatal medicine. In their anencephaly stories mothers create a contra-narrative to the predominant medical anencephaly discourse presenting a biography of their child's short life, giving it back its status as a human being.

Die autobiografische Erfahrung der Pränataldiagnose Anenzephalie ist Auslöser für diese qualitative Forschungsarbeit mit Elementen einer autoethnografischen Reflexion. Es werden in Internet veröffentlichte Erfahrungsberichte untersucht, die von Müttern verfasst wurden, welche sich dafür entschieden, die Schwangerschaft nach der infausten Prognose für ihr anenzephales Kind fortzusetzen. In den Hauptströmungen des medizinischen Diskurses werden Föten mit einer Anenzephalie meist als eine nur biologische Existenz angesehen, der das spezifisch Menschliche fehlt. Es wird angenommen, dass eine Fortsetzung der Schwangerschaft sinnlos ist, weil die Diagnose die Beziehung der Mutter zum Kind zerstört hat und die Mutter nicht länger darauf hoffen kann, ein lebensfähiges Kind zu gebären. Auf der Grundlage von sieben Narrativen wird erkundet, wie deren Autorinnen die Diagnoseeröffnung erlebten und wie sie ihre Erfahrungen zu einer autobiografischen Erzählung verarbeiteten. Die mütterlichen Erzähltexte werden auf zwei Ebenen analysiert. Ausgehend von einem Textverständnis, dass die Narrative als Informationsquellen ansieht, kann gezeigt werden, dass die Diagnosemitteilung einen niederschmetternden Augenblick für beide Eltern darstellt, der einen psychischen Schock bzw. eine akute Belastungsreaktion zur Folge hat. Häufig zögern die Diagnostiker die Mitteilung der Diagnose heraus und verlangen den Eltern eine Entscheidung für oder gegen das Fortsetzen der Schwangerschaft ab. Die emotionale Belastung der Eltern wird in den meisten Fällen übergangen. Prozesse der Dehumanisierung sowohl von Mutter als auch Kind können beobachtet werden. Auf einer zweiten Betrachtungsebene wird im Sinne rekonstruktiver Sozialforschung (dokumentarische Methode sensu Bohnsack) auf den immanenten Sinngehalt unter Ausklammerung des Geltungscharakters fokussiert. Hier zeigt sich, dass mit der Diagnoseeröffnung nicht die Beziehungen der Mütter zu ihren Kindern endete. Bindungsprozesse wurden vielmehr vorgezogen und intensiviert. Dem Kind einen Namen zu geben, Gleichbehandlung und Normalisierung zu betonen und den inneren Dialog mit dem Ungeborenen zu intensivieren, sind typische Verhaltensmuster, die in den Erfahrungsberichten sichtbar werden. Der Handlungsablauf in den Narrativen entspricht der Heldenreise, wie sie von Joseph Campbell beschrieben wurde und folgt der Fünf-Akt-Struktur eines klassischen Dramas. Auffällig ist, dass gerade die prozessbezogenen Momente des elterlichen Neuorientierungsprozesses fast gänzlich unsichtbar gemacht werden. Die Prozesse, die dazu führten, dass die Eltern sich für ein Fortsetzen der Schwangerschaft entschieden, wie es den Müttern gelang, die durch die Diagnose erschütterte Beziehung zu ihrem Baby wiederherzustellen und eigene Identitätserschütterungen zu bewältigen, werden fast nie explizit dargestellt. Die Verschleierung dieser Aspekte kann im Zusammenhang mit salutogenetischen Faktoren wie Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Sinnhaftigkeit verstanden werden als eine Möglichkeit, Chaoserfahrungen zu begrenzen und die vorgebliche Entscheidungsautonomie, die in der modernen Pränatalmedizin Frauen zugesprochen wird, zurückzuweisen. In den Anenzephalienarrativen erschaffen die Mütter eine Gegenerzählung zum vorherrschenden defizitorientierten Anenzephaliediskurs, indem sie eine Biografie des kurzen Lebens ihres Kindes verfassen und ihm dadurch seinen Status als eine menschliche Person zurückgeben.

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