Ein Ganzes oder zwei Teile? Untersuchungen zur Verarbeitung vom Komposita durch Sprachgesunde, Aphasiker und Synästhetiker.

Die Komposition ist eine in vielen Sprachen und gerade auch im Deutschen sehr produktive Form der Wortbildung, durch die zwei oder mehr sprachliche Einheiten mit lexematischer Bedeutung zu einem komplexen Wort zusammengefügt werden (Eichinger 2000, S. 115), für das dann eigene grammatische und semantische Regeln gelten. Eine in der Wortbildungsforschung lange diskutierte Frage ist, inwieweit eher der Wort-Charakter oder eher die morphologische Komplexität von Komposita hervorzuheben ist, und inwieweit ihnen insofern eher ein lexikon- oder ein syntax-orientierter Zugang gerecht wird (z.B. Motsch 1970; Downing 1977; Olsen 1986; Angele 1992; Elsner & Huber 1998). Diese Diskussion spiegelt sich auch in psycholinguistischen Theorien zur mentalen Repräsentation und Verarbeitung von morphologisch komplexen Wörtern wider und hier insbesondere in der Frage, ob sie als Ganzheiten (z.B. Butterworth 1983: Full-Listing-Hypothese; Lukatela et al. 1980; 1987: Satellite-Entries-Modell; Bybee 1985; 1988; 1995: Morphology-as-Connections-Modell) oder in Form ihrer Teile (z.B. Taft & Forster 1975; 1976; Taft 1979b; 1988: Affix-Stripping-Modell; Marslen-Wilson et al. 1994; 1996: Single-Direct-Access-Modell) repräsentiert sind und verarbeitet werden oder ob ein Neben- bzw. Miteinander von ganz- und einzelheitlichen Repräsentationen und Prozessen anzunehmen ist (z.B. Caramazza et al. 1985; 1988: Augmented Addressed Morphology Modell; Schreuder & Baayen 1995; Baayen et al. 1997; 2000: Morphologisches Meta-Modell). Die Zahl der Arbeiten, die diese Modellannahmen für die Verarbeitung – und hier insbesondere für die Produktion – von Komposita empirisch überprüft hat, ist bisher begrenzt, und so vielfältig und widersprüchlich wie die Modelle sind auch die dabei gefundenen Ergebnisse, die teils auf eine ganzheitliche und teils auf eine einzelheitliche Verarbeitung hindeuten, was sich als Hinweis darauf werten läßt, daß die Kompositumsverarbeitung kein einheitlicher, stets gleich ablaufender Prozeß ist, sondern in Abhängigkeit von bestimmten semantisch-lexikalischen und situativen Gegebenheiten variieren kann. In der vorliegenden Arbeit wurden Aspekte der genannten Diskussion und einzelne Ergebnisse aufgegriffen, um sie mittels Untersuchungen zur Verarbeitung von Komposita durch Sprachgesunde, durch Aphasiker und durch Synästhetiker zu überprüfen und wo möglich auszuweiten. Folgende Ergebnisse sind festzuhalten: Beim Benennen vergleichbarer Komposita und Simplizia durch Sprachgesunde wie auch durch Aphasiker zeigten sich zwischen beiden Worttypen Unterschiede hinsichtlich der Reaktionszeiten sowie der Quantität und der Qualität der auftretenden Fehler. Die Benennung der Simplizia, nicht aber der Komposita war frequenzsensitiv. Im Rahmen einer Einzelfallstudie mit dem Aphasiker MO war zudem der Benennerfolg bei den Simplizia, nicht aber bei den Komposita abhängig von der Wortlänge. Diese Befunde zusammen genommen sprechen für eine unterschiedliche Verarbeitung der beiden Worttypen, die sich im Sinne einer einzelheitlichen Verarbeitung der Komposita interpretieren läßt. Allerdings war in keiner der Untersuchungen ein Einfluß der Komponentenfrequenzen nachweisbar, MOs Benennerfolg war durchaus durch die Kompositumsfrequenzen beeinflußt, und über die Aphasiker-Gruppe hinweg zeigte sich ein ganzwortbezogener Einfluß des Erwerbsalters. Diese Befunde sprechen gegen eine völlig einzelheitliche Verarbeitung von Komposita. Insofern wird zugunsten eines Sowohl-als-Auch argumentiert mit entweder einzelheitlichen vs. ganzheitlichen Repräsentationen und Prozessen auf verschiedenen Ebenen des Sprachsystems oder parallelen einzelheitlichen und ganzheitlichen Prozessen auf minde¬stens einer Ebene des Sprachsystems. In diesem Sinne lassen sich die Ergebnisse im Rahmen des Diskreten Zweistufen-Modells von Levelt und Mitarbeitern (z.B. Levelt 1989; 2001; Levelt et al. 1999) interpretieren, wonach lexikalisierte Komposita auf der semantisch-konzeptuellen Ebene wie auch auf der Lemma-Ebene ganzheitlich repräsentiert sind und verarbeitet werden, während auf der Wortform-Ebene einerseits ein ganzheitlicher Wortform-Rahmen und andererseits die einzelnen Komponenten abgerufen und miteinander kombiniert werden. Auf diese Weise lassen sich die gefundenen Unterschiede zwischen Simplizia und Komposita und der Nachweis komponentenbezogener Effekte bei letzteren erklären. Alternative Modellierungen und hier insbesondere die Annahme dualer Repräsentationen und Prozesse auf einer oder mehreren Ebenen des Sprachverarbeitungssystems können allerdings aufgrund der vorliegenden Ergebnisse nicht ausgeschlossen werden. Eine Art Exkurs in den rezeptiven Bereich bildete die Untersuchung der Wahrnehmung von Komposita durch Sprach-Farb-Synästhetiker. Im Rahmen einer multiplen Einzelfallstudie sowie einer explorativen Gruppenstudie zeigte ein Großteil der teilnehmenden Synästhetiker keine Unterschiede hinsichtlich der farblichen Wahrnehmung vergleichbarer Simplizia und Komposita. In Einzelfällen ergaben sich allerdings doch Hinweise auf eine morphembasierte Verarbeitung. Eine der Synästhetikerinnen – AF – stand für weitere Untersuchungen zur Verfügung, in denen sich zeigte, daß sie tatsächlich Simplizia überwiegend einfarbig wahrnahm, während bei Komposita in Abhängigkeit von der Zahl ihrer Komponenten zwei oder mehr Farben dominierten. Bedeutungsgebundene Farbwahrnehmungen bezogen sich auf die einzelnen Komponenten und nicht auf die Komposita als ganzes. Bei opaken, nicht aber bei transparenten Komposita zeigte sich zudem ein Frequenzeffekt mit mehr Einfarbigkeit der höherfrequenten und mehr Zweifarbigkeit der niedrigfrequenten Wörter. Zusammenfassend ist aufgrund der vorliegenden Ergebnisse für die Wahrnehmung von Komposita bei Synästhesie festzuhalten, daß sie i.d.R. nicht durch die morphologische Komplexität der Stimuli beeinflußt wird. Bei einzelnen Synästhetikern bzw. Synästhesieformen findet aber doch eine nicht ausschließlich ganzwort-, sondern zusätzlich oder alternativ auch komponentenbasierte Verarbeitung statt, was auf duale Prozesse auf mindestens einer Ebene der Rezeption von Komposita hinweist.

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