Immergenz : Immersion im didaktischen Spiegel.

Auf einer aus dem Jahr 480 v. Chr. stammenden Halsamphore1 der „Brygos-Maler“ wird ein dem Klang der Kithara (einer großen Konzert-Lyra) zuhörender und scheinbar das Publikum repräsentie-render Jüngling dargestellt. Er nimmt dabei eine Pose der Versunkenheit ein: Diese Gebärde zeigt den Kopf mit der Stirn in die eine Hand gelegt und den abwärts gerichteten Blick, die Finger liegen leicht am vorgebeugten Kopf an. Diese Pose der Selbstvergessenheit ist sowohl Ausdrucksmotiv in Musikszenerien des frühen 5. Jahrhunderts v. Chr. als auch für über ihr Schicksal grübelnde Men-schen kennzeichnend (Neumann, 1965, S. 145). Für den Jüngling auf der Halsamphore bedeutet Selbstvergessenheit einen immersiven Bezug mit anderen (akustischen) ‚Objektheiten‘ herzustel-len, seine Versunkenheit zeigt aber auch, dass der Vorgang der Immersion keine Neuentdeckung ist. Immersion fand bislang in seiner Phänomenologie eines Weges in die Versunkenheit keine Be-leuchtung für ein nach innen gerichtetes, „einlassendes“ (Seel, 2004, S. 55) Denken. Peter Sloterdijk beschreibt die Immersion als ein zur Umgebung entgrenztes „Entrahmungsverfahren für Bilder und Anblicke“ (Sloterdijk, 2006, S. 105). Im Englischen steht ‚to immerse’ dem Verb ‚to absorb’ nahe und hat folgende Umschreibung: „concentrating on one course of instruction, subject, or project to the exclusion of all others for several days or weeks; intensive” (Immersion, 2016). Dieses hochkon-zentrierte mentale Einlassen für einen bestimmten Zeitraum findet sich in Beispielen aus der Philo-sophie, Soziologie, Psychologie, den Erziehungswissenschaften, der Theologie, den Naturwissen-schaften und der Kunst wieder. Im pädagogischen Konnex steht der Begriff Immersion einerseits für ein didaktisches Konzept zum Fremdspracherwerb (Stebler, 2010, S. 21) und andererseits für Lernprozesse mit Computerspielunterstützung (Bopp, 2005, S. 1). Der systematische Einbau von mentaler Immersion, im Sinne von Entrahmungsprozessen, in den Unterricht erweist sich als eine Lücke in bestehenden didaktischen Ansätzen. Einen Entrah-mungsprozess einzugehen heißt, sich auf etwas Anderes einzulassen. Ein Einlassen bedeutet sich der Öffnung hinzugeben. Die Hingebung endet in der Hinwendung zur Möglichkeit und Kontingenz. Wer einen Text verstehen will, muss nach Gadamer bereit sein, sich von ihm etwas sagen zu lassen und für die Andersheit des Textes von vornherein empfänglich zu sein (Gadamer, 1990, S. 273). Dieses Potenzial birgt einen Unterricht, ein Denken, welches immersive Ausrichtung hat, von Im-mergenz geprägt ist. Der Philosoph Heinrich Rombach bemerkt eine zunehmende Verunsicherung des Menschen einerseits durch den erhöhten Konkurrenzdruck und den Entfremdungscharakter von Arbeit andererseits durch eine Sinnleere und Unerfülltheit über zunehmende Unterhaltungs- 1 Halsamphore aus dem Museum of Fine Arts, Boston, USA. Abbildung unter: http://mfas3.s3.amazonaws.com/objects/SC65577.jpg [Zugriff: 10.02.2017] - 9 - angebote der Freizeit (Rombach, 1980, S. 42). Er stellt dies als ein „Gesamtsyndrom von gefährli-chen Wirkungen“ (ebd.) fest, welches die Gesellschaft als Quelle seiner eigenen Bedrängnis und Bedrohung identifiziere (ebd.). Das immersive Einlassen auf Situationen, auf Denkansprüche oder auf Problemstellungen bedeutet ein sinnerfülltes Hingeben an diesen Moment, schafft durch eine Verschiebung von Wirk-lichkeiten andere Welt- und Zeitdimensionen. Eine immergente Mentalschulung findet außerhalb von kompetitiven Richtlinien statt, umgeht somit den erhöhten Konkurrenzdruck und schafft durch attentionale Objektbezüglichkeit neue Sinnbezüge und unterläuft den von Rombach indizierten Entfremdungscharakter. Die vorliegende Arbeit soll die Basis für eine erweiterte didaktische Aus-richtung auf den Möglichkeitsraum des Denkens bilden. Sie kann den Wert auf ein anderes, vertief-tes sygnostisches Denken lenken, das außerhalb von herkömmlicher, ‚nutzbarer‘ Messbarkeit liegt. Immergentes Lernen bietet den Lernenden neben dem Notwendigen die Möglichkeit zum Erlernen des Visionären außerhalb von kompetitiven Settings. Ziel der Untersuchung ist es über eine Eingrenzung des Begriffs Immersion eine didaktisch anwendbare Version des vertiefenden, immergenten Mentalprozesses zu schaffen, um daraus Pa-rameter für einen didaktischen Ansatz der Immergenz zu skizzieren. Folgende Fragestellungen liegen zur Umsetzung vor: 1. In welchen Bereichen ist die Immersion aus philosophischer, psychologischer, künstlerischer Sicht verankert und welche Aspekte können definiert werden? 2. Wie reflektiert diese Defintion auf den bildungstheoretischen Bereich, welche immergenten Rahmenbedingungen gilt dafür es festzuhalten? Die Sammlung „The creative process. A Symposium.“ von Ghiselin beinhaltet Aussagen rund um den kreativen Schaffensprozess und bildet die Grundlage, die Initialerhebung der Untersu-chung. Aus der Clusterung der Aussagen ergeben sich fünf Hauptfelder, fünf Stränge der Immersion, welche Aspekten der Philosophie, Psychologie und Pädagogik in einer diachronen Erkundungstour gegenübergestellt werden. Auf diesen Strängen basierend entwickeln sich Stoßrichtungen für die Nachforschung, deren Quellen sich von einem Punkt ausgehend kumulativ in ein Spannungsfeld erweitern. Die Arbeit erhält durch die wie am eingänglichen Kithara-Beispiel aufgezeigte historische Verortung seiner Thematik sowie über das philosophisch-rationale Spannungsfeld hermeneuti-schen Methodenansatz. Sie gliedert sich in zwei Teile: Im ersten wird gestützt auf der Initialerhe-bung die Immersion aus philosophischer, psychologischer und naturwissenschaftlicher Sicht unter-sucht und ein Gesamtbild, die Modellbildung, geschaffen. Im zweiten Teil wird die Theorie auf einen pädagogischen Fokus gebracht und Ansätze der Immergenz auf ein mögliches Bildungsmodell for-muliert.

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