Untersuchung der Koordination von Rücken- und Rumpfmuskulatur an Personen mit chronischem Rückenschmerz und gesunden Vergleichspersonen während dynamischer Belastung mittels Oberflächenelektromyographie

In allen modernen Industriestaaten führen Erkrankungen des Bewegungsapparates und insbesondere Rückenschmerzsyndrome der Lendenwirbelsäule zu immensen direkten und indirekten Kosten. Dabei stellen unspezifische, lokal begrenzte Rückenschmerzen ein erhebliches diagnostisches und therapeutisches Problem dar, da bei diesen Patienten keine Befunde erhoben werden können, die das Schmerzgeschehen hinreichend erklären. Es handelt sich somit beim unspezifischen Rückenschmerz um eine Ausschlussdiagnose. Die entstehenden Kosten werden im wesentlichen durch den lediglich 5-10%igen Anteil von Patienten mit chronifizierender Schmerzsymptomatik verursacht. Die therapeutischen Bemühungen konzentrieren sich derzeit auf multimodale Ansätze, die neben der begleitenden psychologischen Betreuung dieser Patienten vor allem auf die Verbesserung ihrer muskulär - funktionellen Situation abzielen. Hier stellt die Wiederherstellung des koordinierten Zusammenspiels aller Rumpfmuskeln ein wesentliches therapeutisches Ziel dar, da eine Störung im adäquaten Wechselspiel zwischen Stabilität und Mobilität derzeit als pathogenetischer Hauptfaktor für den unspezifischen Rückenschmerz angesehen wird. An einem Kollektiv von Rückenschmerzpatienten und gesunden Vergleichspersonen sollte deshalb der Einfluß ermüdender Haltearbeit des Oberkörpers auf die Koordinationsmuster von Rumpfmuskeln während Flexions- und Extensionsbewegungen des Oberkörpers evaluiert werden. Die Personen wurden drei aufeinander folgenden statischen Halteaufgaben des Oberkörpers unterworfen. Jeweils vor und direkt nach der auf maximal 9 Minuten begrenzten statischen Haltezeit führten alle Probanden 5 Flexions- und Extensionsbewegungen des Oberkörpers durch. Während dieser Bewegungen wurde das Oberflächen EMG (OEMG) von repräsentativen Rumpfmuskeln und dem M. biceps femoris (MBF) gemessen. Zu funktionell definierten Zeitpunkten der Oberkörperbewegungen wurden OEMG - Aktivitätsmuster extrahiert. Das untersuchte Probandengut wurde anhand der Ausprägung des Schmerzes, funktioneller Beeinträchtigung, des Alters und der Haltedauer charakterisiert. Anhand dieser Einteilung erfolgten Gruppenvergleiche, wobei immer extrem unterschiedliche Ausprägungen eines Merkmals miteinander verglichen wurden. 2 Die Mm. erectores in den Höhen von LWK 2 (=MES2) und LWK5 (=MES5) zeigen ein unterschiedliches Aktivitätsverhalten bei Schmerzpersonen und Kontrollen. Die Schmerzpersonen zeigen eine geringere Aktivität des MES5 und eine fehlende Anpassung der Aktivität unter Belastung. Somit lassen sich Rückenschmerzpatienten von Gesunden anhand der Aktivierungsmuster im Bereich der LWS unterscheiden. Der MBF bietet ebenfalls hohe Aktivitäten und ist in seinem Aktivitätsanteil an die MES gebunden. Dabei führt die Zunahme MES Aktivität (beide Anteile) zu einer Abnahme des MBF - Aktivitätsanteiles. Die restlichen observierten Muskeln lassen bei geringen Aktivitätsanteilen keine signifikanten Unterschiede erkennen. Es finden sich unterschiedliche Koordinierungsmuster zwischen den Extremgruppen der Kriterien Schmerz und funktionelle Beeinträchtigung. Erstaunlicherweise zeigt sich eine geringe Korrelation der Schmerzintensität und der empfundenen Beeinträchtigung der Schmerzpersonen. Mit aller Vorsicht kann abgeleitet werden, daß es sich auch um verschiedene Stadien eines Krankheitsprozesses handeln könnte, die über das zunächst isolierte Schmerzempfinden zur schmerzbedingten Beeinträchtigung führen. Die Schmerzpersonen mit starken Schmerzen und starker Beeinträchtigung bilden somit eine eigene Entität gegenüber Schmerzpersonen mit Dominanz der Schmerzen und untergeordneter Beeinträchtigung. Die Zuordnung der Personen zu den Alter- und Haltedauergruppen erfolgte unabhängig von den Schmerzangaben. Bei der Haltedauer bieten die kurz Haltenden Analogien zur Schmerzgruppe und die lange Haltenden zur Vergleichsgruppe. Dies erklärt sich mit der Überlappung der Gruppen. Ein Einfluß des Kriteriums Alter auf die Aktivierungsverhältnisse konnte nicht gefunden werden. Die Ergebnisse bekräftigen die Annahme, daß eine gestörte Koordination der Rumpf- und Rückenmuskulatur zu einer Beeinträchtigung der Funktion der LWS führt oder mit ihr assoziiert ist, was in komplexeren Modellen implementiert ist. Die Ergebnisse weisen darauf hin, daß bei Patienten mit chronisch unspezifischen Rückenschmerzen das Ausmaß der individuell empfundenen Beeinträchtigung Hinweise auf das Vorliegen von Koordinationsstörungen der Rumpfmuskulatur geben kann. Daraus ergeben sich erweiterte Therapieoptionen.

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