„... ich fordere die abstrakte Verwendung der Kritiker“. Kurt Schwitters und die Kunstkritik

Language
de
Document Type
Doctoral Thesis
Issue Date
2014-07-04
Issue Year
2014
Authors
Kunzelmann, Petra
Editor
Abstract

The work of the Merz artist Kurt Schwitters illustrates the intention to connect different forms of art. The common bracket is the collage principle which appropriates coming to an agreement with the theoretical and artistical positions of the avantgardistic movements. Gradually and starting out from the fine arts he transfered this principle to the Merzliterature, to the conception of the Merzstage and finally to the Merzarchitecture. Through programmatic reflexion and practical crossing of artistical parameters Schwitters unified forms and genres of art that were formerly strictly seperated from each other. Firstly he integrated objects in his pictures that were unworthy of art in order to extend in that way possibilities of expressive painting. Next he realized the principle of Merz in Merzpoetry through the integration of particles of different linguistic provenance in his texts.

The technic of collage was nevertheless rejected by the contemporery art critics, because of the destruction of the principles of designing contingence and coherence that had been valid so far. The spectrum of the allegations against the Merz art is extremely diverse, and extends from downgrading to kitsch, defamating it as „dirt and trash“, the monitum of intellectual impoverishment, the disparagement as ungerman and therefore being pathological products, warning of the end of art, criticism of infantilism as well as empty abstraction, right through to increased forms of attack by stigmatisation of the arstist as insane, or more precisely as a schizophrenic and ultimately to defamating him as a ‚degenerate artist’. These catchwords have implications of a devaluation strategy, with which the critics tried to distinguish categorically art from not-art and to exclude phenomena that were seen as inartistic, out of the art system. If one analyses the patterns of argumentation, with which the integration of disparate elements in a work of art were degraded, then the result is an almost uniform frame of reference in respect of the art critic: the theorems of the german classical writer.

Because of divergent views, the relationship of the art critics in respect of Merzkunst, was consequently very tense. In the case of Schwitters it was different. In his literary counterreactions to critical distortion, the artistic motivation dominates. For the group of texts of the so called „tran-texts“ the critical articles served as source text for literarilly stylised text collages in which Schwitters realised anticritical strategies but, after all artistic methods such as the alienation and overwriting or establishing of an analogy respectively opposition, repetition and leitmotifs or in which he experimented with interdisciplinary design possibilities in the field of literature by developing references to other media such as cinema, typography and fine arts as well as performing arts. With the processes translated into action he reflected not only the avantgardistic production of text but also the anachronistic attidude of the art critics to contemporary art which Schwitters demonstrated playfully. Regarding the engagement with art criticism Schwitters’ anticriticism is a paramount artfull and playfull form of reviewing the reviews respectively reviewing the reviewers. Neither bevor nor after Schwitters such a multifarious interaction of criticism and anticriticism can be found, a circumstance, that makes the „tran-texts“ unique in history of literature.

Abstract

Das Werk des Merzkünstlers Kurt Schwitters veranschaulicht die Intention, unterschiedliche Kunstarten miteinander in Beziehung zu setzen. Die gemeinsame Klammer ist das Prinzip Collage, das sich Schwitters in Auseinandersetzung mit den theoretischen und künstlerischen Setzungen der Avantgardebewegungen seiner Zeit aneignete. Schrittweise und ausgehend von der bildenden Kunst übertrug er dieses Paradigma auf die Merzliteratur, auf die Konzeption der Merzbühne und dann auf die Merzarchitektur. Mittels programmatischer Reflexion und praktischer Grenzüberschreitung vereinigte er Kunstarten und -gattungen, die zuvor streng getrennt wurden. Zunächst integrierte er kunstfremde Gegenstände in seine Bildwerke, um die gestalterischen Ausdrucksmöglichkeiten der Malerei zu erweitern. Das Prinzip der Merzkunst realisierte er als nächstes in der Merzdichtung durch die Einbindung von Sequenzen unterschiedlicher sprachlicher Provenienz in seine Texte.

Die Collagetechnik jedoch wurde von den meisten zeitgenössischen Kritikern abgelehnt, da sie die bisher gültigen Prinzipien der gestalterischen Kontingenz und Kohärenz hinter sich ließ. Das Spektrum der Vorwürfe der Merzkunst gegenüber ist außerordentlich breit angelegt, es reicht von der Abqualifizierung zu Kitsch, der Diffamierung als Schmutz und Schund, dem Monitum der geistigen Armut, der Herabwürdigung zu undeutschen und daher krankhaften Erzeugnissen, der Warnung vor dem Ende der Kunst, der Kritik am Infantilismus wie auch an der leeren Abstraktion bis hin zu gesteigerten Formen der Angriffe durch Stigmatisierung des Künstlers als geisteskrank oder konkreter als schizophren und letztendlich bis zur Diffamierung als entartet. Hinter diesen Schlagwörtern verbergen sich Abwertungsstrategien, mittels derer versucht wurde, Kunst von Nichtkunst kategorisch abzugrenzen und das als unkünstlerisch Befundene aus dem Kunstsystem zu exkludieren. Werden die Argumentationsmuster hinterfragt, im Rahmen derer die Integration von disparaten Elementen in ein Kunstwerk degradiert wurde, so kristallisiert sich im Schwitters-Diskurs ein nahezu einheitlicher kunstkritischer Bezugsrahmen: Die Theoreme der deutschen Klassik.

Während das Verhältnis der Kunstkritiker zur Merzkunst aufgrund der divergierenden Anschauungen - Schulästhetik kontra progressive, avantgardistische Einstellung - ein sehr angespanntes war, verhielt es sich bezüglich des Verhältnisses von Schwitters zur Kunstkritik anders. In seinen literarischen Gegenreaktionen auf die kunstkritischen Verrisse stand die künstlerische Motivation im Vordergrund. Für die Textgruppe der sogenannten Tran-Texte dienten ihm die Kritiken als Ausgangsmaterial für literarisch stilisierte Textcollagen, in denen er antikritische Strategien, v. a. aber künstlerische Methoden wie etwa Verfremdung und Überschreibung oder Analogie- bzw. Oppositionsbildung, Wiederholung und Leitmotive umsetzte oder mit disziplinübergreifenden Gestaltungsmöglichkeiten im Bereich der Literatur experimentierte, indem er Referenzen auf andere Medien wie Kino, Musik, Typografie und bildender wie auch darstellender Kunst entwickelte. Mit den ins Werk gesetzten Verfahrensweisen reflektierte Schwitters nicht nur die avantgardistische Textproduktion, wenn er seine antikritischen Merzdichtungen als intermediales Spielfeld instrumentalisierte und damit auf der Höhe seiner Zeit stand, sondern auch die antiquierte Haltung der Kunstkritiker zur zeitgenössischen Kunst, die er damit spielerisch vorführte. Bei seiner Auseinandersetzung mit der Kunstkritik handelt es sich um eine höchst kunstvolle und spielerische Form der Kritik der Kritik. Weder vor noch nach Schwitters ist ein derart facettenreiches Zusammenspiel zwischen Kritik und Antikritik anzutreffen, was die Tran-Texte einzigartig in der Literaturgeschichte macht.

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