Der Arzt Hans Lungwitz (1881 - 1967) im Spiegel seiner sozialreformerischen Schriften

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  • Der nahezu vergessene Beitrag von Hans Lungwitz (1881-1967) zur Reform des Gesundheitswesens kann - retrospektiv betrachtet - als äußerst bemerkenswert gelten. Schon die Art der Präsentation seiner sozialreformerischen Gedanken läßt aufhorchen: So äußert er sich nicht nur in Zeitschriftenartikeln zu diesem Thema, sondern nutzt auch sozialkritische Arztromane als „Medium“ zur Sensibilisierung der Öffentlichkeit. Um seinen Ideen weitere Präsenz zu verschaffen, gibt er eine Denkschrift mit dem Titel ‚Die Verstaatlichung des Heil- undDer nahezu vergessene Beitrag von Hans Lungwitz (1881-1967) zur Reform des Gesundheitswesens kann - retrospektiv betrachtet - als äußerst bemerkenswert gelten. Schon die Art der Präsentation seiner sozialreformerischen Gedanken läßt aufhorchen: So äußert er sich nicht nur in Zeitschriftenartikeln zu diesem Thema, sondern nutzt auch sozialkritische Arztromane als „Medium“ zur Sensibilisierung der Öffentlichkeit. Um seinen Ideen weitere Präsenz zu verschaffen, gibt er eine Denkschrift mit dem Titel ‚Die Verstaatlichung des Heil- und Fürsorgewesens’ heraus. Lungwitz behandelt in seinem sozialreformerischen Werk ein breites Themenfeld. Er beanstandet in seinen Schriften die Institution Ehrengericht, die einen übertriebenen bzw. falschen Ehrbegriff geschaffen habe, die Ärztekammern und deren Wahlmodus, aber auch andere Standesvertretungen wie beispielsweise den ‚Leipziger Wirtschaftlichen Verband’ und dessen Art der Interessenpolitik. Ferner beanstandet er die schlechten Honorarverhältnisse, bzw. die allgemeine Notlage der Ärzte, insbesondere in bezug auf das Kassenarztwesen. Er kritisiert aber auch die Ärzte selbst, indem er die Standesvertreter mehrheitlich als unfähig und die Mehrzahl der Mediziner als lethargisch gegenüber sozialpolitischen Belangen bezeichnet und ihren vermeintlichen Mangel an Kollegialität sowie ihren „Standesdünkel“ beklagt. Des weiteren werden die „Kurpfuscherei“ und ihre Gefahren, die unzureichenden hygienischen Verhältnisse und Fehler in der Sozialfürsorge thematisiert. Auch die ärztliche Ausbildung und das Verhalten des Staates gegenüber den Ärzten werden beleuchtet. Lungwitz verharrt jedoch nicht in bloßer Kritik, sondern unterbreitet überdies detaillierte Reformvorschläge. Bei einer Gegenüberstellung der Lungwitzschen Kritikpunkte am Gesundheitswesen, bzw. der hieraus resultierenden Reformvorschläge, und der zeitgenössischen Ärztepolitik wird deutlich, daß Lungwitz in Teilbereichen mit den allgemeinen Ansichten der organisierten Ärztevertreter übereinstimmt, wie z.B. in bezug auf die Bewertung der Honorarverhältnisse und die Geringschätzung kaufmännischer Ideale, die Mißstände im Kassenarztwesen, die „Kurpfuscherei“ und die Forderung nach „freier Arztwahl“. In anderen Bereichen ist er jedoch völlig anderer Ansicht als die zeitgenössische Ärzteschaft: Er fordert die Abschaffung der Ehrengerichte, eine Reform des Kammersystems und des ‚Leipziger Wirtschaftlichen Verbandes’, eine der Zeit angepaßte Umgestaltung des Medizinstudiums und eine Modifikation des Krankenkassenwesens. Überdies gibt es Bereiche, die von der allgemeinen ärztlichen Standespolitik zwar ebenfalls behandelt werden, denen bei weitem aber nicht der Stellenwert zugedacht wird wie in den Lungwitzschen Arbeiten. Als Beispiel hierfür können die Mißstände im Krankenkassenwesen oder in der Säuglingshygiene gelten. Nach und nach reift in Lungwitz eine Idee, wie man diesen zahlreichen Mißständen wirksam entgegentreten könne. Er sieht die Lösung in einer radikalen Reform des Gesundheitswesens. Lungwitz fordert – obwohl er anfangs diesem Gedanken eher skeptisch, wenn nicht gar ablehnend gegenüberstand – letztlich die Verstaatlichung des Gesundheitswesens und die Verbeamtung der Ärzte. Das Krankenkassenwesen solle unter staatlicher Organisation in einer Staats- und Reichsversicherung vereinigt werden, finanziert durch eine dem Gehalt angepaßte Gesundheitssteuer. Die Ärzte sollten Beamte der staatlichen Gesundheitsämter werden, der Eintritt in den Staatsdienst sei ihnen jedoch freizustellen. Bezahlt würden die staatlichen Ärzte mit einem Fixum, bestehend aus einem Grundgehalt, einer Dienstalterszulage und einer Leistungszulage, wobei sie die gleichen Rechte wie alle anderen Staatsbeamten, wie z.B. Anspruch auf eine Rente, erhalten sollten. Um die Betreuung der Kranken effektiver zu gestalten, wünscht Lungwitz, daß sich jeder Arzt um nicht mehr als 1.000 Versicherte zu kümmern brauche. Ferner schwebt ihm die Einführung von Diagnoseinstituten und Therapiezentren vor – um nur einen groben Abriß seiner Ideen zu geben. Lungwitz ist indessen nicht der einzige, der sich in der damaligen Zeit zu einer möglichen Reform des Gesundheitswesens äußert. Auch vor seiner Zeit wird der Gedanke der Verstaatlichung diskutiert, und auch Zeitgenossen von Lungwitz treten mit entsprechenden Veröffentlichungen hervor. Exemplarisch werden dem Lungwitzschen Verstaatlichungsmodell in dieser Arbeit die Vorschläge von Ernst Neumann gegenübergestellt. Hierbei wird deutlich, daß es bemerkenswerte Übereinstimmungen gibt, etwa in bezug auf die von beiden geforderte Verbeamtung der Ärzte und deren Honorierung mit einem Fixum bei zusätzlicher Vergütung bestimmter Einzelleistungen. Wenn man den Lungwitzschen Beitrag aus heutiger Sicht betrachtet und den Versuch unternimmt, seine Reformvorschläge für das damalige Gesundheitswesen im bestehenden Gesundheitssystem aufzuspüren, fällt auf, daß nicht wenige der von Lungwitz geforderten Veränderungen realisiert sind: Beispiele sind die Zulassungsbeschränkung zum Medizinstudium, die Ausweitung der wirtschaftlichen Existenzmöglichkeiten der Ärzte, die Zurückdrängung der Ehrengerichte und die Erweiterung des Krankenkassenwesens. Andererseits sind viele der von Lungwitz geäußerten Kritikpunkte am Gesundheitswesen auch heute noch virulent, wie die ärztliche Honorarfrage, die extensive Behandlung im Kassenarztwesen durch einen zu hohen Patientendurchlauf in den Praxen, die Arbeit der ärztlichen Standesvertreter, die sogenannte „Cliquenwirtschaft“, der Mangel an Kollegialität unter den Ärzten und die praxisferne Ausbildung der Medizinstudenten. Die Suche nach einem Gesundheitssystem im europäischen Ausland, das eine weitgehende Übereinstimmung mit dem Lungwitzschen Modell aufweist, führt zum ‚National Health Service’ in Großbritannien – ein System, das bei allen Nachteilen zumindest in wirtschaftlicher Hinsicht als effizienter und à la longue besser finanzierbar gelten kann als das in der Bundesrepublik Deutschland bestehende Sozialversicherungssystem. Obwohl die einschlägigen Lungwitzschen Veröffentlichungen überaus positiv rezensiert wurden, erfuhr Lungwitz’ sozialreformerisches Werk von seinen Zeitgenossen nicht die erhoffte Beachtung. In der Retrospektive jedoch beweist Lungwitz mit Teilen seines sozialreformerischen Modells – bei allen Unzulänglichkeiten im Detail – einen bemerkenswerten Weitblick.show moreshow less

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Metadaten
Author: Anika Fellermeyer
URN:urn:nbn:de:bvb:20-opus-12968
Document Type:Doctoral Thesis
Granting Institution:Universität Würzburg, Medizinische Fakultät
Faculties:Medizinische Fakultät / Institut für Geschichte der Medizin
Date of final exam:2005/05/10
Language:German
Year of Completion:2004
Dewey Decimal Classification:6 Technik, Medizin, angewandte Wissenschaften / 61 Medizin und Gesundheit / 610 Medizin und Gesundheit
Tag:Gesundheitswesen; Lungwitz; Reform des Gesundheitswesens; Sozialreformen; Verstaatlichung des Gesundheitswesens
Release Date:2005/06/07
Advisor:Priv.-Doz. Dr. med. Dr. med. dent. Dr. phil. Dominik Groß