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Thomas Manns Der Zauberberg Spukschloß der Großen Mutter oder Die Männerdämmerung des Abendlandes

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Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte Aims and scope Submit manuscript

Zusammenfassung

Dieser Essay interpretiert die hermetische Steigerung des Zauberberges als einen psy-chomythischen Abstieg ins sagen- und theorienumwobene “Reich der Mütter”. Dessen systematische Unterwanderung der patriarchalen Symbolordnung reflektiert einerseits die zeitgenössische Matriarchats-Mythographie (Bachofen, Hesse, Benjamin et al.) und repräsentiert andererseits bereits Modelle nachfreudscher und (post-) feministischer Theoriebildungen (Klein, Kristeva, Cixous, Paglia et al.).

Abstract

This essay interprets the hermetic structure of the Magic Mountain as a psychomythic subterfuge in the legendary, that is, time- and theory-honored “realm of the (m)other”. Its systematic subversion of the symbolic order of patriarchy on the one hand reveals contemporary models of matriarchal mythography (Bachofen, Hesse, Benjamin et al.) and adumbrates on the other evolving conceptions of post-Freudian and (post-)feminist theory (Klein, Kristeva, Cixous, Paglia et al.).

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Literatur

  1. Johann Jakob Bachofen, der Gründervater der matriarchalen Mythographie, prognostizierte in seinem 1861 erschienenen Hauptwerk Das Mutterrecht (Gesammelte Werke in sieben Bänden, Basel 1948

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  2. Band II und III), daß sich patriarchal erschöpfte Kulturen erneut matriarchalen Utopien öffnen würden. Bereits um die Jahrhundertwende wird Bachofen als wesentliche Inspirationsquelle erkennbar sowohl für die konservative Kulturrevolution der “Kosmischen Runde” (Klages, Schuler et al.) als auch für die marxistische Diskursformation (Engels, Bebeis et al.) und ihre Weiterentwicklung zur Frankfurter Schule. Zur rechten wie linken Rezeption Bachofens vgl. Hans-Jürgen Heinrichs, Materialien zu Bachofens ‘Das Mutterrecht’, Frankfurt/M. 1975.

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  3. Zu einer umfassenden Darstellung und Entfaltung des ambivalent “Großen Weiblichen” siehe die psychomythische Tiefenpsychologie von Carl Gustav Jung, insbesondere “Die Psychologischen Aspekte des Mutterarchetyps”, in: Jung, Gesammelte Werke in vierzehn Bänden, Freiburg 1976, IX, 89–124

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  9. Als männliches Phantasieprodukt garantiert die imaginierte Weiblichkeit laut Boven- schen ein doppeltes Glück: “emphatisch als Trägerprinzip einer regressiv-utopischen Einheitssehnsucht, realiter, indem es eine passive, natürliche Knetmasse in männlicher Hand bleibt” (Silvia Bovenschen, Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen, Frankfurt/M. 1979, 33).

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  10. Zu einer allgemeinen Darstellung der Romanwelt und kritisch informativen Auffächerung ihrer wesentlichen Bedeutungskomplexe siehe Hans Wysling, “Der Zauberberg”, in: Helmut Koopmann (Hrsg.), Thomas-Mann-Handbuch, Stuttgart 1990, 387–422.

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  12. Thomas Mann, Der Zauberberg, Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Frankfurt/M. 1960, III, 8f. Sämtliche Zauberberg-Zitate sind dieser Ausgabe entnommen und werden im folgenden im Text selbst durch arabische Seitenzahlen ausgewiesen. Mann-Zitate aus anderen Bänden dieser Ausgabe werden mit entsprechenden römischen Ziffern gekennzeichnet.

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  13. Jurij M. Lotman, “The Origin of Plot in the Light of Typology”, Poetics Today 1/1-2 (1979), 161–184, hier: 168.

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  15. Zum Zusammenhang von Mutterbrust und Lebensglück vgl.Melanie Klein: “The capacity to fully enjoy gratification at the breast forms the foundation for all later happiness” (“A Study of Envy and Gratitude” [1956]

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  16. in: Juliet Mitchell [Hrsg.], The Selected Melanie Klein, New York 1986, 211–229, hier: 215).

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  17. Zum Verlust der Mutterbrust und der damit verbundenen Ersatzbildungen vgl. Jean Laplanche: “... the sexual object is not identical to the object of the function, but is displaced in relation to it, they are in a relation of essential contiguity which leads us to slide almost indifferently from one to the other, from the milk to the breast as its symbol... the object to be rediscovered is not the lost object, but its substitute by displacement, the lost object one seeks to refind in sexuality is an object displaced in relation to that first object” (Jean Laplanche, Life and Death in Psychoanalysis, Baltimore 1976, 88).

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  18. Sigmund Freud, Das Unheimliche (1919)

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  22. Zur Funktion der Demeter-Persephone Gottheiten im eleusinischen Intitationskult vgl. Karl Kerényi, Die Mysterien von Eleusis, Zürich 1962.

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  23. Derartig psychotische Verkehrungen und Kurzschlüsse finden sich in Volker Elis Pilgrim, Muttersöhne (Hamburg 1989) auf die Formel gebracht: “Madonna macht Blutsohn” (8).

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  25. Diese Tür-Topik spannt sich von Walthers von der Vogelweide Minnesang/Marien lob, in welchem von der porta paradisi der Muttergottes die Rede ist, bis zu Hans Blühers Männerbund-Schriften, wo vor der Frau als “Falltür ins Nichts” gewarnt wird. Zum letzteren vgl. Bernd Widdig, Männerbünde und Massen. Zur Krise männlicher Identität in der Literatur der Moderne, Opladen 1992, 46.

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  30. und Frederick A. Lubich, Die Dialektik von Logos und Eros im Werk von Thomas Mann, Heidelberg 1986.

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  31. Zur Geschichte der Hysterisierung der Frau vgl. u.a. Michel Foucault, Histoire de la sexualité, Paris 1976

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  33. Zu einer prinzipiellen Kritik der archaisch essentiellen Mutter-Meeres-Methaphorik in der französischen Theoriebildung vgl. u.a. Domna Stanton, “Difference on Trial. A Critique of the Maternal Metaphor in Cixous, Irigaray, and Kristeva”, in: Nancy K. Miller (Hrsg.), The Poetics of Gender, New York s], 157–182.

  34. Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, Werke in sechs Bänden, hrsg. Karl Schlechta, München 1980, I, 116.

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  35. Unter dem frühen Einfluß Bachofens entwickelte Nietzsche ein geradezu gynozentrisches Weltbild, wenn er den “Verlust des Mythus” als einen “Verlust der mythischen Heimat, des mythischen Mutterschoßes” charakterisiert (Geburt der Tragödie, 125). Zu einer autobiographischen Deutung von Nietzsches Mutterkomplex vgl. jetzt Jörgen Kaer, Nietzsche. Die Zerstörung der Humanität durch ‘Mutterliebe’, Opladen 1990.

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  36. Julia Kristeva, “Stabat Mater” (1976)

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  37. in: Julia Kristeva, Histoires d’amour, Paris 1983, 225–247. Dieser Kristevasche Begriff der ‘père-version’ ist wohl das bezeichnendste Wortspiel für die feministische Um- und Verkehrung männlicher Welt- und Wertvorstel-lungen. Während das Patriarchat immer schon seine Phobien und Phantasien realisierte und praktizierte - von der mittelalterlichen Hexenverbrennung bis zur Hysterisierung der modernen Frau - sind die Père-Versionen der écriture féminine wohl vor allem als engagierte Parodien zu verstehen, als postmoderne Gegengesänge auf die Verfallskultur des Patriarchats. Dieses ästhetische Spiel mit Konventionen, seine ausgesprochen sensuell antirationalen Darstellungs- und Verfahrensweisen machen eine im traditionellen Sinne kritische Auseinandersetzung mit den Texten geradezu unmöglich. In diesem radikal ernsten Spiel der écriture féminine findet jedoch Thomas Manns Parodie-Verständnis, seine erotisch-ironische Auflösung der Traditionen, seine konsequente Schlußführung.

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  38. T. J. Reed erhob die stärksten Einwände: “Nirgendwo in [Manns] Oeuvre ist das Disponieren der Wirklichkeit zum Zwecke einer ideellen Konstruktion eben fragwürdiger” (“’Der Zauberberg’. Zeitenwandel und Bedeutungswandel 1912-1924”, in: Hermann Kurzke [Hrsg.], Stationen der Thomas-Mann-Forschung, Würzburg 1985, 92–134, 126).

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  39. Das Musterbeispiel für die Gleichheit von Gefängnis und Mutterschoß stellt wohl das Lebenswerk Genets dar. Vgl. Mary Ann Frese Witt, Existential Prisons, Durham 1985, Kapitel 5.

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  40. Siehe in diesem Zusammenhang auch die hysterisch-okkulte Wiederkehr der Magna Mater in der New Age Subkultur. Vgl. Monica Sjöö, Barbara Mor, The Great Cosmic Mother. Rediscovering the Religion of the Earth, San Francisco 1987: “Hysteria is a hypersensitive state during which ‘occult’ or ‘transcendental’ phenomena occur” (189).

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  42. T. S. Eliot, Notes Towards the Definition of Culture, New York 1949, 142.

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  43. Gottfried Benn, Probleme der Lyrik, Gesammelte Werke in vier Bänden, hrsg. Dieter Wellershoff, Wiesbaden 1959, 508.

  44. Zu einer aufschlußreichen Darstellung dieses Hungerkomplexes vgl. Theodore Ziol- kowski, “Der Hunger nach dem Mythos. Zur seelischen Gastronomie der Deutschen in den Zwanziger Jahren”, in: Reinhold Grimm, Jost Hermand (Hrsg.), Die sogenannten Zwanziger Jahre, Bad Homburg 1970, 169–201. Ziolkowski charakterisierte diesen Hunger nach dem Mythos vor allem als einen Hunger nach “Wurzel”, “Grundlage”, “Mitte” und “Ganzheit” (188-192).

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Lubich, F.A. Thomas Manns Der Zauberberg Spukschloß der Großen Mutter oder Die Männerdämmerung des Abendlandes. Dtsch Vierteljahrsschr Literaturwiss Geistesgesch 67, 729–763 (1993). https://doi.org/10.1007/BF03396228

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