Zusammenfassung
Entgegen der Auffassung, daß der Doktor Faustus die in ihm imaginierte Zurücknahme der Neunten Symphonie literarisch als Preisgabe der Kunstdoktrin der Weimarer Klassik und ihres Heiterkeitspostulats realisiere, wird hier die These vertreten, daß gerade dieses “Schmerzensbuch” dem Heiterkeitspostulat verpflichtet ist und es als Beitrag für eine humanere Zukunft zu retten sucht.
Abstract
Contrary to the opinion that the imaginary retraction of the Ninth Symphony in Doktor Faustus poetically realizes the abandonment of the artistic principles of Weimar classicism and its postulate of serenity, the thesis is put forward that this “Schmerzensbuch” is in fact indebted to the postulate of serenity and intends to save it as a contribution to a more humane future.
Literatur
Zitate nach Thomas Mann, Gesammelte Werke in Einzelbänden, Frankfurter Ausgabe, hrsg. Peter de Mendelssohn (1980ff.); hier: Doktor Faustus (1980), S. 420.
Thomas Mann, “Ansprache im Goethejahr 1949,” Über mich selbst: Autobiographische Schriften (1983), S. 444.
So Helmut Wiegand, Thomas Manns ‘Doktor Faustus’ als zeitgeschichtlicher Roman: Eine Studie über die historischen Dimensionen in Thomas Manns Spätwerk (1983), S. 63, mit Verweis auf Thomas Manns Ausführungen in “Die Entstehung des Doktor Faustus,” Rede und Antwort (wie Anm. 7), S. 191; zum Thema ‘Endwerk’ vgl. bes. auch Hans Mayer, Thomas Mann (1980), S. 270ff.
Vgl. Hendrik Birus, Poetische Namensgebung: Zur Bedeutung der Namen in Lessings ‘Nathan der Weise’ (1978), S. 63ff.; ders., “Vorschlag zu einer Typologie literarischer Namen,” Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, 17 (1987), 38ff.
Thomas Mann, Rede und Antwort: Ober eigene Werke … (1984), S. 154; vgl. auch Doktor Faustus (wie Anm. 1), S. 18; zur Herkunft der Namen vgl.
Liselotte Voss, Die Entstehung von Thomas Manns Roman ‘Doktor Faustus’: Dargestellt anhand von unveröffentlichten Vorarbeiten (1975), S. 74ff.
Aufschlußreich hierfür Dieter Lamping, Der Name in der Erzählforschung: Zur Poetik des Personennamens (1983).
Vgl. Martin Walser, “Ironie als höchstes Lebensmittel oder: Lebensmittel der Höchsten,” Text und Kritik: Sonderband Thomas Mann (1976), S. 5ff.
Vgl. Odo Marquard, “Exile der Heiterkeit,” Das Komische, hrsg. Wolfgang Preisendanz und Rainer Warning (1976), S. 133ff.
Hans Wisskirchen, Zeitgeschichte im Roman: Thomas Manns ‘Zauberberg’ und ‘Doktor Faustus’ (1986).
Zur Forschungsliteratur vgl. Hermann Kurzke, Thomas Mann: Epoche–Werk–Wirkung (1985), S. 269ff.; Thomas Manns ‘Doktor Faustus’ und die Wirkung, hrsg. Rudolf Wolff (1983).–Eine umsichtige und aufschlußreiche Auswertung der Forschungsliteratur bieten vor Wisskirchen (wie Anm. 11) schon
Helmut Jendreiek, Thomas Mann: Der demokratische Roman (1977), S. 412ff., und
Eckhard Heftrich, Vom Verfall zur Apokalypse: Über Thomas Mann, Bd. II (1982), S. 173ff.
Dies gilt auch für Ilse Metzler, Dämonie und Humanismus: Funktion und Bedeutung der Zeithlomgestalt in Thomas Manns ‘Doktor Faustus’ (1960) (Diss. München).
Thomas Mann, Briefe 1937–1947, hrsg. Erika Mann (1979), S. 320f.
Vgl. Thomas Mann, Briefe 1948–1955, hrsg. Erika Mann (1979), S. 152 und 220.
Vgl. ebd., S. 220; eine Ausnahme hiervon bildet der Essay von Hans Rochocz, “Thomas Manns ‘Doktor Faustus’ aus dem Geiste des Humors,” Deutsche Beiträge, 11 (1949), 215ff.
Thomas Mann, “Humaniora und Humanismus,” Politische Schriften und Reden, hrsg. Hans Bürgin (1968), II, 329.
Zum Einfluß der Genannten auf Thomas Manns Kunstauffassung vgl. Ernst Nündel, Die Kunsttheorie Thomas Manns (1972), bes. S. 7ff., sowie–zum Thema ‘Heiterkeit/ Ironie/Humor’–S. 85f., 99ff. und 109ff.–Zur Bedeutung der Heiterkeit für die Kunstauffassung(en) seit der Aufklärung vgl.
G. Sauerwald, “Heiterkeit, das Heitere,” Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. Joachim Ritter, Bd. III (1974), Sp. 1039ff.
Harald Weinrich, “Kolleg über Heiterkeit,” Merkur, 43 (1989), 553ff.–Speziell zum Schillersch Hintergrund des Heiterkeitspostulats vgl.
Dieter Borchmeyer, Macht und Melanchol Schillers ‘Wallenstein’ (1988), S. 126ff.; Thomas Mann, der häufig auf Schillers kun theoretische Schriften Bezug nahm, bewunderte an Schiller ausdrücklich, “daß er körpi liehen Leiden keinen Einfluß gestattete auf die Freiheit und Heiterkeit seines Geiste
Thomas Mann, “Versuch über Schiller,” Leiden und Größe der Meister (1982), S. 441.
Vgl. Helmuth Kiesel, Literarische Trauerarbeit: Das Exil- und Spätwerk Alfred E blins (1986), S. 96ff.
Friedrich Luft, “Wolfgang Borchert: Draußen vor der Tür,” Deutsche Literaturkritik, Bd. IV: Vom Dritten Reich bis zur Gegenwart (1933–1968), hrsg. Hans Mayer (1983), S. 358ff.
Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. XI: Noten zur Literatur (1974), S. 599ff., hier S. 602.–Thomas Mann findet in diesem Essay zwar auch Erwähnung, aber bezeichnenderweise nicht als Vertreter einer gegenüber seiner Zeit haltbaren Heiterkeit oder eines entsprechenden Humors, sondern als Zeuge dafür, daß Kafkas “Schockprosa” als “Humor” empfunden werden kann (vgl. ebd., S. 605), was freilich eine recht großzügige Auslegung von Thomas Manns Kafka-Essay ist, in dem zwar viel von Humor, aber gar nicht von “Schockprosa” die Rede ist.–Sehr aufschlußreich für den ganzen Komplex und speziell für das hier angeschnittene Thema der ‘Entheiterung’ der Kunst ist - neben dem oben (in Anm. 10) erwähnten Aufsatz “Exile der Heiterkeit” von Odo Marquard–Peter Eichhorn, Kritik der Heiterkeit (1973); sehr erhellend für Adornos Denken in dieser Frage ist
Hendrik Birus, “Adornos ‘Negative Ästhetik’?,” DVjs, 62 (1988), 1ff.
Zu Adornos Anteil am Doktor Faustus vgl. Thomas Mann, Rede und Antwort (wie Anm. 7), S. 157ff., 172, 193, 231 ff. und 279ff.; Ute Jung, Die Musikphilosophie Thomas Manns (1969), bes. S. 83ff.; Jürgen Mainka, “Thomas Mann in der Musikphilosophie des XX. Jahrhunderts,” und
Jan Maegaard, “Zu Th. W. Adornos Rolle im Mann/Schönberg- Streit,” beide in Gedenkschrift für Thomas Mann 1875–1975, hrsg. Rolf Wiecker (1975), S. 197ff. bzw. 215ff.; Hansjörg Dörr, “Thomas Mann und Adorno: Ein Beitrag zur Entstehung des ‘Doktor Faustus,Thomas Manns ‘Doktor Faustus’ hrsg. R. Wolff (wie Anm. 12), Teil 2, S. 48ff.; besonders bemerkenswert
Karol Sauerland, “‘Er wußte noch mehr …’: Zum Konzeptionsbruch in Thomas Manns ‘Doktor Faustus’ unter dem Einfluß Adornos,” Orbis Litterarum, 34 (1979), 130ff.
Vgl. Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. XII: Philosophie der neuen Musik (1976), S. 126.
Vgl. Thomas Mann, Tagebücher 1944–1. 4. 1946, hrsg. Inge Jens (1986), S. 180.
Briefe 1937–1947 (wie Anm. 15), S. 416; vgl. dazu auch den nach Abschluß dieser Arbeit erschienenen Aufsatz von Mary A. Cicora, “Beethoven, Shakespeare and Wagner: Visual Music in ‘Doktor Faustus,’” DVjs, 63 (1989), 267ff.
Doktor Faustus (wie Anm. 1), S. 412 und 432f.; vgl. dazu Ulrich Dittmann, Sprachbewußtsein und Redeformen im Werk Thomas Manns (1969), S. 176ff.; H. Jendreiek, Thomas Mann (wie Anm. 12), S. 422f.; E. Heftrich, Vom Verfall zur Apokalypse (wie Anm. 12), S. 237ff.
Hanspeter Brode, “Musik und Zeitgeschichte im Roman: Thomas Manns ‘Doktor Faustus,’” Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft, 17 (1973), 455ff., 463; Jochen Schmidt, Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750-1945, II, 271 f.
Vgl. E. Heftrich, Vom Verfall zur Apokalypse (wie Anm. 12), S. 210 und 235; Helmut Koopmann, ‘“Doktor Faustus’ als Widerlegung der Weimarer Klassik,” ders., Der schwierige Deutsche: Studien zum Werk Thomas Manns (1988), S. 109ff.; Erich Heller, “Die Zurücknahme der Neunten Symphonie: Zu Thomas Manns ‘Doktor Faustus,’” ders., Die Wiederkehr der Unschuld (1977), S. 217ff.
Vgl. Wolfgang Borchert, Das Gesamtwerk (o. J., verm. 1957), S. 310.
Vgl. Doktor Faustus, S. 258ff., sowie Rede und Antwort (wie Anm. 5), S. 172; vgl. dazu Gunilla Bergsten, Thomas Manns ‘Doktor Faustus• Untersuchungen zu den Quellen und zur Struktur des Romans (1963), S. 212f. und 230f.
Gunter Reiss, Allegorisierung und moderne Erzählkunst: Eine Studie zum Werk Thomas Manns (1970), S. 213ff.; H. Brode, “Musik und Zeitgeschichte” (wie Anm. 36), S. 469f.
Wolf-Dietrich Förster, “Leverkühn, Schönberg und Thomas Mann: Musikalische Strukturen und Kunstreflexion im ‘Doktor Faustus,’” DVjs, 49 (1975), 694ff.; H. Wiegand, Thomas Manns ‘Doktor Faustus’ (wie Anm. 5), S. 47ff.
Vgl. hierzu auch den hellsichtigen Aufsatz von Victor Lange, “Thomas Mann: Tradition und Experiment,” Thomas Manns ‘Doktor Faustus’ hrsg. R. Wolff (wie Anm. 12), Teil S., S. 113ff., sowie H. Wiegand, Thomas Manns ‘Doktor Faustus’ (wie Anm. 5), S. 201, und Arnold Busch, Faust und Faschismus: Th. Manns ‘Doktor Faustus’ und A. Döblins ‘November 1918’ als exilliterarische Auseinandersetzung mit Deutschland (1984), S. 287ff.; zum ‘schwebenden’ Erzählstil vgl. Walter Prinzing, Stil der Schwebe im ‘Doktor Faustus’ (1956) (Diss. Stuttgart); grundsätzlich zu dem auch von Thomas Mann (s.o. Anm. 22) verwendeten Begriff ‘Schweben’ im ästhetischen Bereich vgl.
Walter Schulz, Metaphysik des Schwebens: Untersuchungen zur Geschichte der Ästhetik (1985).
Thomas Mann, Tagebücher 1937–1939, hrsg. Peter de Mendelssohn (1980), S. 129.
Vgl. Thomas Mann, Joseph und seine Brüder, IV: Joseph, der Ernährer (1983), S. 323.
Vgl. Joseph, der Ernährer, S. 326 (sowie 487, 498 und 533); zur Realisierung der Heiterkeit als Ironie und Humor vgl. Käte Hamburger, Thomas Manns biblisches Werk (1984), S. 22ff., 101 und 129
Dietmar Mieth, Epik und Ethik: Eine theologisch-ethische Interpretation der Josephromane Thomas Manns (1976), S. 50ff., 86 und 127f.; H. Kurzke, Thomas Mann (wie Anm. 12), S. 255 ff.
Vgl. Thomas Mann, “Die Aufgabe des Schriftstellers,” Die Forderung des Tages: Abhandlungen und kleine Aufsätze über Literatur und Kunst (1986), S. 347ff.
Vgl. Theodor Haecker, Tag- und Nachtbücher 1939–1945 (1975), S. 10, 190 und 224; zu den Berührungspunkten zwischen Thomas Mann und Theodor Haecker vgl. Hinrich Siefken, “Thomas Mann und Theodor Haecker,” Thomas-Mann-Studien, hrsg. Thomas-Mann-Archiv (…) Zürich, Bd. VII: Internationales Thomas-Mann-Kolloquium 1986 in Lübeck (1987), S. 246ff.–Ähnliche Beobachtungen wie Haecker verzeichnet auch
Karl Lowith, Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933: Ein Bericht (1989), S. 7f., 39 und 82 ff.
Vgl. Werner Krauss, PLN–Die Passionen der halykonischen Seele (1946; Neudruck 1983); auf die Bedeutung des Untertitels hat zuerst Heinrich Böll in einem Essay anläßlich der Neuausgabe von PLN hingewiesen: vgl.
Heinrich Böll, “Deutscher Narrenspiegel,” Die Zeit, 14. Oktober 1983, Literaturbeilage S. 9.
Zit. nach Reinhard Merkel, “Schon faul! Aus Anlaß des Heidegger- und Wittgen- stein-Symposions in Madrid,” Die Zeit, 24. März 1989, S. 72.
Vgl. Hermann Broch, Kommentierte Werkausgabe, hrsg. Paul Michael Lützeier, Bd. XIII/2: Briefe, II (1938–1945) (1981), S. 153, 307 und 318.
Hermann Kesten, “Deutsche Literatur zwanzig Jahre danach,” Zwanzig Jahre danach: Eine deutsche Bilanz. Achtunddreißig Beiträge deutscher Wissenschaftler, Schriftsteller und Publizisten (1965), S. 506ff., hier S. 519.
Anregend dazu Hans-Jürgen Heise, “Phantasie, vom Sachdenken vereinnahmt: Anmerkungen zur Gegenwartslyrik,” Stuttgarter Zeitung, 28. Juni 1980, S. 49. Heise beklagt darin, daß in der Literatur dieser Jahre “jede freudige Lebensäußerung schlichtweg für einen heimlichen Akt der Komplizenschaft mit dem repressiven System” gehalten werden, und fährt fort: “Gute Laune, die etwa noch aus Kameraderie mit den Naturerscheinungen entsteht, ist in unserem Kulturambiente fast zu einem Sakrileg geworden. Eine Lyrik, in der sich Vergnügen oder Heiterkeit meldet, gilt längst als affirmativ —” Wie eine direkte Replik darauf liest sich Ulla Hahns Gedicht “Fröhliche Lyrik wird verlangt: Bim bam,” das in dem Gedichtband Spielende von 1983 auf Seite 81 zu finden ist, die Fröhlichkeit als “Stimmung” denunziert und auf den folgenden Seiten durch zwei Gedichte kontrastiert wird, die an die Massenvernichtungen und an die bleibenden Leiden ehemaliger KZ- Häftlinge erinnern.
Alexander und Margarete Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern: Grundlagen kollektiven Verhaltens, 13. Aufl. (1980), S. 219.
Vgl. Peter Weiss, Die Ästhetik des Widerstands, Bd. I (1975), S. 169ff.
Vgl. Karl Heinz Bohrer, “Die permanente Theodizee: Über das verfehlte Böse im deutschen Bewußtsein,” Merkur, 41 (1987), 267ff., hier 277ff.; wieder in
Karl Heinz Bohrer, Nach der Natur: Über Politik und Ästhetik (1988), S. 133ff.
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Kiesel, H. Thomas Manns Doktor Faustus Reklamation der Heiterkeit. Dtsch Vierteljahrsschr Literaturwiss Geistesgesch 64, 726–743 (1990). https://doi.org/10.1007/BF03396193
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