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Sprechen — Lesen — Schreiben Zur Funktion von Sprache und Schrift in Canettis Autobiographie

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Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte Aims and scope Submit manuscript

Zusammenfassung

Ausgangs- und Schlußpunkt der Überlegungen ist Canettis Lebensparabel, die Geschichte von der ‘geretteten Zunge.’ Am Anfang als Glücksfall präsentiert, erweist sich die Anekdote am Ende als die symbolische Darstellung eines selbst noch auf dem Schauplatz der Autobiographie fortgesetzten, in seiner Bedeutung aber nie durchschauten Kampfes, den der Autor gegen seine Vereinnahmung durch die Muttersprache führt.

Abstract

The article begins and ends with Canetti’s parable of his own life, the story of the ‘tongue set free.’ After being presented at first as a stroke of fortune, this anecdote proves ultimately to be a symbolic representation of the author’s struggle against domination by his mother tongue, a struggle that is carried over even into the composition of the autobiography itself, but whose significance is never fully grasped.

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Literature

  1. Heinz Lüdde, “Lesarten der Selbstdarstellung: Zu einem autobiographischen Text von Elias Canetti,” Kultur-Analysen: Psychoanalytische Studien zur Kultur, hrsg. Alfred Lorenzer (1986), S. 375–396. Der Sonderstatus dieses Beitrages wurde auch durch die jüngst erschienene Monographie von Friederike Eigler nicht aufgehoben: Das autobiographische Werk von Elias Canetti (1988).

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  2. Die Begriffe ‘narzißtisch’ und ‘ödipaP bezeichnen dieser Formulierung gemäß zunächst einmal keine pathologischen Phänomene, sondern beschreiben im Sinne der strukturalistisch orientierten Psychoanalyse Beziehungs- und Interaktionsmuster, innerhalb derer sich die Entwicklung des Subjekts vollzieht und die am Ende dieses Prozesses als bestimmende Subjektstrukturen wiederkehren. Vgl. die einschlägigen Artikel bei J. Laplanche und J.-B. Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, 2 Bde., 2. Aufl. (1975).

  3. Mit dieser These und den nachfolgenden Überlegungen trete ich gegen die von Manfred Schneider für die gesamte autobiographische Literatur des 20. Jahrhunderts und für Canetti namentlich geltend gemachte Behauptung an, es ließen sich das autobiographische Subjekt und seine Erinnerungen unabhängig von den jeweiligen psychischen und familiären Dispositionen nach dem Modell der modernen Kommunikations- und Speichertechniken als Produkte anonymer ‘Verschaltungen’ begreifen. Richtig an dieser Behauptung und dem ihr zugrundeliegenden Ansatz ist zwar, daß der autobiographische Text ein Ensemble von Geschichten unbekannter Herkunft und also einen ‘Mythos’ darstellt, der die Frage nach einer persönlichen Wahrheit jenseits des Textes überflüssig macht: Die produktive Instanz, die als Autor zeichnet, ist kein Abziehbildchen, das sich vom Text einfach lösen ließe. Richtig ist aber auch, daß die Funktion eines solchen ‘Mythos’ in seiner symbolischen Wahrheits- und womöglich Wirklichkeitssetzung zu suchen ist, was auf Canettis Lebensbericht bezogen bedeutet: daß der Text auf seine Art—nämlich in seiner Eigenschaft als spannungsreiches, in die Auseinandersetzung mit seinen eigenen Vorgaben verwickeltes ästhetisches Gebilde—über die Genese dieses ‘Mythos’ Auskunft gibt. Vgl. Manfred Schneider, Die erkaltete Herzensschrift: Der autobiographische Text im 20. Jahrhundert (1986), bes. S. 253, und ders., “Die Krüppel und ihr symbolischer Leib: Über Canettis Mythos,” Hüter der Verwandlung: Beiträge zum Werk von Elias Canetti (1988), S. 22–41.

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  4. Zu Canettis Herkunftssprache und deren Funktion im Rahmen der jüdischen Traditionspflege vgl. Martin Bollacher, “Mundus liber: Zum Verhältnis von Sprache und Judentum bei Elias Canetti,” Elias Canetti: Anthropologie und Poetik, hrsg. Stefan H. Kaszynski (1984), S. 47–67.

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  5. Einzelheiten dazu bei Friedbert Aspetsberger, “Weltmeister der Verachtung: Canettis Roman Die Blendung,’” Aspetsberger, Der Historismus und die Folgen: Studien zur Literatur in unserem Jahrhundert (1987), S. 201–225.

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  6. Das gilt, auch wenn Canetti als konkreten Anlaß zum Schreiben die tödliche Krankheit seines Bruders George bezeichnet. An George war schließlich wiedergutzumachen, was dieser an Canettis Stelle für die Mutter unter Hintanstellung eines eigenen Lebens getan hatte. Vgl. Bernd Witte, “Der Erzähler als Tod-Feind: Zu Canettis Autobiographie,” Text und Kritik, 28, 3. erw. Aufl. (1982), 65–72, hier 65.

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  7. Vgl. dazu insbesondere Wolfgang Hädecke, “Die moralische Quadratur des Zirkels: Das Todesproblem im Werk Elias Canettis,” Text und Kritik, 28 (1970), 24–29.

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  8. Gespräch mit Horst Bienek, Elias Canetti: Die gespaltene Zukunft (1972), S. 93–103, hier S. 95.

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  9. Mit dieser Szene beschäftigt sich Edgar Piel, “‘Mir ist jede Fiktion recht’. Elias Canetti: Ein Leben lang gegen den Tod anschreiben,” Piel, Wenn Dichter lügen…: Literatur als Menschenforschung (1988), S. 54–118 u. 129f., hier bes. S. 67ff.

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  10. Gerhard Melzer, “Der einzige Satz und sein Eigentümer: Versuch über den symbolischen Machthaber Elias Canetti,” Experte der Macht: Elias Canetti, hrsg. Kurt Bartsch und Gerhard Melzer (1985), S. 58–72, hier S. 66.

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  11. Vgl. Achim Würker, “Irritation und Szene: Anmerkungen zur tiefenhermeneutischen Literaturinterpretation,” Zur Idee einer psychoanalytischen Sozialforschung: Dimensionen szenischen Verstehens. Alfred Lorenzer zum 65. Geburtstag, hrsg. Jürgen Belgrad, Bernard Görlich, Hans-Dieter König und Gunzelin Schmid Noerr (1987), S. 303–316; ferner Sigrid Scheifele, “Aufhebung der Leidenschaft? Zu Elias Canettis ‘Die gerettete Zunge,’” ebd., S. 317–330.

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  12. Hervorhebungen von mir. Eine Erörterung der thematischen und strukturellen Verwandtschaft von Rembrandts Gemälde und Canettis Eingangsparabel erübrigt sich; die Analogie der beiden Szenen liegt auf der Hand. Doch macht der Vergleich noch einmal deutlich, in welchem Maße Canetti den Verlust der Zunge mit einer Depotenzierung der Männlichkeit gleichsetzt bzw. im Rahmen seiner spezifischen Sozialisationsbedingungen gleichsetzen muß. Denn ohne ‘Zunge’ hätte Canetti seine Vorzugsstellung innerhalb der Familie als erstgeborener Enkel nicht behaupten können, weil er bei den traditionellen jüdischen Familienfesten als Wortgeber des Großvaters nicht in Betracht gekommen wäre (vgl. GZ, 30f.). Darüber hinaus aber zeigt das Bild, was Canettis Anekdote vom drohenden Verlust der Zunge zu kaschieren sucht: Daß die Gefahr nicht von einer männlichen, sondern von der weiblichen Figur ausgeht, wobei in Canettis Bildbeschreibung zwei Momente besonders aufschlußreich sind. Einmal die Tatsache, daß Canetti ein Messer sehen will, das auf dem Bild objektiv nicht vorhanden ist (“… [Dalila] wird [Simson] das verbliebene Auge nicht schenken, sie wird nicht ‘Gnade!’ rufen und sich vors Messer werfen…” [FO, 113 f.]), und zum anderen der Umstand, daß für Canetti Simsons Blendung erst mit dem Verlust des zweiten Auges, und das bedeutet: durch einen Wiederholungsakt besiegelt wird. Was Canetti angesichts des Rembrandtbildes betreibt, ist folglich eine Reinszenierung seiner eigenen Erfahrungen bzw. seiner eigenen Projektionen: Schließlich ist auch Canetti erst anläßlich seiner ‘Wiedergeburt’ und also durch seine zweite sprachliche Sozialisation ‘geblendet’ worden! Vgl. dagegen den Beitrag von Bernhard Greiner, der Canettis Bildbeschreibung ebenfalls ausführlich diskutiert, im Sinne der von mir methodisch und erkenntniskritisch in Anspruch genommenen Prämisse den Wiederholungsakt aber grundsätzlich als eine Form der Entstellung, der Abweichung oder Ablenkung betrachtet und auf dieser Basis für Canetti eine regelrechte ‘Poetik der Wiederholung’ entwickelt, mit anderen Worten: die Gesetze eines Erzählens, das durch Wiederholung das Nicht-Identische hervortreibt und damit die ‘Herrschaft des Gleichen’ außer Kraft setzt. Aus meiner Sicht bemerkenswert ist allerdings, daß diese ‘ablenkende Wiederholung’ nach Greiners Beobachtungen nur um den Preis massiver Verleugnungen und Verdrängungen funktioniert und sich damit die Frage aufs neue stellt, ob nicht das ‘Andere,’ Nicht-Identische, das Canettis ‘Poetik der Wiederholung’ zutagefördert, nur so lange eine Daseinsberechtigung hat, wie es sich Canettis Erzählregie bedingungslos unterwirft. (Bernhard Greiner, “Das Bild und die Schriften der ‘Blendung’: Über den Biblischen Grund von Canettis Schreiben,” Paradeigmata: Literarische Typologie des Alten Testaments. Zweiter Teil: 20. Jahrhundert, hrsg. Franz Link [1989], S. 543–562).

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  13. Vgl. dazu die Dissertation von Barbara Meili, Erinnerung und Vision: Der lebensgeschichtliche Hintergrund von Elias Canettis Roman “Die Blendung” (1985): Hier wird in der Durchführung nicht immer glücklich, im Ansatz aber überzeugend die Fabel der Blendung als Mutter/Sohn-Geschichte gedeutet.

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  14. Vgl. dazu die Untersuchung von Lothar Henninghaus: Tod und Verwandlung: Elias Canettis poetische Anthropologie aus der Kritik der Psychoanalyse (1984), die anläßlich der Blendung zu einem vergleichbaren Ergebnis kommt: “Jetzt wissen wir auch, woran Kien ‘Befriedigung findet,’ woher die außerordentliche Intensität seines Wunsches stammt, der nur als Halluzination erfüllt werden kann; es ist der Wunsch nach dem fehlenden Vater, den er sich nicht erlaubt, bewußt werden zu lassen” (S. 68).

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Wiethölter, W. Sprechen — Lesen — Schreiben Zur Funktion von Sprache und Schrift in Canettis Autobiographie. Dtsch Vierteljahrsschr Literaturwiss Geistesgesch 64, 149–171 (1990). https://doi.org/10.1007/BF03396163

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