1 Einleitung: Interspezifische Begegnungen als Momente des Kuriosen und Katastrophischen?

Tiere nehmen in modernen Sagen – oder urban legendsFootnote 1 – vielfältige Funktionen ein: Oft treten sie als domestizierte Haustiere in Erscheinung, mit denen der Mensch als so gezeichnete Besitzer*in in irgendeiner Form umgehen und dabei bestimmte Regeln beachten muss, damit es nicht zur Katastrophe kommt. Dagegen heben andere urban legends auf das ›Kreatürliche‹ ab, etwa wenn es um anekdotische Tier-Mensch-Begegnungen als Gefahrensituation im Reise-Kontext geht. Hier sind es meist Bewohner*innen des globalen Nordens, die in so gezeichneten ›fremden‹ Umgebungen auf das ganz ›Andere‹ in Gestalt des exotischen Tiers stoßen. Nicht selten markieren derartige Ereignisse einen Bruch mit dem Gewöhnlichen, insbesondere, wenn das Exotisierte Einzug hält in das zivilisatorische oder bürgerliche Milieu. Die Tier-Mensch-Begegnungen stehen dann unter dem Zeichen von Kontamination und Invasion – Momente, die Furcht, Ekel und Abwehr in den Rezipient*innen auslösen sollen.

Urban legends dieses Typus’ weisen eine Nähe zu Anekdoten auf, denn anekdotische Erzählweisen eignen sich, so hat Anja Bandau am Beispiel von Reise- und Augenzeugenberichten im kolonialen Kontext aufgezeigt, in besonderem Maße dazu, über das ›kulturell Andere‹ zu sprechen, also interkulturelle Begegnungsszenarien im Zeichen des Unerwarteten und vor dem Hintergrund asymmetrischer Machtverhältnisse zu thematisieren.Footnote 2 So markieren anekdotische Schreib- und Erzählweisen Momente des Ungewohnten und Differenten.Footnote 3 Mehrdeutigkeit schafft dieser Erzähltypus, indem singuläre Ereignisse mit einem bestimmten historischen Kontext bzw. spezifischen soziokulturellen Bedingungen miteinander verknüpft werden,Footnote 4 und sich die Geschichten einerseits als unterhaltsame Einzelfälle lesen lassen, andererseits als allgemeine Gesetzmäßigkeiten. Als rhetorisches Mittel der Persuasion und Gefühlsweckung wirkt im Fall der anekdotischen Evidenzbildung nämlich eine suggestive Taktik des »Vor-Augen-Führens«Footnote 5, bei der die Rezipient*innen in die gleiche epistemische Situation versetzt werden sollen wie die historischen Erzähler*innen – komplexe politische oder geschichtliche Zusammenhänge werden szenisch verdichtet.Footnote 6 Diese narrative Konzentration auf ein zufälliges, skurriles oder auch skandalöses Detail (die anekdotische ›unerhörte Begebenheit‹) zeitigt aber auch politische Effekte, wie am Beispiel der Kolonialtexte deutlich wird: Die ikonischen Begegnungsszenen, die oft auf vermeintliche ›Absonderlichkeiten‹ der ›kulturell Anderen‹ abheben, schaffen Stereotypisierungen zugunsten der Kolonialmacht. Dabei werden strukturelle Unterdrückung, Machtmissbrauch und Gewalt entweder ausgeblendet oder sogar legitimiert.Footnote 7 In der Rezeption können die durch die Erzählinstanz einseitig beglaubigten Ereignisse dann zu allgemeinen Vorurteilen sedimentieren.

Ähnliches lässt sich, so die zugrundeliegende Beobachtung dieses Beitrags, auch für die Gattung der urban legends und den Kontext der interspezifischen Begegnung beobachten, die von Aspekten des Zufälligen und Unbeabsichtigten ebenso geprägt ist wie von Aspekten der strukturellen Gewalt, Differenz und Ablehnung.Footnote 8 So verschleiern urban legends, die Mensch-Tier-Begegnungen zum Thema haben, einerseits durch den Fokus auf Kuriositäten und Katastrophen, dass im Sinne Bruno Latours menschliche und nicht-menschliche Subjekte permanent in Beziehung zueinanderstehen,Footnote 9 wodurch sie die künstlich geschaffenen Grenzen zwischen Natur und Kultur zur unüberbrückbaren Kluft festschreiben. Andererseits thematisieren viele urban legends, zum Beispiel mit Fällen von Deterritorialisierung und gescheiterter Domestizierung, gerade die Überschreitung dieser Grenzen, womit sie alternative Perspektiven auf kulturelle DiskursformationenFootnote 10 aufzeigen und ein anthropozentrisches Framing subversiv unterlaufen können.

Im Folgenden sollen die interspezifischen Begegnungen in urban legends auf diese gegenläufigen Interpretationsmöglichkeiten untersucht werden. Dafür wird in einem ersten Schritt zu zeigen sein, wie Mehrdeutigkeit bei der (Sub‑)Gattung moderner Sagen vor allem auf der Rezeptionsebene eine Rolle spielt. Moderne Sagen, die Groteskes mit Alltäglichem verbinden, schwanken nämlich chronisch zwischen niedrigschwelliger Unterhaltung einerseits und unterschwelliger Botschaft andererseits; genauer: sie verhüllen ihre politische Bedeutung in der Uneigentlichkeit des Unernsten, ja bisweilen Lächerlichen. Vor diesem Hintergrund soll in einem zweiten Schritt auf den Prüfstand gestellt werden, inwiefern auch die Mensch-Tier-Begegnungen in den urban legends unmittelbare Präsenzeffekte und latente Sinneffekte zeitigen und welche verschiedenen Lesarten sich aus diesem Zusammenspiel ergeben. Exemplarisch an den in vielfältigen Varianten erzählten und populär bis politisch rezipierten Geschichten »The Microvawed Pet« und »The Mexican Pet« wird dann analysiert, wie anthropozentrische Vorstellungen im Kontext der Mensch-Tier-Begegnungen verfestigt oder aber gegen den Strich gelesen werden können.

2 Urban legends zwischen Populärkultur und Politisierung

Definiert werden moderne Sagen allgemein als mündliche Alltagsgeschichten, die sich auf aktuelle, lokalisierbare Ereignisse beziehen und meist einen unheilvollen Ausgang nehmen,Footnote 11 oder aber als anekdotische Erzählungen über ein ungewöhnliches Ereignis, das tatsächlich geschehen sein soll.Footnote 12 Obwohl der Begriff urbane Legende erst in den 1960er-Jahren von Richard Dorson, dem Direktor des Folkloreinstituts an der Universität von Indiana, eingeführt wurde, sind Erzählungen dieser Art bereits seit den 1930er-Jahren ein vieldiskutierter Gegenstand der ehemals volkskundlichen, heute kulturanthropologischen Erzählforschung,Footnote 13 obwohl – oder gerade weil – sie nicht nur wahrheits-, sondern auch gattungsontologische Probleme aufweisen.Footnote 14 So besteht bis heute kein einheitliches Klassifikationsschema,Footnote 15 was sie als kleine Form literarischer (Sub‑)Gattungen dazu prädestinieren könnte, in metareferenzieller Weise Formen von Liminalität und Deterritorialisierung zu thematisieren, also fixe Klassifikationssysteme infrage zu stellen. Denn das Attribut des Kleinen bezeichnet nicht nur formal die Kürze, sondern auch den Charakter des Randständigen, Marginalisierten und Peripheren.Footnote 16 Auch die Nähe zur Anekdote, die seit der Moderne vor allem dadurch charakterisiert ist, eine noch unbekannte merkwürdige Begebenheit zu erzählen, aber ursprünglich als Historia arcana eine unterdrückte, verschwiegene Seite der offiziellen Historiografie darstellte,Footnote 17 markiert dieses potenziell subversive, oppositionelle Moment der urban legends: Sie transportieren ein anderes Wissen, keine Fakten, aber anekdotische Evidenzen, die auf soziale Interaktionen zurückwirken.Footnote 18 So verbreiten sich urban legends wie Gerüchte nach dem FOAF-Modell (»friend of a friend«),Footnote 19 wodurch erstens die unsichere bis unbekannte Quellenlage verschleiert und zweitens der sogenannte »audience effect«Footnote 20, die Bedeutung der Zuhörerschaft, betont werden, die das Gehörte adaptieren und weiterverbreiten sollen. Hieraus erklärt sich, dass sich besonders diejenigen stories als langlebig erweisen, die auf diesen audience effect hin erzählt werden, die also einen simplen plot aufweisen und/oder spektakuläre Wendungen nehmen und/oder mit ikonischen Elementen arbeiten, also mit Suggestivkraft bestimmte Bilder vor dem geistigen Auge der Rezipierenden wachrufen, die vielfältige Deutungsaktivitäten anregen.Footnote 21

Albrecht Koschorke unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen Narrativ und story. Er beschreibt das Erzählen als eine notwendig selektive Tätigkeit, als Hervorhebung weniger Einzelelemente aus einer Masse von wahrgenommenen Informationen.Footnote 22 Dabei entstehe ein Narrativ, dessen Grobstruktur Festigkeit bietet, während es zugleich eine große Varietät von Einzelfällen – die sogenannten stories – unter sich subsumieren könne.Footnote 23 Erzählschemata bieten demnach ein Gerüst, das im Idealfall unangetastet bleibt,Footnote 24 bei dem es aber trotzdem gelingt, immer wieder anders und adressatenbezogen zu erzählen. Dieses Kriterium spielt insbesondere in der Sagen- und kulturanthropologischen Erzählforschung eine Rolle. Gute Erzähler*innen reproduzieren den Erzählstoff zwar in traditioneller Form, modifizieren ihn aber individuell, um ihn der Erzählsituation und dem Publikum anzupassen. Erzählstrategien können somit je nach Konstitution und Bedürfnis der Zuhörerschaft verändert werden.Footnote 25

Obwohl es sich bei den urban legends um ein überregionales bis globales Wanderphänomen handelt, haben sie oft einen lokalen Bezug und sind vermehrt in der weißen anglo-amerikanischen Kultur anzutreffen.Footnote 26 Die ›städtische‹ Prägung des Ausdrucks geht auf den US-amerikanischen Anglisten Jan Harold Brunvand und seine Anthologie The Vanishing Hitchhiker: American Urban Legends & Their Meanings (1981) zurück. Brunvand wollte den ›urbanen‹ Erzähl-Typus von den klassischen folkloristischen Erzählformen abgrenzen, die im eher ländlichen Milieu angesiedelt waren. Der Begriff hat aber eine längere Tradition in Frankreich: So machten bereits Ende der 1870er-Jahre Paul Sébillot und Henri Gaidoz in der französischen Zeitschrift Mélusine auf das neue Phänomen der Großstadtsagen, der légendes urbaines, aufmerksam.Footnote 27 Heute gilt die Einengung auf das Städtische zwar als überholt,Footnote 28 doch die Bedeutung verweist auf ein konstantes inhaltliches Gattungsmerkmal: die Skepsis gegenüber der modernen Welt mit all ihren vermeintlichen Gefahren, Skurrilitäten und Komplexitäten, die erzählerisch gebannt werden müssen.Footnote 29 Als langlebig erweisen sich dabei jene Geschichten, die an unbewusste Ängste und Ressentiments appellieren und sich dichotomischer Freund-Feind-Schemata bedienen. So sind sie oftmals Ausdruck einer – mitunter konspirativenFootnote 30 – Angst-Lust,Footnote 31 wie die Popularität von Kontaminationsgeschichten aller Art eindrücklich illustriert (in den 1980er-Jahren prosperierten etwa AIDS-Geschichten).

In der Folge konstituiert sich die Mehrdeutigkeit der urban legends zwischen niedrigschwelligem Präsenzeffekt einerseits: die unmittelbare Reaktion auf eine skurrile Begebenheit; und unterschwelligem Sinneffekt andererseits: das Nachwirken einer – mitunter – politischen Botschaft im Sinne einer bestimmten Konstellation von Machtverhältnissen, Ein- und Ausschlussverfahren und Zuschreibungsprozessen.Footnote 32

3 Die Mehrdeutigkeit der Tier-Erscheinungen in urban legends

Brunvand, der erstmals literarische Interpretationstechniken traditioneller Volksmärchen auf moderne Legenden und Sagen anwandte und sie in Enzyklopädien veröffentlichte, kann etwa 60 urban legends identifizieren, die sich schwerpunktmäßig mit Tieren beschäftigen.Footnote 33 Natürlich tauchen Tiere aber auch in anderen Texten auf, quasi als Nebendarsteller. Gillian Bennetts und Paul Smiths 1993 erschienene Bibliographie subsumiert sogar 150 Tier-Einträge, wobei die verschiedenen Spezies von Fröschen über Wölfe bis zu Elefanten reichen.Footnote 34 Brunvand zählt Tiere – gemeinsam mit »cars, crime, sex, and horrors«Footnote 35 – zu den beliebtesten Themen in urban legends. Dabei konstatiert er ein gehäuftes Vorkommen von Haustieren. Oft kommen diese unter grausamen Umständen und durch die Schuld ihrer Besitzer*innen zu Tode, wie der berühmte Pudel in der Mikrowelle (»The Microwaved Pet«), auf den im Folgenden noch exemplarisch eingegangen wird. Es gibt aber auch viele (Komplementär‑)Geschichten, in denen das Rache-Motiv eine explizite Rolle spielt, beispielsweise in der Geschichte, in der ein gejagter und fälschlich für tot gehaltener Hirsch wieder zum Leben ›erwacht‹, seinen Jäger attackiert und zurück in die Freiheit flieht (»The Deer Departed«). Eine dritte klassifizierbare Kategorie betrifft urban legends, in denen Verunreinigung und Ekel eine Rolle spielen. Hier treten Tiere als Invasoren, Schädlinge und Kontaminationsquellen in Erscheinung, die Menschen infizieren können, entweder über unmittelbaren Kontakt oder indem sie sich in Nahrungsmitteln einnisten. Oder sie lösen einfach Ekel aus wie in der Geschichte »Kentucky Fried Rat«, in der angeblich in einem Burger einer bekannten Fast-Food-Kette Rattenfleisch gefunden worden sein soll.

Fast all diese Geschichten haben ein gemeinsames Moment: Tiere tauchen als Störfaktoren auf; sie verkomplizieren das menschliche Leben, indem sie entweder an Orten sind, an denen sie nicht sein sollten – wie die berüchtigte Spinne in der Yucca-Palme oder auch die Schlange in den Bananenstauden –, oder aber indem sie in einem Zustand sind, in dem sie nicht sein sollten, beispielsweise der vermeintlich erlegte Hirsch, der sich vom sichtbaren Objekt, nämlich potenziellem Fleischprodukt oder Jagdtrophäe, zum unsichtbaren Subjekt, also zum Wildtier, zurückverwandelt.Footnote 36 Tiere handeln und existieren also entgegen ihrer vom Menschen zugedachten Rolle – und auch entgegen ihrer zugeschriebenen Gattung. So thematisieren viele urban legends zum einen animalische Grenzgänger, deren Kategorisierung und ›Funktion‹ aufgrund von kulturell geprägten, nicht zoologischen Benennungs- und Wahrnehmungspraktiken aus einer anthropozentrischen Perspektive mehr- bis uneindeutig sind. Hierzu zählen vor allem so bezeichnete Haustiere, also Tierarten, die durch Domestikation aus Wildtierarten hervorgegangen sind, aber deren unzivilisatorischer ›Ursprung‹ immer wieder aufscheint. Besonders Tiere, die zwar als Heimtiere gehalten werden können, aber auch wild leben, wie Mäuse/Ratten oder Schlangen und Spinnen, werden in urban legends dramatisch in Szene gerückt, wobei ebenso eine Rolle spielt, dass diesen Tieren oft aufgrund jahrhundertelanger kulturgeschichtlicher Stigmatisierung mit Ekel und Abneigung begegnet wird, die zoophobische Auswüchse annehmen können.

Zum anderen behandeln viele urban legends die Frage des natürlichen Lebensraums für bestimmte Tierarten sowie territoriale Grenzüberschreiten in Folge von menschlichem Eingreifen. Im Kontext der Mensch-Tier-Begegnungen ist der als überholt geltende Aspekt des ›Städtischen‹ somit immer noch relevant, weil er im Medium der urban legends als eine Sphäre markiert wird, in der die Sichtbarkeit von Tieren spätestens seit der Mitte des 20. Jahrhunderts in der menschlichen Wahrnehmung eher abgenommen hat.Footnote 37

Unter diesem Gesichtspunkt könnten jene urban legends, die das versteckte Vorkommen und unerwartete Auftauchen von Wild- oder exotischen Tieren in Städten (oft des globalen Nordens) thematisieren, den unsichtbaren Aktanten zu agency verhelfen, indem sie erstens Sichtbarkeit schaffen – nicht im konkreten Sinn für den Alligator, der vermeintlich im Abwassersystem New Yorks heimisch geworden ist (»Alligators in the Sewers«), aber etwa für die Verbreitung – und Vertreibung – des Mississippi-Alligators, also für Fälle von notwendiger Koexistenz von Menschen und Tieren, die sich weitläufig denselben Lebensraum teilen. Zweitens wird eine Form von agency auf der Metaebene geschaffen, indem fixe Klassifizierungs- und Hierarchisierungssysteme infrage gestellt werden, wofür die moderne Sage, wie bereits angedeutet, insbesondere prädestiniert ist, weil auch sie keine fix umrissene, eindeutig bestimmte und bestimmbare Gattung ausmacht, sondern sich im flexiblen Zusammenspiel von und in Konkurrenz mit koexistierenden Gattungen und Untergattungen ausbildet und eng an die sich verändernde Lebenswelt und Kommunikationsroutinen ihrer Erzähler*innen und Rezipient*innen rückgekoppelt ist.Footnote 38 Die Gattung der urban legends erweist sich von dieser Warte aus betrachtet als ähnlich grenzgängerisch wie die liminalen Tierfiguren, die sie thematisieren. Allerdings ist die Form der agency, die diese durch ihre so inszenierte Liminalität erfahren, keine unproblematische. Denn zum einen wird Tieren, wie der Spinne in der Yucca-Palme oder der Giftschlange in den Bananenstauden, nur agency in ihrer so stilisierten ›Monstrosität‹ zugeschrieben,Footnote 39 d. h. sie werden zu handelnden Akteuren, wenn sie Menschen in ihren Wahrnehmungs- und Lebensgewohnheiten erschrecken und gefährden. Nicht zufällig hatte ja Brunvand die Tiererscheinungen in urban legends von ihren Effekten her bestimmt und sie gleichrangig mit den Themenkomplexen »crime, sex, and horrors« genannt.

Zum anderen zeigen urban legends immer nur einen Ausschnitt der Mensch-Tier-Begegnungen, also immer nur ein temporäres Aufscheinen einer möglichen Neuordnung des interspezifischen Zusammenlebens. Vielmehr lässt das offene Ende vieler Geschichten eine Sanktionierung des Ordnungsbruchs bzw. der Grenzüberschreitungen erahnen. Die Zuschreibung von agency würde dann nur erfolgen, um die Anwendung von Gewalt und/oder die Fortsetzung von Unterdrückung zu legitimieren,Footnote 40 konkret: die Spinne ›muss‹ aus der Yucca-Palme wieder entfernt werden und der Mississippi-Alligator ›muss‹ systematisch aus menschenbewohnten Gebieten verdrängt werden.

Hier erfüllen die urban legends eine gleichermaßen kontingenzreduzierende wie handlungsmotivierende Funktion, denn sie dienen, wie u. a. Matías Martínez herausgestellt hat, einer »verhütungsorientierten Haltung«: Sie artikulieren und bestätigen hegemoniale Handlungsnormen und Sichtweisen, indem sie die katastrophischen Konsequenzen ihrer Verletzung ausmalen.Footnote 41 Und diese verhütungs- oder vermeidungsorientierte Haltung fällt nicht immer zugunsten der Tiere aus. Denn während im Fall der urban legend »The Deer Departed« das Jagdverhalten moralisch kritisiert wird und die Sympathien mehrheitlich auf der Seite des sich befreienden Wildtieres liegen dürften, bedienen Geschichten von eingewanderten oder eingeschleppten Tierarten ein globalisierungskritisches Narrativ und somit ein Interesse an eindeutigen Markierungen und Trennungen vermeintlich disharmonischer Sphären (Natur/Kultur), wobei sie mitunter alles ›Fremde‹ diskriminieren und ablehnen. Hierin zeigen sie sich als kleine Form von ihrer systemstabilisierenden Seite,Footnote 42 ähnlich der Anekdote im Kolonialkontext, wie eingangs gezeigt wurde.

Vor diesem Hintergrund stellt sich für die nachfolgenden Detailanalysen die Frage, wann und unter welchen Bedingungen Tiere in urban legends einerseits als »semiotische Zeichen«Footnote 43 benutzt werden, um mit ihnen ›moderne‹ Geschichten von Entfremdung und Kontrollverlust zu erzählen, und wie sie andererseits – so schreiben es Jessica Ullrich und Alexandra Böhm über das Potenzial literarischer Texte – »im materiellen embodiment des Storytelling zu eigenen, widerständigen Wesen [werden können, L.L.], welche die ihnen zugeschriebenen Zeichen und Semantiken in Frage stellen, überschreiten oder umkehren«.Footnote 44

3.1 Reales Tier oder Krisenindikator? Verwechslung und Entfremdung in »The Microwaved Pet«

Der Grundplot der urban legend »The Microwaved Pet«, wie ihn Brunvand in seiner Anthologie rekonstruiert und wie er wohl auch vielen Rezipient*innen bekannt ist, lautet wie folgt:

»Usually it was said that an old woman had been in the habit of drying her toy poodle after its bath by placing it on a towel on the open door of her oven and setting the heat at a low level. When her son gives her a new microwave oven for Christmas, the woman assumes that she can use it to dry her pet, as usual. But when she puts the wet dog inside the oven, shuts the door, and turns it on, the poodle explodes.«Footnote 45

Eine ältere Person, meist eine Frau, ist es also gewöhnt, nach Spaziergängen mit ihrem Hund, meist einem Pudel, diesen im Backofen bei geringer Wärmezufuhr und geöffneter Tür wieder ›aufzuwärmen‹. Als ihr Sohn ihr eine Mikrowelle schenkt, setzt die technikaverse Person nun das neue Gerät an die Stelle des Ofens und der Hund explodiert.

Bevor diese Version hinsichtlich ihrer katastrophisch gezeichneten Mensch-Tier-Begegnung genauer analysiert werden soll, gibt ein Überblick über die vielfältigen Adaptionen Aufschluss über die ebenso vielfältigen Interpretationsmöglichkeiten der urban legend. Teilweise entfernen sich die Versionen erheblich von dem bekannten Grundplot, aber behalten das Narrativ des durch menschliche Unachtsamkeit zu Tode gekommenen Haustiers, meist durch (Fehl‑)Einsatz moderner Technik, bei. So führt Brunvand an, dass andere Versionen »mention a dog or cat being accidentally doused by a garden hose while children are playing. One child decides to dry off the pet in the microwave oven.«Footnote 46 Beide Versionen seien seit den 1950er-Jahren vor allem in den USA verbreitet, während in Frankreich Ende der 1960er-Jahre die folgende story dokumentiert ist, die in einigen entscheidenden Erzählelementen von »The Microwaved Pet« abweicht:

»Avignon. ›Mettez le gâteau au réfrigérateur,‹ avait dit à Carmen sa bonne, une brune Espagnole de dix-neuf ans, une habitante de Vaison-la-Romaine. Ne se trouvant en France que depuis deux mois et ne connaissant que des rudiments de la langue française, la jeune fille, si elle entendit bien le mot gâteau, le traduisit par ›gato‹, ce qui, dans sa langue maternelle, signifie ›chat‹. Obéissante, elle empoigna ›Fonfon‹, le magnifique chat angora de sa patronne et l’enferma dans le réfrigérateur. Ses maîtres ne devaient revenir que le soir et c’est l’issue d’un dîner, qu’elle offrait à des amis, que la maîtresse de ›Fonfon‹ mesura l’étendue du drame. Ayant demandé a Carmen d’apporter le gâteau, quelle ne tut pas sa stupeur et sa douleur de voir arriver sur un plateau le cadavre de ›Fonfon‹, complètement frigorifié.«Footnote 47

Eine hausdienstliche Angestellte wird von der Hausbesitzerin dazu aufgefordert, den für das feierliche Abendessen vorbereiteten Kuchen in den Kühl- bzw. Eisschrank zu stellen, friert aber aufgrund eines sprachlichen Missverständnisses die Katze ein, die dann am Abend anstelle des Kuchens aufgetischt wird. Dass hier das Haustier versehentlich eingefroren und nicht verbrannt wird, ist für das Erzählparadigma eher zu vernachlässigen. Relevanter erscheint die hierarchische Figurenkonstellation, weil hier der asymmetrisch gezeichneten Begegnung zwischen wehrlosem Haustier und unwissendem*r Besitzer*in ein weiteres missbrauchsanfälliges Verhältnis hinzugefügt wird: das zwischen einer jungen, zugewanderten, dienstleistenden Person, die »bonne« Carmen, »une brune Espagnole de dix-neuf ans« und einer diesen Dienst in Anspruch nehmenden, ›einheimischen‹ Person, »une habitante de Vaison-la-Romaine«. Zentraler noch als bei »The Microwaved Pet«, wo die stereotype Figur der »old woman« die Funktion eines modernen technischen Geräts nicht versteht, tritt hier der Aspekt des kommunikativen Missverstehens (aufgrund einer Sprachbarriere) in den Vordergrund, der – wie bereits angedeutet – vor allem in anekdotischen Berichten interkultureller Begegnungen eine Rolle spielt. Die stereotypeFootnote 48 spanischsprachige Haushälterin missversteht die Anweisung, den Kuchen in den Kühlschrank zu stellen und friert stattdessen die Katze ein, weil sie die Bedeutung von dem französischen »gâteau« (Kuchen) mit dem spanischen »gato« (Katze) verwechselt. Ein ähnliches Erzählelement taucht in der urban legend »The Baby-Roast« auf, in der es nun überhaupt nicht mehr um Haustiere geht, sondern um Babys, die durch die Schuld eines*r unverständigen Babysitter*in in den Ofen geraten.Footnote 49

Wie bereits erwähnt, schaffen moderne Sagen kontingenzreduzierende Narrative für das Gefühl einer Überforderung angesichts einer immer komplexer werdenden Welt im Zuge der Globalisierung, in der sich scheinbar niemand mehr versteht – weder im Arbeits- noch im familiären Verhältnis – bzw. sich auf das versteht, was er*sie eigentlich, d. h. in einem traditionalistischen, wertkonservativen Sinne, tun sollte: sich um die Eltern kümmern, anstatt sie mit nutzlosen Geschenken abzuspeisen (»The Microwaved Pet«); die Haustiere und erst recht nicht die eigenen Kinder von ›Fremden‹ beaufsichtigen lassen (»The Baby-Roast«).

Ich komme zurück zu dem populären Grundplot von »The Microwaved Pet«, um nun die spezifische Rolle der Tierfigur genauer zu betrachten, deren narrative Funktion sich angesichts der hohen Diffusions- und Adaptionsrate der Geschichte bis hin zum »Roast Baby« vom diegetischen Tier zum semantischen Platzhalter (zum Beispiel als Bedeutungsträger für Überforderung, Entfremdung oder Vernachlässigung) aufzulösen scheint.

Gerade im Vergleich zu der mit zahlreichen Details ausgestatteten französischen Variante, in der das Haustier einen Namen erhält und als außerordentlich schön beschrieben wird (»Fonfon, le magnifique chat angora«), um den Schock über sein Ableben zu steigern, außerdem ein Lokalbezug hergestellt wird (»Avignon«) und durch den Einsatz von direkter Rede Immersionseffekte geschaffen werden, fällt auf, dass es sich bei Brunvands Darstellung von »The Microwaved Pet« eher um ein narratives Muster zu handeln scheint. So fungiert die (moderne) Sage nicht nur als Medium, über das ›wahre Geschichten‹ vermittelt werden, sondern sie stellt zugleich eine Art formales Muster für diese Art von Erzählungen bereit.Footnote 50 Aber wie verhält es sich mit dem Wahrheitsfaktor? Wie die meisten urban legends weist »The Microwaved Pet« – von dem unglaubwürdigen Grundgerüst einmal abgesehen – logische Inkonsistenzen auf, etwa dass ein Pudel selbst in älteren, größeren Mikrowellenmodellen gar keinen Platz haben dürfte.Footnote 51 Das heißt, die Geschichte ist gerade nicht von der Art, die für wahrscheinlich oder plausibel gehalten werden kann, wie es aber ein Kriterium für das gattungskonstitutive »truth-based-labeling« von urban legends ist. Wie erklären sich also ihre Langlebigkeit und Variationenvielfalt, also ihre Relevanz, beständig weitererzählt zu werden, wenn nicht allein mit dem – fragwürdigen – Unterhaltungscharakter? Hier ist entscheidend, dass urban legends eben keine genuin literarische Gattung ausmachen und somit auch nicht ästhetischen Gesetzmäßigkeiten gehorchen müssen.Footnote 52 So unterlaufen sie zum Beispiel gezielt die aristotelische Unterscheidung zwischen faktenbasierter Historie, die das Besondere und Wahre mitteilt, und fiktiver Dichtung, die das Allgemeine nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit darstellen soll.Footnote 53 Die Funktionsmechanismen der modernen Sage müssen hier vielmehr unter informationstechnischen Aspekten betrachtet werden. Ihre Übertragungslogiken ähneln nämlich jenen der Nachricht, die Kriterien der Mehrdeutigkeit und Relevanz unterliegt, wobei auch sehr unwahrscheinliche Nachrichten überzeugen können, wenn sie hinreichend relevant sind.Footnote 54 Martin Doll hat dies am Beispiel von Hoaxes, also Falschnachrichten im Internet, die auch als urban legends vorkommen können, deutlich gemacht:

»Die Signifikanz dieser Hoax-Kulisse lässt auch den Doppelcharakter der ›Ereignishaftigkeit‹ von Nachrichten, von ›News‹, besonders augenfällig werden: Einerseits muss nämlich ein Hintergrundwissen, eine akzeptierte zeitgenössische Wissenspraxis wiederholt, also Redundanz erzeugt werden, um die Neuigkeit wahrscheinlich erscheinen zu lassen […], andererseits muss vor diesem Hintergrund eine Differenz, ein ›Allerneuestes‹ erkennbar sein, damit eine Verlautbarung auf Interesse stößt.«Footnote 55

Je unwahrscheinlicher also ein Ereignis ist, desto informativer ist es – ungeachtet des Wahrheitsgehalts.Footnote 56 Diese These bestätigt auch eine Studie, die sich mit den Effekten von »truth-based-labeling« auf das Rezeptionsverhalten, auch speziell von urban legends, beschäftigt hat.Footnote 57 Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass nur wenn die angeblichen Wahrheitselemente – und eine moderne Sage markiert schließlich das Unwahrscheinliche als tatsächliche Begebenheit – als außergewöhnlich wahrgenommen werden, die Glaubwürdigkeit zunimmt.Footnote 58 Ob etwas geglaubt wird, entscheidet außerdem die soziale Beziehung zwischen Quelle und Rezipient*in.Footnote 59 Eine andere Studie zu der Bedeutung von Emotionen auf das Rezeptionsverhalten ist in diesem Zusammenhang zu dem Schluss gekommen, dass der subjektive Glaube weniger entscheidend sei, als dass Erzählungen Wahrheiten aussagten über Erzählgemeinschaften.Footnote 60 Übertragen auf das konkrete Beispiel »The Microwaved Pet« bedeutet das, dass gerade die ikonischen Erzählelemente, also jene radikal in Szene gerückten Akteure wie das (austauschbare) Haustier, vielleicht weniger entscheidend für die Weiterverbreitung sind als ein übergeordnetes Narrativ, das an – zum Teil unbewusste – Denkgewohnheiten und Wahrnehmungsroutinen appelliert und stark an die so empfundene Lebenswelt der Rezipient*innen rückgekoppelt ist. Nicht der explodierende Pudel in der Mikrowelle ist dann der wahrheitsheischende Faktor in der modernen Sage, sondern die Lebenswelt der Erzähl- als Konsumgemeinschaft. So kursiert die Geschichte vor allem Ende der 1970er-Jahre, also in dem Jahrzehnt, in dem die Verkaufszahlen von Mikrowellen in den USA in die Höhe schossen. Die Geschichte steht somit im Zeichen einer Kritik an der kapitalistischen Überflussgesellschaft, die sich bereits mit den Grenzen des ewigen Wachstums bzw. dessen Kehrseiten konfrontiert sieht. Hierzu mag auch der Umgang mit Haustieren zählen, der in »The Microwaved Pet« von Verdinglichung und Entfremdung geprägt ist, weil mangelnde Technikkompetenz und mangelnde Tierkompetenz miteinander verzahnt werden, so als wäre auch das Haustier etwas, das einer Bedienungsanleitung bedürfe und das in einem missbrauchsanfälligen Besitzverhältnis steht.Footnote 61

Das Bild des explodierten Pudels bedient dann bei Rezipient*innen nicht nur Affekte des Mitleids und/oder Ekels, sondern das Erzählgerüst von »The Microwaved Pet« rekurriert auch unterschwellig auf zeitdiagnostische Beobachtungen, die weniger mit der interspezifischen Konfrontation zu tun haben, sondern vielmehr allgemeine Krisen- und Entfremdungserscheinungen narrativ zu kanalisieren suchen.

3.2 Von Haustieren und Schädlingen. Liminalität und Subversion in »The Mexican Pet«

Auf den ersten Blick subversiver ist hingegen die folgende Geschichte mit dem Titel »The Mexican Pet«, die Brunvand in der folgenden Variante dokumentiert:

I heard this last year here in Garland; it supposedly happened to a friend of a friend of my wife’s. It seems that this friend was on a vacation in Acapulco, swimming at a deserted beach one morning, when she saw a Chihuahua in the water. After they both got to shore, she looked for the owner, but there was no one around. Not knowing what else to do, she took the dog to her hotel to feed it. Time passed, and she kept the animal with her in the hotel room for the rest of her stay in Mexico. The dog was quiet, never barking or disturbing the other guests and she quickly learned to love it. When the time came for her to leave for home, she decided to smuggle her new pet back to the U.S. She hid it in her purse, and was lucky that it made no sound, either on the airplane or while passing through customs. Once home, she kept it in her apartment, and since it never barked the neighbors never complained. One day she came home from work only to discover that the dog had fallen into the toilet. She rescued and dried it, but fearing for some possible illness, she took the dog to a veterinarian. After an examination, the vet asked her where she got the dog. She told him the story, but then asked why that was important. Reluctantly, the vet explained that the animal was not a Chihuahua at all, but instead a Mexican Water Rat!Footnote 62

Die urban legend thematisiert mehrere Grenzüberschreitungen. Zunächst bewegt sich die US-Amerikanerin, indem sie nach Acapulco, Mexiko reist, außerhalb ihres gewohnten Umfelds. Der verlassene Strand (»deserted beach«) markiert zusätzlich eine Sphäre des Abseitigen, Peripheren, deren Eigengesetzlichkeiten die Frau missachtet. So identifiziert sie die mexikanische Wasserratte als Chihuahua und geht wie selbstverständlich davon aus, dass das Tier einen »owner« haben müsse, nach dem sie sich umschaut. Als sie niemanden ausmachen kann, begeht sie eine weitere Grenzüberschreitung, indem sie eine an das Wasserleben angepasste Spezies mit in ihr Hotelzimmer nimmt. Ähnlich wie in »The Microwaved Pet« gehen empathische Fürsorge für das Tier und dessen Missbrauch Hand in Hand, wenn die anthropozentrische, also vermenschlichende Perspektive dazu führt, dass der Pudel bzw. der vermeintliche Chihuahua natürlichen Umwelteinflüssen (Nässe, Kälte) entzogen werden sollen. Schließlich ›schmuggelt‹ die Frau die Wasserratte sogar in die USA – versteckt in ihrer Handtasche, womit die Geschichte, ähnlich wie »The Microwaved Pet«, Assoziationen mit einem verhätschelten ›Schoßhündchen‹ wachruft. Doch anders als in »The Microwaved Pet« tritt das Tier hier nicht vornehmlich als Opfer in Erscheinung, sondern vielmehr wird die Frau in ihrer naiven Fehleinschätzung vorgeführt, wenn der Chihuahua schließlich als Wasserratte enttarnt wird. Der anvisierte Schockmoment seitens der Rezipient*innen liegt also hier nicht in einem martialischen Tötungsakt, in dem die Mensch-Tier-Konfrontation kulminiert, sondern in einer Art anagnorisis, wenn sich der Umgang mit dem ›liebenswerten‹ Hund im Nachhinein als Täuschung entpuppt.

Einerseits wird hier die Willkürlichkeit von gattungsspezifischen Kategorisierungen entlarvt, indem diese performativ, d. h. in der realen interspezifischen Begegnung unterlaufen werden können. Theoretische Vereindeutigungen scheitern also mitunter an der individuellen Praxis.Footnote 63

Andererseits appelliert die urban legend an speziesistische Wahrnehmungsroutinen, nämlich an diskursive Machtverhältnisse in Form von Benennungspraktiken, »die allein vom Menschen etabliert wurden und diesen samt seiner ausgewählten ›Haustiere‹ privilegiert.«Footnote 64 Für diese Lesart spricht zum Beispiel, dass die Geschichte die Reaktion der Frau bewusst ausspart und in ›sprechender‹ Weise ganz in der Pointe aufgeht,Footnote 65 die nur funktionieren kann, weil die moderne Sage von einem menschgemachten Klassifikationssystem ausgeht, nach dem bestimmte Tiere liebens- und beschützenswert sind und andere Ekel und Abwehr auslösen.

Der Literatur- und Kulturwissenschaftler Rudolf Schenda hat in diesem Zusammenhang die Rolle der Ratte in vielen urban legends als eine unheilvolle, nämlich in ihrer Funktion als Schädling, hervorgehoben.Footnote 66 Arten, die Schaden anrichten oder auch einfach nur schwer zu kontrollieren sind, werden als Schädlinge bezeichnet; damit verbunden gelten sie als »störend, hässlich, wertlos oder ganz einfach als die ›Anderen‹«, wie Kelsi Nagy ausgeführt hat.Footnote 67 Der empfundene Kontrollverlust, aus dem die Schädlingszuschreibung resultiert, hängt nach Nagy mit einer mangelnden – auch geographischen – Domestikation zusammen: Schließlich missachten Schädlinge die menschengemachte Trennlinie zwischen Kultur und Natur, indem sie die ihnen zugestandenen Räume verlassen und in Städten und Wohnungen heimisch werden, also die kategoriale Grenze zwischen dem wilden und dem domestizierten Tier überschreiten.Footnote 68 Insbesondere so bezeichnete invasive Schädlinge, also oft exotische Arten, die beabsichtigt oder unbeabsichtigt in neue Ökosysteme eingeführt werden,Footnote 69 repräsentieren ›Unordnung‹. Mitunter avancieren sie zu ›Sündenböcken‹, wenn sie etwa dafür verantwortlich gemacht werden, einheimische Arten zu verdrängen oder ganze Ökosysteme zu destabilisieren.Footnote 70

Insbesondere diesen letzten Aspekt finden die Rezipient*innen auch in der urban legend »The Mexican Pet« wieder. So erwähnt Brunvand eine Variante der Geschichte, in der sich die Ratte zurück in den USA wenig friedfertig verhält und stattdessen ›richtige‹ Haustiere attackiert.Footnote 71 Auch dass die Frau das Tier beim Nachhausekommen in der Toilette vorfindet, in die es wahrscheinlich nicht versehentlich ›gefallen‹ ist (anders als es bei einem kleinen Hund denkbar wäre), lässt darauf schließen, dass diese moderne Sage die Wasserratte nicht allein durch performative Praxis zum Chihuahua umschreibt.

4 Gattungen fest- und fortschreiben. Ein offenes Fazit

Auf den ersten Blick verdeckt die Gattung der modernen Sagen aufgrund ihres effektheischenden Erzählduktus’ mehrheitlich die materielle Realität ›der‹ Tiere und hebt auch bei der Inszenierung der Mensch-Tier-Begegnungen sehr auf eine Stereotypisierung und/oder Skandalisierung der Handlungselemente und Figurenkonstellationen ab. Moderne Sagen nehmen auf diese Weise die Funktion einer narrativen Bewältigungsstrategie ein, indem sie (vermeintliche) Fehlverhalten auf vereindeutigende Weise bestimmen, sanktionieren und vorbeugen wollen. Auf der anderen Seite lässt sich der wiederholten Thematisierung von ›gestörten‹ Kommunikations- und Kategorisierungspraktiken, die mittelbar (»The Microwaved Pet«) und unmittelbar (»The Mexican Pet«) auf die interspezifische Begegnung zurückwirken, interpretatorisch ein offenes Moment abgewinnen. Die in Erscheinung tretenden Tiere werden zwar nicht »mit großer Handlungsmacht ausgestattet oder sogar als vollgültige Subjekte präsentiert«Footnote 72, was auch daran liegt, dass sie ihr widerständiges Potenzial gattungstypisch meist nur in Form des spektakulären Einzelfalls ausschöpfen dürfen. Und doch ist die animalische Präsenz in den urban legends keine zufällige, in dem Sinne, dass die Tierfiguren als Krisenindikatoren beliebig austauschbar wären. Das ›Tier im Text‹ muss der strategischen Mehrdeutigkeit moderner Sagen nicht zwingend zum Opfer fallen. Stattdessen lassen sich die unerwarteten Tier-Mensch-Konfrontationen in den Geschichten zum Anlass nehmen, als aktive Rezipient*in (und nicht nur Konsument*in) habitualisierte hegemoniale Verhaltens- und Wahrnehmungsmuster infrage zu stellen. Von dieser Warte aus betrachtet können die behandelten Grenzüberschreitungen nicht nur als zu sanktionierende Tabubrüche gelesen werden, sondern auch als (unbewusste?) Dechiffrierung anthropozentrischer bzw. speziesistischer Gattungszuschreibungen. Das Prinzip der Domestizierung, das auch eine gattungsbildnerische Relevanz hat,Footnote 73 erweist sich hier als mindestens fragwürdig, womit sich Inhalt und Form der nie restlos fixierbaren urban legends ergänzen.