Zusammenfassung
Ausgehend von einem Blick auf die Rahmenbedingungen wissenschaftlicher und ethischer Diskussionen in pluralistischen Demokratien werden im vorliegenden Text verschiedene Ansätze der zeitgenössischen Ethik diskutiert, die Konzepte des guten Lebens entwickeln und die dazu gehörenden Naturerfahrungen erörtern. In Weiterführung wird zugunsten einer Position argumentiert, die von der Idee einer „guten Welt“ ausgeht. Deren Güte ist im Ausgang von multizentrischen Wertrelationen zu bestimmen, die nicht nur das urteilende Subjekt begünstigen. Auf dieser Grundlage werden alltägliche Erfahrungen in den Blick genommen: Sie dienen dazu, den Rahmen der entworfenen Ethik zu konkretisieren, müssen aber ihrerseits einer ethischen Prüfung unterzogen werden.
Abstract
In a first step, basic conditions of scientific and moral debates within pluralistic democracies are discussed. Based on these considerations, the present paper analyzes different approaches in contemporary moral theory that develop concepts of the good life, including, as a constitutive part, experiences of natural environments. Going a step further, an ethics relying on the concept of a “good world” is defended in which goodness is measured in terms of multicentric relations of value. This includes refuting exclusive intrinsic value for the subject of value judgements. For such a conception, everyday experiences play an important role in concretizing the overall moral framework; on the other hand, these experiences are themselves in need of a critical evaluation within this framework.
Vor der Häufung katastrophaler Wetterereignisse und den greifbaren Landschaftsveränderungen der letzten Jahre klafften in der Klimadebatte alltägliche Erfahrungen und wissenschaftliche Einsichten weit auseinander.Footnote 1 Skepsis gegen menschengemachte radikale Klimaveränderung war mit den alltäglichen Erfahrungen noch in Übereinstimmung zu bringen. Das verstärkte die Tendenz von Wissenschaftlern und Philosophen, alltägliche Wertungen natürlicher Ereignisse und Zustände für bedeutungslos zu halten.Footnote 2 Objektive Naturerkenntnis ist danach den mathematisch-experimentellen Wissenschaften vorbehalten und steht oft in diametralem Gegensatz zu alltäglichen Erfahrungen. Auch in den meisten Positionen der philosophischen Ethik sind alltägliche Werterfahrungen getrennt von der Rechtfertigung universaler moralischer Pflichten. Dass die Ethik ein Expertenwissen darstellt, das auf alltägliche Probleme bloß „angewendet“ werden muss, ist aber etwa in der Bioethik schon lange zweifelhaft (vgl. etwa Beauchamp/Childress 2019).
Philosophische, aber auf die Probleme heutiger Gesellschaften gerichtete Ethik hat zwei Gründe, alltägliche Erfahrungen mit menschengemachten Klimaveränderungen ernst zu nehmen: Der eine betrifft ihre Rolle in der öffentlichen Debatte demokratischer Gesellschaften. Der zweite hat es mit den normativen und evaluativen Alternativen bei der Abwendung katastrophaler Entwicklungen zu tun: Wer soll vor der Zerstörung der Lebensgrundlagen auf der Erde bewahrt werden, mit welchen technischen Mitteln und zu welchem Zweck? Nur um des Menschen willen oder auch für andere Lebewesen als Selbstzwecke? Geht es nur um die Erhaltung des Lebens oder auch um Grundzüge der Natur wie Diversität der Arten und Formen, Spontaneität der Evolution und anderer noch unkontrollierter Prozesse? Diese Fragen sind in der Umwelt- und Naturethik vertraut aus den Debatten um Anthropozentrismus, Pathozentrismus usw. In der Klimaethik reicht es aber nicht aus, den moralischen Status von Individuen, die von menschlichen Handlungen bzw. Unterlassungen betroffen werden, durch Eigenschaften wie Rationalität, Personalität, Schmerzempfindlichkeit etc. zu definieren. Es geht um die Wirkung kollektiven menschlichen Verhaltens auf die Atmosphäre, um Folgen für zukünftige Generationen, um den Grad der Technisierung der Natur (Geoengineering, assisted evolution etc.) und einen Wandel der Lebensweisen und Werte. In welcher Welt man leben will, was man als Gewinn und Verlust bewertet und für wen man zu Verzicht bereit ist – zugunsten künftiger Menschen oder auch der natürlichen Umwelt – ist nicht ohne Offenheit für alltägliche Erfahrungen zu beantworten.
Im Folgenden geht es zunächst um die Bedingungen wissenschaftlicher und ethischer Diskussionen in pluralistischen Demokratien (Abschn. 1). Relevanz für deren gegenwärtige Probleme verlangt von der philosophischen Ethik, über strikt universale Vernunftnormen hinauszugehen. Dazu gibt es Ansätze in einer Ethik des guten Lebens und der dazu gehörenden Naturerfahrungen (Abschn. 2). Deren Probleme, die Instrumentalisierung der Natur zu überwinden, und die Erfahrung der globalen ökologischen Vernetzung sprechen dafür, den Rahmen der Ethik zu dem einer möglichen „guten Welt“ zu erweitern. Ihre Gutheit oder Güte hängt von multizentrischen Wertrelationen ab, die nicht nur das urteilende Subjekt begünstigen (Abschn. 3). Alltägliche Erfahrungen können und müssen diesen Rahmen konkretisieren, sind aber nach den Maßstäben ethischer Güte zu beurteilen (Abschn. 4).
1 Ethisch-politische Diskurse in einer pluralistischen Demokratie
In einer pluralistischen Demokratie gehen politische Entscheidungen aus den Auseinandersetzungen verschiedener Gruppen hervor, die intern durch gemeinsame Überzeugungen und Interessen zusammengehalten werden. Der Staat verzichtet auf die Durchsetzung einer wahren Lehre, einer „wissenschaftlichen Weltanschauung“ oder religiösen Offenbarung (Dreier 2018).Footnote 3 Staatliche Entscheidungen müssen zwar wissenschaftlich informiert sein, vor allem, was kausale Gesetzmäßigkeiten in der Natur und der Gesellschaft betrifft.Footnote 4 Öffentliche Debatten über die richtige Politik und Gesetzgebung sind aber mit Wertungen verbunden: was ist erstrebenswert und was sollte vermieden werden, für das Gemeinwohl, aber aus der Perspektive des Einzelnen und der Gruppen, mit denen man Interessen und Werte teilt?
Vor allem bei Folgenabschätzungen sind Werteabwägungen notwendig. Das scheint bei der Klimaveränderung überflüssig, weil die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen auf der Erde offenbar das „summum malum“ ist. Aber das Tempo, die Art und Verteilung der Reduktionsmaßnahmen – etwa zwischen unterschiedlich industrialisierten Ländern – und die Art der Technik, die dabei verwendet wird, macht alltägliche Wertungen von Lebensqualität und ihrer Verluste auch hier notwendig. Umweltethisch bedeutsam ist vor allem die Frage, wieviel nicht-menschliches Leben, Ökosysteme, Lebensräume und bisher noch natürliche Formationen dabei bewahrt oder wiederhergestellt werden sollen. Wenn ethische Argumente dafür relevant sein sollen, benötigt die Ethik einen weiten Horizont und Anschlussfähigkeit an Lebenserfahrungen.Footnote 5
Bei der Einigung über (normative) Gesetze und Maßnahmen, die das Gemeinwohl befördern, sind die Perspektiven und Werthaltungen jedes Bürgers gleichberechtigt. In der politischen Philosophie wird der Ausgang der Bürger von ihren lebensweltlichen Erfahrungen und Wertungen, statt von umfassenden Theorien und Ideologien, als beste Voraussetzung der Demokratie verstanden – nicht nur bei den Vertretern der direkten Demokratie (vgl. Horn 2003, 72-79). In seinem eigenen Tätigkeits- und Erfahrungsbereich besitzt der Bürger unvertretbare Kompetenz, vor allem auch, was die Wirksamkeit staatlicher Maßnahmen angeht. Diktaturen, denen diese Rückmeldungen fehlen, sind in aller Regel weniger lernfähig als Demokratien. Eine strikte Trennung zwischen wissenschaftlichen und politischen Experten einerseits und inkompetenten Laien andererseits passt nicht zu einer Demokratie, die auf gleichem aktiven und passiven Wahlrecht sowie auf Mandat und Verantwortung basiert. Wissenschaften von Ereignissen und Prozessen, die gemeinsame Ziele begünstigen oder behindern, müssen wertende Alltagserfahrungen berücksichtigen.
Man könnte einwenden, dass bereits für die Entdeckung der dramatischen menschengemachten Klimaveränderung die Wissenschaft allein und nicht die Alltagserfahrung relevant war. Die Verknüpfung globaler Klimadaten ist ja der lebensweltlichen Erfahrung nicht zugänglich. Darin könnte ein wichtiger Unterschied im Vergleich mit anderen „Umweltproblemen“ liegen: Der „stumme Frühling“ (Carson 1963) war unmittelbar erfahrbar. Die wissenschaftliche Autorin des Buches konnte sich auf die geschilderten allgemein zugänglichen Ereignisse berufen, die sie kausal erklärte. Extreme Wetterereignisse dagegen gab es schon immer, ihre weltweite Verknüpfung und anthropogene Ursache konnte erst die Wissenschaft aufdecken. Aber die Wissenschaftler selber waren zu Beginn der Messungen in den 70er-Jahren schon durch die früheren Umweltdebatten sensibilisiertFootnote 6 – auch durch die Möglichkeit einer menschlichen Zerstörung der irdischen Lebensbedingungen durch Kernwaffen. Wissenschaftler, die methodisch in ihren Forschungen an Wert- und Emotionsfreiheit gebunden sind, stehen als Betroffene der Auswirkungen gemeinsamen Handelns oder Unterlassens nicht anders als Laien unter dem Einfluss von Ängsten und Hoffnungen.Footnote 7
An der Wechselwirkung zwischen Lebenswelt und Wissenschaft nehmen selbstverständlich die Medien und die Politik teil, die ihrerseits Alltagserfahrung beeinflussen. Erst recht die Auslösung einer „Bewegung“ zur Abwendung drohender Katastrophen erfordert Imaginationen und Emotionen, die nicht durch wissenschaftliche Berechnungen und Erklärungen allein hervorzurufen sind.Footnote 8 Gerade in der „Klimabewegung“ steht das öffentliche wertorientierte Engagement der Wissenschaftler im Austausch mit Protesten der „Laien“. Auch die jüngste „Attributionsforschung“, die extreme Wetterereignisse in kurzer Zeit („Echtzeit“) selber wissenschaftlich den Klimaveränderungen zuordnen kann, ist nicht von der Alltagserfahrung abgekoppelt. Im Gegenteil, der Forscher nimmt ja oft am Erleiden und der negativen Bewertung des Ereignisses aus der Alltagsperspektive selber teil. Selbst die Definition von „Extremwetter“ hängt davon ab, „wie bedeutsam verschiedene Aspekte eines Wetterereignisses für unser Leben sind“ (Otto 2019, 37).
Allerdings können Wertungen aus der Perspektive von Einzelnen und Gruppen auch beschränkt und kurzsichtig sein. Das zeigen seit langem die Verlautbarungen von Interessengruppen. Zur Rettung von Industriezweigen, deren Einnahmen nicht nur den Eigentümern, sondern über die Steuern auch Kommunen und Regionen zugutekommen, werden immer wieder wissenschaftliche Ergebnisse ignoriert oder umgedeutet. Da Menschen dazu tendieren, naheliegende Vorteile zu Lasten langfristiger Folgen zu realisieren, muss dem mithilfe von Wissenschaften und Politik entgegengewirkt werden.Footnote 9 Ein Abgleich zwischen wissenschaftlichen Theorien und alltäglichen bewertenden Beobachtungen verhindert Eliteherrschaft einerseits und VerschwörungstheorienFootnote 10 andererseits. Es kommt darauf an, sich vom distanzierten Standpunkt von Wissenschaften und globalen Folgenabschätzungen korrigieren zu lassen. Um es mit der grundsätzlichen Begrifflichkeit von Thomas Nagel auszudrücken: der zentrierte Blick des Individuums und der Gruppe und der de-zentrierte Blick aus unterschiedlich entfernter Distanz – im Fall der „Klimadiskussion“ der Blick auf die Erde und ihre Atmosphäre – müssen sich wechselseitig beeinflussen (Nagel 1986/1992).Footnote 11 Das ist aber nur möglich, wenn die konkreten Gesichtspunkte und Wertungen auch eingebracht werden, wie es zur politischen Debatte in der Demokratie gehört. Philosophische Ethik muß alltägliche Wertungen sowohl begrifflich explizit machen – etwa auch die globalen Übereinkünfte zu Nachhaltigkeit, Diversität, Naturerbe etc. – wie kritisch prüfen. Das setzt aber voraus, sie nicht von vornherein als subjektive Meinungen und private Wünsche zur Seite zu schieben.
2 Der Fokus philosophischer Ethik
Die moderne Ethik war lange Zeit auf zwischenmenschliche Handlungsnormen fokussiert. Schädigungen zu unterlassen, universalisierbare Maximen zu akzeptieren, Recht und Würde zu achten, kooperativ zu sein usw. sind die obersten Normen, die möglichst gut begründet werden müssen (vgl. etwa Tugendhat 1993, 56-58, 72 f).Footnote 12 In den Kreis der Wesen, deren Schädigung unterlassen werden soll, können seit Bentham alle schmerzempfindlichen Wesen einbezogen werden.Footnote 13 Dabei stützt man sich entweder auf die Beobachtung schmerzvermeidenden Verhaltens oder auf die Unterstellung ähnlicher Empfindungen und Wünsche bei Lebewesen mit vergleichbarer neuronaler Ausstattung. Gedeihen und Wohlergehen ist aber auch schon für solche Wesen nicht auf Schmerzfreiheit reduzierbar. Erst recht besagt sie nichts für den Eigenwert natürlicher Mannigfaltigkeit oder spontaner Prozesse.
In der Regel wird unterstellt, dass die Erhaltung der Biodiversität und der Schutz des Klimas sich wechselseitig bedingen.Footnote 14 Das ist aber eine empirische Korrelation, die sich unter neuen technischen Mitteln ändern kann. Für die Frage nach der Erlaubnis technischer Reduktion oder Erhaltung von Biodiversität und der Respektierung nicht-menschlicher Ansprüche sind ethische Kriterien nötig. Wenn man Biodiversität auch unabhängig von ihrer Dienlichkeit für menschliches Überleben oder Wohlergehen bewerten soll, muß man über die Normen richtiger Behandlung der Menschen, aber auch anderer schmerzempfindlicher Lebewesen, hinausgehen (vgl. Nolt 2011).Footnote 15 Nationale und globale „Politiken“, einschließlich der Förderung oder Hemmung bestimmter Formen der Produktion, des Konsums und der Mobilität, sind oft nur indirekt mit individuellen Verhaltensgeboten verbunden. Lebensweisen, soziale und natürliche Prozesse, sind Gegenstand von Wertungen, aus denen Verhaltensorientierungen folgen. Konsumverhalten oder Askese sind nur teilweise von äußeren Knappheiten erzwungen, sie folgen auch Idealen oder Wertungen von Lebensweisen. Das gilt für die „Klima-Debatte“ in noch stärkerem Maße als für vergleichbare Probleme, etwa angesichts von Pandemien. Die letzteren haben es eher mit vorübergehenden Notmaßnahmen zu tun als mit einer langfristigen Umstellung der Lebensweise.
Jüngere Entwicklungen der Umwelt- und Naturethik tragen sowohl dem Bedürfnis nach Konkretion ethischer Kriterien wie dem nach der Einbeziehung menschlicher Werterfahrungen Rechnung. So, wie es in der allgemeinen Ethik Versuche der Überwindung eines strengen Formalismus und Universalismus moralischer Gesetze durch Anknüpfung an die aristotelische Konzeption des guten Lebens gibt, rücken auch in der Naturethik die Bedingungen guten menschlichen Lebens in den Vordergrund. Formen leiblicher Selbsterfahrung in der Natur und als Natur, ästhetische Erfahrungen und Erfahrungen der Freiheit in der Natur – statt gegen sie – sind dazu untersucht worden.Footnote 16 Dabei soll zugleich vermieden werden, natürliche Wesen und Prozesse nur als Instrumente des guten Lebens des Menschen zu behandeln.Footnote 17 Angesichts des Subjektivismus der neuzeitlichen Ästhetik und des „pursuit of happiness“ – im Unterschied zu den antiken Begriffen der Schönheit und Güte des Kosmos – sind das notwendige Überlegungen.
Ästhetische, eudaimonistische und ökophänomenologische Ansätze stellen einen großen Fortschritt in der Richtung auf eine konkrete Umweltethik dar, die Werterfahrungen einbeziehen kann. Es müssen aber aus meiner Sicht drei Hindernisse überwunden werden:
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1.
Die Subjektivierung der Ästhetik in der Neuzeit macht die Kriterien für Naturschönes partikular und wandelbar. Gegen epochalen Wandel hinsichtlich des Verhältnisses von Natur und Technik, Stadt und Land, „real“ und virtuell etc. sind ästhetische Konzepte nicht gefeit. Das kommt einerseits der Einbeziehung alltäglicher Werterfahrungen entgegen, ist aber andererseits ein brüchiges Fundament für die Erhaltung der Wertaspekte von Natur und Natürlichkeit (Mannigfaltigkeit, Spontaneität, UnvollkommenheitFootnote 18 etc.).
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2.
Der Ausgang von menschlichen Selbsterfahrungen enthält ein Erbe der Transzendentalphilosophie, auch wenn im Gefolge der (Leib-)phänomenologie oder der Existentialphilosophie die Subjekt-Objekt-Trennung überwunden werden soll. Der epistemische Primat der Selbsterfahrung bleibt auch dann erhalten, wenn aus ihr auf eine vorgängige Naturzugehörigkeit des Menschen geschlossen wird. Bei einem solchen Primat ist es aber schwierig, intrinsische Werte und Ansprüche auch außerhalb des Bezugs auf das menschliche Subjekt zu rechtfertigen.Footnote 19 Sie fungieren primär als Bedingungen der Möglichkeit subjektiver Erfahrungen oder des guten Lebens des Menschen. Selbst wenn es Erfahrungen von Zuständen anderer Wesen als für diese intrinsisch wertvoll gibt (etwa das Wohlergehen von Tieren), bleibt die Herleitung als Bestandteil des guten menschlichen Lebens, seiner Freiheits- und Schönheitserfahrungen,Footnote 20 unberührt. Es fragt sich, ob das eine hinreichende Rechtfertigung für Rechtsansprüche nicht-menschlicher Wesen darstellt – geschweige denn für den nicht-instrumentellen Wert von Biodiversität oder den (prima facie) Wert der naturgeschichtlichenFootnote 21 Integrität nicht-organischer Gebilde.
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3.
Auch ein weiteres metaphysisches Erbe muß überwunden werden: In der traditionellen scala naturae sind die jeweils „unteren“ Stufen (teleologisch) dazu bestimmt, für die Werte der höheren in Anspruch genommen zu werden: Anorganisches dient der Entstehung und Erhaltung des Organischen und so weiter „nach oben“ bis zu vernünftigen Wesen, die allein als Selbstzwecke in Frage kommen (vgl. Siep 2022b). Analoges gilt, wenn nicht-menschliche Natur Bedingung für Freiheit, Glück und andere, auch leibliche Selbsterfahrungen für den Menschen ist – als desjenigen Wesens, das allein ästhetische, eudaimonische und moralische Urteile fällen kann. Bedingungen für Werturteile sind nicht Bedingungen für Werte. Allerdings muss auch ohne eine instrumentalisierende teleologische Konzeption zwischen Wert und Anspruch von Gebilden und Individuen verschiedener Organisationsstufen abgewogen werden (s. unten S. <13>).
Diese Schwierigkeiten mögen lösbar sein. Aber nicht nur sie, sondern auch die wissenschaftlich aufgeklärten Alltagserfahrungen mit Klima und Biodiversität legen einen weiteren Rahmen nahe als das „gute Leben“ oder Pflichten gegenüber individuellen nicht-menschlichen Lebewesen. Die umfassende ökologische Vernetzung und die Rolle des Menschen in der naturgeschichtlichen Dynamik („Anthropozän“) legt ihm eine Verantwortung für die zukünftige Entwicklung (zumindest) des Planeten auf. Das erfordert Kriterien der Richtung auf eine „gute Welt“, die traditionelle Vorstellungen eines umfassenden Guten (wohlgeordneter Kosmos) mit den Einsichten der modernen Wissenschaft vereinbart.
3 Eine Ethik für die Integration alltäglicher Werterfahrungen
Philosophen sind nur beschränkt kompetent für die Frage, wie sich in der demokratisch-pluralistischen Politik Wissenschaften und alltägliche Erfahrungen fruchtbar zusammenbringen lassen. Anders steht es mit der Frage, wie eine Ethik beschaffen sein müsste, die solche Erfahrungen einbeziehen kann. Das ist dann der Fall, wenn erstens die Ethik aufgrund des Charakters ihrer Grundbegriffe selber auf solche Werterfahrungen angewiesen ist. Zweitens, wenn sie über Kriterien verfügt, die es zulässt, zwischen bloß partikularen Wertmeinungen und möglichst global zustimmungsfähigen Werturteilen zu unterscheiden (s. unten Abschn. 4).
Eine Ethik, die über den Wert globaler Prozesse und Zustände urteilen will, benötigt Kriterien dafür, welche Auswirkungen auf den Gesamtzustand der Erde bzw. des Kosmos als „gut“ zu beurteilen sind. Man kann dafür den alltäglichen Begriff der „Welt“ verwenden, ohne hier auf die Probleme des Verhältnisses naturwissenschaftlicher und kultureller Weltbegriffe einzugehen (vgl. aber u. S. <10>). Nicht nur an seinem guten Leben, sondern an der Erhaltung oder Herbeiführung einer möglichen guten Welt soll der Mensch orientiert seinFootnote 22 – vor allem im Zeitalter der umfassenden menschlichen Einwirkung. Dazu gehört ein Verständnis von „gut“ als für alle von diesen Vorgängen Betroffenen förderlich, erstrebens- oder bejahenswert.Footnote 23 Entsprechend kann das zweite Grundwort der moralischen Sprache, das „Sollen“, von einer Orientierung des Tun-sollens am Sein-Sollen guter Gesamtzustände her verstanden werden (vgl. etwa Sidgwick 2019, 83 f.).Footnote 24 Wie in der klassischen Ethik enthält die Erkenntnis des Guten Gründe und prima facie Verpflichtungen zu seiner Realisierung. Gut ist aber nicht der gegebene Kosmos und nicht unsere faktische Welt, sondern die erstrebenswerten Gesamtzustände für alles, was in Wertrelationen stehen kann. Das erfordert einen „View from Nowhere“, der – anders als der wissenschaftliche – die menschliche Wertperspektive einschließt, aber nicht auf sie zurückführbar ist.Footnote 25 Dabei bleibt eine mögliche gute Welt in der gegebenen ein Maß der Orientierung, nicht ein vollständig erreichbarer Zustand – schon weil für einzelne Wesen die Realisierung von Werten kollidiert (etwa zwischen Prädator und Beute). Möglich ist aber die Stabilisierung natürlicher „Fließgleichgewichte“ und ein Ausgleich von Ansprüchen, der Vielfalt und Gedeihen ermöglicht (vgl. u. S. <13>).
Wenn man „gut“, „besser“ oder „schlechter“ von Gesamtzuständen aussagen will, die erhalten oder herbeigeführt werden sollen, ohne metaphysisch von einer Güte des „vernünftigen“ Kosmos auszugehen, legt sich eine relationale und holistische Werttheorie nahe. Sie passt weitgehend zu unseren alltäglichen Werterfahrungen und lässt sich durch wissenschaftliche Welterklärung (Kosmogenese, Evolution)Footnote 26 stützen. Werte sind demnach Beziehungen, in denen aufgrund der Eigenschaften oder Dispositionen aller Seiten etwas für ein anderes notwendig oder förderlichFootnote 27 (für Bedürfnisse, Wünsche, Ideale etc.) sein kann. Leben und Gedeihen von Lebewesen etwa hängt von bestimmten chemischen Beschaffenheiten der Atmosphäre ab. Daran wirken Lebewesen selber mit, aber auch Prozesse der anorganischen Welt. Ihr Fehlen ist für das biologische Leben abträglich oder verderblich, das ist im Einzelnen wissenschaftlich zu ermitteln. Systeme oder Gebilde haben aber einen über die internen instrumentalen oder funktionalen Wertrelationen hinausgehenden „überschießenden“ Wert.Footnote 28 Gedeihende Ökosysteme, aber auch harmonische menschliche Gemeinschaften, „blühende“ Kulturen etc. sind wertvoll in einem nicht nur auf die Teilrelationen reduzierbaren Sinne. Zu diesem Wert gehört auch der Grad der inneren Differenziertheit oder der „Reichtum“ der Organe, Funktionen, Teilsysteme etc. Er ist weder auf das menschliche „Gefallen“ an einem solchen Ganzen rückführbar, noch auf die instrumentellen Werte der Glieder bzw. Teile. In vielen Fällen sind die Teilwerte „kontributiv“, wie auch beim guten Leben des Menschen Tugenden, Bedürfnisbefriedigung etc. Beiträge, nicht nur Mittel zu diesem Gesamtgut sind.
Wenn Relationen und Systeme nicht primär für den Menschen wertvoll sind und ihr interner Wert auch nicht von seinen Urteilen abhängen, kann man sie „intrinsisch“ wertvoll nennen – dazu gehören sowohl instrumentelle oder funktionale Relationen innerhalb eines Systems als auch Systeme als Ganzes.Footnote 29 Wenn zwischen Anorganischem, Organischem, Animalischem und Menschlichem keine teleologischen Beziehungen der „Bestimmung für“ die Aneignung des „Höheren“ liegt, dann können auch anorganische Gebilde in ihrem Eigenwert begriffen werden. Vielleicht zeigen gerade lebensweltliche Erfahrungen mit dem Klimawandel, dass auch Gebilde wie Gletscher, Kristalle oder natürliche Wetterphänomene außer ihrem Wert für andere Wesen einen eigenständigen Wert besitzen. Sie sind nicht einmal auf ästhetische Werte oder die Nützlichkeit für Lebewesen reduzierbar.Footnote 30
Innerhalb des moralischen Standpunktes rechtfertigen solche Werte Ansprüche an den Menschen.Footnote 31 Selbst anorganischen Gebilden bzw. „Formationen“ kommt dann ein prima facie Anspruch auf Integrität zu, die nicht beliebig zu verletzen oder technisch zu ersetzen ist. Dass darin ein eigenständiger Wert liegt, bedeutet aber nicht, dass sie nicht von lebendigen oder „kultivierenden“ Wesen angeeignet und transformiert werden dürfen. Da zwischen ihnen aber weder konfliktfreie Instrumentalisierung noch Harmonie herrschen, müssen von diesem Standpunkt aus Abwägungskriterien ermittelt werden. Das gilt auch für die Bewahrung der „ökologischen Nische“ der Menschen, etwa gegen zerstörerische Parasiten. Zur Unparteilichkeit gehört umgekehrt die Forderung, die menschlichen Fähigkeiten zur SelbstbegrenzungFootnote 32 gegen die maßlose Überdehnung dieser „Nische“ zu aktivieren.
Eine für alle Teilnehmer gute, also erstrebenswerte Welt ist eine reale Möglichkeit, sie ist teilweise in dem Kosmos und auf der Erde realisiert, wo Menschen und andere Tiere gegenwärtig leben. Aber nur teilweise, weil es in ihr eine Fülle konfligierender, verhinderter und verletzter Werte gibt. Insofern ist sie eine Zielvorstellung, aber keine ideale, nur postulierte Welt. Die ontologischen Voraussetzungen einer „realen“ und insgesamt einheitlichen Welt können dabei sozusagen „schwach“ gehalten werden. Es gibt viele möglichen Sinnhorizonte, Perspektiven oder Sprachspiele, die man „Welten“ nennen und in denen man sich im metaphorischen Sinne „bewegen“ kann. Aber in Übereinstimmung mit der Alltagserfahrung muss man pragmatisch eine gemeinsame Welt raumzeitlicher Kausalprozesse und verständlicher sozialer Erwartungen unterstellen, in denen sich „öffentliche“ Interaktionen abspielen.Footnote 33 Dazu gehören kosmische, klimatische und erdgeschichtliche Annahmen, auf die sich etwa die Politiken der Erhaltung „natürlicher Lebensbedingungen“ (Grundgesetz Art. 20a) beziehen. Teilen muss man auch Annahmen über die kausalen und intentionalen Wirkungen leiblicher Äußerungen – inklusive der Schallwellen, der Gehör- und Nervenzellen usw. Diese „unsere“ Welt kann nicht Gegenstand beliebiger „Narrative“ und darauf bezogener privater und öffentlicher Handlungen sein. Dass die Meso-Verhältnisse der sozialen Lebenswelt auf Gesetzen und Raum-Zeitverhältnissen im Mikro- und Makrobereich beruhen, die sich der alltäglichen Vorstellungskraft entziehen, ändert nichts an dem notwendigen Zusammenspiel von alltäglichen Weltvorstellungen und wissenschaftlichen Theorien.
Ein solcher metaethischer Rahmen schließt an traditionelle philosophische Begriffe des höchsten umfassenden Guten an, aber ohne deren metaphysische Voraussetzungen einer zum Geist aufsteigenden Seins- und Werthierarchie. Stattdessen passt er zur modernen Evolutionstheorie. Zwar folgen aus Fakten der Evolution keine Normen.Footnote 34 Die Theorie schwächt aber erheblich die Plausibilität eines Ausschlusses aller übrigen Lebewesen außer dem Menschen aus dem Kreis der moralisch zu Berücksichtigenden. Dass die Natur erst durch die – nach moderner Auffassung zufällige – Entstehung des Menschen „Zweck“ und Wert erhält, wie noch Kant annahm,Footnote 35 leuchtet nur bei einem starken evaluativen und normativen Begriff der Vernunft ein – letztlich ihres überweltlichen Ranges. Wenn die vormenschliche (und evtl. nachmenschliche) Natur aber schon Sinn und Wert hat – auch wenn diese erst durch ein Tier bewusstgemacht werden konnten, das über eine propositionale Sprache und allgemeine Begriffe verfügt, – kann sie auch richtig oder falsch behandelt werden.
In diesen Rahmen bzw. nach diesen Kriterien können Maßnahmen zur Abwehr negativer Folgen der Klimaveränderung ethisch beurteilt werden. Sie hängen auch, aber nicht nur, von wissenschaftlicher Kausalforschung und Technik ab. Wenn es etwa um natürliche Diversität geht, ist auch beschreibende, beobachtende, klassifizierende Wissenschaft oder „Naturkunde“ erforderlich. Sie ist noch heute auf das Sammeln von lebensweltlichen („Laien“-)Beobachtungen angewiesen.Footnote 36 Vermutlich benötigt man auch für die konkreten Bedingungen des Gedeihens von Pflanzen und des Wohlergehens von Tieren die Erfahrungen des konkreten Umganges – etwa von Gärtnern, Tierpflegern oder Landwirten. Erst recht wenn es um Fragen des menschlichen Verzichtes, der Abwehr oder aber des Aushaltens unangenehmer Folgen natürlicher Prozesse geht, bedarf es der alltäglichen Erfahrung und Abwägung des Wertvollen.Footnote 37
Ganz „ungefiltert“ kann diese Integration der Alltagserfahrungen aber nicht sein, sonst würden Privategoismen, Illusionen, Zu- und Abneigungen etc. gleichberechtigt in die ethische Analyse eingehen. Es sind also Selektionskriterien nötig, um solche Wertungen für alle zustimmungsfähig zu machen.
4 Ethische Kriterien für alltägliche Wertungen
Bewusst wertende Wesen wie Menschen suchen, wie andere Tiere, nach dem für sie „objektiv“ Günstigen und meiden das Schädliche. Sie geben ihren Wertungen begriffliche Form und argumentative Begründungen. Oft postulieren sie auch ganz andere Zustände, als sie die Welt ihrer Alltagserfahrungen bietet – eine diesseitige oder jenseitige Welt mit anderen individuellen (Freiheit), sozialen (Gerechtigkeit) und natürlichen Möglichkeiten („Paradies“). Manches davon haben sie mit Hilfe von Technik und kulturellen Errungenschaften (Verfassungen etc.), verwirklichen können – nie ganz ohne Verluste des Aufgegebenen. Vieles scheitert an den Grenzen der inneren und äußeren Natur. Aber obwohl die Grenzen vor allem der äußeren Natur in der Klimaveränderung deutlicher denn je geworden sind, bleibt die Wertung von Natürlichkeit umstritten.
Unterschiedliche Lebensbedingungen und Lebensweisen in verschiedenen Klimazonen und Landschaften sind einer der Gründe. Wälder, Wüsten, Sümpfe, aber auch Biodiversität und Wetterereignisse haben für Landwirte und Nomaden, Jäger und Reisende unterschiedliche Wertaspekte. Das spiegelt sich bis in die Religionen (etwa in Paradiesvorstellungen). Der Rahmen einer Ethik der guten Welt kann solche unterschiedlichen Wertesysteme in einen Austausch bezüglich der Gewinne und Verluste bringen, die bei den heute notwendigen grundlegenden Änderungen der menschlichen Lebensweise zu erwarten sind. Entscheidungen werden in pluralistischen Demokratien aber erst im Lichte von Erfahrungen aller Betroffenen gefällt.
Es bleibt die Aufgabe, ethische Kriterien für alltägliche Wertungen im Hinblick auf die bedürftigen und verletzlichen Gegenstände menschlichen Handels zu finden, die einen hohen Grad von Zustimmung beanspruchen können – wenn auch vielleicht keine strenge Universalität aller Vernünftigen. Dazu gehört zuerst der moralische Standpunkt des unparteiisch wohlwollenden Beobachters, der eine Exklusion aus dem Kreis der zu Berücksichtigenden nach Gesichtspunkten „natürlicher“ Unterschiede oder kultureller Grenzen ausschließt. Der Kreis der Inklusion mit gleicher Berechtigung ist schon für die Menschheit nur in einem langwierigen und mühsamen Prozess erweitert worden. Philosophische und theologische Begriffe, empirische Wissenschaften und Alltagserfahrungen haben daran mitgewirkt. Eine wirkungsvolle Aufhebung sozialer Diskriminierungen, etwa was Geschlechter und sexuelle Orientierungen angeht, ist erst in kulturell gemischten und weltanschauungsneutralen Staaten möglich geworden, aber immer noch Gegenstand tiefgreifender Konflikte. Wissenschaften haben angeblich natürliche Unterschiede zwischen Geschlechtern, Herkunft oder höherer „Geburt“ als willkürlich entlarvt. Neue Diskriminierungen aufgrund eines falsch verstandenen Darwinismus gehörten aber zur Selbstüberschätzung und zum Missbrauch der Wissenschaften.
Auch wenn man den metaphysisch-teleologischen Begriff der scala naturae als Bestimmung zur Höherentwicklung und zur Aneignung durch die höheren Stufen aufgibt, wird man noch Graduierungen von Fähigkeiten und Verletzlichkeiten anerkennen und darauf aufbauend Ansprüche und Verpflichtungen rechtfertigen können. Die Erfordernisse für die natürlichen Lebensbedingungen oder die Bedürfnisse und Ansprüche der Lebewesen, von den Mikroorganismen bis zu den Primaten, sind unterschiedlich zu bestimmen und in ihrer ethischen Relevanz zu gewichten. Auch für „intakte“ Ökosysteme, gedeihende Pflanzen und das Wohlergehen von Tieren sind wissenschaftliche Erkenntnisse, aber auch lebensweltliche Erfahrungen, die ihnen standhalten, notwendig. Die letzteren spielen sogar eine führende Rolle bei den Landschaften, die durch das notwendig und in großem Maßstab „kultivierende Tier“ gestaltet worden sind. Die Verlusterfahrungen des Klimawandels oder die Auswirkungen technischer Zivilisation auf wenig lebensfreundliche Wildgebiete zeigen aber, dass auch der Wert natürlicher Formationen geschätzt wird.
Eine Inklusion in den Kreis der moralisch zu Berücksichtigenden macht selbst höhere Lebewesen noch nicht zu moralisch Verantwortlichen. Zu einer bewussten Verpflichtung auf Regeln sind nichtmenschliche Tiere aller bisherigen Evidenz nach nicht in der Lage. Allerdings ist auch das gleiche Recht des Menschen, sich frei und symmetrisch zu verpflichten, erst historisch „entdeckt“ worden. Tiere nicht mehr vor Gericht zu stellen, allen mündigen Menschen aber den gleichen Status vor Gericht einzuräumen, ist eine Entwicklung, bei der ebenfalls Wissenschaften und Alltags-„Empathie“ (vgl. Hunt 2007) zusammengewirkt haben. Zu den Ansprüchen, die der menschlichen Personalität, d. h. den Fähigkeiten zu Verpflichtung und Verantwortung entsprechen, gehört auch das Recht zur Teilnahme an der Gesetzgebung. Spätestens seit Kant wird sie als Bestandteil autonomer Personalität verstanden.Footnote 38
Daher können auch nicht alle Wege zur Rettung von nicht-menschlicher Natur und Klima ethisch gebilligt werden. Weder die Beseitigung demokratischer Mitgesetzgebung noch eine technische Perfektion des Menschen, die schädigendes Verhalten grundsätzlich ausschlösseFootnote 39 – aber auch seine Fähigkeit zu moralischer Selbstverpflichtung beseitigen würde – sind zu rechtfertigen. Moralitätsfähigkeit und ihre Ausübung ist der genuin gattungsspezifische Wert der Menschen untereinander und ihr unersetzlicher Beitrag zu einer guten Welt. Auch wenn technische Geräte und Verfahren zu Wohlergehen und Autonomie des Menschen entscheidend beigetragen haben, sind zur Selbsterhaltung der Gattung nicht alle technischen Mittel erlaubt.Footnote 40 Moralische Werte und Pflichten, wissenschaftliche Erkenntnisse und praktische Erfahrungen sind zur Abwägung von Gewinn und Verlust technischer Maßnahmen unumgänglich. Solche Erfahrungen zeigen etwa, dass technische Maßnahmen zur Überwindung „schädlicher“ natürlicher Prozesse vielfach zu einer Spirale der Kontrolle technischer Folgelasten führen.Footnote 41 Ob etwas wirklich ein technischer Fortschritt ist oder war, entscheidet in vielen Fällen erst die alltägliche Nutzung und die Erfahrung mit Störungen, Fehleranfälligkeit, Verlusten usw.Footnote 42
Alltägliche Wertungen menschlichen Verhaltens, natürlicher Wesen und Prozesse, technischer Geräte und Abläufe, künstlerischer Produkte etc. sind eng mit Beschreibungen verknüpft. Eine Dichotomie zwischen Deskription und Evaluation findet auf dieser Ebene nicht statt und lässt sich in der alltäglichen Sprache auch nicht durchführen – man denke an Ausdrücke wie gesund, freundlich, grausam etc. Man muss diese Bewertungen und ihre Gründe prüfen, weitgehend mit Mitteln der Wissenschaften. Ob etwas gesund ist, kann die Medizin besser beurteilen als die Alltagserfahrung, wenn auch in vielen Fällen nicht ohne diese. Zum Krankheitsbegriff gehört das subjektive Schmerzerleben und Diagnosen sind (noch) auf verbale Anamnese angewiesen. Auch für die Beurteilung des Wohlergehens von Tieren, Zuchttieren und Wildtieren, ist genaue Alltagsbeobachtung erforderlich. Ob etwas als Anzeichen von Erderwärmung zu deuten und zu werten ist und was dagegen hilft, überfordert allerdings oft das alltägliche Beschreiben und Bewerten. Umgekehrt überschätzen Wissenschaftler die ethischen Konsequenzen ihrer Ergebnisse. Wer möglichst unter Absehen von Wertungen forscht, kann nicht zugleich als Experte für rechtliche oder politische Optionen auftreten, die von Wertungen abhängen.
Es ist aber offensichtlich, dass es auf der Ebene alltäglicher Wertungen erhebliche Unterschiede zwischen Alters- und Berufsgruppen, Stadt- und Landbevölkerung oder unterschiedlichen Graden der Qualifikation gibt. Technische „performer“ bewerten technische Innovationen anders als Menschen, die nicht mit der modernsten Technik aufgewachsen sind oder schlicht andere Dinge für wichtiger und eher ihrer Zeit und Mühen wert halten. Hier gibt es Grenzen dessen, was ethische Kritik von alltäglichen Wertungen ausscheiden oder zum Konsens bringen kann. Phänomenologie der Werterfahrungen, Pathologie des Leidens von Mensch und Natur, Geschichte der Technik usw. liefern Kriterien für das Passen menschlichen Verhaltens in eine erstrebenswerte Welt. Die Klimaverträglichkeit von Lebensformen ist dabei zu einem entscheidenden Kriterium geworden. Aber mit wieviel oder welcher Art von Technik das Klima geschützt werden soll und welche Risiken dabei eingegangen werden, kann keine empirische Wissenschaft und keine apriorische Ethik entscheiden. Eine Ethik, die zur Konkretisierung ihres umfassenden Begriffs des Guten die epochalen und die alltäglichen Wertungen braucht, kann dabei weitergehen als andere ethische Positionen. Aber auch sie stößt an Grenzen, jenseits derer nur noch der politische Meinungsstreit zu Konsensen oder geregelten Dissensen führen kann.Footnote 43
Alltägliche Werterfahrungen und die Sprache, in denen sie formuliert werden, können in einer Ethik reflektiert werden, die auf umfassenden Begriffen des Guten basiert. Sie können mit ethischen und wissenschaftlichen Kriterien über sich selbst aufgeklärt und teilweise auch verworfen werden.Footnote 44 Statt sich auf „wissenschaftliche“ Prinzipien im Sinne der Wertfreiheit zu beschränken, muss die Ethik offen für bewertende Beschreibungen sein. Die legitime Wertfreiheit empirischer Wissenschaften ist nicht nahtlos auf die Ethik zu übertragen. Das entspricht dem weiten Horizont, den die traditionelle Ethik vor ihrer Verengung durch das Ideal einer stringenten („more geometrico“) Wissenschaft besessen hat. Die Zunahme der Freiheit eigener Wertungen und darauf beruhender Lebensführung in modernen Gesellschaften steht damit nicht im Widerspruch. Die Vermeidung von Frustrationen durch Präferenzkonflikte kann aber nicht das einzige ethische Kriterium sein. Weder die „sich am Markt durchsetzenden“ Präferenzen noch die politische Wahl haben die Verluste und Gefahren in der Umwelt- und Technikgeschichte verhindert. Die ethisch und demokratisch richtige Konsequenz ist aber nicht die Aufhebung von Grundrechten, sondern eine Debatte über die Nachvollziehbarkeit der Wertung von Lebensmöglichkeiten und Weltzuständen. Dabei spielen wissenschaftliche Kausaltheorien und Folgenabschätzungen eine erhebliche Rolle. Aber sie müssen auf alltägliche Beschreibungen und Erfahrungen bezogen bleiben. Ethisch können solche Beschreibungen an der Passung in eine Welt gemessen werden, die für alle „Teilnehmer“ erstrebenswert ist.
Notes
Die Zuordnung von Extremwetterlagen zum Klimawandel (über signifikant erhöhte Wahrscheinlichkeiten) ist auch erst seit wenigen Jahren (ca. 2015) selber wissenschaftlich nachzuweisen, vgl. Otto (2019).
Zu den der Verfassung immanenten Werten ebd. 102-119.
Die ethischen Ratschläge, die von der Politik bei Kommissionen und Räten eingeholt werden, sind auch keine zwingenden Gebote. Es handelt sich überwiegend um Deutungen von Normen und Wertungen, die in einer Gesellschaft verbreitet sind. Vgl. van den Daele (2021).
Joachim Radkau spricht von einer „Vernetzung der Ängste“, vor allem vor einer atomaren Katastrophe und der Krebskrankheit, am „Anfang der modernen Umweltbewegung“ (Radkau 2002, 299).
Etwa auch dadurch, dass komplizierte Zusammenhänge direkt erfahrbar gemacht werden – wie bei der „Bepreisung“ von klimaschädlichen Treibstoffen.
Wer von seinen emotional bewerteten persönlichen Erfahrungen keinen Abstand durch gesetzliche Kausalerklärungen und ihre vielfältigen Bewährungen gewinnen kann, verteidigt sie meist durch umständliche Kausalitäten („queer causality“) und verborgene Profit- oder Machtinteressen.
Nagel kritisiert bekanntlich die vollständige Trennung beider Perspektiven auch auf dem Gebiet der Ethik.
In kritischer Absicht zusammengefasst ist dieser moderne Ethikbegriff bei Raymond Geuss: „a restrictive set of demands on actions that could affect other people and that are usually constituted as some set of universal laws or rules or principles …on which ‚we‘ would all agree (under some further specified circumstances)“ vgl. Geuss (2005, 3).
Einen Versuch, über den Schmerzbegriff hinaus alles, was Tieren in ihrer Perspektive gut erscheint, als Quelle von Anspruch an menschliches Verhalten zu begründen, unternimmt Korsgaard (2021).
Zwischen Klimaveränderung und Naturschutz gibt es bekanntlich Wechselwirkungen. Schutzgebiete (die auch CO2 „Senken“ sein können) und die Korridore dazwischen müssen den Klimaveränderungen ständig angepasst werden.
Nolt beklagt das Fehlen einer „long-term nonanthropocentric climate ethic“ (701).
Zum Wert der Naturgeschichte vgl. Holland (1997).
Diese Folgerung hätte vielleicht schon Aristoteles gezogen, wenn für ihn der ewige Kosmos mit seinen unveränderlichen Arten nicht unstörbar „gut“ (zweckmäßig, vernünftig, vorbildlich) gewesen wäre.
Auch Korsgaard geht auf diesen aristotelischen Sinn von „gut“ als letztlich erstrebenswert zurück, begrenzt ihn aber auf Menschen und fühlende Tiere (Vgl. Korsgaard 2021, 38, 44 u. ö.).
Vgl. wiederum Nagel (o. Anm. <13>). Man kann darin eine nicht-anthropozentrische Version des „ecological world view“ sehen (Norton 1987, 205). Sie lässt aber selbständige Subsysteme und einen Pluralismus ihrer Strukturen zu (vgl. u. Anm. <29>).
Vgl. u. S. <11>.
Das heißt etwa für Menschen nicht nur im oberflächlichen Sinne nützlich oder wohltätig („beneficial“). Auch Leiden, Widerstände, Enttäuschungen können wertvoll sein für ein sinnvolles Leben.
Der Begriff „Ganzes“ (Holon) wird hier für sehr unterschiedliche Strukturen mit solchen Gesamtwerten verwendet – vom Organismus über Ökosysteme, Familien, Populationen etc. bis zu sozialen und kosmischen Systemen. Da sie funktionale Relationen und Interaktionen zwischen ihren Bestandteilen bzw. Gliedern voraussetzen ist fraglich, ob biologische Arten dazu gehören. Ihre Erhaltung ist aber durch den Wert der natürlichen Diversität innerhalb eines Ganzen realer Interaktionen gefordert.
Relational heißt nicht relativ. Auch intrinsische Werte wie Moral oder Lebensfreude sind für etwas (den Träger und andere) wertvoll, setzen aber ihrerseits körperliche, mentale und soziale Relationen voraus. Zur Integration moralischer und kultureller Werte in einen relationalen Wertbegriff vgl. Siep (2022a, Kap. 1.2.2) und Siep (2020, Kap. 2.1)
Die Nützlichkeit etwa von Eisflächen zur Zurückspiegelung von Sonnenstrahlung ist theoretisch auch durch technische Reflektoren ersetzbar. Für Natürlichkeit, d. h. die Entstehung und Entwicklung von Gebilden und Prozessen zumindest teilweise außerhalb menschlicher Kontrolle, als ein ethisch beachtlicher Wert gibt es gute Argumente. Auch Pathozentriker müssten ohne ihn „künstlich“ das Leiden minimieren, dass Tiere einander zufügen. Zu den natürlichen Grenzen menschlicher Pflichten gegenüber Tieren vgl. Korsgaard (2021, Kap. 12).
Der „moral point of view“ entdeckt Ansprüche und Pflichten, er konstituiert sie nicht. Man kann die letzteren unterscheiden in Pflichten „gegenüber“ (der moralischen Gemeinschaft, aber auch einzelnen oder konkreten Gruppen nicht nur menschlicher Lebewesen) und „in Ansehung von“ (etwa Landschaften, Ökosystemen etc.).
Von anderen Lebewesen kann man sie nicht einfordern und sie sind ihnen auch nur teilweise gegenüber Artgenossen und eigenem Nachwuchs „angeboren“.
Für Krohs (2014) ist der lebensweltliche Naturbegriff sogar eine Voraussetzung des – für ihn nicht unbedingt einheitlichen – Naturbegriffs der Naturwissenschaften (36).
Auch kein moralischer Imperativ zur Erhaltung oder Steigerung der fitness, das wäre ein naturalistischer Fehlschluss. Ob die menschliche Spezies moralisch unbedingt erhaltenswert ist, hängt vom Erhalt der moralischen Fähigkeiten ab (vgl. u. Anm. <42>).
Vgl. Kritik der Urteilskraft §§ 83, 84 („Von dem Endzwecke des Daseins einer Welt“) Kant (1968, V, 429-434).
Wie etwa die Ornithologie oder die Entomologie.
Für eine generelle Theorie der Verbindung von alltäglicher und philosophischer Ethik vgl. Sayer (2011).
„Daß eine Person keinen anderen Gesetzen als denen, die sie (allein oder jedenfalls mit anderen) sich selbst giebt, unterworfen ist“ (Einleitung in die Metaphysik der Sitten, Kant 1968, VI, 223). Vorläufer ist bekanntlich der Autonomiebegriff Rousseaus (der Bürger als zugleich Souverän und Untertan).
Etwa auf dem Wege des „moral enhancement“ durch eine konstitutive Unterdrückung schädigenden, auch klimaschädlichen Verhaltens. Zum moralischen Enhancement vgl. Persson/Savulescu (2019).
Auch Jonas qualifiziert seinen kategorischen Imperativ der Gattungserhaltung gelegentlich durch den Zusatz der „Permanenz echten menschlichen Lebens“, also einer zumindest moralfähigen Menschheit (Jonas 1979, S. 36).
Vgl. Kolbert (2021) (mit zahlreichen Beispielen).
Auch dazu viele Beispiele bei Radkau (1989 (2008)). Für Irrwege in der Forschung und Produktion auch Marko (2020).
Unter dem wahrgenommenen Zeitdruck der drohenden Zerstörung der Lebensgrundlagen („letzte Generation“) werden auch Formen bürgerlichen Ungehorsams legitim. Sie waren auch in der Anti-Kernkraftbewegung wirksam und letztlich demokratieverträglich. Konflikte und Kompromisse gibt es im Übrigen auch innerhalb der Protestbewegungen (vgl. Hadden 2015, 175 f.).
Das gilt auch für die Metaphern und Symbole, von denen der alltägliche „Klima-Diskurs“ nicht frei sein kann. Vgl. Müller-Salo (2020).
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Siep, L. Ethik, Wissenschaft und Alltagserfahrung in den Klima- und Umweltdebatten. ZEMO 6, 373–389 (2023). https://doi.org/10.1007/s42048-023-00146-1
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