Seit hundert Jahren gibt es die Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, und vor fünfzig Jahren (1972) gewährte sie einem meiner ersten Aufsätze Aufnahme für die Veröffentlichung. Jetzt widerfährt mir die Ehre, für den Jubiläumsband das nicht zuletzt aus dem ursprünglichen theoretischen Ansatz der Zeitschrift erwachsene Nachdenken über mittelalterliche Texte in einem Essay reflektierend nachzuvollziehen und aus persönlicher Sicht Erkenntnisgewinn daraus zu ziehen. Dies kann selbstverständlich nur sehr selektiv erfolgen. Die jahrzehntelange Beteiligung an der einschlägigen Forschung mag zudem zwar nachgerade Einsicht, Erfahrung und Überblick, ebenso aber auch allzu festgefügte Ansichten und mangelnde Innovationsbereitschaft mit sich gebracht haben.Footnote 1

Keiner weiteren Diskussion bedarf die Vermeidung des aus dem Idealismus stammenden Begriffs der Geistesgeschichte. Auf ›Intellectual History‹ könnte man sich wohl am leichtesten einigen, wenn nicht die deutsche literaturwissenschaftliche Fachsprache ohnehin schon von Anglizismen wimmelte. So mag man sich mit ›Ideengeschichte‹ begnügen. Literatur grundsätzlich immer vor ihrem ideengeschichtlichen Horizont zu betrachten gilt nicht zuletzt dank der Wirkung der Beiträge der DVjs längst als wissenschaftlich unabdingbar – theoretisch jedenfalls. In der Praxis mangelt es nicht selten an den dazu nötigen historischen Kenntnissen, welche keineswegs durch moderne Theorieentwürfe ersetzbar sind. Diese alle einfach außer Acht zu lassen ist selbstverständlich auch nicht vertretbar. So hat die moderne Kulturtheorie sowohl der Literatur- als auch der Ideengeschichtsschreibung nicht zu Unrecht ihre isolierte Sicht geistiger Phänomene vorgeworfen, welche vielmehr im globalen Raum menschlicher Kultur zu betrachten und bewerten seien. Aus diesem die Literatur, insbesondere die Dichtung, unzulässig herauszuheben konnte man allerdings der Neueren deutschen Literaturwissenschaft in ihren Anfängen weit mehr zum Vorwurf machen als Jacob Grimms umfassender Germanistik, die stets einen kulturwissenschaftlichen Ansatz verfolgte, wenn diesem auch der erst im 20. Jahrhundert ausgeprägte Systemgedanke fehlte.

Der Theorienbildung stand die Ältere deutsche Literaturwissenschaft seit jeher ferner als die Neuere, auch in ihrer mehr textbezogenen Variante Karl Lachmanns, der aus der Klassischen Philologie kam. Gerade eine literaturtheoretische Ausweitung der Germanistik (auf Philosophie und Ideengeschichte) hatte dagegen der Neugermanist Paul Kluckhohn (1886–1957) bei der Begründung der DVjs vor hundert Jahren im Blick. Vergleichbare Ausweitungen wurden dann folgerichtig im Weiteren immer wieder in Richtung auf Nachbarwissenschaften versucht: Philosophie, Historie, insbesondere Kulturhistorie, Soziologie, Kunstwissenschaft, Linguistik, Kommunikationswissenschaft, Kognitionswissenschaft, Psychologie u. a. Daraus erwuchs der Literaturwissenschaft erhebliche Erkenntnis, allerdings in durchaus unterschiedlichem Ausmaß. Ältere literarische Texte öffneten sich den neuen Zugängen keineswegs immer ohne Zwang, am wenigsten dort, wo diese an neuen und neuesten historischen Befunden erstmals erprobt worden waren, wie z. B. psychologische Interpretationsversuche. Aber umgekehrt versagten vielfach auch altbewährte Muster der Analyse klassischer Werke von Racine oder Schiller kläglich an mittelalterlichen Texten. Das brachte Hans Robert Jauß auf die damals (1977) zündende Idee, die offenkundige Andersheit (Alterität) der mittelalterlichen Texte sogar in einen besonderen Reiz für moderne Leser umzumünzen, was freilich dann doch nur ephemeren Erfolg hatte. Allerdings verfallen inzwischen neuzeitliche Texte vor dem Ende des 19. Jahrhunderts in gebildeten Kreisen nicht viel weniger rasch als mittelalterliche der Vergessenheit.

Die von Jauß verzeichneten Merkmale dieser Alterität waren damals allerdings tatsächlich von der Forschung nicht genügend in Rechnung gestellt, ja teilweise sogar völlig missachtet worden. Apostrophiert hatte er einmal die im Vergleich mit neuzeitlicher Literatur auffallende Traditionsgebundenheit, mehrfache Wiederverwendung alter Stoffe, Motive und Themen, eine zumindest vorgebliche Verweigerung innovativer Originalität, ja, den mangelnden Anspruch auf Autonomie der Kunst überhaupt, zum anderen eine gattungsübergreifende Tendenz zur Lehrhaftigkeit, welche die epische, lyrische und dramatische Gestaltungskraft sogar immer wieder überwuchern konnte. Das größte Gewicht hatte er aber auf den für moderne Menschen verblüffenden Umstand gelegt, dass volkssprachige Epik, Lyrik, Dramatik und Lehrdichtung vorerst nur durch das Gehör und erst sekundär, wenn überhaupt, durch das Lesen aufgenommen wurden, also Vortragsdichtung waren. Diesen Umstand wirklich bei jeder Interpretation romanischer oder germanischer Texte ausreichend einzukalkulieren wird selbst heutzutage kaum jemand ehrlicherweise behaupten können, wenn er/sie die Texte doch zwangsweise nur schriftlich zur Kenntnis genommen hat. Andererseits neigen Romanistik und Germanistik üblicherweise zur ungerechtfertigten Marginalisierung lateinischer Dichtung, welche zwar in einem relativ kleinen, abgeschlossenen Raum ›konsumiert‹ wurde, aber über die Schulen auf alle Lesekundigen ausstrahlte. Von lateinischen Texten wurde in der Regel wohl nur die rhythmische Lyrik vorgetragen, die geistliche im Chorgesang klerikaler Gemeinschaften, weit seltener auch vor zuhörenden Besuchern der Messfeier. Quantitativ sind diese Texte aber wahrhaft nicht zu verachten. An die 10.000 lateinische Hymnen und Sequenzen sind uns überliefert. Der Übergang von geistlicher lateinischer Lyrik zur Dramatik ist fließend. (Auf den anschließenden Übergang des Dramas zur Volkssprachlichkeit kann ich hier nicht eingehen.) Lateinische Epik und Lehrdichtung sind dagegen im Mittelalter vermutlich überwiegend Lesedichtung gewesen, in der Volkssprache dagegen nur die in Prosa (in Skandinavien vermutlich auch diese erst im Spätmittelalter oder später).

Die grundsätzliche Performativität mittelalterlicher Dichtung verweist uns nicht nur auf die – hier nicht weiter zu diskutierende – Frage der oralen Produktion, sondern zuerst einmal auf die Möglichkeit einer der Schrifttradition vorausgehenden gänzlich schriftlosen, ›volkstümlichen‹ Dichtung. Eine solche als Phantasie deutscher Romantik zu verdächtigen wäre töricht, obwohl diese selbstverständlich das Phänomen arg überbewertet und globalisiert hatte. Die Ethnologie hat inzwischen genügend Beispiele oraler Poesie ursprünglicher ›primitiver‹ Kulturen gesammelt. Ihr Eingang in die Schriftkulturen ist in jedem Einzelfall eigens zu beurteilen. Für das abendländische Mittelalter müssen wir mit einem – wie auch immer konkret vorzustellenden – Zugriff des allein schriftkundigen Klerus auf ›volkstümliches‹ Gut rechnen. Wie weit dieses bei oder schon vor der Verschriftlichung umgeformt wurde, ist schwer festzustellen. Im 9. Jahrhundert beim Hildebrandslied scheint es in eher geringem Umfang geschehen zu sein, beim Muspilli oder bei der romanischen Eulaliasequenz schon in höherem Maß. Religiöse christliche Dichtung war stets irgendwie klerikal infiltriert. Mangels ausreichender alter Schriftzeugnisse muss es bei jeder wichtigen Neuerung der volkssprachlichen Dichtung gegenüber der lateinischen Tradition trotzdem offenbleiben, wieweit sie auf eigener ›volkstümlicher‹ Überlieferung beruht. Im gesamten mittelalterlichen Europa gab es wohl ›Einfache Formen‹, wie sie A. Jolles 1930 genannt hat, d. h. narrative Ausprägungen jeweils eigentümlicher spontaner menschlicher ›Geistesbeschäftigungen‹, Legenden, Sagen, Märchen und andere.

Die uns schließlich noch erhaltene volkssprachige Literatur ist jedenfalls das Ergebnis einer Symbiose gelehrter und ungelehrter Kultur(en) mit wechselndem Mischverhältnis. Die Sprache etwa ist vornehmlich das Ergebnis ›natürlicher‹, von Vorgaben lateinischer Grammatik nur am Rande beeinflusster Entwicklung, das gewählte Sujet dagegen entweder ›volkstümlichen‹ oder griechisch-römischen und klerikalen Ursprungs. So gut wie alle literaturtheoretischen Vorgaben kommen aber aus der klassischen und/oder christlichen Antike. Ihre Bedeutung für die romanische und noch mehr für die germanische Literatur des Mittelalters ist immer wieder heftig bestritten worden, insbesondere weil sie damals kaum je volkssprachlich, sondern fast nur lateinisch formuliert wurden. Dabei hat man jedoch missachtet, dass die mittelalterliche Literatur weitestgehend zweisprachig ablief und theoretische Diskurse vorläufig dem Latein vorbehalten blieben, was lateinisch gebildeten volkssprachigen Dichtern – und das waren etwa Bernart de Ventadorn oder Chrétien de Troyes ebenso wie Walther von der Vogelweide oder Hartmann von Aue – selbstverständlich war und somit nicht ausdrücklich betont werden musste.

Darauf soll – im engen Anschluss an meine seit meinem Beitrag zur DVjs 1980Footnote 2 vorgetragenen Überlegungen – im Weiteren der Schwerpunkt liegen. Wenn ich seit mehr als vier Jahrzehnten die mehr oder minder selben Gedanken immer wieder – nun wohl zum letzten Mal hier im vorliegenden Essay – nahezu gebetsmühlenartig wiederhole, so geschieht dies, weil die Forschung zu einem guten Teil nach wie vor den dargestellten fundamentalen Sachverhalt meist stillschweigend, seltener ausdrücklich in Zweifel zieht, beiseiteschiebt oder verschweigt und stattdessen in der mittelalterlichen Literatur – entgegen dem schon von Jauß aufgezeigten Befund – immer wieder das sensationell Neue und Moderne bzw. Postmoderne avant la lettre sucht.

Größere, wenn auch immer noch nicht ausreichende Akzeptanz hat inzwischen die allgemeine Abhängigkeit mittelalterlichen, auch volkssprachlichen Schrifttums von der antiken Rhetorik erlangt. Freilich verstummt der Einwand nicht, diese Übereinstimmung stilistischer Mittel mit der antiken Rhetorik könnten auf Zufall beruhen, denn man könne viele davon auch schon vorher, z. B. im Alten Testament der Bibel vorfinden. Und tatsächlich greift das antike System des Redeschmucks, der Figuren und Tropen, zu einem guten Teil auf universelle Möglichkeiten menschlicher Sprache zurück. Doch Umfang und Ausformung der stilistischen Mittel im Mittelalter in Prosa und Vers, im weltlichen wie im geistlichen Bereich, im Gebrauchsschrifttum wie in der Dichtung decken sich im Allgemeinen so genau mit den einschlägigen lateinischen Lehrbüchern, dass deren direkte oder indirekte Benutzung kaum in Frage stehen kann.

Insbesondere die rhetorischen Schriften Ciceros, De inventione etc., sowie die ihm zugeschriebene anonyme Rhetorica ad Herennium wurden ab der karolingischen Renaissance weiterverwendet, exzerpiert und bearbeitet und bereiteten nach weiteren 200 Jahren der neuen Blüte der lateinischen Poesie in Frankreich den Boden. An den hohen Schulen an der Loire entstanden die Artes poeticae, die Lehrbücher der Dichtkunst, die zwar in der Nachfolge der klassisch-römischen Ars poetica, der des Horaz (Epistulae II, 3), zu stehen vorgaben, gleichwohl aber fast ausschließlich Lehren der Rhetorik, allerdings anfangs nur angewendet auf Versdichtkunst, enthielten. Für andere Textsorten, v. a. amtliche Gebrauchstexte, Briefe, Urkunden etc., dienten andere Handbücher (Artes dictandi etc.). In die Volkssprache übersetzt wurden diese Artes Poeticae (von Matthäus von Vendôme, Galfred von Vinsauf etc.) erst im Spätmittelalter, ins Deutsche überhaupt erst im 15. Jh. Bekannt waren sie hier aber durchaus schon um 1200, wie Zitate und Reflexe bei Gottfried von Straßburg und anderen erweisen. Anwendung fanden die rhetorischen Regeln aber allenthalben in der volkssprachigen Dichtung des Hochmittelalters, wie die Forschung seit Faral 1924 und Brinkmann 1928 weiß. Meist bleibt es allerdings unklar, ob dafür antike oder mittelalterliche Lehrbücher oder überhaupt nur die antike oder die mittelalterliche lateinische oder volkssprachliche dichterische Praxis das Vorbild abgaben.

Fehlende ausdrückliche Quellenhinweise dienen allerdings der Forschung nach wie vor oftmals zum Anlass, volkssprachige Texte trotz allem wie moderne zu behandeln. Daran hindern auch die darin enthaltenen ständigen Hinweise auf übernommene Stoffe, große Vorbilder und Traditionsgebundenheit nicht. Diese werden als bloße Gemeinplätze beurteilt und damit ihrer Aussagekraft beraubt oder überhaupt als ironisch eingestuft. Nun hüllt sich gewiss auch im Mittelalter Eigenlob eines Neuerers bisweilen in vorgeschützte Epigonenattitüde, doch die absichtliche gänzliche Ablösung von der Tradition wäre einem mittelalterlichen Autor erst zu beweisen. Vielmehr ist allenthalben die Grundhaltung vorauszusetzen, welche am besten in dem seit dem frühen 12. Jahrhundert beliebten Bild von den Zwergen auf den Schultern von Riesen zum Ausdruck kommt: Sie verfügen über einen weiter reichenden Blick, jedoch allein deshalb, weil sie durch riesenhafte Größe hochgehalten werden. Diese Haltung lässt immer noch genug Eigenleistungsstolz zu, weiß sich aber stets in eine fortzusetzende Überlieferung eingebunden. Endgültig scheint sie sogar erst im 20. Jahrhundert aufgegeben worden zu sein. Dann erst wird das noch nie Dagewesene zum wichtigsten Qualitätsmerkmal eines Kunstwerks. Selbst das 18. Jahrhundert hat den Geniekult noch im Rahmen des humanistischen Traditionsbewusstseins gepflegt.

Unter den sogenannten mittelhochdeutschen Klassikern wird in der Forschung, und zwar in der Gegenwart noch häufiger als früher, vor allem Gottfried von Straßburg der fast durchgehenden feinen, versteckten Ironie geziehen. Eindeutige Ironiesignale sind kaum nachweisbar, so dass man auf Schlüsse aus dem größeren Kontext angewiesen ist, was dann auch die Feststellung des Umfangs der Ironie im Text ungemein erschwert. Fast nichts kann so dem Ironieverdacht entgehen, auch nicht die berühmte Literaturschau. Die darin so klar zum Ausdruck gebrachten, vielleicht aber doch nicht so ernst gemeinten Werturteile über die Werke der Dichterkollegen gründen jedenfalls zweifelsfrei fast ausschließlich auf stilistischen Kriterien – ganz den Intentionen der lateinischen Autoren der Artes poeticae um und nach 1200 entsprechend. Wir erwarten dagegen von einer Poetik zuerst einmal Aussagen zur Erzähltechnik, Werkaufbau, Gattungslehre und dergleichen. Davon handelt denn auch die Poetik des Aristoteles, wenn er sich auch, vielleicht aufgrund einer unvollständigen Überlieferung des Werks, auf die Gattung der Tragödie beschränkt und das Epos nur zum Vergleich heranzieht. Doch auch Quintus Horatius Flaccus (65–8 v. Chr.) handelt in seiner Ars poetica nur von den dramatischen Gattungen, weil sie die vollkommensten seien. Dieses lateinische Lehrgedicht von der Dichtkunst unterscheidet sich insgesamt von der prosaischen griechischen Poetik des Aristoteles durch poetisch-spielerische Leichtigkeit, welche zwar die wissenschaftliche Exaktheit beeinträchtigt, die Wirkung aber bedeutend erhöht hat. Diese reicht mindestens bis ins 18. Jahrhundert. Dem Hochmittelalter musste sie – mehr schlecht als recht – auch Aristoteles ersetzen, dessen Poetik erst im späteren 13. Jahrhundert ins Lateinische übersetzt wurde und da keinen durchschlagenden Erfolg mehr erzielen konnte. Horaz galt dem Mittelalter als unangefochtene Autorität und prägte sich vor allem durch griffige Formulierungen dem Gedächtnis ein, wie aut prodesse volunt aut delectare poetae »Entweder nützen wollen die Dichter oder unterhalten« (V. 334). Die wichtigste Grundidee der aristotelischen Poetik, die Mimesis-Lehre, setzt Horaz nur implizit voraus, liefert aber keine eindeutigen, aus sich selbst verständlichen Formulierungen dafür. Wenn Horaz Homer dafür lobt, dass er so zu lügen und Wahres mit Falschem zu mischen verstehe, dass kein Widerspruch in der Handlung entstehe, so lässt sich das Prinzip der Wahrscheinlichkeit, des aristotelischen eikós, dahinter gerade noch ahnen. Der doctus imitator, der gelehrte Nachahmer, der es verstehen solle, einen vorbildlichen Charakter lebendig vor Augen zu stellen, ist zwar gewiss kein anderer als der aristotelische Nachahmer der Natur, kann aber an der Stelle auch als Nachahmer literarischer Vorbilder verstanden werden. Am eindeutigsten wohl die Warnung, eine fabula möge nicht blinden Glauben für Unglaubwürdiges verlangen, sondern nahe an der Wahrheit (proxima veris) bleiben, auch wo sie des Vergnügens wegen zur Fiktion greift. Eine gewisse Hilfestellung zum Verständnis konnte auch hier die antike Rhetorik bieten, die im Mittelalter meist zusammen mit der Poetik unterrichtet wurde. Sie fordert von der narratio, der Sachverhaltsdarstellung, also der Schilderung des gerichtlichen oder politischen Kasus, uneingeschränkte Wahrscheinlichkeit. Nun geht es hier zwar bloß um die Überzeugung des Richters und/oder des Publikums im Gerichtssaal. Aber die von der Rhetorik geforderte Ausrichtung an der Natur entspricht durchaus der aristotelischen Mimesis. Und der Poetikunterricht setzt dann narratio einfach mit der epischen Handlungsdarstellung gleich. Daher kommt es, dass die von der antiken Rhetorik bereitgestellten Möglichkeiten der Sachverhaltsdarstellung auch zu der einzig durchgängig verwendeten Theorie der epischen Gattungen im Mittelalter gebraucht oder missbraucht werden konnten. Es sind dies die fabula, die historia und das argumentum. Die fabula erzählt, was weder wahr noch wahrscheinlich ist, die historia nur, was wahr, also faktisch geschehen ist, das argumentum schließlich, was zwar nicht geschehen ist, aber geschehen hätte können. Die höchste rhetorische Beweiskraft kommt natürlich dem faktisch-historischen exemplum zu. Aber selbst hier darf der Redner den Aspekt der Wahrscheinlichkeit nicht aus den Augen lassen, da es auch unwahrscheinliche, unglaubwürdige Tatsachen gibt.

Aristoteles kommt als Poetiker gleichsam von der anderen Seite zum selben Ergebnis. Da die poetische Überzeugungskraft nach seiner Ansicht von vornherein von »dem nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Möglichen«, nicht von der zufälligen Faktizität des realen Geschehens ausgeht, muss er sich bemühen, doch auch die Verwendung vergangener realer Ereignisse zu rechtfertigen. Der Tragödienschreiber »ist also«, wie er schreibt, »auch wenn er wirklich Geschehenes dichterisch behandelt, um nichts weniger Dichter. Denn nichts hindert, dass von dem wirklich Geschehenen manches so beschaffen ist, dass es nach der Wahrscheinlichkeit geschehen könnte« (Übers. Fuhrmann, 31 = poet. 9,10 p. 1451b). An dem Primat der Glaubwürdigkeit (≈ Wahrscheinlichkeit) hält Aristoteles aber unbedingt fest: »Das Unmögliche, das wahrscheinlich ist, verdient den Vorzug vor dem Möglichen, das unglaubwürdig ist« (Übers. Fuhrmann, 83 f. = poet. 24,19 p. 1460a). Diese Beurteilung ergibt sich notwendig aus einer rein rationalen Weltsicht, welche die Gesetze der Natur für streng kausal geordnet und als solche auch für grundsätzlich erkennbar hält. Die christliche Theologie möchte dann diese Weltsicht – nicht ohne Gewaltsamkeit – mit der Vorstellung des allmächtigen Schöpfergotts in Einklang bringen. So dekretiert der wirkungsmächtigste Kirchenvater, Augustinus, um 400, dass die Geschichte selbst nicht unter die bloß menschlichen Handlungen gerechnet werden könne, »denn das, was vergangen ist und nicht mehr ungeschehen gemacht werden kann, muss seinen Platz bereits in der Ordnung der Zeiten haben, deren Schöpfer und Verwalter Gott ist« (De doctrina christiana II, 28). Er kann sich dabei auf Jesu eigenes Wort berufen, dass kein Sperling vom Dach fällt ohne den Willen Gottes (Mt 10,29). Die Geschichte steht damit faktisch auf einer Stufe mit der Natur, die der Dichter nachahmen muss und kann. Sie erhält dieselbe Dignität, und zwar in ihrem bloßen Sein, nicht erst in ihrem So-Sein gemäß irgendwelchen rationalen Realitätsprinzipien.

Augustinus hat dieser Vorstellung Gültigkeit verschafft, sie aber nicht erfunden. Schon der ältere Kirchenvater Lactantius bringt um 300 für die Poetik die aristotelische Wahrscheinlichkeit gar nicht mehr ins Spiel. Er geht einfach von einem historisch-faktischen Stoff der Dichtung aus und erklärt rundweg: »Die Aufgabe des Poeten besteht darin, das, was wahrhaftig geschehen ist, in andere Gestalten durch metaphorische Ausgestaltungen mit irgendeinem schönen Schmuck zu verwandeln und zu überführen« (Divinae institutiones 1, 11, 24).

Aus diesen rhetorischen, poetologischen, aber insbesondere theologischen Vorgaben formt im frühen 7. Jh. der Bischof Isidorus von Sevilla kompilatorisch seine Poetik, die nur knapp ausfällt, aber dank ihrem Ort in der gängigsten Enzyklopädie des Mittelalters, die in den Klosterbibliotheken neben der Bibel zu stehen pflegte, geradezu kanonische Geltung erlangt. Einerseits wiederholt er wörtlich die Privilegierung des historischen Gegenstandes bei Laktanz, andererseits zitiert er auch die Gattungstrias aus Cicero und Pseudo-Cicero, drängt jedoch das argumentum, die Darstellung des Wahrscheinlichen, in den Hintergrund und privilegiert fabula und historia. Dabei tragen Isidors Ausführungen zur fabula, ganz anders als die zur historia, erkennbar eine apologetische Färbung, hatte doch schon der frühe Kirchenvater Tertullian (gest. ca. 230) warnend ausgerufen: »Bei Gott gilt alles, was erfunden wird, als Fälschung« (De spectaculis 32, 5). Zur Rechtfertigung der Erfindung zieht Isidor (Etymologiae 1, 40, 1) Augustins Schrift über die Lüge heran und unterstellt der vom Dichter erfundenen Geschichte (narratio ficta), die nur bildhaft zu verstehen sei, eine wahre Bedeutung (verax significatio). Am deutlichsten sei diese an einem speziellen Fall der fabula, der Tierfabel, zu erkennen, welche die Tiere sprechen lasse, ihre uneigentliche Ausdrucksweise also auf der Stirne trage, da sie, wie Isidor sagt, contra naturam, »gegen die Natur« ist (etym. 1,44,5). Dementsprechend bevorzugt die lateinische Poetik in höheren Formen der Epik ein allegorisches, verhüllendes Verfahren. Es heißt in der Schule von Chartres integumentum. Es wird definiert als »eine Rede, die unter einer fabulösen Erzählung eine wahre und vom Äußeren verschiedene Einsicht verhüllt« (Martiankommentar 2, 74 f.). Wird hingegen dasselbe Verfahren bildhaften Erzählens auf die historia angewendet, so liegt nach dieser Theorie kein integumentum, sondern eine allegoria vor. Diese ist dann vor allem in dem so beliebten Genre der Bibel- und Legendendichtung anzutreffen. Doch setzt sich diese säuberliche theoretisch-terminologische Trennung nicht wirklich durch, schon gar nicht in der Volkssprache. In dieser wählt man ohnehin größtenteils den einfacheren Weg, den der historia.

Dies klar zu erkennen, war und ist die Forschung vielfach durch den Umstand gehindert, dass historia im Mittelalter einen viel weiteren Geltungsbereich hatte als heute (s. o.). Dieser reicht von der einigermaßen faktentreuen Geschichtsschreibung – wobei, notabene, übernatürliches Geschehen zu den Fakten zählt – bis zur mehr oder minder realistischen Erzählung, die bloß dem Wahrscheinlichkeitsprinzip entsprach. (Ein eigenes Problem geben die zahlreichen veritablen Geschichtsfälschungen auf.) Wer ›Realismus‹, ›Fakten‹, ›Wahrscheinlichkeit‹ mit modernen Maßstäben misst, verbaut sich jeden Zugang zu dieser Literatur. Die für unsere Begriffe geradezu unfassbare Leichtgläubigkeit des mittelalterlichen Menschen ermessen kann nur, wer die zahllosen ›historischen‹ Mirakelberichte jener Zeit genau liest und ernst nimmt, wie man sie in aller Regel im Mittelalter nahm. Von individuellen Ausnahmen abgesehen, glaubte man aber nicht nur an göttliche Wunder und Dämonen, sondern auch an menschliche schwarze und weiße Magie. Und im natürlichen Bereich war die Sicherung von Fakten ungleich schwieriger als heute, infolge sowohl naturwissenschaftlicher als auch kommunikativer Defizite. Die Grenzen zwischen gesicherten und bloß wahrscheinlichen Fakten sind sogar noch heutzutage vielfach fließend, damals aber weit, weit mehr.

Diese nochmalige, an anderer Stelle von mir schon wörtlich gleich gebotene Präsentation der markantesten literatur-, v. a. gattungstheoretischen Festlegungen der Antike schien mir unverzichtbar, um – wenn auch vielleicht ad nauseam – zu dokumentieren, auf welch festem historischen Grunde hier die Argumentation ruht, nicht auf wie auch immer theoretisch begründeten modernen Überlegungen. Nicht von der Hand zu weisen ist dagegen wohl der Einwand, Werke ›volkstümlichen‹ Ursprungs könnten damals von gelehrten Vorschriften unbeeinflusst gewesen sein, jedenfalls, solange diese Werke ganz in der mündlichen Sphäre verblieben. Wer aber im Früh- oder Hochmittelalter lesen und schreiben lernte, musste schon ab der Lektüre von Bibel und äsopischen Fabeln mit dem fundamentalen Gegensatz von historia und fabula vertraut werden. Ohne jene mündliche Sphäre so stark einzuschränken, wie es die Forschung vielfach tut, wird man gleichwohl die allermeisten bekannten mittelalterlichen Autoren, auch wenn sie nichts Lateinisches schreiben und es vielleicht auch nur mühsam lesen konnten, von ihrer Ausbildung her der schriftlichen Sphäre zurechnen müssen.

Als getreue Anhänger einer Buchreligion hielten sie das Wort der Heiligen Schrift hoch. Deren überwiegender Inhalt war – bis auf die gleichnishaften und appellativ-lehrhaften Partien – erzählerischer Natur, also historia, somit buchstäblich wahr, auch wo Wunder erzählt wurden. So streng nahm man es bei sonstigen Erzählungen nicht. Aber Mirakel und Legenden galten zumindest im Prinzip als wahr, aber auch weltliche Geschichtsschreibung, was den Geschichtsfälschern die Arbeit wesentlich erleichterte. Umgekehrt fingiert zwar auch moderne zünftige wissenschaftliche Historie ebenso selbstverständlich wie unbewusst, sofern sie erzählt. Gleichwohl hat hier Fiktion nur eine bloß ergänzende Funktion und berührt keinen wesentlichen Punkt der Darstellung. Quellenkritik gab es schon in Antike und Mittelalter, wurde aber inzwischen um ein Vielfaches intensiviert. Die der Darstellung zugrunde liegende Faktenreihe ist in mühseliger Kleinarbeit von unzähligen Gelehrten festgestellt worden und wird in der weiteren Forschung nur punktuell aufgefüllt und erweitert. Alles Übernommene und neu Gefundene wird ausführlich dokumentiert. Geschichtsfälschungen sind äußerst rar und kurzlebig geworden. Pseudohistorie wie Dan Browns berühmter Thriller The Da Vinci Code von 2003 zieht sich von vornherein auf das Privileg literarischer Freiheit zurück. Im Gegensatz zur Vormoderne bildet die Literatur gegenüber der Historie ja seit etwa dem Ende des 18. Jahrhunderts ein einigermaßen geschlossenes System, das sich durch einen unausgesprochenen, aber vorgegebenen ›Vertrag‹ des Autors mit dem Leser – die Geschichte wird nur erzählt, als ob sie wahr sei – geschützt weiß. Wer etwas von Literatur versteht, wird sich hüten, sie für Historie zu nehmen, dem mittelalterlichen Erzähler und Leser/Hörer aber aus demselben Grunde auch nicht so einfach zutrauen, dass er dies ganz anders gesehen hat. Dazu gezwungen wird man jedoch meines Erachtens durch die zitierten entscheidenden literaturtheoretischen Aussagen, die aus den genannten Gründen für die volkssprachigen Dichtungen nicht weniger als für die lateinischen galten.

Zudem müssen wir auch auf volkssprachige Zeugnisse gar nicht vollständig verzichten, obwohl sie nicht so häufig und meist nicht so eindeutig sind. Noch halbwegs reichen die Belege in den romanischen Bereich hinein, in den germanischen dagegen eher sporadisch. Da dieses Gefälle aber dem allgemeinen kulturellen Gefälle entspricht, ist es alles andere als gewagt, die Belege aus dem ersten auch für den zweiten Bereich gelten zu lassen. Die Abhängigkeit der deutschen von der französischen Literatur ist insgesamt ja kaum zu überschätzen und auch gut dokumentiert. Darauf komme ich am Ende dieses Essays nochmals zurück.

Jean Bodel aus Arras, ein vielseitiger nordfranzösischer, 1209/10 gestorbener Berufsliterat, schreibt im Prolog zu seinem Heldenepos Chanson des Saisnes, V. 6‑11:

Es gibt nur drei Stoffe (materes) für einen klugen Menschen: von Frankreich (France), Britannien (Bretaigne) und dem großen Rom (Romme la grant). Etwas diesen drei Stoffen Vergleichbares gibt es nicht. Die Geschichten von Britannien sind nichtig und ergötzlich (vain et plaisant) und die von Rom weise und sinnvermittelnd (sage et de sens aprendant), die von Frankreich sind alle Zeit eindeutig wahr (voir chascun jour aparant).

Hinter dem, was hier als »wahr« bzw. als »nichtig und ergötzlich« bezeichnet wird, werden sofort historia bzw. fabula als lateinische Modelle sichtbar. Nun nennt Jean Bodel zwar keine Gattungen (Heldenepos bzw. Artusroman), sondern nur die darin verwendeten Stoffe. Aber in einem anderen Heldenepos, der Bataille Loquifer (Anfang 13. Jh.) nennt der anonyme Erzähler als Alternative zur eigenen Gattung, der chanson (scil. de geste), die fable und meint damit den Artusoman. Oberstes Kriterium ist für beide Autoren also der Bezug zur Wirklichkeit, genauer: zur historischen Faktizität. Den Antikenroman (roman d’antiquité) kann oder will Jean Bodel, der ja für sein eigenes Heldenepos wirbt, hier offenbar keinem der beiden Seiten zuordnen und zieht sich auf das Charakteristikum der Wissensliteratur zurück. Kaum ein französisches Heldenepos verzichtet auf die Beteuerung seiner historischen Zuverlässigkeit. Etwa der Verfasser der Prise d’Orange (Eroberung von Orange, spätes 12. Jh.) weist zum Beweis dafür, dass er keine Lügenmärchen vorbringt, auf die Waffen des Helden Guillaume hin, die jeder Pilger noch in Brioude (südlich von Clermont-Ferrand) vorfinden könne (V. 7‑9). Dementsprechend legt auch Wolfram von Eschenbach größten Wert darauf, dass das von ihm im Willehalm (der Bearbeitung der frz. Chanson de geste Aliscans) Erzählte dem historischen Wahrheitsanspruch genügt.

In den deutschen Heldenepen von den Nibelungen, Dietrich von Bern und anderen findet sich dergleichen freilich nicht. Etwa das Nibelungenlied beruft sich nur auf altiu mære, alte Geschichten. Aber die zünftigen Historiographen nehmen die Heldenepen als Geschichtsüberlieferung durchaus ernst, indem sie sie entweder als Quellen benützen oder als unzuverlässig und verfälschend kritisieren, jedoch keineswegs einfach als fiktionale Dichtungen aus dem historiographischen Bereich ausscheiden, wie moderne Forschung vielfach gemeint hat. Außerhalb der Gelehrtenzunft galt die Historizität des im Heldenepos geschilderten Geschehens offenbar als über jeden Zweifel erhaben. Die anderen epischen Gattungen verzichten dagegen am Anfang oder Schluss der Werke nur ausnahmsweise auf eine Wahrheitsbeteuerung, welche wir nach dem Gesagten viel eher als Hinweis auf die historia als auf eine wie immer geartete innere, tiefere oder höhere Wahrheit verstehen sollten. Nur wenige Autoren werden da so deutlich wie Gottfried von Straßburg, so dass es umso erstaunlicher anmutet, wie wenig Glauben ihm die Forschung geschenkt hat. Doch auch hier hat man dem Dichter lieber Ironie unterstellt. Gottfried geriert sich ja geradezu als Historiograph, wenn er schreibt (Tristan, V. 131-166 in meiner Übersetzung):

Ich weiß wohl, es gab viele, die von Tristan gelesen haben. Doch es gab nicht viele, die von ihm richtig gelesen haben. […] Wenn ich aber gesagt habe, dass sie nicht richtig gelesen haben, so verhält sich das so, wie ich es ausführe: Sie erzählten nicht nach der Richtschnur, wie Thomas von Britannen erzählt, der der Meister der Aventüre war und in britischen Büchern das Leben aller Magnaten des Landes las und kund und zu wissen gab. Wie er von Tristan erzählt, so begann ich die Richtschnur der Wahrheit angestrengt zu suchen in beiderlei Büchern, französischen und lateinischen, und bemühte mich, nach seiner Richtschnur diese Dichtung auszurichten. So betrieb ich eine vielfältige Nachforschung, bis ich in einem Buch alle seine Aussagen gelesen hatte, wie es um diese Aventüre bestellt war.

Eindeutige Aussagen wie diese sind, wie gesagt, die Ausnahme, geben aber die Richtung vor, in welche die Forschung sich m. E. orientieren sollte. Diese hat den Tristan zusammen mit vielen großepischen Verstexten mit guten Gründen der Gattung des Höfischen Romans, des roman courtois, zugeteilt, diesem aber viel zu selbstverständlich den modernen Fiktionalitätsbegriff unterstellt. Diesen kann man nur dort aufspüren, wo im Text völlig auf die Historizitätsbeteuerung verzichtet wird und stattdessen ebendort eindeutige Fiktionalitätssignale auftauchen – wie in Erec et Enide und Le Chevalier au Lion von Chrétien de Troyes. Das kann hier nicht weiter ausgebreitet werden. Es bleibt jedenfalls die Ausnahme und findet – trotz eifriger Weiterverwendung der Stoffe – im Romanischen nicht viel mehr Nachahmung als im Germanischen.

Vielmehr suchen viele uns mehr oder minder romanhaft erscheinende Erfindungen unterschiedlichster Art, sofern sie nur deutlich genug einen wahrheitsgemäßen oder zumindest wahrscheinlichen Erzählinhalt prätendieren, unter dem breiten Dach der historia Unterschlupf, ›Geschichtsromane‹ um berühmte antike historische Gestalten und Ereignisse wie Alexander den Großen, Aeneas, den Trojanischen Krieg ebenso wie um solche aus der byzantinischen, orientalischen oder britisch-keltischen Geschichte, welche der Schulgelehrsamkeit weniger oder gar nicht vertraut sind, wie Apollonius von Tyrus, Kaiser Heraklius, Partonopeus von Blois oder Tristan und Isolde, und schließlich auch solche aus der Gegenwart, die von Autoren wie Jean Renart, Philippe de Remy oder Ulrich von Liechtenstein als zeitgenössische Wirklichkeit ausgemalt wird. Wenn die Forschung hier gelegentlich von ›realistischen Romanen‹ spricht, so ist, wie bereits erwähnt, natürlich nicht von einem Realismus wie im 19. Jh. die Rede, sondern von Isidors res verae vel verisimiles (s. o.). Der zugrunde liegende Stoff hat also jedenfalls große Bedeutung für die Gattungsbestimmung der ihn verwendenden Erzählung, wenn auch die Realitätssignale keinesfalls fehlen dürfen.

Zwingend vorausgesetzt werden dabei die Gattungen fabula und historia als – letztlich theologisch festgelegte – essentielle Realia im Rahmen der mittelalterlichen Weltanschauung. Jeder vormoderne Erzähler hatte sich zwischen ihnen zu entscheiden. Frei war er nur in der Wahl der Untergattung. Untergattungen konnten natürlich auch damals wie später neu begründet, fortgesetzt, abgewandelt, parodiert, schon weit schwerer allerdings ganz missachtet werden, entsprach dies doch so gar nicht der schon mehrfach angesprochenen damals herrschenden Traditionsverbundenheit. Eine spätere nominalistische Sicht kommt dann natürlich zu ganz anderen Ergebnissen. Nach dem italienischen Philosophen Benedetto Croce (1866–1952) gibt es schließlich gar keine literarischen Gattungen, weil er das ›echte‹ Kunstwerk als völlig einmalig und unvergleichlich ansieht. Völlige Inkommensurabilität kann man freilich, wie ich meine, nicht einmal für ganz einsame künstlerische Höhepunkte wie Dante oder Shakespeare beanspruchen. Doch ist dies hier nicht unser Thema.

Ein langes Forscherleben lässt viele (auch eigene) Irrwege der Forschung erleben. Immer aufs Neue wird vornehmlich einer eingeschlagen: die Überbewertung und Isolierung einzelner tatsächlich oder vermeintlich herausragender Werke. Ein in langer Zeit erworbener Überblick über das – freilich vom Einzelnen nie wirklich zu überschauende – Ganze der mittelalterlichen Literatur zeigt fürs Erste einmal ein enormes Übergewicht geistlicher Texte in der gesamten Überlieferung, am deutlichsten natürlich im Lateinischen, aber auch in den Volkssprachen. Das geht in erster Linie auf das Schreibmonopol des Klerus zurück, das erst im Spätmittelalter etwas reduziert wurde, aber kaum weniger auf den allgemeinen weltanschaulichen, von der christlichen Theologie geprägten Hintergrund. Die germanistische Forschung spiegelt diese Dominanz keineswegs, noch weniger die romanistische Forschung. Einige weltliche Texte haben hier bei Weitem größeres Interesse geweckt, stehen diese doch unserer säkularen Welt viel näher. Erst in neuester Zeit, da diese Werke doch schon zum Überdruss analysiert erscheinen können, greift man – doch wohl eher zwangsweise – stärker auf Geistliches zurück. Unzählige Nacherzählungen und Auslegungen biblischer Bücher in Vers und Prosa, religiöse Gesänge und Gebete, Lehrdichtungen, Allegorien, Erbauungsprosa, Predigten, Legenden, Gnadenviten, Offenbarungsschriften und andere mystische Texte, Marienklagen, geistliche Spiele und vieles andere harren da nach wie vor einer ersten oder gründlicheren Untersuchung.

Doch auch die sogenannten weltlichen Dichtungen des Mittelalters zeigen sich kaum je von der christlichen Religiosität unberührt. Da und dort scheint die Berührung freilich eher oberflächlich zu sein. Dass die verwendeten Grußformeln, Stoßgebete oder Flüche nur gedankenlose Floskeln sind, wäre allerdings jeweils eigens zu begründen. Weit häufiger sind handfeste Manifestationen unverbrüchlicher Kirchentreue (wie allenthalben in der französischen Chanson de geste) oder tiefer Gläubigkeit (wie bei Wolfram von Eschenbach). Wenig Berechtigung haben jedenfalls neuere Untersuchungen, welche von Anfang bis Ende den Anschein erwecken, als spiele die a limine vorauszusetzende religiöse Grundierung des behandelten mittelalterlichen Werks überhaupt keine Rolle. Zweifel an Gottes Allmacht, Vorsehung und Güte, an der göttlichen Weltordnung, an dem hierarchischen Aufbau der Gesellschaft und Familie, an der Heiligkeit der Priesterschaft und der Ehe, an der Erbsünde, der Hinfälligkeit alles Irdischen, dem Jüngsten Gericht, an Himmel und Hölle sind dem mittelalterlichen Menschen nach allem, was wir wissen, selten beigekommen, und wenn doch, so wurden sie aus Angst vor kirchlichen und gesellschaftlichen Sanktionen in der Regel höchstens verschlüsselt geäußert. Den Schlüssel für solche Äußerungen zu finden sind wir sicher verpflichtet, nicht aber, sie von vornherein allenthalben zu vermuten. Gewiss gab es in der christlichen Gesellschaft des Mittelalters auch Menschen, die all die genannten Glaubenssätze negierten, verachteten, sogar bekämpften, aber insgesamt erstaunlich wenige und meist bis heute unentdeckte.

So manche davon meinte man in der Forschung tatsächlich entdeckt zu haben. Doch die Nachweise überzeugen kaum. Zwei Beispiele müssen genügen. Ein besonders aussichtsreicher Kandidat war stets der Ysengrimus (um 1150), ein lateinisches Tierepos mit wortreicher kaustischer Satire auf kanonisches Recht, Lehrsätze der Kirche, pastorale Praxis des Klerus und Frömmigkeit aller Stände. Keiner der verschiedenen Versuche (darunter auch einer von mir selbst), dem Autor eine konkret fassbare unchristliche Gegenposition zu unterstellen, hat jedoch durchschlagenden Erfolg gehabt. Allein die lange predigtartige Partie am Ende des Werks muss stutzig machen, denn diese geistlichen Überlegungen zu Gottes Langmut und dem Jüngsten Gericht scheinen der üblichen Kirchenlehre ganz zu entsprechen und der sonst unvermeidlichen Ironie des Erzählers zu ermangeln. Als Ersatz dafür stünde nur die nachträglich genannte Sprecherin der Predigt, die todbringende, brutale Wildsau, zur Verfügung.

Nicht viel aussichtsreicher scheint die Beweislage bei einem weiteren Kronzeugen, der mit Gesangspartien geschmückten Prosaerzählung Aucassin et Nicolette (13. Jh.). Darin findet sich eine vielfach zitierte Rede des Protagonisten, die man stets als offenkundige Blasphemie in Anspruch genommen hat, die eben doch auch im frommen Mittelalter möglich gewesen sei. Aucassin weigert sich da, nach dem Tode ohne seine Geliebte ins Paradies zu kommen, mit folgender Begründung (aus Kap. 6 nach meiner Übersetzung):

Es gehen dorthin die alten Priester und die alten Hinkenden und die Einarmigen, die Tag und Nacht vor den Altären und in den alten Grüften kauern, und die mit den alten schäbigen Mänteln und den alten Lumpen Bekleideten, die nackt und barfüßig und ohne Beinkleider sind, die vor Hunger und Durst und Kälte und Elend sterben, die gehen ins Paradies. Mit denen habe ich nichts zu schaffen, sondern ich möchte in die Hölle gehen, denn in die Hölle gehen die schönen Kleriker und die schönen Ritter, die in den Turnieren gefallen sind und in den prächtigen Kriegen, und die wackeren Knappen und die Edelleute. Mit denen will ich gehen; und dorthin gehen die schönen höfischen Damen, weil sie zwei oder drei Geliebte haben neben ihren Eheherren. Und dorthin gehen das Gold, das Silber, das Buntwerk und das Grauwerk, und dorthin gehen die Harfenisten und die Spielleute und die Könige dieser Welt. Mit denen will ich gehen, aber nur, wenn ich Nicolette bei mir habe, meine süßeste Geliebte.

Krasser könnte man es kaum formulieren. Bei näherem Zusehen erweist sich diese Aussage allerdings nur als ein Beispiel für die im ganzen Werk vorgestellte karnevaleske Verkehrte Welt. Aus durchgängiger Inversion vieler vorgegebener Gattungsmuster entsteht eine völlig irreale Handlung. An der zitierten Stelle wird die an sich schon hyperbolische Überbietung des Paradieses durch die Geliebte in der Trobadorlyrik noch weiter übersteigert. Christliche Frömmigkeit, Barmherzigkeit und Nächstenliebe werden zwar lächerlich gemacht, aber die Gegenwelt ist die der reinen höfischen Luxuria, nicht die der Liebestheorie der Trobadors, die ja keiner Dame mehrere Liebhaber zugesteht. Aus so einem gattungsparodierenden Ulk ein seriöses weltanschauliches Bekenntnis des Autors herauszuhören wäre ein reichlich kühnes Unterfangen. Derselben komischen Intention des Autors entstammt wohl auch die Erfindung einer eigenen, sonst unbekannten Gattung: In eine Prosaerzählung werden gesungene Verse eingestreut, die häufig ebenfalls erzählen oder, wie die Prosaerzählung auch, Dialoge der Handelnden bringen. Man sollte sich hüten, aus diesem Spaß einen Angriff auf das ganze Gattungssystem dieser Literatur abzuleiten.

Wie gelungen das so alleinstehende kleine vergnügliche Werk insgesamt ist, sei hier dahingestellt. Wahrhaft große Werke bedeutender Dichter weisen – und dies ist ohne Zweifel einzuräumen – immer über ihre Zeit hinaus. Doch wo man bei der Interpretation zweifelt, ob eine bestimmte Aussage im oder gegen den christlichen Zeitgeist zu verstehen sei, ist man gut beraten, es zuerst einmal nicht auf anachronistische Weise zu versuchen. Der moderne Interpret muss beinahe tausend Jahre später jenen Geist beileibe nicht teilen, doch erkennen, anerkennen, nachempfinden. Wo sich dann aber unter strengster Beachtung jener Kautelen dennoch in mittelalterlichen Texten markante Züge offenbaren, welche Freiräume innerhalb der recht engen Grenzen jener Weltanschauung ausnützen oder sie sogar zu erweitern suchen, so dürfen sie, auch wo sie uns aus heutiger Sicht nicht enorm weit zu gehen scheinen, trotzdem als sensationell gelten, so wie die Fiktionalität des Erzählens bei Chrétien de Troyes oder die auch Andersgläubige einschließende Humanität bei Wolfram von Eschenbach. Solche Züge dürfen dann individuell genannt werden, auch wenn sie mehr oder minder gelungene und verbreitete Nachahmung finden. Sie heben sich heraus aus einem insgesamt erstaunlich homogenen Gesamtbild, welches das ganze Abendland umfasst.

Die hier behauptete Homogenität leuchtet vermutlich gerade den hochgelehrten Spezialisten am wenigsten ein, die um bestimmte Details der literarhistorischen Entwicklung besonders gut Bescheid wissen. Jede mittelalterliche Literatursprache kennt literarische Eigenheiten und Entwicklungen, die allen oder vielen anderen Literatursprachen fehlen. Der Germanist wird etwa Neidhart oder die Mystik nennen, der Romanist vielleicht den roman idyllique oder die pastourelle, der Latinist z. B. die rhythmisierten Tagesoffizien oder die reich entwickelte Briefliteratur in Vers und Prosa. Doch allein die Höfische Lyrik und der Höfische Roman weisen zumindest in allen Volkssprachen des 12. und 13. Jahrhunderts von England bis Böhmen und von Norwegen bis Italien so viele Gemeinsamkeiten auf wie keine einzige so große Gattung in der europäischen Neuzeit. Man wird kaum bestreiten können, dass eine solche Homogenität eine vergleichbare in der dahinterstehenden allgemeinen Weltanschauung voraussetzt, dies gerade auch dann, wenn der einzelne Dichter den geistigen Gemeinschaftsraum immer wieder öffnet und ins Freie tritt, um Luft zu schöpfen. Er kehrt ja doch immer wieder zurück und fügt sich den gemeinsamen Regeln, darunter nicht zuletzt den Gattungsnormen. Auch gemeinsamer Materialien bedient er sich daher immer wieder, ebenso eines gemeinsamen Repertoires formaler Mittel und gemeinsamer Sinnangebote. Nichtsdestoweniger können in einzelnen Kunstwerken daraus ganz individuelle Ergebnisse entstehen. Auch außerliterarische Gründe tragen natürlich entscheidend dazu bei. Die Dichter gehören ja ganz verschiedenen Sprachgemeinschaften, Lebensverhältnissen, sozialen Gruppen, geographischen Orten und Ländern etc. an. Diese bilden alle mitsammen wichtige Ordnungsparadigmen für die Literaturgeschichte. Wer jedoch von weiter oben den Überblick über die Sprachen und Länder des abendländischen Europa riskiert, wird die außerliterarischen doch hinter die innerliterarischen Zusammenhänge zurücktreten lassen, wohl wissend, wie weit er sich damit vom – freilich oft nicht wirklich rekonstruierbaren – realen literarischen Leben in abstraktere Höhen entfernt. Auch hier ersetzen dann oft Vermutungen geforderte Nachweise. Am besten greifbar sind noch die Stoffe und Motive. Sie spielen daher eine herausragende Rolle für die Feststellung von Dependenzen und Gemeinsamkeiten. Wie weit man auf diese Weise den literarischen Raum isolieren darf, muss weiterer Forschung anheimgestellt werden. Praktisch scheint es schwer vermeidbar, wenn man den komparatistischen Anspruch nicht gleich aufgeben will.

Nur die Zusammenschau der verschiedenen Literaturen des Mittelalters eröffnet uns aber den Blick auf die Verwurzelung des literarischen Schaffens ganz Lateineuropas in der Theorie und Praxis der Antike, weil in einzelnen germanischen (u. a.) Literatursprachen die Wurzeln zwar oft direkt, ebenso oft aber auch oder nur über romanische Zwischenstufen in die Antike hineinreichen. Aber allein der Vergleich von Original und Bearbeitung verschafft, wie ich immer wieder exemplarisch zu zeigen versucht habe, nicht selten tiefere Einsichten in beide als tiefschürfende Untersuchungen über die reale causa scribendi der beiden Autoren. Denn wenn man in unserer Gegenwart im deutschen Sprachraum außerhalb der Gelehrtenwelt überhaupt noch Zeit und Lust hat, uralte Texte zu lesen und dazu ein noch vor hundert Jahren als durchaus ergötzlich geltendes Stück, etwa Hartmanns hübschen Iwein, wählt, nunmehr aber Hartmanns eigene Sprache zu lesen in aller Regel gar nicht mehr imstande ist, sondern ohnehin eine Übersetzung zur Hand nimmt, woran wird man sich dann erfreuen: Im Wesentlichen doch an einem französischen Roman, dem genialen Chevalier au Lion von Chrétien de Troyes!