1 Einleitung

Das sogenannte „Hier und Jetzt“ ist eine mächtige Fiktion. Es ist letztlich der Versuch einer kommunikativen Fokussierung auf einzelne Situationen, in denen Entscheidungen getroffen werden. Ein solch in zeitlicher wie räumlicher Hinsicht radikaler Situationsbezug geht nicht selten mit einem Absehen von Entstehungskontexten einher. Diese Problematik lässt sich, überspitzt formuliert, auch bei der konzeptionellen Formierung der Bewertungssoziologie beobachten, die nach wie vor auf ein breites und anhaltendes Forschungsinteresse stößt (Meier und Peetz 2021a; Heintz und Wobbe 2021; Nicolae et al. 2019; Kjellberg und Mallard 2013; Lamont 2012; Stark 2009). Wie bereits Meier et al. (2016) treffend festgestellt haben, konzentrieren sich aktuelle Ansätze mehrheitlich auf singuläre Situationen der Bewertung. Dagegen ist kaum erforscht, wie die einzelnen Bewertungssituationen „miteinander zusammenhängen und sich wechselseitig beeinflussen“ (ebd., S. 310; vgl. Dorn und Wilz 2021). Die Frage nach der Transsituativität unterschiedlicher Bewertungspraktiken ist somit eine der zentralsten Herausforderungen dieses Forschungsfeldes.

Wir plädieren im Folgenden dafür, formale Organisation als ein zentrales Element einer solchen Transsituativität von Bewertung zu begreifen. Dabei geht es uns nicht allein um das Moment der Transsituativität: Im Zentrum unseres Beitrags steht vielmehr die empirische Exploration und konzeptionelle Modellierung der Rolle von Organisation als eigensinniger Ebene der Ordnungsbildung in Bewertungspraktiken. Derzeit wird die Relevanz formaler Organisation für Bewertungspraktiken eher randständig betrachtet. Stattdessen legen die meisten Arbeiten ihren analytischen Fokus auf die bewertenden Personen, die in ganz bestimmten Situationen intersubjektiv aushandeln, was warum wie wertvoll ist. Der Einfluss von formaler Organisation auf Bewertungspraktiken wird hier zumeist darauf reduziert, dass diese lediglich eine Art formalen Rahmen bereitstellt, nicht jedoch unmittelbar Wertabwägungen der Akteur:innen beeinflusst (vgl. Welbers 2021; Lindner und Sasse-Zeltner 2021). Wir möchten einen entscheidenden Schritt weitergehen und behaupten, dass formale Organisation Bewertungspraktiken maßgeblich strukturiert, indem sie dafür sorgt, dass nur bestimmte Entscheidungspfade überhaupt betreten werden können. Statt Organisation also nur als Rahmung zu begreifen, in der sich aufeinander folgende Bewertungssituationen vollziehen, wollen wir zeigen, dass sich organisierte Bewertungspraktiken soziologisch nur adäquat begreifen lassen, wenn man sie als transsituatives Wechselwirkungsverhältnis unterschiedlichster Wertlogiken versteht, das sich nur im Kontext formaler Organisationen als „specific social entities“ einstellt (Besio et al. 2020, S. 414). Vor diesem Hintergrund widmet sich der Artikel der Frage, wie genau sich diese innerorganisationalen Wechselwirkungen gestalten, welche unterschiedlichen Logiken bei Bewertungsfragen aufeinanderprallen und welche Folgen dies für die letztliche Entscheidungsfindung zeitigt.

Hierfür diskutieren wir zunächst kurz den bereits erwähnten „methodologischen Situationalismus“ der aktuellen Bewertungssoziologie (Abschnitt 2). Anschließend erläutern wir eine der zentralen innerorganisationalen Konfliktlinien, die sich bei Bewertungsentscheidungen zwischen fachlichen Expert:innen und Verwaltung entfaltet, indem dort scheinbar unvereinbare Wertvorstellungen und Interessen aufeinanderprallen. Zur empirischen Bearbeitung unserer Frage nach diesen Wechselwirkungen widmen wir uns fallbeispielhaft den Auswahlverfahren von Kunsthochschulen (Abschnitt 3). Hierfür greifen wir primär auf Interviewmaterial zurück, das an zwei renommierten Kunsthochschulen im Rahmen eines DFG-Forschungsprojektes gewonnen wurde.Footnote 1 Um ein möglichst umfassendes Bild der dort stattfindenden Auswahlprozesse zeichnen zu können, wurden Expert:inneninterviews (Gläser und Laudel 2009) mit zwei verschiedenen Personengruppen geführt: zum einen den fachlichen Kommissionen, die an der Auswahl von Studierenden der Bildenden Kunst beteiligt sind, und zum anderen Verwaltungsmitarbeiter:innen, die im Immatrikulationsamt und in der Kapazitätsberechnung tätig sind. Beide Abteilungen verfolgen sehr unterschiedlich gelagerte Aufgabenstellungen und Zweckprogrammierungen. Die damit verbundenen Rivalitäten und Konflikte gehören zur Folklore gängiger „Zerrüttungserzählungen“ in Organisationen, wie sie in den Worten eines Kommissionsmitglieds durchscheint: „Also Kampf, eigentlich wirklich der Kampf innerhalb der Institution, mehr als ein reibungsfreies Miteinander.“ (Int_06)

Anhand unserer Beobachtungen zeigen wir, wie fachliche Auswahlkommission und Verwaltung trotz aller behaupteter Rivalitäten in einer Weise zusammenspielen, in der die gegensätzlichen Wertlogiken so ineinander verwoben werden, dass die Autonomievorstellungen der Auswählenden intakt gelassen und dabei zugleich die wohl dringlichsten Probleme der Verwaltung gelöst werden: die Refinanzierung der Organisation und ihre Absicherung einer legitimen Außendarstellung (Abschnitt 4). Vor diesem Hintergrund gelangen wir zu dem Fazit, dass Bewertungen im Kontext formaler Organisation eine ganz spezifische Transsituativität aufweisen und sich nach außen nur deshalb als Situationen darstellen, weil ihre inhärente Organisationsförmigkeit von den Beteiligten gekonnt unsichtbar gehalten wird – und zwar mit den Mitteln formaler Organisation (Abschnitt 5). In diesem Sinne haben wir es mit einem „organisierten Situationalismus“ zu tun.

2 Bewertung als Situation?

Was hat es mit dem „Situationalismus“ in der Bewertungssoziologie auf sich, und warum lohnt es sich, ihn zu hinterfragen? Die vergleichsweise junge Bewertungssoziologie hat sich in den vergangenen Jahren als spannendes internationales Forschungsfeld erwiesen, das tradierte subdisziplinäre Grenzen überschreitet und unterschiedlichste konzeptionelle Stoßrichtungen versammelt (für einen Überblick siehe Krüger und Reinhart 2016). Kennzeichnend ist dabei eine besonders vielfältige Auseinandersetzung mit den verschiedensten Aspekten diverser Bewertungspraktiken. Meier et al. (2016, S. 311) identifizieren hier fünf übergeordnete Fragen, an denen sich die Bewertungssoziologie derzeit abarbeitet: der Umgang mit Wertunsicherheit, die Wahl der Bewertungskriterien, der operative Vollzug von Bewertung, ihre Örtlichkeit sowie die Folgen von Bewertungen. Gemein sei der Mehrzahl der aktuellen Ansätze und Studien jedoch, die vielgestaltigen „Bewertungspraktiken relativ isoliert voneinander zu untersuchen“ (ebd., S. 309 f.). Ihr kleinster gemeinsamer Nenner bestehe „in ihrem Fokus auf Praktiken der Bewertung in Situationen, die durch Offenheit und konkurrierende Wertordnungen gekennzeichnet sind“ (ebd., S. 313). In der Folge bleibe die bisherige Bewertungssoziologie weitestgehend einem „methodologischen Situationalismus“ verhaftet (ebd.). Diesem Problem stellen Meier et al. (2016) ihr transsituatives Modell der Bewertungskonstellationen entgegen, dem zufolge sich jede Bewertung entlang dreier Komponenten analytisch fassen lässt:

  • Erstens ereignen sich Bewertungen stets „in einem Netz von Positionen und Relationen“, das sich aus Bewertenden, Bewertetem und Publikum zusammensetzt, zwischen denen sich unterschiedliche Beziehungen entfalten (ebd., S. 314 f.).

  • Zweitens enthalten Bewertungskonstellationen transsituativ geltende Regeln, worunter formelle wie informelle Regeln und ferner kognitive sowie normative Erwartungen fallen (ebd., S. 314, 317).

  • Drittens werden Bewertungen basierend auf materiell-technischen Infrastrukturen vollzogen, die Bewertungssituationen zeitlich wie räumlich einklammern und in der Folge auch unmittelbar beeinflussen können (ebd., S. 314, 319).

Hieran anknüpfend schlagen wir vor, formale Organisation als entscheidendes Bindeglied einer solchen Transsituativität von Bewertung zu begreifen, da in ihr alle drei Komponenten strukturell zusammenlaufen: Positionen, Regeln und Infrastruktur. Zwar lassen sich sehr wohl bewertungssoziologische Studien finden, die transsituative Zusammenhänge von Bewertungen in den Blick nehmen; zu denken ist da beispielsweise an Arbeiten zu den langfristigen Effekten von Rankings (Espeland und Sauder 2007; Brankovic et al. 2018) oder Bewertungspraktiken auf digitalen Plattformen (Scott und Orlikowski 2012; Kornberger et al. 2017). Allerdings lässt sich dort zumeist ein organisationssoziologisch blinder Fleck beobachten, wenn Organisationen zwar empirisch untersucht, dabei jedoch auf die Praxis des Organisierens reduziert werden. Das zeigt sich Wilz und von Groddeck (2017) zufolge beispielsweise daran, dass Organisation lediglich an jenen Orten untersucht wird, an denen man sie in ihrer Vollzugswirklichkeit vermutet: in Gremien, Ausschüssen, Besprechungen etc. Eine solche analytische Fokussierung birgt die Gefahr, die konzeptionelle Bestimmung der „Organisationshaftigkeit“ durch die Beschreibung des empirischen Gegenstands zu ersetzen. Damit „gerät aus dem forschenden Blick, genau theoretisch benennen zu können, was das eigentlich Organisationsspezifische an dem Phänomen ist“ (ebd., S. 5). Die bisherige Vernachlässigung der strukturierenden Wirkmacht von formaler Organisation ist dabei freilich eine unmittelbare Folge des von Meier et al. (2016) diagnostizierten „methodologischen Situationalismus“. Denn in dem Moment, in dem man vor allem die Vollzugswirklichkeit von bewertenden Akteur:innen beobachtet, wird das organisationale Setting (wenn es denn funktioniert) weitestgehend invisibilisiert – so unsere These.

Der Einfluss des organisationalen Settings auf „Wertabwägungen“ (Krüger und Reinhart 2016) wird zumeist erst dann sichtbar, wenn einzelne Bewertungsentscheidungen gegen grundlegende formale Regeln verstoßen. So geschehen im berüchtigten Fall von Joseph Beuys, der sich in seiner Rolle als Professor der Düsseldorfer Kunstakademie weigerte, sich an die formal vorgegebenen Aufnahmezahlen für seine Klasse zu halten, und gemäß seinem Ausspruch „jeder Mensch ist ein Künstler“ alle von anderen Professor:innen abgelehnten Kandidat:innen in seine Klasse aufnahm, die daraufhin auf mehrere Hunderte anwuchs. Die formale Sanktion folgte auf dem Fuß: Beuys erhielt 1972 seine Kündigung (Myssok 2021, S. 23 f.). Die Kunsthochschule behandelte Beuys also als gewöhnliches Organisationsmitglied, das die Mitgliedschaftsfrage (vgl. Luhmann 1999, S. 40; Kühl 2011, S. 33) aufwarf, und markierte damit eindrucksvoll, dass selbst im Feld der Kunst die bewertenden Akteur:innen – trotz aller behaupteter Autonomie – nicht völlig von den Anforderungen formaler Organisation absehen können, in die ihre Praxis eingebettet ist.

Wir glauben deshalb, dass es essenziell für die Analyse von Bewertungsprozessen ist, diese durch ein organisationssoziologisches Brennglas zu betrachten. Oder mit den Worten von Besio et al. (2020, S. 413): „organisations matter“. Glücklicherweise finden sich bereits erste Ansätze, die das Verhältnis von Organisation und Bewertung auszuloten versuchen, wie beispielsweise jüngst versammelt im Band von Meier und Peetz (2021a). So nutzt etwa Knoll (2021) den von Boltanski und Thévenot (2007) entlehnten Begriff der Prüfung, um Prozesse zu beschreiben, mittels derer Bewertungssituationen aktiv gestaltet werden. Durch diese „kollektiv koordinierte[n] und technisch-instrumentell abgesicherte[n] Arrangements“ (Knoll 2021, S. 53) soll der Mehrdeutigkeit der Situationen entgegengewirkt werden. In eine ähnliche Kerbe schlägt Kleimanns (2021) Konzept der Bewertungsordnungen, wenn er diese als Strukturen beschreibt, „die der Nicht-Thematisierung von Werten Vorschub leisten und die situativen Ordnungsleistungen von Wertorientierungen stützen“ (Kleimann 2021, S. 78), indem sie Selektionsmuster bereithalten, die nicht hinterfragt werden müssen. Gemeint ist – ähnlich wie bei Knoll (2021) – die Organisiertheit des Bewertungsereignisses, die Kontinuität über die einzelne Situation hinweg garantiert.

So richtig es ist, auf die organisatorische Rahmung von Bewertung hinzuweisen, sollte man dabei jedoch nicht stehen bleiben. Wir möchten zeigen, dass formale Organisation durch das Bereitstellen von Personen, Regeln und Infrastrukturen transsituative Wechselwirkungen zwischen den beteiligten Akteur:innen in Gang setzt, die Bewertungsentscheidungen grundlegend prägen – und zwar in einer Weise, die nur im Kontext formaler Organisation möglich ist. Mit Letzterer hat Luhmann der empirischen Forschung einen Begriff an die Hand gegeben, der Organisation als eigenständige und -sinnige Ebene der Ordnungsbildung modelliert. Wir fokussieren hier dezidiert die Seite der Formalität, um zu zeigen, welche Leistungen diese für situative Bewertungsverhandlungen erschließt. Unter Formalität verstehen wir dabei nicht nur Regeln, Standards und Bewertungsbögen, sondern jenen Modus Operandi, der bestimmte, organisatorisch brauchbare Entscheidungen erwartbar macht (vgl. Wilz 2008). Ob die beteiligten Akteur:innen in ihrem Handeln auf Formalität zurückgreifen, steht freilich auf einem anderen Blatt. In diesem Sinne begreifen wir Formalität als etwas, das je nach sozialer Konstellation möglich, aber nicht immer wahrscheinlich ist, da sie immer auch „zurückgezogen, unterlaufen, verdrängt, überlagert oder dethematisiert werden“ kann (Hahn 2019, S. 78). Das heißt jedoch nicht, dass Formalität folgenlos für Bewertungsprozesse bleibt. Denn auch wenn sie situativ in den Standby-Modus versetzt wird, bleiben die vorübergehend stillgestellten Formalerwartungen stets in Geltung und können jederzeit wieder relevant gemacht werden (vgl. Hahn und Wagner 2016, S. 49).

Zudem ist formale Organisation als spezifischer sozialer Ordnungszusammenhang in besonderem Maß in der Lage, auch gegensätzliche Handlungslogiken und Bewertungsregister, die bei Fragen der Bewertung aufeinanderprallen, miteinander zu verweben. Sie verwebt diese insofern, als die Differenzen nicht eingeebnet, sondern in einer Art „harmonischer Schizophrenie“ nach- und nebeneinander im Sinne lokaler Rationalitäten arrangiert werden (Cyert und March 1963). Die Gleichzeitigkeit des sachlich Ungleichen können Organisationen kompetent handhaben, weil sie sich intern in Abteilungen mit je anderen System-Umwelt-Grenzen und je unterschiedlichen Relevanzen ausdifferenzieren und diese mehr oder weniger unverbunden ins Werk setzen. Diese hier angesprochenen innerorganisationalen Wechselwirkungen müssen, so unsere Überzeugung, in der soziologischen Analyse eine strukturelle Berücksichtigung finden, um nicht erneut in die Situationalismus-Falle zu tappen.

Um zu zeigen, wie genau und in welchem Ausmaß formale Organisation Bewertungsprozesse strukturiert, widmen wir uns empirisch den Auswahlverfahren von Kunsthochschulen. Bisherige soziologische Betrachtungen solcher Verfahren wie Saner et al. (2016), Hölscher und Zymek (2015), Strandvad (2014) oder Rothmüller (2010) haben zwar wertvolle Erkenntnisse bezüglich feldspezifischer Bewertungspraktiken geliefert. Allerdings wird auch hier nur unzureichend berücksichtigt, welche evaluativen Folgen die organisationale Verflechtung für diese Praktiken hat. Das verwaltungstechnische „Backend“ und seine Implikationen für die intersubjektiven Aushandlungsprozesse der Auswahlkommission bleiben unterexploriert. Diesem Desiderat verschreibt sich unser Artikel. Im Folgenden soll hierfür zunächst auf einer abstrakten Ebene das grundsätzliche Spannungsfeld zwischen fachlichen Auswahlkommissionen und Verwaltung beschrieben werden, ehe wir anschließend unsere konkreten Fallbeispiele vorstellen.

3 Kunsthochschulen und ihre Auswahlverfahren

3.1 Das Spannungsfeld zwischen Auswahlkommission und Verwaltung

Kunsthochschulen sind insofern ein bewertungssoziologisch interessanter Fall, als sie sich Jahr für Jahr der Aufgabe gegenüber sehen, unter Hunderten Bewerber:innen eine ganz bestimmte, formal vorgegebene Anzahl an Begabten ausfindig zu machen. Hierzu sichten Auswahlkommissionen – besetzt mit erfahrenen Künstler:innen – die eingesendeten Mappen und führen anschließend Auswahlgespräche durch. Wie nicht nur aus unserem Material hervorgeht, werden die damit verbundenen Bewertungsentscheidungen von den Auswählenden als zumeist eindeutige Angelegenheit dargestellt: „Am Ende des Gesprächs wusste man immer: Passt oder passt nicht. […] Eigentlich war es immer sonnenklar.“ (Int_02) Eine solche Behauptung ist insofern bemerkenswert, als es zunächst unwahrscheinlich scheint, dass sich jedes Jahr unter den Bewerbungen genau dieselbe Anzahl an „sonnenklaren“ Begabten finden lässt, wie Studienplätze zur Verfügung stehen. Um vor Augen zu führen, wie unwahrscheinlich ein so verlässlich eintretendes Bewertungsergebnis ist, braucht es ein Verständnis der unterschiedlichen Wertvorstellungen und Interessen der entscheidenden beteiligten Akteur:innen.

Beginnen wir mit den Künstler:innen der Auswahlkommissionen. Im Zentrum ihrer Selbst- und Fremdbeschreibung steht traditionellerweise die Vorstellung einer von Autonomie geprägten Praxis (Karstein und Zahner 2017; Horkheimer und Adorno 2013 [1944], S. 128 ff.). Gemeint ist damit die Vorstellung, dass es sich bei Künstler:innen um Personen handle, die sich bedingungslos ihrer Arbeit verschreiben. Weltlichen Anforderungen und Imperativen gegenüber bleiben sie demnach gleichgültig und erkennen „keine andere Schiedsinstanz […] als die spezifische Norm [ihrer] Kunst“ an (Bourdieu 1999, S. 127). Bourdieu (2014, S. 100) spricht in diesem Zusammenhang von einer kollektiven Verdrängung, die nur „minimale Zugeständnisse an die ökonomischen Notwendigkeiten“ zulässt. Eine solche Selbstbeschreibung impliziert wiederum eine Autorität in Fragen der Bewertung von Kunst, sind Künstler:innen demzufolge doch die einzigen, die einen unverfälschten Blick auf diese besitzen.

Allen Autonomiebehauptungen zum Trotz fußt letztlich jede erfolgreiche künstlerische Praxis auf Organisationen, die jene Konsekrationen („Heiligsprechungen“) aussprechen, die für den Verlauf künstlerischer Karrieren so entscheidend sind (Bourdieu 1999, S. 459 f.; Anheier und Gerhards 1993, S. 135). Im Feld der Kunst wären das beispielsweise Verlage, Galerien, das Feuilleton, Preise, Stiftungen, Museen oder eben Kunsthochschulen. Diese Organisationen können jedoch freilich nicht mit demselben Selbstverständnis wie die Künstler:innen ihre materiellen Umstände negieren, sondern sind immer aktiv um ihre eigene Bestandssicherung bemüht und bilden daher Verwaltungsabteilungen aus, die mit dem Monitoring der Bestandssicherung beauftragt werden.

Wie sieht nun diese Bestandssicherung konkret aus und welche Konsequenzen hat dies für die Arbeit der Auswahlkommissionen? Wie Kette (2017, S. 326) betont, ist es eine universelle Aufgabe für Organisationen, das Problem ihrer Refinanzierung lösen zu müssen. Ausgehend von dieser Prämisse entwickelt er eine Typologie unterschiedlicher Refinanzierungsmöglichkeiten, die je eigene Strukturprobleme mit sich bringen (ebd., S. 334 f.). Als staatliche Organisationen refinanzieren sich Kunsthochschulen zu einem großen Teil über Steuern, also nach Kette über Zwangsabgaben. Eine der Folgen hiervon ist, dass sie staatlich verordnete Zwecke und Vorgaben erfüllen müssen (ebd., S. 332 ff.). So wird ihnen zum Beispiel zur Auflage gemacht, dass ihre Studiengänge ausgelastet sein müssen und die Studierenden ihr Studium in der Regelstudienzeit absolvieren sollen. Hier werden also radikal kunstfremde Leistungskriterien aufgerufen. Die Erfüllung dieser Auflagen wird zwar an erster Stelle den Immatrikulationsämtern und der Kapazitätsberechnung zugerechnet, jedoch verteilt sich deren Last letztlich auf fast die gesamte Organisation – und bleibt daher auch nicht folgenlos für die Auswahlkommissionen.

Mit der Frage nach der Refinanzierung verknüpft ist auch die Versorgung der Organisation mit Legitimität. Diese kann den Zugang zu Geld (und zu weiteren Ressourcen) erleichtern, wobei die Art der Geldbeschaffung wiederum auf die Legitimität zurückwirken kann (ebd., S. 341). Organisationen müssen also Anpassungsleistungen an normative Umwelterwartungen erbringen, um von den relevanten Publika als legitim betrachtet zu werden (DiMaggio und Powell 1983; Meyer und Rowan 1977). Im Fall der Vergabe von Kunsthochschulplätzen ist damit beispielsweise die Erwartung eines sachlichen, sorgfältigen, meritokratischen Prozesses verbunden (Tacke und Drepper 2018, S. 38). Das „Bauchgefühl“ (Voswinkel 2008; Imdorf 2010), der interne „Kuhhandel“ (Lamont und Huutoniemi 2011) oder Nepotismus (Bolte und Porschen 2006) mögen für das Zustandekommen einer Entscheidung funktional sein, nach außen darstellbar sind sie jedoch kaum. Aber auch andere normative Wertvorstellungen, etwa hinsichtlich Diversität oder Chancengleichheit, können zu entsprechenden Anpassungsleistungen führen.Footnote 2

Aufgrund eines solchen dauerhaften Refinanzierungs- und Legitimierungsdrucks scheint es unwahrscheinlich, dass Organisationen ein Interesse daran haben könnten, professionellen Akteur:innen Autonomie in ihren Entscheidungen einzuräumen. Gegenläufig zu diesen Erwartungen soll im Folgenden anhand unseres Materials gezeigt werden, dass künstlerische Auswahlkommission und Verwaltung sich nicht gegenseitig Probleme bereiten, sondern sich, im Gegenteil, wechselseitig mit Lösungen für ihre jeweiligen Probleme versorgen. Der dahinter stehende Kernmechanismus: Es wird mit den Mitteln formaler Organisation die Organisationsförmigkeit des Verfahrens invisibilisiert, was zur Folge hat, dass die Bewertung von den beteiligten Akteur:innen als situativ dargestellt werden kann. Die auswählenden Künstler:innen können auf diese Weise ihr professionelles Selbstbild wahren, was wiederum die Organisation und ihr Auswahlverfahren mit der nötigen Legitimität versorgt. Am empirischen Material werden wir zeigen, dass dabei „ein kompliziertes Räderwerk von Transmissionen erforderlich“ ist, das organisatorische Relevanzen in die Situation der Bewertung „übersetzt“ und mit einer gewissen Unabweisbarkeit ausstattet (Luhmann 1999, S. 297).

3.2 Fallbeispiele und Vorgehen

Empirische Grundlage unseres Papiers sind Fallstudien zu Auswahlverfahren zweier renommierter Kunsthochschulen im deutschsprachigen Raum. In beiden Fällen handelt es sich um Bachelorstudiengänge der Bildenden Kunst, deren Studienplätze über Eignungsprüfungen vergeben werden. Methodisch unterteilen sich die Fallstudien in zwei Arbeitspakete: Zum einen haben wir eine deduktive Dokumentenanalyse der gesetzlichen Vorgaben, internen Richtlinien, Bewertungsraster, öffentlichen Selbstbeschreibungen der Organisation sowie der hochschulischen Kapazitätsberechnung durchgeführt. Unsere kategorialen Vorannahmen stützen sich hierbei auf Beobachtungen aus einer Vorstudie zur Vergabe prestigeträchtiger Auslandsstipendien für Studierende, in deren Rahmen wir bereits erste Beobachtungen zur Wirkmacht formaler Instrumente auf scheinbar situative Bewertungen sammeln konnten. Flankiert wird diese Dokumentenanalyse, zum anderen, von Expert:inneninterviews sowohl mit auswählenden Kommissionsmitgliedern, bei denen es sich um an den Kunsthochschulen angestellte Künstler:innen handelt, als auch mit Verwaltungspersonal zweier Abteilungen, die maßgeblichen Einfluss auf die Auswahlverfahren haben: dem Immatrikulationsamt und der Kapazitätsberechnung.

Um den Kontext unserer Ergebnisse zu veranschaulichen, wollen wir zunächst die Auswahlverfahren an den untersuchten Hochschulen vorstellen. Für die von uns untersuchten sehr begehrten Studiengänge gehen jährlich mehrere hundert Bewerbungen ein, bestehend aus Mappe, Anschreiben und Lebenslauf. Dieser Flut an Bewerbungen stehen lediglich 25 Studienplätze gegenüber, die laut Kapazitätsberechnung zu vergeben sind. Wonach diese vergeben werden, bleibt den Bewerber:innen weitestgehend unklar. Ein Blick auf die Webseiten der Hochschulen zeigt, dass die Kriterien künstlerischer Eignung durchweg vage gehalten werden. An nur wenigen Stellen finden sich überhaupt Hinweise darauf, was genau hierunter zu verstehen ist. Dieser Minimalkonsens besteht u. a. aus einem Hinweis auf die „ästhetische Rezeptionsfähigkeit“ sowie auf „Fähigkeiten zum kreativen, eigenständigen und präzisen Umgang mit Material und Kunst“ (vgl. auch Saner et al. 2016, S. 171, 197 ff.). Diese Vagheit entspringt dem idiosynkratischen Wesen des künstlerischen Feldes und seiner „systemimmanente[n] Begriffsunschärfe“ (Tangian 2010). Laut Hölscher und Zymek (2015) sind die Aufnahmekriterien an Kunsthochschulen „notwendig unbestimmt“, da es Teil der künstlerischen Tätigkeit ist, sich an der Frage abzuarbeiten, was eigentlich Kunst ist. Deshalb werde vorwiegend nach Studierenden gesucht, die produktiv mit dieser Offenheit umgehen können (ebd., S. 229 f.).

Das Fehlen explizit formulierter Bewertungskriterien sollte jedoch nicht mit einer Abwesenheit von Kriterien verwechselt werden. Kleimann (2021) betont, wie erwähnt, die Funktion organisationaler Bewertungsordnungen, qua derer Werte (zu denen auch die Vorstellungen darüber gehören, wie der:die ideale Bewerber:in auszusehen hat) nicht mehr thematisiert werden. Wie wir in unserem Ergebniskapitel zeigen werden, kann allein die Tatsache, dass die Auswahlkommissionen davon ausgehen, dass es „gute Kunst“ gibt und diese als solche „sonnenklar“ erkennbar ist, als Ausdruck einer solchen Bewertungsordnung gedeutet werden. Für die Organisation ist diese Vagheit der Kriterien in jedem Fall funktional. Erstens trägt sie dazu bei, eine ausreichend hohe Anzahl von Bewerber:innen anzuziehen, da in den offen gehaltenen Anforderungen sich besonders viele aspirierende Künstler:innen wiederfinden können. Zweitens schützt sie die Hochschule vor potenziellen Klagen abgelehnter Bewerber:innen; denn je unbestimmter die Kriterien sind, desto schwieriger wird es für die Kandidat:innen nachzuweisen, diese erfüllt zu haben. Und drittens wird auf diesem Wege eine Art „Spielwiese“ der Autonomie für die auswählenden Künstler:innen eingerichtet, auf der die unsichere Wertbestimmung stattfinden kann. Dies hilft der Organisation insofern, als sie die Entscheidungen als fachlich begründet legitimieren kann, indem sie darauf verweisen kann, dass die Kommission ausschließlich mit „Profis“ besetzt ist.

Um die vorgegebenen 25 Studienplätze zu vergeben, setzen beide Hochschulen auf zweiphasige Auswahlverfahren (vgl. Saner 2019, S. 182 f.). Die erste Phase dient der Mappensichtung durch die Auswahlkommissionen. Im Fall der Kunsthochschule „Blau“ werden die ca. 250 Bewerbungen zunächst alphabetisch auf drei gleich große Stapel verteilt und dann jeweils von einer zweiköpfigen Kommission gesichtet (siehe Abb. 1). Sie sollen die 20 „Besten“ aus ihrem Stapel auswählen, um diese zum Auswahlgespräch einzuladen. Auffällig ist hierbei, dass weder die Zahl 20 noch das konkrete Vorgehen der Kommissionen von der Hochschulverwaltung vorgegeben sind, sondern sich die Auswählenden diese selbst auferlegt haben. In der zweiten Phase werden die eingeladenen Bewerber:innen durch ein 30-minütiges Gespräch „geprüft“, in dem deren Motivation, Mappe sowie ein fremdes Kunstwerk diskutiert werden. Nachdem alle Gespräche geführt wurden und jede Kommission ihre Vorauswahl der ca. zwölf besten Kandidat:innen getroffen hat, kommen die Mitglieder sämtlicher Kommissionen zusammen und entscheiden, welche der Bewerber:innen eine Zusage erhalten sollen. Dafür werden diese in A‑, B‑ und C‑Fälle unterteilt: A bedeutet, dass die Person auf jeden Fall aufgenommen werden soll, B entspricht einem „Vielleicht“ und C heißt „auf keinen Fall aufnehmen“. Über den bemerkenswerten Umstand, dass die A‑ und C‑Fälle in dieser letzten Auswahlphase nicht mehr diskutiert werden und der Fokus allein auf die B‑Fälle gelegt wird, werden wir später noch ausführlich zu sprechen kommen.

Abb. 1
figure 1

Schematische Darstellung des Auswahlverfahrens an der Kunsthochschule „Blau“

An Hochschule „Grün“ verläuft es ähnlich. In der ersten Phase erhalten vier fünfköpfige Kommissionen jeweils ca. 100 unsortierte Mappen zur Begutachtung. Auch hier erfolgt eine schnelle Einigung auf die „gesetzten“ Kandidat:innen, ehe über die Streitfälle (B) diskutiert wird. Für die zweite Phase werden die Kommissionen personell gemischt, sodass man nicht mit Kandidat:innen spricht, die man selbst eingeladen hat (siehe Abb. 2). Die Bewertung aus der ersten Runde spielt daher praktisch keine Rolle mehr. Auch hier herrscht in der finalen Bewertung eine erstaunliche Einigkeit, wie eines der befragten Kommissionsmitglieder mit den bereits erwähnten Worten schildert:

Es gab echt kaum Kandidaten, wo wir gesagt haben, nach dem Gespräch: Na, sind wir uns noch nicht sicher oder einig, vielleicht oder vielleicht nicht. Eigentlich war es immer sonnenklar. (Int_02)

Abb. 2
figure 2

Schematische Darstellung des Auswahlverfahrens an der Kunsthochschule „Grün“

Beide Auswahlverfahren ließen sich freilich als Aufeinanderfolge von Situationen beschreiben; ob nun im Sinne Saners (2019) als „Bewertungsketten“ oder mit Dorn und Wilz (2021) als „kommunikative Verkettung von Bewertungsmomenten“. Dabei wird jedoch ein zentraler Aspekt, auf den wir hier aufmerksam machen wollen, nicht hinreichend beachtet, nämlich, dass der Eindruck der Situationsförmigkeit erst mit den Mitteln der formalen Organisation hergestellt wird. Damit meinen wir nicht nur die Tatsache, dass den einzelnen Bewertungssituationen eine umfangreiche Vorarbeit seitens der Verwaltung vorausgeht, die Kapazitäten berechnet, Werbemaßnahmen plant, Zeitpläne koordiniert, Bewerbungsportale vorbereitet, Mappen auf Korrektheit überprüft etc. Sondern wir meinen damit, dass im Zusammenspiel von Auswahlkommission und Verwaltung die Organisationsförmigkeit besagter Situationen mit den Mitteln formaler Organisation invisibilisiert wird – und zwar zum Wohle beider Seiten.

4 Das organisationale Zusammenspiel zwischen Auswahlkommission und Verwaltung

4.1 Mutmaßliche Trennung von Bewertung und Verwaltung

Für die Mitglieder der Auswahlkommission liegt der Gewinn eines solchen Absehens von der Organisationsförmigkeit der Bewertung auf der Hand. Denn die Fokussierung auf die singulären Situationen der Mappensichtungen und Eignungsprüfungen untermauert ihren eigenen Anspruch einer fachlichen Deutungshoheit und Autonomie in künstlerischen Bewertungsfragen. Wie genau sich das an den untersuchten Kunsthochschulen zeigt, soll anhand von drei unserer Beobachtungen beispielhaft gezeigt werden.

4.1.1 Behauptete Autonomie der Bewertung

Zunächst fällt auf, dass auch das Immatrikulationsamt seinen Beitrag zu dieser Darstellung leistet, wenn dessen Mitarbeiter:innen vehement ihre Distanz zur Bewertung der Bewerbungen betonen. In keiner Weise würden sie sich in die ästhetischen Urteile der Auswählenden einmischen:

Ne, da haben wir keinen Einfluss. […] Wir weisen eigentlich nur auf die formalen Fallstricke hin und sagen, das geht oder das geht nicht, aber auf gar keinen Fall, wir haben da auch keine beratende Stimme. Das wäre ein Rechtsfehler tatsächlich. (Int_05)

Auch in der Studie von Saner et al. (2016) distanzieren sich Mitglieder des administrativen Personals explizit von der „Entscheidungsebene“ und betonen, „dass sie keinen Einfluss im Auswahlverfahren haben“ (ebd., S. 184). Die Selbstbeschreibung der Passivität der Verwaltung kann sogar so weit gehen wie im Fall der Leitung eines Immatrikulationsamts. Selbst auf die unverfängliche Frage, ob sie sich an bestimmte Bewertungskriterien der Auswählenden erinnern könne, die ihrer Erfahrung nach in den Eignungsprüfungen besonders relevant seien, reagiert sie abwehrend und betont abermals ihre Nichteinmischung in das Bewertungsverfahren:

Oh, da bin ich jetzt die Falsche. […] Da drücke ich mich ehrlich gestanden auch immer vor, das habe ich nie, also ich, ich habe natürlich auch ein Gespür für die Mappen und eh, aber ich, das könnte, das könnte ich nicht. […] Also da ziehe ich mich jetzt wirklich hinter die Verwaltung zurück (lacht). (Int_05)

Analoges behaupten die Kommissionsmitglieder, die ihrerseits von einer „autonomen Entscheidungsfreiheit“ bei der Bewertung sprechen und die Verwaltung lediglich als Empfängerin ihrer künstlerischen Entscheidungen rahmt: „Und da schicken wir die Liste hin, und […] dann kommt eine Mail zurück: Vielen Dank für die Liste.“ (Int_06) Eine Beeinflussung durch die Verwaltung fände ausschließlich im Rekurs auf formale Kriterien statt, während das ästhetische Urteil der Auswahlkommissionen unangetastet bleibe. Hier zeigt sich die Besonderheit von Organisationen, dass in ihnen unterschiedliche Abteilungen anhand unterschiedlicher lokaler Rationalitäten Sachverhalte unterschiedlich bearbeiten können (Cyert und March 1963). In diesem Fall wird behauptet, es gehe nur darum, die Kommissionen zu entlasten, indem man Rechtsprobleme abwende, die die Kommissionen nicht lösen könnten:

Da übernehmen wir im Prinzip den organisatorischen Rahmen. […] Also wir unterstützen die Auswahlkommissionen dort und nehmen die auch so ein bisschen in der Hand, weil die in der Regel ihre, ihre Ordnungen, in denen das Auswahlverfahren geregelt ist, jetzt nicht so im Detail kennen wie wir. (Int_03)

Dies schwächt jedoch in keiner Weise die Selbstbeschreibung der auswählenden Künstler:innen. Im Gegenteil: Durch solch starke Grenzsetzungen können diese sich als „Profis“ mit fachlicher Bewertungsautorität darstellen, während die Verwaltung ihnen die unangenehme Aufgabe abnimmt, kunstfremde Kriterien diskutieren zu müssen. Diese propagierte Vorstellung einer klaren Trennung der Bewertungsebenen ist für die Organisationen hochfunktional. Denn der Verweis auf die inhaltliche Unabhängigkeit ihrer fachlichen Auswahlkommission erlaubt es ihnen, deren Bewertungsentscheidungen als im meritokratischen Sinne legitim darzustellen.

Trotz aller Beteuerungen der Immatrikulationsämter, eine neutrale Beobachterrolle einzunehmen, und trotz aller Versuche der Künstler:innen, die Organisationsförmigkeit ihrer ästhetischen Bewertung zu invisibilisieren, bleibt das Handeln der Verwaltung nicht folgenlos für die Auswahl. Denn die Gewährleistung von formal reibungslosen und rechtssicheren Verfahrensabläufen läuft zwangsläufig immer wieder darauf hinaus, die Auswahlkommissionen an formale Erwartungen erinnern zu müssen.

Wir sind wirklich nur im Hintergrund und protokollieren, zeigen die Mappe noch einmal, wenn noch einmal etwas gewünscht wird oder so. Und rufen zwischendurch einmal rein „noch fünf Minuten nur noch“ (lacht). (Int_04)

Selbst dieser als trivial dargestellte Zwischenruf hat allerdings einen unmittelbaren Einfluss auf die Auswählenden, indem er einen zeitlichen Entscheidungsdruck herstellt und damit etwaigen noch offenen Deliberationen „die Luft abschnürt“. Noch deutlicher wird der Einfluss formaler Imperative, wenn die Gewährleistung der Rechtssicherheit durch die Verwaltung eine faktische Auslese von Bewerber:innen zur Folge hat:

Aber man hat natürlich in gewisser Weise einen Einfluss, wenn wir von vornherein sagen, den können Sie aus den und den Gründen nicht zulassen. Dann geht es eben nicht, ne? (Int_05)

Die Wirkmacht formaler Organisation zeigt sich hier in ihrer Fähigkeit, mittels Formalität von Entscheidungsrationalität auf Handlungsrationalität umschalten zu können (Brunsson 1982, 1985). Gemeint ist damit, dass Organisationen in Situationen, in denen „mehr und mehr Alternativen auf den Tisch kommen und hinsichtlich ihrer möglichen Konsequenzen miteinander verglichen und ausführlich erörtert werden“ (Tacke und Drepper 2018, S. 36), über formale Vorgaben Wertabwägungen abschneiden und so Bewertungsentscheidungen erwartbar machen können. Formalität, die seitens der Verwaltung gekonnt eingespielt wird, diszipliniert in der Zeit- und konditioniert in der Sachdimension. Die Profis bewerten in der Folge nicht mehr Kunst in ihrer „Reinform“, sondern die „formal organisierte Fassung“ von Kunst (Hahn 2019, S. 84). Genau solche Eingriffe in das Bewertungsgeschehen verschwinden hinter der formalen Rolle des neutralen „Dienstleisters“.

4.1.2 Eindeutigkeit bei A- und C-Fällen

Wie bereits erwähnt, arbeiten die Auswahlkommissionen beider Kunsthochschulen mit der Kategorisierung in A‑, B‑ und C‑Fälle. Auffällig ist hierbei, dass A‑ und C‑Bewerber:innen von den Auswählenden als eindeutige Fälle beschrieben werden. Hier fände man schnell zu einer Einigung:

Und dann war ganz schnell klar uns ist das, also das weiß jetzt ein Bewerber nicht, aber die Entscheidung, ob jemand geeignet oder nicht geeignet ist, das Ja und das Nein, das geht ganz, ganz schnell, man diskutiert immer nur lange über die Zweifelsfälle. (Int_05)

Es wird also gleichermaßen bei „herausragenden“ A‑ wie „schlechten“ C‑Bewerber:innen Wertkonsens innerhalb der Kommissionen behauptet. Diese mutmaßliche Eindeutigkeit untermauert ein Befragter der Kunsthochschule „Blau“, wenn er betont, dass bei A‑Fällen die künstlerische Qualität derart überragend sei, dass man diese bedingungslos aufnehmen würde. Selbst persönliche Kränkungen der Prüfenden seitens der Bewerber:innen würde man hier tolerieren:

Leute, die einfach künstlerisch überragend sind, die möchtest du einfach, völlig klar. Unbedingt rein. […] Das Normale ist wirklich, die sehr guten– Originalität im Werk […]: Auf jeden Fall rein, auch wenn die ein bisschen absonderlich, schweigsam oder überdreht sind, egal […]. Weil die richtig Guten, da ist mir dann völlig egal, ob der– Ich hatte zum Beispiel einen in der Prüfung sitzen, der meinte: „Ihre Bilder sind ja auch nicht gerade–“ Meinte der einfach so, hat meine Kunst gedisst. Hat aber eine Wahnsinnsmappe gehabt. Mir egal dann. (Int_01)

Mit Bloch et al. (2015, S. 190) gesprochen, wird hier eine Schwellen-Logik der Bewertung praktiziert. Diese operiert mit keiner im Voraus festgelegten Anzahl von Plätzen. Stattdessen werden alle genommen, „die bestimmte Kriterien erfüllen“. Hier werden die Bewerber:innen nicht miteinander verglichen, sondern jeder Fall für sich betrachtet, „ohne in ein hierarchisches Verhältnis gebracht zu werden“ (Barnard und Fourcade 2021, S. 116). Bewertungen arbeiten in diesem Fall mit einer nominalen Kategorisierung. In der Ranglisten-Logik gibt es hingegen eine festgelegte Anzahl an Plätzen, die vergeben werden, indem die Bewerber:innen in eine vergleichende Rangordnung gebracht und die Bestplatzierten angenommen werden, bis die geforderte Anzahl an Zusagen erreicht ist (Bloch et al. 2015, S. 190). Bewertungen folgen in diesem Fall einer ordinalen Kategorisierung, die Differenzen sichtbar macht und hält.

Im Falle der Kunsthochschulen unterliegt die mutmaßliche Eindeutigkeit der A‑Fälle insofern der Schwellen-Logik, als hier (für einen kurzen Moment) die Illusion aufrechterhalten wird, man könne unbegrenzt konsekrieren: Die sind so gut, die nehmen wir auf, egal wie viele es sind. Der bewertende Vergleich wird hier durch eine scheinbar selbstevidente „(nominale) Simply-different“-Logik strukturiert (Heintz 2021a, S. 18), die nicht weiter ausgehandelt werden muss. Sie waren in diesem Sinne „eigentlich immer sonnenklar“. Dies kann natürlich nur behauptet werden, da üblicherweise deutlich weniger A‑Kandidat:innen gefunden werden als Studienplätze vorhanden sind. Dieser Umstand schützt die Auswählenden davor, bei A‑Fällen ins Fahrwasser der Ranglisten-Logik zu geraten und die „eindeutigen“ A‑Fälle miteinander vergleichen zu müssen. So kann die Eindeutigkeit immer eine behauptete bleiben. Voraussetzung hierfür ist die von den Auswählenden kultivierte Vorstellung, dass man die „wirklich Hochbegabten“ (Int_01) auch als solche erkennen kann:

Anhand von Bildproben zu erkennen, dass da jemand– wenn man das System Kunst als Mathematik auch irgendwie– dass da jemand eine Mathematik betreibt, auch wenn du nicht diese Art der Analysis magst, dass das eine große Stimmigkeit und Schönheit in sich hat. Also diese Form, mit der mit den Materialien umgegangen wird. (Int_01)

Die Bewertung wird hier als quasi-objektiv dargestellt und ein spezifisches Wissen über künstlerische Gütekriterien behauptet. Inhaltliche Diskussionen über die Qualität der Mappe bzw. Bewerber:innen werden allerdings von den Kommissionsmitgliedern an mehreren Stellen des Auswahlprozesses aktiv vermieden; in späteren Zusammenkünften werden frühere Entscheidungen einzelner Kommissionen inhaltlich nicht angetastet. Indem vergangene Bewertungen vor anderen nie zur Disposition gestellt werden können, rettet dies letztlich vor allem die fachliche Autorität der Bewertenden und stabilisiert durch diese De-Thematisierung die fragile Situation der Bewertung (Kleimann 2021, S. 77). Das organisatorische Verfahren, die Bewertungsergebnisse als nicht neu zu prüfende Entscheidungsprämissen an spätere Bewertungsepisoden weiterzureichen, „gibt der Situation so viel Konsensgrundlage […], daß die Beteiligten auch in Kontroversen eine Rolle finden können, die ihrer Würde und Selbstauffassung entspricht“ (Luhmann 1999, S. 298). Diese Konfliktvermeidung ist insbesondere funktional, da sie eine hohe Verlässlichkeit bei der schrittweisen Annäherung an die verwaltungstechnische Wunschzahl von 25 Zusagen sicherstellt.

Das Paradoxe an der Kür der A‑Kandidat:innen ist, dass auch diese vermeintlich unvergleichlichen „Genies“ nicht ohne den Vergleich mit den eher mittelmäßigen B‑Kandidat:innen identifiziert werden können, denn „[a]uch das Einzigartige ist nur einzigartig im Vergleich zum Mediokren – kein Genie ohne Mittelmaß“ (Heintz 2019, S. 52). Bei der Verleihung von Preisen wird dieses Paradox laut Heintz gelöst, indem der Vergleich invisibilisiert wird, damit der „Stern weiterhin leuchten“ kann (ebd., S. 72). Die Nicht-Thematisierung inhaltlicher Kriterien könnte – neben der beschriebenen Funktion der Konfliktvermeidung – auch Ausweis einer solchen Invisibilisierung des Vergleichs sein.

Das objektivierende Moment der Bewertung wird zudem von den Kommissionsmitgliedern dadurch noch weiter untermauert, dass beim Sprechen über die A‑Fälle die Person hinter deren Kunstwerk zurücktritt. Heißt: Ihre Persönlichkeit bleibt außen vor, ist irrelevant; andernfalls dürften die A‑Fälle nicht die Kommissionsmitglieder und deren künstlerische Arbeiten „dissen“, wie es das oben zitierte Kommissionsmitglied schildert. Bewertet werde nur die Sachdimension der Kunst. Sachfremde Faktoren wie Persönlichkeit, Körper oder der eigene Geschmack würden keine Rolle spielen. Konsequenterweise wird in diesen A‑Fällen auch immer nur über „die Mappe“ gesprochen und nicht über „die Bewerber:in“. Ein solches Absehen von personenbezogenen Eigenschaften blendet tatsächlich bestehende Unterschiede aus (Heintz 2021a, S. 19).

Bei den herausragenden A‑Fällen handelt es sich also um eine Konsensformel, die empirisch scharf zwischen den Auserwählten und den Aussortierten trennt. Dieses Trennungsregister funktioniert lautlos, gerade weil das Bewertungskriterium aller Eindeutigkeit zum Trotz derart diffus bleibt, dass es die kollektive Zustimmung mitorganisiert. Noch lautloser und eindeutiger als bei den A‑Fällen verlaufe laut den Befragten nur die Bewertung der C‑Fälle, die umgehend als solche erkannt und kollektiv als „epistemologically unproblematic“ ignoriert werden (Brekhus 1996, S. 500). Der „Normalfall“ fehlender Begabung, der sich in einer „schlechten“ Mappe manifestiert, wird also gar nicht aktiv wahrgenommen und in der Folge auch nicht weiter hervorgehoben. In beiden Fällen schützen sich die Auswählenden so wechselseitig davor, die Kontingenz ihrer Bewertungen zu adressieren, und sichern auf diese Weise ihren Status als autonom agierende Professionelle ab. Das Trennungsregister zwischen A und C konsekriert diese Selbstbeschreibung.

Ganz anders verhält es sich mit den Zweifelsfällen, die auf dem B‑Stapel landen und bei denen plötzlich vollkommen andere Bewertungsregister relevant werden: „Kann man sich vorstellen, dass diese Person Projekte macht? Da kommt dann ganz arg dieses persönlichkeitsorientierte Moment rein.“ (Int_01) Weshalb es zu diesem Wechsel des Bewertungsregisters kommt, warum hier die Eindeutigkeit verloren geht und welche Rolle hierbei die formale Organisation spielt, darauf kommen wir später zu sprechen.

4.1.3 Doppelte Protokollierung

Dass die fachliche Autonomie und Autorität bei der Bewertung der Bewerber:innen – entgegen allseitiger Behauptungen – sehr wohl ihre Grenzen hat, zeigt sich nicht zuletzt darin, dass die Kommissionsmitglieder ihre Aushandlungsprozesse gegenüber der Verwaltung verschleiern. Im Fall der Kunsthochschule „Blau“ geschieht dies u. a. über eine doppelte Protokollierung. Dort gibt es das offizielle Protokoll in Form einer Excel-Liste, die dem Immatrikulationsamt übermittelt wird. Dieses muss dergestalt gehalten sein, dass es keinerlei Angriffsfläche bietet. Gemeint ist damit vor allem die Vorbeugung potenzieller Klagen durch abgelehnte Bewerber:innen, gegen die man sich mit diesen Protokollen absichern möchte:

Deswegen musste das Protokoll auch so genau sein und am Ende eine Einschätzung formuliert werden, wegen dieser Gefahr, dass jemand klagen könnte – dass wir es gut dokumentiert haben. […] Wahrscheinlich so, dass es handfeste Gründe waren. Dass man sagen konnte: Das und das hat nicht genügt, das und das war nicht ausreichend, das und das hat nicht überzeugt. (Int_02)

Im Anschluss an Kalthoff und Dittrich (2016) kann dieses Protokoll als eine „Härtung“ des fachlichen Urteils beschrieben werden. In dem Moment, in dem dieses Urteil fixiert wird, ist es nicht mehr reversibel, und das weitere Verfahren wird in die Hände der Organisation gelegt (ebd., S. 477 f.). In diesem Sinne können die Protokolle und Excel-Dokumente nicht nur als Infrastrukturen im Sinne von Meier et al. (2016) verstanden werden, sondern auch als Ausdruck einer organisationalen Entscheidung. Zu einer solchen Entscheidung kommt es in dem Moment, in dem Bewertungskommunikationen „als Entscheidung markiert werden“ (Kleimann 2021, S. 88; Hervorh. i. Orig.), etwa durch den Eintrag in ein entsprechendes Dokument. Nur weil und indem die Bewertungen in der formalen Entscheidungsprogrammierung organisational gehärtet werden, „gewinnen diese relative Stabilität und damit die Möglichkeit, Unterschiede für andere, relativ stabil erzeugte Entscheidungen zu machen“ (Büchner und Dosdall 2021, S. 346; Hervorh. i. Orig.). Organisationale Härtung ist also ein wichtiger Transmissionsriemen, der aus der flüchtigen Praxis der Wertung eine transsituativ geltende Entscheidung macht, an die andere Entscheidungen respektive Handlungsmöglichkeiten anschließen können.

Im Kontrast zu dieser organisationalen Härtung stehen jene Protokolle, die nie formal weitergereicht werden und lediglich von den auswählenden Professionals rezipiert werden. Hier handelt es sich um Eintragungen, die vor allem die inhaltliche Bewertung durch die Professionals betreffen und dabei helfen sollen, eine fachliche Entscheidung zu treffen:

Ganz kurz nach der Prüfung, weil sonst vergisst man es im Laufe des Tages, es verschwimmt so bei den Vielleicht-Sachen. Deshalb macht man unmittelbar danach zwei, drei Minuten und vielleicht ein kurzer Satz: „Stark im Sprechen über das fremde Werk, keinerlei Reflexionsniveau aufs eigene.“ Das sind so Bleistiftsachen, die dann idealerweise nirgends rückverfolgbar oder zu lesen sind (lacht). (Int_01)

Die Auswählenden stellen so ihre eigene Kompetenz unter Beweis, mit den formalen Bedingungen, Regeln und Zwängen (selbst)ironisch zu spielen. Sie retten so ihre Selbstbeschreibung, indem sie sich nolens volens die organisatorischen Zwänge selbst anverwandeln, bevor ihnen diese von den stumm am Verhandlungstisch sitzenden Verwaltungsprofis mitgeteilt werden. Doch wer mit den Regeln der Organisation spielt, spielt de facto das Spiel der Organisation und setzt in der Folge spielerisch deren Regeln verbindlich ins Werk.

Muss ja alles über Noten verbucht werden. Und wenn jemand gar nicht geht, musst du ihm ne 5 geben. Der kriegt dann einfach kommentarlos– Du musst in mindestens einem Prüfungsteil eine 5 geben, dann heißt das: durchgefallen. Damit der dann nicht auf Wartelisten kommt. Und das kriegt der. Und da gibt’s teilweise sehr wütende oder empörte Rückmeldungen, weil in der Prüfung sind halt immer freundlich, und dann entsteht der Eindruck, es liefe hier ganz toll, und dann kommt da so kommentarlos eine 5, das erschüttert die Menschen. (Int_01)

Die Notenvergabe erfolgt also taktisch, um im Rahmen der formalen Regeln die gewünschte Auswahl zu erreichen. Das bedeutet, dass auch in den Bewertungsgesprächen situativ als „befriedigend“ oder „ausreichend“ gerahmte Prüfungsteile beim Übertrag ins organisatorisch relevante Excel-Dokument als „mangelhaft“ bewertet werden, damit die betreffende Person nicht aufgenommen werden kann. In der Folge liegen am Ende formal nur noch A‑ und C‑Fälle vor. Die Heterogenität der Bewerbungen wie auch die Kontingenz ihrer Bewertungen verschwindet hier in einem vereinheitlichenden Format, das „eine übergeordnete Größe […] repräsentiert und keine Spuren ihrer Herstellung mehr erkennen lässt“ (Heintz 2021b, S. 154). Die Vagheit des Bewertungskriteriums der „künstlerischen Begabung“ wird überlagert von der organisatorisch geforderten Eindeutigkeit der Auswahlentscheidung, die die „Flüchtigkeit der Situation“ beendet (Kalthoff und Dittrich 2016, S. 477). Die Kommissionen wissen darum, dass sie mit dem Verfassen des Prüfungsprotokolls ihre Aufgabe erfüllt haben und nun die Hochschuladministration die weiteren Schritte übernimmt.

4.1.4 Zwischenfazit: Wer Bewertende fragt, wird von Situationen hören

Die drei ersten Beobachtungen haben den Fokus auf die Auswahlkommissionen gelegt. Es lässt sich zusammenfassen, dass die behauptete klare Trennung von Auswahlkommission und Verwaltung darauf abzielt, die Auswahlkommissionen als sachkompetent und in Bewertungsfragen autonom agierend darzustellen. Dadurch wird der Eindruck erweckt, die Entscheidung darüber, wer einen Studienplatz bekommt, werde situativ innerhalb der Kommission getroffen, die insbesondere bei den A‑ und C‑Fällen die Eindeutigkeit der Bewertung betont: „I know it when I see it.“ Vor dem Hintergrund des von Meier et al. (2016) diagnostizierten „methodologischen Situationalismus“ ließe sich behaupten: Hier wird Bewertung als eine Situation in Reinform aufgeführt. Das heißt auch, dass es sich beim Situationalismus keinesfalls um ein rein methodologisches Problem der Soziologie handelt. Vielmehr wird von den Akteur:innen selbst die Vorstellung propagiert, dass deren Bewertungspraktiken situativer Natur seien (vgl. Lamont und Huutoniemi 2011). Dies ist wiederum nicht verwunderlich, da eine solche Behauptung das Selbstverständnis der Bewertenden stützt, die fachliche Deutungshoheit innezuhaben: Wir verhandeln hier und jetzt, wer oder was unseren Wertansprüchen genügt. Was in dieser Darstellung allerdings nicht oder nur randständig erwähnt wird, ist, dass die Künstler:innen der Auswahlkommissionen permanent auch für die Organisation Probleme lösen, indem sie organisatorische Spurrillen befahren. Wie dies geschieht und warum dies deren Bewertungspraktiken massiv beeinflusst, zeigen wir im Folgenden.

4.2 Kollektive Bestandssicherung der Organisation

Um über eine bloße Betrachtung von Bewertung als situativem Aushandlungsprozess unter Professionellen hinauszugehen, lohnt es sich, die Verwaltungsseite des Prozesses näher zu untersuchen. Diese ist in stärkerem Maße als die Mitglieder der Auswahlkommissionen mit dem Refinanzierungsproblem der Organisation (Kette 2017) konfrontiert, aus dem ein nicht zu vernachlässigender externer Druck auf die Organisation erwächst. Denn im Falle der Kunsthochschulen sind beträchtliche staatliche Mittel an die Auslastung der Studiengänge und das Absolvieren derselben in Regelstudienzeit gekoppelt. Studiengänge, die über längere Zeit nicht ausgelastet sind, würden die Aufmerksamkeit des zuständigen Ministeriums auf sich ziehen; und zwar solange, bis aus unangenehmen Nachfragen konkrete Pläne zu werden drohen, Studiengänge zu schließen und Mittel zu streichen. Im Folgenden stellen wir zwei Beobachtungen vor, die unterstreichen, wie folgenreich dieser externe Umweltdruck für die Bewertungspraxis der Auswahlkommissionen ist und wie sie damit umgehen, ohne ihre Bewertungsautonomie aufgeben zu müssen.

4.2.1 Die magische Zahl 25

Wie bewertungsprägend das Refinanzierungsproblem ist, zeigt sich daran, dass die Auswählenden nie in Erwägung ziehen würden, die vorgegebene Anzahl von 25 Zusagen zu unter- oder zu überschreiten. Trotz ihrer Überzeugung, die Zulassung zum Kunststudium sei Ausweis einer rar gesäten „künstlerischen Hochbegabung“ (Int_01), gelingt den Kommissionsmitgliedern Jahr für Jahr das unwahrscheinliche Kunststück, dieselbe Anzahl an „Hochbegabten“ ausfindig zu machen. Das liegt freilich daran, dass sich die Kommissionsmitglieder der besagten Kapazitätsvorgabe sehr wohl bewusst sind; nicht zuletzt, weil ihre eigenen Stellen und Gelder daran geknüpft sind. Dennoch wurde die Bedeutung dieser Vorgabe in den Interviews nur auf mehrfaches Nachfragen hin diskutiert.

Du musst ja Plätze vollkriegen, um Gelder, die du auch letztes Jahr bekommen hast– Diese ganze Geldmaschinerie dahinter auch so. […] Du musst zumindest 25 Plätze im Bachelor haben, sonst gibt’s im nächsten Jahr weniger Geld. (Int_01)

War die Möglichkeit der Inpflichtnahme durch die Organisation für die Dauer der Deliberation künstlerischer Begabung situativ unwahrscheinlich, wird Organisation nun auch von den Profis auf „On“ gestellt, jedoch gleichzeitig kommunikativ als „seen but unnoticed feature“ (Hirschauer 1994, S. 678) behandelt. Die Zahl 25 steht also immer im Raum, auch wenn man sie nur ungern anspricht. Diese Nicht-Thematisierung stützt die intersubjektive Vorstellung der Auswählenden, die Deutungshoheit über die Bewertungssituation zu haben. Eine solche kommunikative Vermeidung der „25“ ist jedoch freilich nicht gleichzusetzen mit ihrer Folgenlosigkeit. Im Gegenteil: Die Zahl ist strukturgebend für den gesamten Bewertungsprozess. Insbesondere bei Grenzfällen (den B‑Fällen) zwingt sie unmittelbar Entscheidungen herbei, da in der Regel zu viele B‑Fälle anfallen. Das wiederum hat zur Folge, dass das Feld an B‑Fällen nochmals in „bessere“ und „schlechtere“ ausdifferenziert werden muss, um die gewünschte Zahl zu erreichen. Ähnliches hat Strandvad (2014) bei Designschulen beobachtet, die ebenfalls zunächst nur mit einer B‑Kategorie („maybe“) operieren, diese dann jedoch aufgrund eines Differenzierungsbedarfs in die Unterkategorien „good maybe“, „middle maybe“ und „poor maybe“ unterteilen (vgl. Strandvad 2014, S. 134 f.). Diese Bewertungspraxis ist auf nichts anderes als die organisationale Vorgabe zurückzuführen und verläuft dementsprechend unmittelbar entlang derselben. Wie, das zeigt sich deutlich in dieser Aussage einer befragten Immatrikulationsamtsleitung:

Wichtiger für uns, für die Vergabe der Studienplätze, ist die Luft nach oben, um differenzieren zu können, wo machen wir nachher die Grenze, bis zu welcher Punktzahl lassen wir die Bewerber zu. Und da ist es in dem einen Studiengang, da werden viele fünf und sechs Punkte vergeben. Dann verdichtet sich so eine Gruppe, die ist nicht so richtig toll, aber auch nicht ganz schlecht. Da ist so ein richtiges Knäul, da müsste man noch mehr differenzieren. […] Aber das ist auch nur in dem einen Studiengang, wo es sich ballt. Das hat auch damit zu tun, dass wir seit Jahren eine Warteliste führen, und es sind eben die Bewerber, wo gar nicht die Unterschiede so wahnsinnig groß sind, die man nachher in eine Reihe bringen muss. Das macht aber auch die Kommission. Die Kommission sagt dann, nehmen wir mal an bei einer Punktgleichheit, alle haben 5,5 Punkte, der ist besser als der: Das schlägt sich dann gar nicht in der Punktbewertung nieder. Sondern sie sagen aus dem, was in den Prüfungen gemacht worden ist: Der ist besser als der und den wollen wir auf dem Rangplatz und den wollen wir auf dem Rangplatz haben. (Int_05)

Die formale Vorgabe der „25“ ist also unmittelbar entscheidungsprägend für die mutmaßlich situative Bewertung. Wie folgenreich diese Vorgabe ist, lässt sich besonders plastisch in der Phase der Mappensichtung von Hochschule „Blau“ zeigen. Zur Erinnerung: Hier werden die Bewerbungsmappen alphabetisch auf drei Stapel sortiert und anschließend auf die einzelnen Kommissionen verteilt. Aller mathematischen Wahrscheinlichkeit zum Trotz wird dabei stillschweigend erwartet, dass jede Kommission etwa gleich viele Bewerber:innen für die Eignungsprüfung vorschlägt – Jahr für Jahr für Jahr. Genialität müsste demzufolge alphabetisch normalverteilt sein; was niemanden zu stören scheint. Abweichungen von der als „Normalzustand“ angesehenen alphabetischen Normalverteilung von Hochbegabung werden zwar thematisiert, jedoch nicht mit den Merkmalen der Bewerberschaft in Verbindung gebracht. Stattdessen wird dies beispielsweise dem Gemütszustand der Kommissionsmitglieder zugeschrieben: „Mal hat Person X auch nur 3 genommen. Da dachten wir, der ist vielleicht gerade insgesamt nicht gut drauf.“ (Int_01) Üblicherweise wird eine solche Normalverteilung aber erreicht, was einmal mehr die verfahrenspragmatische Grundierung, folglich die zumindest in den Grenzfällen immer auch sachexterne Kontingenz des ästhetischen Urteils belegt. Nur so ist zu erklären, dass sich auf geradezu magische Art und Weise verlässlich 25 Zusagen zusammenfinden, womit die Auslastung des Studiengangs und somit die erfolgreiche Refinanzierung des Instituts bzw. der Hochschule sichergestellt sind.

4.2.2 B-Fälle als „fleißige Bienen“

Wie bereits geschildert, wird bei den „wirklich begabten“ A‑Fällen nicht auf deren Persönlichkeit geachtet. Da sich von diesen Fällen jedoch nie genug finden, um die 25 Studienplätze zu vergeben, wenden sich die Auswählenden hierfür in der finalen Auswahl dem Stapel der B‑Fälle zu. Die Auswählenden schalten nun aktiv von der „Schwellen-Logik“ auf eine „Ranglisten-Logik“ (Bloch et al. 2015, S. 190) um, nach der sie die übrigen Plätze an die „Vielleicht“-Kandidat:innen verteilen. Im Gegensatz zu den „Überflieger:innen“ werden diese im Auswahlgespräch auf ihre organisationale Passung geprüft. Das heißt, anstelle der künstlerischen Begabung werden plötzlich Eigenschaften wie „Projekttauglichkeit“ relevant:

Ist die lern- und kritikfähig? Hat die Lust auf eine Art des Dialogs, wie man ihn hier führt über Kunst? Ist es vorstellbar, dass die projekttauglich ist? Was ein wichtiger Punkt ist. Neben dem, dass du irgendwelche künstlerischen Sachen machst. Stichwort: Ausstellungen, Festivals, Austauschprogramme. Vom System des Instituts her gedacht. Und das trifft insbesondere auf die Vielleicht-Leute zu […]. Weil du nicht diese künstlerische Hochqualifikation bei diesen Vielleichts hast, hast du ganz arg: Wie sprechen die über und auch wie lebendig, wie offen, wie interessiert, begeisterungsfähig, wie empathisch sprechen die über etwas? Im Sinne von Kommunikationsfähigkeiten, Lust auf Partizipation, vermutete Team- und Projektfähigkeit. (Int_01)

Ohne den Spurwechsel der Bewertungsregister sichtbar zu machen, wird – wenn man das konventionssoziologische Vokabular bedienen möchte – von der „Welt der Inspiration“ (Boltanski und Thévenot 2007) auf das Register organisationaler Funktionalität umgeschaltet. Und anstelle der „Mappe“ wird nun die Persönlichkeit der Bewerber:innen relevant gemacht. So spielt es nun plötzlich auch eine Rolle, ob man ihnen zutraut, das Studium in der Regelstudienzeit zu absolvieren – was ebenfalls eine formale Variable ist, an die die staatliche Mittelvergabe geknüpft ist. Damit entfernt man sich jedoch maximal von jenen künstlerischen Wertmaßstäben, die an die A‑ und C‑Fälle angelegt werden. Hieran wird mehr als deutlich, dass die Organisation nicht nur eine wie auch immer geartete Rahmung der Bewertung darstellt, sondern dass deren lokale Verwaltungsrationalität unmittelbar importiert und als Bewertungskriterium übernommen wird, indem nun hauptsächlich auf organisationale Brauchbarkeit gesetzt wird.

Dies deckt sich mit dem Befund von Saner et al. (2016, S. 209), dass Kommissionen vor allem über Kandidat:innen aus dem „Mittelfeld“ diskutieren und dabei insbesondere deren Persönlichkeit in den Fokus rücken. Diese gesonderte Behandlung der „Vielleicht“-Fälle weist auf eine Kategorisierung der Bewerberschaft hin, die die Professionellen hier vornehmen. Indem sie festlegen, „als was“ (Kleimann 2021, S. 75) die Kandidat:innen jeweils bewertet werden, bestimmen sie, wie legitimerweise mit ihnen umgegangen werden kann. Dies bezieht sich zum einen auf die Gesichtspunkte, anhand derer sie verglichen (bzw. bewertet) werden können, und zum anderen darauf, wer überhaupt miteinander verglichen werden kann (vgl. ebd., S. 75 f.). A‑Kandidat:innen werden als „Genies“ behandelt, wobei nur ihre vermeintliche Begabung zählt. Innerhalb dieser nominalen Kategorie vergleichen die Bewertenden die Kandidat:innen nicht miteinander. Bei den B‑Kandidat:innen werden jedoch, wie gesehen, ihre Persönlichkeitsmerkmale und ihre angenommene Studierfähigkeit relevant. Diese „fleißigen Bienen“ stellen also eine ordinale Kategorie dar, weil die Bewertenden sie in eine Rangfolge organisationaler Passung bringen. Für die Auswählenden hat dieser Wechsel der Bewertungsregister einen ähnlich konfliktentschärfenden Effekt wie die behauptete Eindeutigkeit der A‑Fälle und der damit suggerierte Konsens. Indem nämlich bei B‑Fällen die Persönlichkeit der Bewerber:innen ins Zentrum der Bewertung gerückt wird, werden Konflikte über die sachliche Angemessenheit künstlerischer Kriterien dethematisiert.Footnote 3

Die Kategorie der „fleißigen Bienen“ ist gleich auf dreifache Weise für die Organisation funktional. Erstens sind die Eigenschaften, die nun gefragt sind, insbesondere hilfreich dabei, den reibungslosen Hochschulbetrieb zu gewährleisten. Zweitens sorgt die Rangfolge unter den „fleißigen Bienen“ für ausreichend Handlungsspielraum, um die von Organisationsseite geforderten 25 Zusagen zu erreichen. Und drittens „schaut man [bei den B‑Fällen, d. A.] bisschen auch auf Verteilung. Also Frauen, das ist ein Faktor, dass man da ein bisschen schaut, ohne dass es jetzt 50-50 ist, dass es so eine Verhältnismäßigkeit gibt.“ (Int_01) Die über die B‑Fälle hergestellte „Verhältnismäßigkeit“ zwischen den Geschlechtern verhindert kritische Nachfragen und stützt auf diese Weise die Legitimität der Auswahl.

Die Existenz der B‑Kategorie selbst ist also Ausdruck der Organisationsförmigkeit der Bewertung, da die Auswählenden in einer Welt ohne Refinanzierungsdruck diese Kategorie nicht bedienen würden. Denn Zweifel bezüglich „sonnenklarer“ Genialität sind nicht vorgesehen. Auch hier zeigt sich also eindrücklich, dass die formale Organisation (und ihre Ziele) nicht nur ein Rahmen sind, sondern integraler Bestandteil der Bewertungspraxis, wenn sie die Auswählenden dazu bewegt, entlang nicht-künstlerischer Kriterien zu entscheiden. Dabei hilft eine weitere Strukturbesonderheit formaler Organisation: die Mitgliedschaft. Die damit verbundene Trennung von Mitgliedschaftsrolle und Person hilft den Künstler:innen dabei, situativ das zu tun, was transsituativ zu tun ist, nämlich sich auf die formalen Erwartungsstrukturen der Mitgliedschaftsrolle verpflichten zu lassen und organisatorische Vorgaben abzuarbeiten.

5 Schluss

5.1 Fazit: Organisierte Situationsförmigkeit

Was heißt das? Es heißt erstens, dass es sich beim von Meier et al. (2016) diagnostizierten methodologischen Situationalismus nicht nur um einen bloßen Beobachtungseffekt der Bewertungssoziologie handelt, sondern dass die scheinbare Situativität als Feldeffekt verstanden werden kann, da die beteiligten Akteur:innen selbst ihre Bewertungspraxis als situativen Aushandlungsprozess darstellen. Um dieses Phänomen adäquat zu erfassen und den größeren Kontext der „Situationen“ zu berücksichtigen, bedarf es – so unsere Einschätzung – bei der soziologischen Modellierung von Bewertungspraktiken einer umfassenden Berücksichtigung von formaler Organisation als eigenförmiger Ebene der Ordnungsbildung. Forschungspraktisch bedeutet das, nicht erst in die Situation der Bewertung hineinzuzoomen, sondern von vorneherein auch der organisationalen Vorstrukturierung der Bewertung Aufmerksamkeit zu schenken; aus genau diesem Grund haben wir Expert:inneninterviews in Immatrikulationsämtern und Kapazitätsberechnungsstellen geführt. Die strukturellen Verflechtungen der formalen Organisation nur als Rahmung von Bewertung zu behandeln, hieße nämlich letztlich, der von den Akteur:innen aufgeführten Darstellung auf den Leim zu gehen: „Da übernehmen wir im Prinzip den organisatorischen Rahmen“, wie es die Leitung eines Immatrikulationsamts formulierte.

Zweitens haben wir die unmittelbaren Folgen innerorganisationaler Verflechtung für die Bewertungspraktiken aufgezeigt. Diese äußern sich zum einen darin, dass die Auswahlkommissionen einen radikalen Wechsel ihrer Bewertungsregister in Gang setzen, wenn es um die Bewertung der B‑Fälle und damit die Auffüllung der Studienplätze geht, die wiederum nichts anderem als der Erfüllung der formalen Vorgabe der „magischen 25“ dient. Zum anderen zeigt sie sich darin, dass mutmaßliche Genialität als alphabetisch normalverteilt behandelt wird, um mit großer Verlässlichkeit genügend Bewerber:innen in der finalen Auswahl zu haben; was ebenfalls wieder auf die verwaltungsseitige Vorgabe zurückzuführen ist. In diesem Sinne verstehen wir die Untersuchung auch als ein weiteres Plädoyer für den analytischen Gewinn, der sich einstellt, wenn man Organisation ernst nimmt und es nicht bei einem programmatischen Bekenntnis bewenden lässt, sondern sich auch um „die Phänomene, die es erklären will, […] kümmert“ (Heintz 2021b, S. 158). Andernfalls bleibt die Bedeutung der Organisiertheit der situativen Aushandlung von Bewertungen eine „These ohne Test“, wie es Heintz (ebd.) im Anschluss an Passoth und Rammert (2020) formuliert. Unser Beitrag versteht sich als ein erster Schritt zu einem solchen empirischen Test, indem wir am konkreten Fall zeigen, dass Organisation mehr leistet, als einen Rahmen für situative Aushandlungen aufzuspannen. Organisationen lenken Entscheidungen in bestimmte Bahnen und können dabei mit ihren eigenen Mitteln die Situation so organisieren, dass die Beteiligten von der organisatorisch imprägnierten Strukturierung der Situation absehen können, zumindest für die Zeit der organisierten Situation.

Drittens kommen wir vor dem Hintergrund unserer Fragestellung nach dem Wesen dieser innerorganisationalen Wechselwirkungen zum Schluss, dass diese trotz unterschiedlicher Wertlogiken und Interessen nicht von Konflikten geprägt sind. Vielmehr lässt sich eine kollektive Problemlösung beobachten, die sowohl die Autonomievorstellungen der Auswahlkommission intakt lässt als auch das Bestandssicherungsproblem der Verwaltung löst. Im Sinne Friedbergs (1995) stabilisieren sich deren Interaktionen in Form von Kooperation, da die Akteur:innen auf die Handlungen der anderen angewiesen sind (vgl. auch Holtgrewe 2006, S. 36). Diese Vorgaben werden dabei nicht schlicht in den organisationsseitig vorgebahnten Bewertungspraktiken umgesetzt. Es bedarf vielmehr einer wechselseitig gelingenden Co-Produktion der Bewerter:innen wie auch der Verwaltungsmitarbeiter:innen, um brauchbare Auswahlentscheidungen zustande zu bringen, die sowohl in der „Welt der Inspiration“ wie auch in der „Welt der Organisation“ als viable Ordnung funktionieren (Mense-Petermann 2006). Viabilität meint dabei, dass man geteilte Deutungsfiguren verwendet, die Verständigung ermöglichen, weil ihre Bedeutungsgehalte vage gehalten und unterschiedlich ausgelesen werden können. So gelingt es, fortbestehende Unterschiede zu entproblematisieren und die je andere Welt im Sinne einer „produktiven Dissonanz“ (Stark 2009) mitzuberücksichtigen, ohne sich gleichzeitig ihre lokale Rationalität zu eigen zu machen.

Und viertens halten wir fest, dass der dahinterstehende organisationale Kernmechanismus dieser Kooperation darin besteht, dass die Organisationsförmigkeit der Bewertungen invisibilisiert wird. Erst dadurch lässt sich Bewertung überhaupt im Feld als Situation darstellen. Und diese empfundene Situativität ist wiederum nichts anderes als eine Organisationsleistung, die mit formalen Mitteln hergestellt wird; gewissermaßen also ein organisierter Situationalismus. Ein solches Absehen-Können der Bewerter:innen von der Organisationsförmigkeit ihrer Praxis ist nicht nur deshalb erstaunlich, weil die Verwaltung im Sinne von Kleimanns (2021) Bewertungsordnungen sowohl in der Sach‑, Zeit- als auch in der Sozialdimension am längeren Hebel sitzt und in Form von Fristen, Rechtssicherheit der Entscheidung, 25er-Quorum und sozialstruktureller Quotierung maßgebliche Parameter setzt, die unmittelbar Folgen für die Bewertung haben. Dieser Befund findet sich auch in aktuellen Beiträgen zum Verhältnis von Organisation und Bewertung wieder und wird dort als „Präfigurierung“ (Knoll 2021), „Konditionierung“ (Meier und Peetz 2021b) oder „Kanalisierung“ (Kleimann 2021) rubriziert. Im Vergleich dazu gehen wir einen Schritt weiter und vertreten die These, dass auch bestimmte Verfahrensregeln erhebliche Effekte für die Bewerter:innen haben. Die Ordnung der Stapel, die Anordnung der Verfahrensschritte, die Ausgestaltung der Bewertungsregister setzen die Auswählenden als professionelle Bewerter:innen in Wert und ersparen ihnen die Sicht auf und damit die Einsicht in die Kontingenz ihrer Entscheidung. Dabei geht es uns nicht darum, die Selbstdramatisierung der Bewertungsprofis als Fiktion zu entschleiern. Die Pointe ist vielmehr die, dass sich die organisatorisch ins Werk gesetzte Inszenierung als autonome Entscheider:innen als hoch funktional für die Organisation erweist. Nur so gelingt der unwahrscheinliche Balanceakt, die professionelle Selbstbeschreibung aufrechtzuerhalten und im gleichen Zug die Refinanzierung und Legitimität der Organisation sicherzustellen. Die Refinanzierungsfrage ist geklärt, wenn dabei Jahr für Jahr erwartungsstabil die magische Zahl von 25 Kunstbegabten gemeldet wird. Legitim ist das Verfahren, weil die Auswahlentscheidungen ad rem und nicht ad personam gefällt werden.

5.2 Ausblick

Vor dem Hintergrund dieser Ergebnisse ergeben sich drei soziologische Anschlusspunkte für weitere Überlegungen und Forschungsvorhaben. Erstens könnte sich unser Ansatz als fruchtbar für eine konventionssoziologische Konzeptionalisierung von Bewertungspraktiken erweisen (Boltanski und Thévenot 2007). So instruktiv all die Hinweise der Économie des Conventions (EC) auf Konventionen, situative Kompromisse, Koordination und Rechtfertigung auch sein mögen: Sie macht ihre Rechnung weitestgehend ohne die formale Organisation und deren ordnungsbildende Funktion qua Formalität. Organisation wird zwar empirisch untersucht, aber lediglich als Praxis des Organisierens bzw. der Herstellung der Organisation als „compromising device“ (Thévenot 2001, S. 410) gerahmt. In diesem Sinne kritisieren auch Cloutier und Langley (2013), dass in der EC Prozesse der organisationsspezifischen Ordnungsbildung konzeptionell an-, aber noch nicht zu Ende gedacht sind. Deshalb fehlt es der EC bislang nicht an einer empirischen, wohl aber an einer systematischen theoretischen Berücksichtigung formaler Verfahren, informaler Prozesse und organisationaler Entscheidungsprämissen (Luhmann 1988), die wirkmächtig Grenzen der Verhandelbarkeit ziehen. Vermisst wird in der EC eine Abbildung von Formalität als eigenständige Ordnungs- und Wertebene. Zwar werden in der EC Objekte wie Formulare oder Organisationsdiagramme als dauerhafte „Forminvestitionen“ (Thévenot 1984, 2001) begriffen, jedoch steht die EC grundsätzlich für eine Position, „die Organisationen als institutionelle Arrangements auffasst und keinen eigenständigen Organisationsbegriff aufweist“ (Knoll 2015, S. 20; Hervorh. i. Orig.). Es scheint vor diesem Hintergrund lohnenswert, Organisationssoziologie und EC noch stärker als bisher in ein Gespräch zu bringen (vgl. Diaz-Bone 2009), um theoretisch wie empirisch zu prüfen, wie sich formale Organisation als eigenständige Ebene der Ordnungsbildung und Rechtfertigungsnarrative wechselseitig kommunikativ in Anspruch nehmen und/oder blockieren, um komplexe Bewertungsentscheidungen zu ermöglichen bzw. zu verunmöglichen.

Zweitens drängen sich Überlegungen aus der Professionssoziologie auf, die wertvolle Hinweise auf die Kooperation unterschiedlicher Professionsangehöriger geben können; in unserem Fall den Künstler:innen und den Verwaltungsmitarbeiter:innen. Gleichwohl die Kunst eine besondere kulturgeschichtliche Beziehung zum Autonomiebegriff (Siegmund 2017) pflegt, lassen sich vergleichbare Selbstbeschreibungen in den unterschiedlichsten Arbeitsfeldern beobachten. Ohne den Professionsbegriff auf einige wenige indikatorisch-essentialisierende Merkmale reduzieren zu wollen (Pfadenhauer und Sander 2010), verstehen wir die Behauptung einer fachlichen Bewertungshoheit basierend auf einem spezifischen Handlungswissen als zentrales Element einer jeden Profession (Vollmer 2017, S. 22 ff.; Stichweh 2005, S. 37). Das heißt: Abseits bestimmter feldspezifischer Bewertungskriterien („Ist das Kunst oder kann das weg?“) gehen wir davon aus, dass sich die von uns beobachteten Wechselwirkungen zwischen Auswählenden und Verwaltung nicht auf Bewertungspraktiken im Feld der Kunst beschränken.

Und drittens: Was die Reichweite der in diesem Papier beschriebenen Mechanismen betrifft, würden wir behaupten, dass sich Spielarten einer solchen Invisibilisierung von formaler Organisation, die „Bewertungssituationen“ präfiguriert und die Auswahlentscheidungen des organisierten Situationalismus präformiert, bei Bewertungsverfahren in den unterschiedlichsten Sachgebieten antreffen lassen dürften – seien es Preis- und Stipendienvergaben, unternehmerische Investitionsbeschlüsse oder sonstige fachlich begründete Allokationsentscheidungen.