In ihrer auf sehr breiter Quellenbasis recherchierten Diplomatiegeschichte erzählt Mary E. Sarotte, wie sich die amerikanisch-russischen Beziehungen vom Höhepunkt der deutschen Wiedervereinigung bis zum Vollzug der NATO-Osterweiterung massiv verschlechterten. Damit stellt sie den aktuellen Krieg zwischen Russland und der Ukraine in einen höchst bedenkenswerten historischen Zusammenhang. Viele Chancen wurden vertan, sodass es anders als nach dem Zweiten Weltkrieg nicht gelungen sei, Feinde in Freunde zu verwandeln und dauerhaft Frieden zu schaffen. Beide Seiten trafen Entscheidungen jeweils aufgrund innenpolitischer Veränderungen, die zu fatalen Interaktionen mit zunehmender Entfremdung und Misstrauen führten. Die Handlungsspielräume verengten sich und erzeugten eine Pfadabhängigkeit in Richtung steigender Konfrontation.

Im Zentrum der Untersuchung steht die amerikanische Politik zur NATO-Osterweiterung. Außenminister Baker versprach Russland noch, die NATO werde sich nicht einen Zoll über die innerdeutsche Grenze hinaus ausbreiten (S. 66). Am Ende der Geschichte verkehrte der stellvertretende Außenminister Talbott diese Formulierung in ihr Gegenteil: Nicht ein Zoll osteuropäischen Territoriums sei ausgenommen von NATO-Streitkräften und Kernwaffen (S. 338). Die ursprüngliche Absicht, eine neue Friedensordnung für Europa zu schaffen, scheiterte, denn die neue Ordnung ähnele der des Kalten Krieges.

Sarotte verzichtet darauf, die dieses Ergebnis erklärende amerikanische Verhaltensweise ausdrücklich und systematisch herauszuarbeiten, aber sie springt politikwissenschaftlich geradezu ins Auge. Die USA verfolgten – häufig mit deutscher Unterstützung – eindeutige und nach Prioritäten geordnete Interessen, insbesondere den Erhalt und die Funktionstüchtigkeit der NATO und die uneingeschränkte Handlungsfreiheit der USA in Europa. Zuletzt wurde diesen Interessen sogar die Verringerung der nuklearen Bedrohung der USA durch Rüstungskontrolle untergeordnet. Frieden wurde gerade nicht als kollektive Sicherheit (wie in der OSZE), sondern als kollektive Verteidigung durch die Allianz konzeptualisiert. Damit muss er immer gegen Feinde erhalten und durchgesetzt werden. Internationale Beziehungen sind folglich eher konfrontativ als kooperativ. Die Umsetzung dieses Konzepts war zunächst deshalb erfolgreich, weil es gelang, die Schwäche Russlands rasch zu nutzen, indem Versprechen abgegeben wurden, die später uminterpretiert werden konnten und nicht eingehalten wurden. Gorbatschow und Jelzin erwiesen sich als vertrauensselige, dem Westen gewogene Partner. Sie stimmten der Wiedervereinigung und der NATO-Osterweiterung zu und erwarteten im Gegenzug Rücksicht auf russische Sicherheitsinteressen, Respekt für die nukleare Großmacht und erhebliche Mitbestimmungsmöglichkeiten für Russland in internationalen Beziehungen. Diese Erwartungen erfüllten die USA nicht, weil sie zu dem Schluss kamen, dass ihre Interessen zum sehr geringen Preis von Wirtschafts- und Finanzhilfe an Russland zu bekommen waren. Notwendig waren dazu die strikte Geheimhaltung der wahren Absichten und eine Salamitaktik von Ausnutzungssequenzen, bei der amerikanische Versprechen immer dann zurückgenommen wurden, nachdem Russland seine erfüllt hatte, wie den Rückzug von Truppen aus der DDR und Osteuropa.

Sarrottes Erzählung ist eine empirische Fundgrube für weitergehende politikwissenschaftliche Untersuchungen. Sie zeigt, dass sich die USA wie eine schlaue statt eine kluge Macht verhielten, um die Unterscheidung von Czempiel zu nutzen, die Gunther Hellmann wieder populär gemacht hat. Denn es wurde gar nicht erst versucht, Strukturen internationalen Regierens zu schaffen, die klassische Machtpolitik erschweren und Konsenslösungen vereinfachen sollen. Vielmehr wurde klassische Machtpolitik für unverzichtbar gehalten und praktiziert. Unter diesen Umständen waren schwerwiegende Demütigungen Russlands unvermeidbar, über die sich die russische Seite sehr häufig bitter beklagte. Damit bestätigt Sarrotte empirisch die theoretische Erwartung der Respektforschung von Reinhard Wolf, dass diese Demütigungen und die Missachtung des Respektgebots zu ganz erheblichem Widerstand in internationalen Beziehungen führen. Und schließlich findet man zahlreiche Belege für rhetorisches Handeln, das Frank Schimmelfennig konzeptualisiert hat. Mit diesem Konzept ließe sich sehr gut erklären, wie sich transnationale Gewinnerkoalitionen herausgebildet haben, die erfolgreich auf die amerikanische Regierung einwirken und sich durchsetzen konnten. Hier liegt auch eine mögliche Erklärung verborgen, warum die USA sich auf die Seite der Osteuropäer statt auf die von Russland stellten und weshalb die NATO-Osterweiterung der Rüstungskontrolle übergeordnet wurde. Innenpolitische Kritiker*innen und Russland leisteten durchaus Widerstand, erwiesen sich aber rhetorisch als nicht durchsetzungsfähig und bildeten deshalb Verliererkoalitionen.

Sarrottes Narrativ ist sehr gründlich recherchiert, brillant geschrieben und gut lesbar. Der chronologische Aufbau ermöglicht, drei Wendepunkte (Wiedervereinigung, Partnerschaft für den Frieden und die Aufnahme der baltischen Staaten in die NATO) der historischen Entwicklung zu identifizieren, an denen die Geschichte eine andere Richtung hätte nehmen können, wie die Autorin in den Schlussfolgerungen gekonnt herausarbeitet. Sie zeigt auch, dass die Ukraine schon sehr früh als ein sehr schwieriges Problem mit hohem Konfliktpotenzial erkannt wurde. Die wesentlichen Treiber dieser Geschichte seien die Akteure und nicht die strukturellen Faktoren gewesen (S. 343).

Diese Erkenntnis ist aber vor allem der benutzen Methode der Quellenforschung und der Auswahl der Quellen geschuldet. Dort sind Hinweise auf Strukturen kaum zu erwarten und zu finden. Stattdessen zitiert Sarotte ausführlich die Akteure mit sehr häufig griffigen Formulierungen.

Die Autorin blendet Czempiels Gesellschaftswelt und transnationale Beziehungen aus ihrer Betrachtung aus und verkennt dadurch auch deren Wirkung auf nationale Herrschaft und Friedfertigkeit. Westliche Transformationspolitik in Osteuropa und Russland wurde jedoch stark proaktiv betrieben und zielte auf Systemveränderung, die hauptsächlich auch mit wirtschaftspolitischen Instrumenten betrieben wurde. Derart revisionistische Politik blieb nicht ohne Folgen für die europäische Sicherheitspolitik, deren Zusammenhang zur Wirtschaftspolitik jedoch unerkannt bleibt. Gesellschaftspolitische Status-quo-Veränderungen erlangen immer nur dann und nur indirekt öffentliche Aufmerksamkeit, wenn sie Gegenreaktionen auslösen. Überdies erweist sich die Nähe der Autorin zu den Akteuren, von denen sie viele ausgiebig befragt hat, ebenfalls als Schwäche. Die Autorin verzichtet weitestgehend auf eigenständige Analyse und Folgerungen, sondern begnügt sich mit Erzählungen bis hin zu einer gewissen Freude an Klatsch und Tratsch. So bleibt der Versuch, in den Schlussfolgerungen Kosten-Nutzen-Kalküle für die denkbaren Optionen zu erstellen, im Versuchsstadium stecken. Die Autorin liefert zwar zahlreiche Belege, mit denen neuere Aussagen von Zeitzeugen wie die von Horst Teltschik klar widerlegt werden, zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung habe niemand an die NATO in Osteuropa gedacht. Die Dokumente zeigen aber eindeutig, dass diese Frage schon damals omnipräsent war. Man hätte sich gewünscht, dass Sarotte wohlbegründete Urteile selbst formuliert, statt Folgerungen der Leser*innenschaft zu überlassen.