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Geschichte der mecklenburgischen Regionalsprache seit dem Zweiten Weltkrieg

Varietätenkontakt zwischen Alteingesessenen und immigrierten Vertriebenen. Teil 2: Sprachgebrauch und Sprachwahrnehmung

von Klaas-Hinrich Ehlers (Autor:in)
©2022 Monographie 688 Seiten

Zusammenfassung

Der erste Teil dieser Sprachgeschichte hat den Sprachstrukturwandel im mecklenburgischen Varietätengefüge nachgezeichnet. Der zweite Teil beleuchtet ergänzend, was 90 Zeitzeuginnen und Zeitzeugen über den Wandel in ihrem Sprachgebrauch und ihren Spracheinstellungen berichten und welche Veränderungen sie in ihrem gesellschaftlichen und sprachlichen Umfeld beobachtet haben. Der Fokus dieser oral language history liegt dabei wieder auf dem Gefüge von konkurrierenden Kontaktvarietäten, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Mecklenburg aufeinandertrafen: auf dem Niederdeutschen, den Herkunftsvarietäten der immigrierten Vertriebenen und dem (regionalen) Hochdeutschen. Rekonstruiert werden jeweils Entwicklungen im Spracherwerb, in der Sprachkompetenz, der Sprachpragmatik und der Sprachwahrnehmung.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Danksagung
  • 1 Einleitende Bemerkungen zum Gegenstand, zur Untersuchungsgrundlage und zur Methodik der Sprachgebrauchs- und Sprachbewusstseinsgeschichte
  • 1.1 Die sprachgeschichtlichen Untersuchungsfelder
  • 1.2. Die Quellengrundlage und ihre Auswertung
  • 2 Zum gesellschaftsgeschichtlichen Hintergrund des Sprachwandels
  • 2.1 Sprachgeschichtlich relevante Aspekte der Sozialgeschichte aus lokaler und regionaler Perspektive
  • 2.1.1 Migrationsströme nach, in und aus Mecklenburg-Vorpommern
  • 2.1.2 Zwischen Wohnen, Arbeiten, Einkaufen und Freizeitgestaltung: zunehmende zirkuläre Mobilität der Bevölkerung
  • 2.1.3 Zur Verbreitung der audiovisuellen Medien in der DDR
  • 2.1.4 Reformierung und Ausbau des Bildungssystems
  • 2.2 Erinnerte Immigration 1: Schlaglichter auf die materielle Situation von Alteingesessenen und zugewanderten Vertriebenen
  • 2.2.1 „Da war das Haus dann brechend voll“ – die Wohnsituation nach 1945 aus der Sicht der Alteingesessenen und der Vertriebenen
  • 2.2.2 „Und da so in dieser Zeit ja da war das […] schon einigermaßen normal“ – die Normalisierung der Lebensverhältnisse nach dem Krieg aus der Sicht der Vertriebenen und der Alteingesessenen
  • 2.3 Erinnerte Immigration 2: Wahrnehmung und Aushandlung der Gruppengrenzen zwischen immigrierten Vertriebenen und Alteingesessenen
  • 2.3.1 „Die verstanden uns nicht und wir verstanden die nicht“ – Sprachbarrieren zwischen Alteingesessenen und zugewanderten Vertriebenen
  • 2.3.2 „Ihr Tschechen, ihr Zigeuner!“ – Erinnerungen an verbale Konflikte zwischen Alteingesessenen und Vertriebenen
  • 2.3.3 „Haben uns mit den Hunden weggehetzt“ – Gewalt und Gewaltandrohungen in Auseinandersetzungen zwischen Alteingesessenen und Vertriebenen
  • 2.3.4 „Und zuerst war es ja hier sehr streng. ‚Wehe du nimmst einen Evangelischen!‘ Und die wie ‚wehe du nimmst einen Katholischen!‘“ – konfessionelle Grenzen in kirchlicher und familiärer Aushandlung
  • 2.3.5 „Uns’re Leut’“ – Selbstabgrenzung einer ethnischen Gemeinde von Vertriebenen aus dem mittelslowakischen Hauerland gegenüber der mecklenburgischen Aufnahmegesellschaft
  • 2.3.6 „Die fünfte Besatzungsmacht“ – kontrastive Konzeptualisierung der Arbeitsmigration der „Sachsen“ nach Mecklenburg
  • 2.4 Zwischenresümee zu den gesellschaftlichen Hintergründen des Sprachwandels
  • 3 Niederdeutsch in den Nachkriegsjahrzehnten: Sprachgebrauch und Sprachbewusstsein
  • 3.1 Veränderungen im Erwerb des Niederdeutschen seit der Vorkriegszeit
  • 3.1.1 „Und das hat man dann so nebenbei so aufgenommen“ – Niederdeutsch lernen bei Alteingesessenen
  • 3.1.2 „Ich würde sagen [19]48 habe ich perfekt Platt gesprochen“ – Niederdeutscherwerb bei immigrierten Vertriebenen
  • 3.1.3 „Da habe ich meine Mutter bewundert die spricht mit meinem Vater reinstes Plattdeutsch“ – das niederdeutsche Lernumfeld der Nachkommen von Vertriebenen
  • 3.1.4 „Wir haben plattdeutsche Gedichte lernen müssen und auch Plattdeutsch gesungen. Aber sonst hat der [Lehrer] ein reines Hochdeutsch gesprochen“ – Zeitzeugenberichte zur Behandlung des Niederdeutschen im Schulunterricht von den 1920er Jahren bis zu den 2000er Jahren
  • 3.2 Niederdeutschkompetenz in Mecklenburg-Vorpommern
  • 3.2.1 Wer spricht und versteht Niederdeutsch unter den Alteingesessenen im Raum Rostock?
  • 3.2.2 Niederdeutschkompetenz bei immigrierten Vertriebenen und ihren Nachkommen
  • 3.2.3 „Als wenn sie auch ein richtig waschechter Mecklenburger ist“ – zeitzeugenberichte über die Niederdeutschkompetenz von Vertriebenen
  • 3.2.4 „Dat kannst kum läsen manchmal“ – zur Lesekompetenz im Niederdeutschen bei Alteingesessenen, Vertriebenen und ihren Nachkommen
  • 3.3 Gebrauch des Niederdeutschen: pragmatische Aspekte
  • 3.3.1 „De Discher dei räd bloß Plattdüütsch“ – Gebrauch des Niederdeutschen vor seiner ‚Pragmatisierung‘
  • 3.3.2 „Ja also so man konnte wirklich über das Plattdeutsche manchmal Türen öffnen“ – strategischer Einsatz des „kontaktfördernden“ Niederdeutsch in der Kommunikation
  • 3.3.3 „Aber natürlich hemm se uns manchmal ouk mäkelböörgsch infäächt wennʼt gor nich anners güng“ – Schimpfen auf Niederdeutsch zwischen Strategie und Affekt
  • 3.3.4 „Und der hat auch nichts verstanden zuerst. Den konnte man austricksen“ – Niederdeutsch als Geheimsprache
  • 3.3.5 „Und dann weiß der andere gleich ‚ach das ist einer von uns‘“ – Markierung gemeinsamer Gruppenzugehörigkeit durch den Gebrauch des Niederdeutschen
  • 3.3.6 „So zu Feierlichkeiten wurde immer Tarnow vorgelesen oder so“ – das Niederdeutsche als Freizeitsprache und Kulturdialekt
  • 3.4 Konzeptualisierungen und Bewertungen des Niederdeutschen in Mecklenburg
  • 3.4.1 „Wirken Menschen, die Plattdeutsch sprechen, gemütlicher?“ Quantitative Befunde zur Einstellung gegenüber Niederdeutschsprechern
  • 3.4.2 „Ich mag das total gerne“ – positive Charakterisierungen und Bewertungen des Niederdeutschen in den Interviewgesprächen von Alteingesessenen und Angehörigen von Vertriebenenfamilien
  • 3.4.3 „Die Sprache mag ich nicht“ – negative Charakterisierungen und Bewertungen des Niederdeutschen in den Interviewgesprächen von Alteingesessenen und Angehörigen von Vertriebenenfamilien
  • 3.4.4 „Es war mal eine Zeitlang verpönt“ – Spracheinstellungswandel in der mecklenburgischen Gesellschaft gegenüber dem Niederdeutschen
  • 3.4.5 „Ich habe manchmal so eine Antipathie gegen das Plattdeutsche gehabt“ – Spracheinstellungswandel in der Sprachbiographie von Vertriebenen und ihren Nachkommen
  • 3.4.6 „Na das würde ich nicht als Identifikationszeichen nehmen“ – Niederdeutschkompetenz als Kennzeichen der „echten“ Mecklenburger?
  • 3.4.7 „Das schläft so alles ein mit dem Plattdeutschen“ – niederdeutsche Sprachgeschichte konzeptualisiert aus der Sicht der Beteiligten
  • 3.5 Zwischenresümee: Sprachgebrauchswandel und Sprachbewusstseinswandel des Niederdeutschen innerhalb des mecklenburgischen Varietätengefüges
  • 4 Die Herkunftsvarietäten der Vertriebenen in den Nachkriegsjahrzehnten: Sprachgebrauch und Sprachbewusstsein
  • 4.1 Der Erwerb der mittel- und oberdeutschen Herkunftsdialekte der immigrierten Vertriebenen
  • 4.1.1 „Auf dem Dorf wurde eben nur Dialekt gesprochen“ – zum Erwerb der Herkunftsdialekte im sprachlichen Umfeld der Vertreibungsgebiete vor 1945/1946
  • 4.1.2 „Ja verstehen ja aber gar … überhaupt nicht sprechen“ – der Erwerb der Herkunftsdialekte der immigrierten Vertriebenen durch ihre in Mecklenburg aufgewachsenen Nachkommen
  • 4.1.3 „Mekala koa ich schon reden“ – Alteingesessene mit aktiven Sprachkompetenzen in den Herkunftsdialekten der zugewanderten Vertriebenen
  • 4.2 Verteilung der Sprachkompetenzen in den Herkunftsdialekten der Vertriebenen in der mecklenburgischen Bevölkerung
  • 4.2.1 „Aber das ist dann irgendwann verloren gegangen“ – zum Abbau der Dialektkompetenzen in den Vertriebenenfamilien
  • 4.2.2 „Da kann ich drei Mundarten oder was, Hochdeutsch, Platt und […] Sudetendeutsch“ – Bidialektalität bei Vertriebenen
  • 4.3 Der Gebrauch der Herkunftsdialekte: pragmatische Aspekte
  • 4.3.1 „Das irgendwie das bindet irgendwie“ – die Herkunftsdialekte als Sprachen der Nähe und der Annäherung
  • 4.3.2 „Und nachher haben wir uns ja auch teilweise einen Spaß draus gemacht“ – unernste Verwendungen der Herkunftsdialekte
  • 4.3.3 „Rede Naihaarisch! Du weißt nicht wer mithört“ – Herkunftsdialekte als Geheimcodes
  • 4.3.4 „Als wir hier herkamen hat meine Mutter mehr Dialekt gesprochen als ich sie überhaupt jemals habe sprechen hören“ – die Herkunftsdialekte als „Heimatzeichen“
  • 4.4 Konzeptualisierung und Bewertung der Herkunftsdialekte der Vertriebenen
  • 4.4.1 Von „anheimelnd“ bis „peinlich“ – zur Bewertung der Herkunftsdialekte und ihres Gebrauchs durch Angehörige von Vertriebenenfamilien
  • 4.4.2 „Dat sünd doch Utlänner“ – zur Bewertung der Herkunftsdialekte und ihres Gebrauchs durch Alteingesessene
  • 4.5. Zwischenresümee: Sprachgebrauchswandel und Sprachbewusstseinswandel der Herkunftsdialekte innerhalb des mecklenburgischen Varietätengefüges
  • 5 (Regionales) „Hochdeutsch“ in den Nachkriegsjahrzehnten: Sprachgebrauch und Sprachbewusstsein
  • 5.1 Erwerb der hochdeutschen Standardsprache
  • 5.1.1 „Mensch bloß mit den Kindern nicht plattdeutsch reden!“ – wieso dialektsprechende Eltern ihren Kindern Hochdeutsch vermittelten
  • 5.1.2 „Ich konnte schwer Hochdeutsch lernen“ – zum Erwerb der hochdeutschen Standardsprache in der Schulzeit der Vorkriegsgeneration und der Nachkriegsgeneration
  • 5.1.3 „War Fehler und man hat gebüffelt und hat dann die Präpositionen dann eingebläut gekriegt“ – Verfahren der gesteuerten Vermittlung des Standarddeutschen durch Lehrer und Eltern und Lernstrategien auf Seiten der Schüler
  • 5.1.4 „Das Radio drängt sein Hochdeutsch auf“ – zur Rolle der audiovisuellen Medien bei Erwerb und Verbreitung des Standarddeutschen
  • 5.2. Verteilung der Hochdeutschkompetenzen in der mecklenburgischen Bevölkerung
  • 5.2.1 „Es gab ja zu der Zeit viele Kinder, die zur Schule kamen und nicht hochdeutsch sprechen konnten“ – zur Hochdeutschkompetenz von Vorschulkindern aus alteingesessenen Familien
  • 5.2.2 „Ich kenne noch einen, der konnte kein Hochdeutsch“ – erwachsene Angehörige alteingesessener Familien ohne aktive Hochdeutschkompetenz
  • 5.2.3 „Viele konnten gar nicht richtig Hochdeutsch sozusagen“ – wahrgenommene Kompetenzdefizite im Hochdeutschen Alteingesessener
  • 5.2.4 „Die haben dann gebrochenes Hochdeutsch gesprochen ne“ – Angehörige von Vertriebenenfamilien mit fehlender oder geringer Hochdeutschkompetenz
  • 5.2.5 „Das ist wohl Norddeutsch, das ist ein Küstenhochdeutsch würde ich sagen“ – die hochdeutsche Varietätenkompetenz der Befragten in Selbst- und Fremdeinschätzung
  • 5.3 Der Gebrauch des Hochdeutschen: pragmatische Aspekte
  • 5.3.1 „Mit diesen ganzen Außenstehenden haben wir Hochdeutsch gesprochen“ – das Gespräch mit Unbekannten als stereotype Situation für den Hochdeutsch-Gebrauch
  • 5.3.2 „Œwer wenn du denn to de Sak selbst kümmst denn möest du in’t Hochdüütsche wesseln“ – Hochdeutsch in offiziellen und sachbezogenen Gesprächen
  • 5.3.3 „Das waren bessere Leute“ – Trägerschichten des Hochdeutschen und die Pragmatik der vertikalen sozialen Distinktion
  • 5.4 Konzeptualisierung und Bewertung des (regionalen) Hochdeutsch
  • 5.4.1 „Hart“, aber „vernünftig“ und allgemein verständlich – laienlinguistische Attribuierungen des Hochdeutschen
  • 5.4.2 „Denn an und für sich sprechen wir hier oben doch mit das vernünftigste Deutsch“ – zur laienlinguistischen Wahrnehmung des mecklenburgischen Regiolekts und seiner Merkmale
  • 5.5 Zwischenresümee: Sprachgebrauchswandel und Sprachbewusstseinswandel des regionalen „Hochdeutsch“ innerhalb des mecklenburgischen Varietätengefüges
  • 6. Schlussfazit: Entwicklungslinien im regionalen Varietätengefüge Mecklenburgs seit dem Zweiten Weltkrieg
  • 7. Verzeichnis der konsultierten Archive und ihrer Siglen
  • 8. Literaturverzeichnis
  • Reihenübersicht

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Danksagung

Im ersten Band dieser mecklenburgischen Sprachgeschichte habe ich untersucht, wie meine Zeitzeuginnen und Zeitzeugen bei ihren Sprachtests und in ihren Interviewgesprächen mit mir gesprochen haben. Dieser zweite Band meiner regionalen Sprachgeschichte legt nun den Fokus darauf, was meine Gesprächspartner über ihre Sprachbiographien, ihre Spracherfahrungen und über die Lebensumstände an ihren Wohn- und Arbeitsorten in Mecklenburg erzählt haben. Zentrale Grundlage meiner Untersuchung ist also auch hier wieder das Korpus von insgesamt 90, oft mehrstündigen Interviews, die mir meine Gewährspersonen freundlicherweise gewährt haben. An diese Gespräche habe ich auch während der Arbeit an diesem Band immer wieder mit Freude und großer Dankbarkeit zurückgedacht. Der sprachhistorische Wert dieses reichen Schatzes an mitgeteilten Erinnerungen und Erzählungen ist unterdessen noch größer geworden, weil eine ganze Reihe meiner Gewährspersonen, mit denen ich in den Jahren zwischen 2010 und 2015 noch sprechen konnte, inzwischen leider verstorben ist. Ihre Stimmen sollen in diesem Buch nachklingen.

Bei der inhaltlichen Auswertung die Zeitzeugeninterviews konnte ich mich auf die intensiven Vorarbeiten einer Gruppe von studentischen Hilfskräften stützen, denen ich bereits im ersten Band meiner mecklenburgischen Sprachgeschichte namentlich gedankt habe. Auf diesem guten Fundament konnte ich die Arbeit an diesem Band dann weiter ausbauen. Das Forschungsvorhaben war auch jetzt wieder am Collegium Carolinum der Universität München angesiedelt, das die Verwaltungsabläufe des Projekts wieder vorbildlich und in bester kollegialer Zusammenarbeit betreut hat. Den regelmäßigen gemeinsamen Forschungsrunden mit den Historikerinnen und Historikern vom Collegium Carolinum habe ich manche wichtige Anregung zu verdanken, wie Zeitgeschichte zu schreiben sei. Ihre produktive Kritik hat mir auch geholfen, den konzeptionellen und methodologischen Zuschnitt meiner in diesem Buch vorgelegten oral language history zu schärfen.

Meine Recherchen zur Sozialgeschichte meiner Untersuchungsorte wurden sehr hilfreich von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der ←13 | 14→verschiedenen Archive unterstützt, die ich hier zu Rate gezogen habe. Ich danke Frau Diana Paschmann (Archiv des Landkreises Rostock, Außenstelle Bad Doberan), Frau Kathrin Haase (Archiv des Landkreises Rostock, Güstrow), Frau Meike Bernowitz (Landeskirchliches Archiv, Schwerin), Herrn Matthias Manke (Landeshauptarchiv Schwerin), Herrn Stephan Bachtejeff-Mentzel (Bundesarchiv, Stasi-Unterlagen-Archiv) und Herrn Georg M. Diederich (Heinrich-Theissing-Institut, Pfarrarchiv St. Anna, Schwerin) für ihre freundlich Begleitung meiner archivalischen Spurensuche und für ihre vielen sachkundigen Hinweise.

Mein ganz besonderer Dank gilt Sophie Weber, die eine erste Textfassung dieses Buches mit scharfem Blick auf die Rechtschreibung und mit sicherem Sprachgefühl durchgesehen und mich zu sehr vielen Korrekturen und Verbesserungen veranlasst hat. Dennoch verbliebene Fehler und sprachliche Ungereimtheiten verantworte natürlich allein ich.

Ich habe auch der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) sehr zu danken, deren finanzielle Förderung es überhaupt erst möglich gemacht hat, das anfänglich von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) unterstützte Forschungsvorhaben fortzuführen und schließlich mit diesem zweiten Ergebnisband abzurunden. Die langjährige Unterstützung durch die DFG und die BKM haben mir den überaus wertvollen Freiraum verschafft, eine regionale Sprachgeschichte des Deutschen auszuarbeiten, die nicht nur alle Ebenen des Sprachwandels umfasst, sondern erstmals auch den Anteil aufweist, den die Immigration der vielen Flüchtlinge und Vertriebenen an dieser Sprachgeschichte seit dem Zweiten Weltkrieg hatte.

Dem Kompetenzzentrum für Niederdeutschdidaktik, Greifswald, und ihrer Leiterin Birte Arendt bin ich sehr verbunden für ihren hilfreichen Beitrag zu den Druckosten dieses Bandes. Zu danken habe ich schließlich auch dem Heimatverband Mecklenburg-Vorpommern e.V., mit dessen freundlicher Unterstützung die Drucklegung dieses umfangreichen Bandes erst finanzierbar war. Dem zuständigen Lektor des Peter Lang Verlages, Herrn Michael Rücker, danke ich für die gute und einvernehmliche Kooperation.

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1 Einleitende Bemerkungen zum Gegenstand, zur Untersuchungsgrundlage und zur Methodik der Sprachgebrauchs- und Sprachbewusstseinsgeschichte

1.1 Die sprachgeschichtlichen Untersuchungsfelder

Die Leserinnen und Leser, die dieses Buch in die Hand nehmen, mögen sich fragen, wieso meine bereits im Jahr 2018 erschienene Geschichte der mecklenburgischen Regionalsprache seit dem Zweiten Weltkrieg hier um einen zweiten, noch umfassenderen Band ergänzt wird. Ohne auf die grundsätzlichen Überlegungen zur Regionalsprachenforschung und zur Vertriebenenimmigration nochmals ausführlich einzugehen, möchte ich im folgenden Abschnitt deshalb kurz erläutern, welches die sprachhistorischen Untersuchungsfelder dieses zweiten Bandes sind. Es soll dabei auch verdeutlicht werden, in welchem thematischen und methodologischen Verhältnis die Untersuchungsgegenstände dieses zweiten Bandes zu den strukturgeschichtlichen Studien des ersten Teils stehen. Hierzu sei mir zunächst ein knapper Rückblick auf einige Befunde aus Band 1 meiner Geschichte der mecklenburgischen Regionalsprache gestattet.

Die merkmalbezogenen Untersuchungen des ersten Teils dieser Sprachgeschichte konnten für die regionalen Varietäten des Deutschen, die in Mecklenburg nach dem Zweiten Weltkrieg gesprochen wurden, zwei übergreifende Tendenzen in der Entwicklung ihrer Sprachstruktur identifizieren: einen umfassenden Trend der strukturellen Advergenz der Dialekte und Umgangssprachen an das Standarddeutsche und eine partiell gegenläufige Entwicklungsdynamik einer strukturellen Divergenz vom hochdeutschen Standard.1 Diese Tendenzen des Sprachsystemwandels zeichnen sich sehr deutlich ab, wenn man den Sprachgebrauch von Gewährspersonen aus der ←15 | 16→Vorkriegsgeneration mit demjenigen von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen vergleicht, die in den 1950er und 1960er Jahren geboren wurden.

Dominant ist hier eine zum Teil sehr starke Dynamik der strukturellen Annäherung an das Standarddeutsche (Standard-Advergenz). Auf allen untersuchten Sprachebenen des Niederdeutschen und der mecklenburgischen Umgangssprache, also des ortsüblichen Regiolekts, nahmen im Sprachgebrauch der alteingesessenen Zeitzeugen die Häufigkeiten standardnaher und standardidentischer Sprachmerkmale von einer Sprechergeneration zur nächsten deutlich zu. Vormals arealtypische Merkmale des Niederdeutschen und des mecklenburgischen Regiolekts kamen dagegen mehr und mehr außer Gebrauch. Dieser Trend zur „Entregionalisierung“2 bestimmte in den Nachkriegsjahrzehnten nicht nur die Entwicklung des Niederdeutschen und des mecklenburgischen Regiolekts, sondern auch den sprachlichen Wandel der deutschen Herkunftsvarietäten, die die vielen 1945/1946 aus Schlesien, den böhmischen Ländern und der Slowakei zugewanderten Vertriebenen nach Mecklenburg mitbrachten.3 Im Sprachverhalten der Vertriebenenfamilien, die seit dem Krieg einen großen Anteil der mecklenburgischen Bevölkerung ausmachen, offenbart sich nämlich ebenfalls eine tiefgreifende Tendenz zur strukturellen Entregionalisierung. Von den Charakteristika ihrer Herkunftsdialekte und -regiolekte sind schon im Sprachgebrauch der damals immigrierten Menschen heute kaum noch Anklänge zu vernehmen; bereits die in Mecklenburg aufgewachsene Nachkriegsgeneration der Vertriebenenfamilien hat die heritage languages ihrer Eltern dann weitgehend vergessen. Schon in der zweiten Generation der Immigrantenfamilien sind die sprachlichen Spuren ihrer Herkunftsregionen also weitestgehend verblasst. Die Mecklenburgerinnen ←16 | 17→und Mecklenburger ihrerseits haben von den regionalen Herkunftsvarietäten ihrer neuen Arbeitskollegen und Ehepartner so gut wie nichts in ihren Sprachgebrauch übernommen.

Neben dem dominanten Trend einer mehr oder weniger durchgreifenden Abkehr von Regionalismen und einer strukturellen Annäherung an das überregionale Standarddeutsche offenbaren die Sprachdaten der beiden untersuchten Generationen aber in eingeschränktem Maße auch eine gegenläufige Entwicklungslinie (Standard-Divergenz). So greifen die jüngeren Alteingesessenen im niederdeutschen Übersetzungstest punktuell wieder häufiger auf einzelne Sprachmerkmale des Niederdeutschen zurück, von denen die Generation ihrer Eltern bereits weitgehend abgerückt war. Indem sie beispielsweise im Niederdeutschen etwas häufiger ‚über den s-pitzen S-tein s-tolpern‘ als die Vorkriegsgeneration, unterstreichen sie den lautlichen Abstand des mecklenburgischen Dialekts von der Standardsprache. Diese Revitalisierung veraltender Merkmale des Niederdeutschen erstreckt sich bei den jüngeren Alteingesessenen freilich nur auf ganz vereinzelte phonetische Varianten und einzelne standardferne Lexeme wie schnacken (‚reden‘), die offenbar als typische Kennzeichen des Niederdeutschen wahrgenommen werden.

In viel umfassenderem Ausmaß kennzeichnet dieser Entwicklungstrend der Standarddivergenz aber den Sprachgebrauch in den Vertriebenenfamilien. Im Niederdeutschen, das viele ihrer Angehörigen in Mecklenburg lernten, greifen sie zum Teil häufiger als Alteingesessene auf im Abbau befindliche altdialektale Sprachmerkmale des Niederdeutschen zurück. Ihr Lerner-Niederdeutsch fällt damit tendenziell archaischer und strukturell etwas standardferner aus als das der alteingesessenen Niederdeutschsprecher. Aber vor allem im regiolektalen Sprachgebrauch übernehmen die Angehörigen der Vertriebenenfamilien auf allen sprachlichen Ebenen Merkmale der regionalen Umgangssprache der älteren Mecklenburgerinnen und Mecklenburger. Während die Alteingesessenen ihren Regiolekt in der Generationsfolge deutlich dem überregionalen Standard annähern, zeigt der Sprachgebrauch der Vertriebenenfamilien dagegen also eine intergenerationell markant zunehmende strukturelle Regionalisierung, die sich auf mecklenburgische Zielvarietäten ausrichtet. Schon die Vertriebenen, die als Schulkinder, Jugendliche und junge Erwachsene zuwanderten, haben sich in ihrer Umgangssprache quantitativ gut nachweisbar an ←17 | 18→den mecklenburgischen Regiolekt der älteren Alteingesessenen angepasst und dabei zum Teil auch einzelne mecklenburgische Regiolektmerkmale hyperfrequent in den eigenen Sprachgebrauch übernommen. Die Nachkriegsgeneration dieser Vertriebenenfamilien, die bereits in Mecklenburg aufwuchs, spricht dann im Durchschnitt sogar ‚mecklenburgischer‘ als ihre Altersgenossen aus alteingesessenen Familien.

Die Zuwanderer der Jahre 1945/1946 und ihre Nachkommen haben sich sprachlich also bemerkenswert weitgehend an ihr neues nordostdeutsches Lebensumfeld angepasst: Die Angehörigen der Vertriebenenfamilien haben ihre Herkunftsvarietäten ungewöhnlich schnell und nahezu restlos abgelegt. Und sie haben in ihrem erworbenen Niederdeutsch und vor allem in ihrer Umgangssprache deutlich nachweisbar regional mecklenburgische Sprachstrukturen übernommen und zum Teil hyperfrequent reproduziert. Diese sprachliche Adaption der Vertriebenen an die mecklenburgische Aufnahmegesellschaft traf unter den Alteingesessenen auf kein annähernd vergleichbares sprachliches Entgegenkommen. Die engen Varietätenkontakte, die die Zuwanderung der Vertriebenen nach dem Krieg mit sich brachte, führten offensichtlich zu gänzlich einseitigen strukturellen Anpassungsprozessen. Während die Immigranten sich im Sprachgebrauch an den regionalen Varietäten der älteren Alteingesessenen orientierten, richtete sich die sprachliche Entwicklungsdynamik in den alteingesessenen Familien nahezu ausschließlich auf den hochdeutschen Standard aus.

Die beschriebenen strukturellen Entwicklungstendenzen in den regionalen Varietäten, die in meinem Untersuchungsgebiet nach 1945/1946 gesprochen wurden, deuten auf umfassende Verschiebungen bzw. Neupositionierungen der Kontaktvarietäten im Gefüge der mecklenburgischen Regionalsprache hin.4 Diese Verschiebungen sind nicht anders als durch das mehr oder weniger übereinstimmende Sprachverhalten der ←18 | 19→Angehörigen der verschiedenen Bevölkerungsgruppen und Alterskohorten zu erklären, die in den mecklenburgischen Kommunikationsräumen seit 1945 zusammenleben. Die Entscheidungen der Sprecherinnen und Sprecher für oder gegen einen bestimmten Sprachgebrauch richteten sich, sei es bewusst oder unbewusst, wohl nicht nur am relativen Prestige der konkurrierenden Kontaktvarietäten aus, sondern sie dürften sich auch an den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen orientiert haben, unter denen die Kommunikation im Mecklenburg der Nachkriegsjahrzehnte stattfand. Eine komplexitätsadäquate Sprachgeschichte kann sich also nicht damit begnügen, Entwicklungen nur im Bereich der Sprachstruktur genau zu registrieren, sondern sie muss die strukturellen Befunde sprachhistorisch kontextualisieren, indem sie das konkrete Sprachverhalten und die Sprachpräferenzen der Sprecherinnen und Sprecher in die Rekonstruktion der Diachronie einbezieht und auch ihre sprachliche Adaption an das gesellschaftliche Umfeld mit bedenkt. Nur eine mehrdimensionale Sprachhistoriographie kann der Vielschichtigkeit des Sprachwandels methodisch gerecht werden und damit auch Erklärungsansätze für die Dynamik und den Verlauf des Strukturwandels bieten.

Klaus J. Mattheier hat in der Mitte der 1990er Jahre ein kompaktes Programm einer mehrdimensionalen Sprachgeschichte des Deutschen skizziert, das den überkommenen zentralen Forschungsfokus auf die Strukturgeschichte des (Standard-)Deutschen um soziolinguistische, kontaktlinguistische und perzeptionslinguistische Forschungsperspektiven erweitert. Das „Gesamtfeld der Gegenstände“ einer komplexitätsadäquaten Sprachgeschichte des Deutschen hat demnach idealerweise die Dimensionen der „Sprachsystemgeschichte“, der „Sprachkontaktgeschichte“, der „Sprachgebrauchsgeschichte“ und der „Sprachbewußtseinsgeschichte“ zu umfassen. Zudem hat es die „Geschichte der sozialen Beziehungen und Prozesse“ einzubeziehen, die die historisch veränderlichen Modalitäten der Kommunikation prägen.5 Wie in der Einleitung zum ersten Band dargestellt, orientiere ich mich in meiner Sprachgeschichte an den methodischen Leitlinien dieses historiographischen Programmentwurfs. So galt der ←19 | 20→erste Teil meiner mecklenburgischen Sprachgeschichte der Rekonstruktion der „Sprachsystemgeschichte“ und beschränkte sich dabei, wie auch von Mattheier gefordert, nicht auf die Strukturgeschichte einer einzelnen Varietät, sondern beleuchtete wenigstens die wichtigsten im „raumzeitlichen Zusammenhang faßbaren Varietäten“ und ihre „Wechselbeziehungen zueinander“ im Gefüge der mecklenburgischen Regionalsprache.6

Ein zentrales Beobachtungsfeld des ersten wie des zweiten Bandes dieser Sprachgeschichte ist die „Sprachkontaktgeschichte“. In Adaption von Mattheiers Begrifflichkeit für die Regionalsprachenforschung werden hier die Sprachkontakte zwischen den mittel- und oberdeutschen Herkunftsvarietäten der Vertriebenen einerseits und dem niederdeutschen Dialekt und dem mecklenburgischen Regiolekt andererseits betrachtet, deren Sprecher nach 1945 in Mecklenburg aufeinandertrafen. Durch die großen Raumverschiebungen von Flucht und Vertreibung gerieten hier Varietäten des Deutschen in engsten Kommunikationskontakt, die einander strukturell teilweise so fern standen, dass die Zeitzeugen sie oft als Fremdsprachen wahrnahmen (vgl. 2.3.1) und in der Alltagskommunikation mit wechselseitigen Verständnisschwierigkeiten zu kämpfen hatten. Die Kontakte zwischen diesen teilweise so fremden Varietäten prägten fortan die Entwicklungsdynamik unter dem Dach der Standardsprache, und sie gehören damit unerlässlich zum Gegenstand jeder Regionalsprachenforschung, die die norddeutschen Sprachverhältnisse in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts realitätsnahe nachzeichnen will. In diesem Sinne bildet die Sprachkontaktgeschichte eine Zentralperspektive nicht nur des ersten, sondern auch des vorliegenden zweiten Bandes dieser Geschichte der mecklenburgischen Regionalsprache.

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Im zweiten Teil der mecklenburgischen Sprachgeschichte werden die Befunde der Sprachsystemgeschichte der regionalen Kontaktvarietäten aus dem ersten Band nun um Untersuchungen zu ihrer Sprachgebrauchsgeschichte und ihrer Sprachbewusstseinsgeschichte erweitert, sozialgeschichtlich kontextualisiert und schließlich im Gesamtzusammenhang interpretiert. Am Beispiel der fünf ausgewählten Untersuchungsorte unterschiedlicher Größe sollen die komplexen Varietätenkonstellationen rekonstruiert werden, die sich durch den massiven Immigrationsschub von 1945/1946 ergeben haben. Diese Varietätenkonstellationen werden in ihren funktionalen Umschichtungen und perzeptiven Umwertungen über die Nachkriegsjahrzehnte bis in die Gegenwart nachgezeichnet. Dabei soll stets mit reflektiert werden, inwiefern der unterschiedliche Urbanitätsgrad der Erhebungsorte (Großstadt, Kleinstadt, Dörfer)7 die Dynamik der sprachhistorischen Prozesse beeinflusst haben könnte.

Unter dem Aspekt der „Sprachgebrauchsgeschichte“ soll im Sinne einer historischen Soziolinguistik und Pragmatik das Sprachverhalten der Probanden aus alteingesessenen und Vertriebenenfamilien im familiären Umfeld, an sozialen Orten ihrer Umgebung und in verschiedenen situativen Domänen differenziert und zeitlich gestaffelt beschrieben werden. Beleuchtet werden dabei insbesondere Veränderungen in den Spracherwerbsmustern und in der Rolle bestimmter Sprachvermittler (Eltern, Großeltern, Bildungsinstitutionen usw.). Wie sich zeigen wird, gehen die veränderten Spracherwerbsmodi einher mit einschneidenden Verschiebungen in den Varietätenkompetenzen in den verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Wie von der Forschungsliteratur zum Niederdeutschen schon seit langem festgestellt, nehmen Dialektkenntnisse von einer Generation zur ←21 | 22→nächsten in Kompetenzgraden und Verbreitung stark ab,8 noch schneller geraten die Herkunftsdialekte der Vertriebenen in Vergessenheit.9 Wie ich im Folgenden zeigen werde, weiten sich auf der anderen Seite die Sprachkompetenzen in den hochdeutschen Sprachlagen des Regiolekts und der Standardsprache in Norddeutschland noch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts fortlaufend aus. Im Rahmen einer Sprachgebrauchsgeschichte wird demnach überdies zu fragen sein, ob und inwiefern die tiefgreifenden Verschiebungen im hierarchischen Varietätengefüge der mecklenburgischen Regionalsprache auch mit einem Funktionswandel der konkurrierenden Kontaktvarietäten korrelieren.

Schließlich sind im Bereich der von Mattheier so genannten „Sprachbewußtseinsgeschichte“ Entwicklungen und gruppenspezifische Differenzen im Alltagswissen der Gewährspersonen über die Varietäten ihres Sprachumfelds zu beobachten und es ist herauszuarbeiten, mit welchen Einstellungen sie sich ihnen gegenüber positionieren. Hier werde ich untersuchen, welche stereotypen Attribute und Bewertungen den verschiedenen Kontaktvarietäten und deren Sprecherinnen und Sprechern zugeschrieben werden und ob sich verschiedene Probandengruppen innerhalb meiner Stichprobe in ihren Sprachwahrnehmungen unterscheiden. Die Frage wird dabei sein, ob sich in den metasprachlichen Äußerungen der Gewährspersonen gruppenspezifische Relevanzsysteme und Deutungsmuster abzeichnen, die auf die Verbreitung und den Wandel bestimmter Sprachideologien in der Bevölkerung meines Untersuchungsgebietes hindeuten. Die Sprachbewusstseinsgeschichte ist nicht zuletzt deshalb in die Sprachhistoriographie einzubeziehen, weil stereotype Sprachwahrnehmungen und verbreitete Laientheorien häufig zu Präferenzen im Varietätengebrauch führen. Schon Mattheier begründete die unerlässliche Berücksichtigung von Studien zum Spracheinstellungswandel in der Historiographie des Deutschen damit, dass perzeptionslinguistischen Prozessen eine „große Bedeutung […] für die Steuerung von Sprach- und Sprachgebrauchswandel zukommt“ (Mattheier 1995: 16).

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Der Untersuchung der Sprachgebrauchs- und der Sprachbewusstseinsgeschichte wird außerdem eine Darstellung der sozialgeschichtlichen Rahmenbedingungen vorangestellt, unter denen die Varietätenkontakte in der alltäglichen Kommunikation zustande kamen und sich entwickelten. Sie bilden zugleich die „macro-situation“ bzw. den „Makrokontext“10 des Spracheinstellungswandels, in dem sich die subjektiven Sprachwahrnehmungen der Gewährspersonen ausprägten. Die sozialen Ungleichheiten zwischen Alteingesessenen und Immigranten, die Wahrnehmung und Aushandlung der Gruppengrenzen zwischen ihnen und die Dichte ihrer Kommunikationskontakte sind als wichtige Faktoren anzusehen, die den Sprachwandel bestimmt haben dürften. Bei der Rekonstruktion der sozialen Dynamik zwischen den Bevölkerungsgruppen wird dabei nicht auf das Konzept einer Gruppen-Identität rekurriert, das der Prozesshaftigkeit des Geschehens und der extremen Heterogenität der Nachkriegsgesellschaft wenig angemessen scheint. Ein Schwerpunkt der Analyse liegt vielmehr auf den Selbst- und Fremdpositionierungen der Zeitzeugen „im sozialen Raum“ (Lucius-Hoene / Deppermann 2004: 168) der örtlichen Gesellschaften und auf den variablen Markierungen von Zugehörigkeiten in der lokalen Bevölkerung.11

1.2. Die Quellengrundlage und ihre Auswertung

Auf welche Quellen kann sich eine Geschichte von Sprachgebrauch und Sprachbewusstsein innerhalb der mecklenburgischen Regionalsprache stützen? Wertvolle Einsichten in den seinerzeit laufenden Sprachgebrauchs- und Spracheinstellungswandel bieten einige Publikationen der DDR-Linguistik der 1970er und frühen 1980er Jahre. Unter politischem Druck hatte sich die akademische Dialektologie für soziolinguistische und perzeptionslinguistische Forschungsfragen geöffnet und erste empirische Untersuchungen zu regionalen Varietätenschichtungen und ihrer ←23 | 24→Wahrnehmung vorgelegt, die durchaus als frühe Vorläufer der modernen Regionalsprachenforschung gelten können.12 Leider ist diese empirieorientierte Entwicklungslinie der DDR-Sprachwissenschaft bald wieder versiegt und die Zahl der Publikationen zu den „Nordbezirken“ der DDR ist sehr überschaubar und auf die Sprachverhältnisse der späten 1960er bis frühen 1980er Jahre begrenzt geblieben.13

Breiter angelegte Studien zum Varietätengebrauch und zu den Spracheinstellungen, die unter anderem auch Untersuchungsorte in Mecklenburg-Vorpommern betrachten, legten dann erst wieder Huesmann (1998) und Scharioth (2015) vor. Im Unterschied zu diesen rein synchron perspektivierten Publikationen bezieht Arendt (2010) auch die diachronen Entwicklungen des Sprachwahrnehmungswandels in ihre perzeptionslinguistische Untersuchung ein, fokussiert aber allein die „Niederdeutschdiskurse“ (Titel) in Vorpommern. Auch die jüngeren repräsentativen Sprachstandserhebungen des Instituts für niederdeutsche Sprache (Bremen) und des Instituts für deutsche Sprache (Mannheim) werfen einige erhellende Schlaglichter auf Gebrauch und Wahrnehmung des Niederdeutschen unter anderem in Mecklenburg-Vorpommern.14 Dort bleibt es aber ausschließlich bei punktuellen quantitativen Befunden zum gegenwärtigen Sprachstand des Dialekts. Dagegen haben die großen regionalsprachlichen Forschungsprojekte der Gegenwart wie „Sprachvariation in Norddeutschland (SiN)“ und „Regionalsprache.de (REDE)“ zwar das gesamte Spektrum der Nonstandardvarietäten im Blick, legen aber, soweit sie den Sprachraum Mecklenburg-Vorpommern einbeziehen, in ihren Ergebnispublikationen den Schwerpunkt bislang vorwiegend auf synchrone Varietätenverhältnisse und strukturlinguistische Befunde.15

←24 | 25→

Die Quellenbasis für eine Sprachgebrauchs- und Sprachbewusstseinsgeschichte der mecklenburgischen Regionalsprache ist also bis heute noch recht dünn, zumal keine einzige der genannten linguistischen Studien systematisch berücksichtigt, dass gerade in dieser Region durch die massive Immigration der Flüchtlinge und Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg „quasi eine zweite Bevölkerung dazu[kam]“ (Weiß 2004: 163), die selbstverständlich das Kommunikationsgeschehen vor Ort fortan maßgeblich mitbestimmte.16 Die sozialgeschichtliche Forschung zur Immigration der Vertriebenen ihrerseits hat – für die BRD ebenso wie für die DDR – sprachlichen Aspekten ihrer Integration kaum mehr als Randbemerkungen gewidmet.17 Selbst dort, wo der Forschungsfokus gezielt auf die „kulturelle Integration“ gelegt wurde (Vierneisel Hrsg. 2006), blieb die sprachliche Dimension der Vertriebenenimmigration bislang weitgehend ausgeblendet.

Überhaupt hat es die Erforschung der gesellschaftlichen Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen in der DDR mit einem gravierenden Quellenproblem zu tun. Nachdem am Ende der 1940er Jahre offiziell die abschließende „Lösung der Umsiedlerfrage“ erklärt wurde, stellte man statistische Erhebungen speziell zu den Flüchtlingen und Vertriebenen im Land ein und das Problem der Vertriebenenintegration fand schließlich „ab Mitte der fünfziger Jahre fast keinen Niederschlag mehr in der schriftlichen Überlieferung des DDR-Herrschaftssystems“18. Studien über den langfristigen ←25 | 26→Verlauf der gesellschaftlichen Akkulturation der Vertriebenen können sich über diesen Zeitraum hinaus deshalb kaum noch auf archivalische Quellen stützen.

Angesichts der dürftigen linguistischen und sozialhistorischen Quellenlage ist letztlich der einzig gangbare methodische Weg, Informationen zum Verlauf der Sprachgebrauchsgeschichte und der Sprachbewusstseinsgeschichte ebenso wie über generationsübergreifende Prozesse der sozialen Akkulturation zu gewinnen, ein erfahrungsgeschichtlicher Untersuchungsansatz. Meine Studie zu den langfristigen Folgen der Vertriebenenimmigration auf die mecklenburgische Regionalsprache stützt sich daher auf die erinnerten Erfahrungen von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen zweier Alterskohorten. Ich hatte das große Glück, in den Jahren 2010 bis 2015 noch mit vielen Zeitzeugen der Vorkriegszeit und der ersten Nachkriegsjahrzehnte sprechen zu können, die inzwischen bereits verstorben sind oder wegen zunehmender Gebrechlichkeit heute kaum noch für ein langes Gespräch zu gewinnen wären. Mit den meisten meiner insgesamt 90 Gewährspersonen habe ich sowohl ein ausführliches narratives Interview zur Biographie als auch ein detailliertes leitfadengestütztes Interview zu ihrer Sprachbiographie geführt.

Analog zur oral history, die historische Quellen durch gezielte Zeitzeugenbefragungen produziert, wo andere Überlieferungen fehlen,19 werden seit einiger Zeit auch in der Sprachwissenschaft sprachbiographische Interviews eingesetzt, um Informationen über Aspekte und Dimensionen der gegenwartsnahen Sprachgeschichte zu erhalten, die von der Forschung aus verschiedenen Gründen nicht beleuchtet wurden oder beleuchtet werden konnten. Nachdem Interviews zu Sprecherbiographien zunächst im ←26 | 27→Zusammenhang der Spracherwerbs- und Mehrsprachigkeitsforschung genutzt wurden, wird in derartigen Interviewerhebungen in letzter Zeit programmatisch auch ein „noch zu installierendes Instrument einer Oral Language History“ (Fix 2010: 10) gesehen:

Zentraler Fokus von narrativen oder leitfadengestützten Interviews zur Sprachbiographie sind einerseits das Sprachverhalten und die Spracheinstellungen von Individuen und andererseits Veränderungen in der Zeit, sowohl in der gelebten und erinnerten Biographie der Probanden als auch in der narrativen Strukturierung der sprachlich rekonstruierten Biographie.21 Im Vordergrund des Forschungsinteresses stehen also zunächst individuelle Verläufe von Spracherwerb, Sprachkontakten, Veränderungen im persönlichen Sprachgebrauch oder der Wahrnehmung und Bewertung von Sprachen und deren Sprechern. Vor allem eine historisch orientierte Auswertung von sprachbiographischen Interviews bleibt aber nicht beim individuellen Einzelfall stehen. Die überindividuelle historiographische Perspektive kann sich auf „wiederkehrende Strukturelemente“ oder wiederkehrende „Figuren“ der sprachbiographischen Narrationen, auf typische sprachliche Erwerbsverläufe, übereinstimmende Richtungen von Sprachwechseln und gruppenspezifische Spracheinstellungen beziehen oder generell überindividuelle Erfahrungen herausarbeiten, die in ähnlicher ←27 | 28→Weise in den Erzählungen und Aussagen mehrerer Individuen thematisiert werden: „Die Singularität des Einzelnen ist über die erlebte soziale Interaktion gekoppelt an überindividuelle Erfahrungen; Erfahrungen, die für eine Generation, für ein Gebiet, für einen bestimmten geschichtlichen Moment überindividuell prägend sind.“ (Francescini 2004: 129). Wegen dieser Verschränkung individueller und überindividueller Erfahrungen rechnet Nekvapil (2004: 168) die sprachbiographische Forschung ausdrücklich „zu den soziolinguistischen Methoden“, und hält sie für besonders geeignet, um unerforschte Aspekte der Sprachsituation ganzer Bevölkerungsgruppen historisch zu rekonstruieren.

Das Erzählen von Probanden über persönlich gemachte Erfahrungen wird von der qualitativen Sozialforschung spätestens seit den programmatischen Überlegungen von Schütze (1976: 25) als methodisches „Instrument für die Ermittlung sozialer Fakten“ genutzt und in Interviews gezielt elizitiert. Derartige Erzählungen entfalten, angetrieben durch die internen Struktur-„Zwänge“ (ebd.) der Narration und durch ihre kommunikative Ausrichtung auf die Zuhörenden, nicht nur detaillierte Informationen zu den raumzeitlichen und sozialen Umständen der erlebten Ereignisse, sie weisen diesen Ereignissen auch Bedeutungen und Bewertungen zu, strukturieren und motivieren ihren Verlauf, positionieren die Erzählenden im Feld anderer Protagonisten und beziehen das vergangene Geschehen auf die gegenwärtigen Verhältnisse und Problemlagen der Erzählzeit. Bei der Auswertung der äußerst komplexen Informationsfülle, die die Erfahrungsberichte einzelner Probanden darbieten, ist der besondere Charakter dieser historischen Quellen zu berücksichtigen. Es handelt sich keinesfalls um einfache ‚Tatsachenprotokolle‘, sondern um subjektive, vom Erzählzeitpunkt aus retrospektiv und in der Interaktion mit den Interviewenden konstruierte Modellierungen von Vergangenheit.22 Die im Interview getätigten Aussagen erscheinen damit zunächst als rein subjektiv und ausschließlich an eine bestimmte Interviewsituation gebunden. Allerdings betont Fix (1995: 34) mit Verweis auf Jan Assmann, dass das individuelle Gedächtnis, aus dem heraus die Vergangenheit konstruiert wird, selbst schon sozial geprägt ist. „Individuen erinnern sich in einem sozialen Bezugsrahmen“, ←28 | 29→und daher ist bei einer Untersuchung ihrer Erinnerungen immer auch „eine soziale Auskunft zu erhalten“ (ebd.: 34, 35).

Der überindividuelle und übersituative Gehalt persönlicher Erfahrungsberichte lässt sich nur über den systematischen Vergleich mit thematisch ähnlichen Erzählungen anderer Gewährspersonen herausarbeiten. Ein möglichst umfangreicher Abgleich der sprachbiographischen Erzählungen vieler verschiedener Gewährspersonen ist nach Franceschini / Miecznikowski (2004: XIII) geradezu die Bedingung ihrer Generalisierbarkeit:

In diesem Sinne wird sich die Rekonstruktion der Sprachgebrauchs- und Sprachwahrnehmungsgeschichte Mecklenburgs in dieser Untersuchung auf die inhaltlichen und sprachlichen Vergleiche der Interviews meiner vielen Probandinnen und Probanden stützen, die sich ihrerseits zahlenstarken Alterskohorten, Herkunftsgruppen und Gruppen von Einwohnern derselben Orte zuordnen lassen.

Über die Triangulation der individuellen Erfahrungsberichte innerhalb meines umfangreichen Interviewkorpus hinaus werde ich die übersubjektive Validität der Zeitzeugenaussagen immer wieder auch dadurch kontrollieren, dass ich die Befunde der qualitativen Inhaltsanalyse durch quantitative Untersuchungsverfahren ergänze. So werden die subjektiven Selbsteinschätzungen meiner Gewährsleute zu ihrer aktiven Kompetenz im Niederdeutschen durch merkmalbasierte Sprachtests trianguliert (vgl. 3.2.1) oder ihre Aussagen zu ihren Kenntnissen der Vertriebenendialekte werden mit einem standardisierten Wortschatztest abgeglichen.24 Im Bereich der Sprachwahrnehmung beispielsweise werde ich nicht nur ←29 | 30→die spontan im Interview geäußerten Assoziationen und Evaluationen zusammenfassend sichten, sondern auch die standardisierten Befragungen zur Spracheinstellung quantitativ auswerten, die ich am Schluss meiner Interviews durchgeführt habe (vgl. 3.4.1). Außerdem ziehe ich archivalische Quellen und Befunde der sozialgeschichtlichen Forschung heran, um die subjektiven Erinnerungen an die Lebensumstände in den Nachkriegsjahrzehnten zu ergänzen und zu validieren. Insgesamt ist meine Studie zur Geschichte der mecklenburgischen Regionalsprache so angelegt, dass sich qualitative Befunde zu subjektiven metasprachlichen Aussagen meiner Gewährspersonen auf die objektsprachlichen Befunde beziehen lassen, die im ersten Band anhand der quantitativen Variablenanalysen ihres Sprachgebrauchs ermittelt wurden. Eine mehrdimensionale Sprachgeschichte ermöglicht eben diese wechselseitige Erhellung und Triangulation qualitativ subjektsprachlicher und quantitativ objektsprachlicher Analysen.

Eine oral language history beruht im Wesentlichen auf den geteilten Erfahrungen und Ansichten der Sprecherinnen und Sprecher, die den Sprachwandel in ihrem persönlichen Umfeld erlebt und mit ihrem eigenen Sprachverhalten selbst vollzogen haben. Anders als in strukturlinguistischen Sprachgeschichten kommen hier also die Protagonisten des Sprachwandels selbst zu Wort, die aus der Perspektive ‚von unten‘ über Veränderungen in ihrem kommunikativen und sozialen Alltag berichten und reflektieren. Um den Aussagen meiner Gewährspersonen das Gewicht zu geben, das ihnen als maßgebliche Quellen meiner Untersuchung zukommt, werde ich die systematische Inhaltsanalyse der Zeitzeugenberichte mit einer Fülle von Zitaten aus den Interviews untermauern.25 Die dichte Montage von ←30 | 31→Zitaten soll den Originalton und den erzählerischen Duktus der Zeitzeugenberichte in meinem Text anklingen lassen. Vor allem aber möchte ich anhand der vielstimmigen Zitatsynopsen nicht nur die überindividuellen Übereinstimmungen im Laiendiskurs dokumentieren, sondern auch die Variationsbreite der Aussagen in meiner Darstellung abbilden.

Die Transkription der Zitate aus den Zeitzeugeninterviews ist dabei einerseits einer problemlosen Lesbarkeit verpflichtet. Da die die Analyse vorrangig den mitgeteilten Inhalten gilt, werden die hochdeutschbasierten Äußerungen der Zeitzeugen grundsätzlich standardorthographisch, die dialektalen Äußerungen literarisch verschriftlicht. Andererseits soll aber jederzeit der spontansprachlich-mündliche Charakter dieser Äußerungen und die Formulierungsarbeit der Gewährspersonen im Transkript reproduziert werden. Es wird daher auf satzinterne Zeichensetzung verzichtet, Reformulierungen und Wiederholungen werden originalgetreu wiedergegeben, Konstruktionsbrüche auf Wort- oder Äußerungsebene mit drei Punkten markiert.26

Das Interviewkorpus, auf das ich meine Untersuchung zum Sprachgebrauch und zu den Spracheinstellungen stütze, umfasst 90 meist mehrstündige Gespräche, an denen zum Teil einzelne Freunde oder Verwandte der jeweiligen Gewährsperson teilgenommen haben, und es erstreckt sich auf insgesamt über 200 Stunden Aufnahmezeit.27 Damit ist mein Untersuchungskorpus so umfangreich, dass sich darin Aussagen oder ←31 | 32→Erzählinhalte, die von mehreren Gewährspersonen in ähnlicher Weise geäußert werden, und gruppenspezifische Laiendiskurse in dichter Sättigung abbilden. Zeitlich umspannt es die spezifischen Erfahrungshorizonte zweier Generationen – der 1939 und früher geborenen Vorkriegsgeneration und der in den 1950er und 1960er Jahren geborenen Nachkriegsgeneration. Der Zeitraum, über den meine Gewährspersonen aus eigener Erfahrung berichten können, reicht damit von den 1920er Jahren bis in die Gegenwart der Aufnahmen in den Jahren zwischen 2010 und 2015. Und er umgreift also neun Jahrzehnte, die nicht nur von großen gesellschaftspolitischen Umbrüchen gekennzeichnet waren, sondern in denen sich auch tiefgreifende Verschiebungen im Gefüge der mecklenburgischen Regionalsprache vollzogen.

In meiner Stichprobe sind Angehörige alteingesessener Familien und von Familien zugewanderter Vertriebener zu etwa gleichen Anteilen vertreten. Anders als die meisten migrationslinguistischen Untersuchungen, die sich vorwiegend auf den Sprachwandel in der Biographie oder der Generationsfolge von Immigranten konzentrieren,28 kann ich auf der Grundlage meiner Interviews das Sprachkontaktgeschehen, das durch die Immigration ausgelöst wurde, also aus dem Blickwinkel nicht nur der Zuwanderer, sondern im Sinne einer shared history auch aus der Perspektive der Aufnahmegesellschaft nachzeichnen. Ich habe die Datenerhebung gezielt in Ortschaften unterschiedlicher Größe und Urbanität durchgeführt, um bei der Durchsicht der Interviews auch überprüfen zu können, inwieweit sich in den Berichten der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen auch die Stadt-Land-Gegensätze ihrer Lebensumfelder niederschlagen.29

So groß und intern differenziert die Stichprobe meiner Untersuchung auch ist, kann sie doch keinesfalls beanspruchen, repräsentativ für die gegenwärtige Sprechergemeinschaft der Region zu sein. So habe ich ←32 | 33→einerseits keine Gewährspersonen interviewt, die nach 1970 geboren wurden und kann daher auf der Basis meines Korpus über die Spracherfahrungen und Lebensumstände jüngerer Alterskohorten allenfalls Aussagen treffen, die mir aus der vermittelten Sicht von Eltern und Großeltern nahegebracht wurden. Andererseits ist die älteste Generation der Bevölkerung in der Stichprobe überrepräsentiert: Da es mir ein besonderes Anliegen war, möglichst viel vom Erfahrungsschatz der Vorkriegsgeneration zu bergen, solange diese noch befragt werden konnte, umfasst meine Sample fast doppelt so viele Gewährspersonen der Vorkriegsgeneration wie der Nachkriegsgeneration.30

Diese Altersstruktur der Stichprobe bedingt freilich gewisse Gewichtungen in den Zeitzeugenberichten. Besonders dicht und vielstimmig bilden sich im Interviewkorpus Erfahrungen und Ereignisse des Kriegsendes und der ersten Nachkriegsjahrzehnte bis hin zu den Kindheiten und Sprachsozialisationen in den 1980er Jahren ab. Die politische und ökonomische Wende des Jahres 1989 brachte für die Angehörigen der Vorkriegsgeneration dagegen meist keine gravierenden Einschnitte in Biographie und Berufsleben mehr mit sich. Die Erinnerungen und Bewertungen dieses Systemwechsels bleiben in meinem Interviewkorpus daher merklich disparater und blasser als die Erinnerungen an die Nachkriegsjahrzehnte. Die kommunikationsgeschichtliche Relevanz der deutschen Wiedervereinigung zeichnet sich in meinen Zeitzeugengesprächen daher vermutlich weniger klar ab, als wenn verstärkt auch jüngere Gewährspersonen in die Untersuchung einbezogen worden wären.

Mit der Altersstruktur meiner Stichprobe hängt sicher auch zusammen, dass die Zeitzeugen von sich aus immer wieder und ausführlich auf ihre Erfahrungen mit dem Niederdeutschen zu sprechen kamen, obwohl mein Rundschreiben in der Phase der Kontaktanbahnung und auch der Leitfaden zum sprachbiographischen Interview eine solche Schwerpunktsetzung ←33 | 34→keinesfalls vorgegeben haben. Vor allem in der Vorkriegsgeneration, aber häufig auch in der Nachkriegsgeneration sind Niederdeutschkenntnisse noch weit verbreitet. Für die immigrierten Vertriebenen markierte der mecklenburgische Dialekt mit besonderer Kontrastwirkung ihre Fremdheit in ihrem neuen Sprachumfeld. Sowohl Alteingesessene als auch Vertriebene schildern in ihren Zeitzeugenberichten die Entwicklung des Niederdeutschen daher mit großer Detailliertheit und oft hoher emotionaler Beteiligung. Auf der Grundlage dieses äußerst dichten Erzählungsgeflechts kann ich die diachronen Veränderungen in Gebrauch und Wahrnehmung des Niederdeutschen mit besonderer Differenziertheit nachzeichnen. Und ich habe die unwiederbringliche Gelegenheit genutzt, in diesem Buch die Spracherfahrungen der mehr oder weniger letzten Sprecherinnen und Sprecher des Niederdeutschen, die die Varietät noch ungesteuert in ihrem kommunikativen Umfeld erworben haben, möglichst umfassend zu dokumentieren. Das Kapitel 3 zum Niederdeutschen hat damit einen weitaus größeren Umfang als die Kapitel zu den Herkunftsvarietäten und zum „Hochdeutschen“ (Kapitel 4 und 5). Hier spiegelt die Kapitelstruktur auf anschauliche Weise die Dominanzen in den Relevanzsystemen meiner Zeitzeuginnen und Zeitzeugen wider. Für Zeitzeugen, die nach 1970 geboren wurden, dürfte das Niederdeutsche im alltäglichen Sprachumfeld wohl kaum noch eine so große Rolle spielen wie für meine älteren Gewährspersonen, und es ist kaum wahrscheinlich, dass sie den inzwischen weitgehend abgeschlossenen Dialektabbau noch als einen schmerzlichen persönlichen Verlust wahrnehmen.

Hinsichtlich der wechselseitigen Akkulturation der Alteingesessenen und der immigrierten Vertriebenen ist zu bedenken, dass ich mit meiner Stichprobe natürlich nur die ‚Dagebliebenen‘ erfassen kann. Bis zum Mauerbau im Jahr 1961 verließen sehr viele DDR-Bürger auch aus meiner Untersuchungsregion das Land und siedelten in die Bundesrepublik um (vgl. 2.1.1). Unter den so diffamierten „Republikflüchtigen“ war der Anteil der Vertriebenen „gemessen an ihrem Anteil der Gesamtbevölkerung […] deutlich überrepräsentiert“ (König 2014: 390). Meine Stichprobe umfasst dagegen nur solche Personen, die sich mit den Lebensverhältnissen in der DDR und später im Nachwende-Mecklenburg arrangiert haben, und unter denen auch die Bereitschaft für eine sprachliche Anpassung an ihr Umfeld deutlich stärker ausgeprägt gewesen sein dürfte als bei den Auswanderern. ←34 | 35→Die ‚Dagebliebenen‘ sind freilich gerade die Bevölkerungsteile, die den Sprachwandel in Mecklenburg erlebt und vollzogen haben.

Für die inhaltsanalytische Auswertung meiner Interviews habe ich die entsprechenden Transkripte in methodischer Anlehnung an Hopf / Schmidt (Hrsg. 1993) und Schmidt (2010) thematisch codiert. Diese Codierung wurde mit digitaler Unterstützung der Analysesoftware MAXQDA durchgeführt, die mit ihren Codierungs-, Filter- und Ausgabefunktionen nicht nur eine komfortable Aufbereitung meiner großen Datenmengen ermöglichte, sondern auch als übersichtlicher Korpusmanager für die vielen mit den Audiodateien verlinkten Transkriptionsdateien meines Projekts diente.31 Grundzüge eines Codesystems für die Inhaltsanalyse wurden in zwei Seminaren zur sprachwissenschaftlichen Empirie mit den Studierenden an den ersten transkribierten Interviews konzipiert. Gemeinsam mit den studentischen Hilfskräften der ersten Projektphase haben wir diese Ansätze dann in Erprobung an dem ständig wachsenden Transkriptionskorpus in einem intensiven Revisionsprozess systematisch ausdifferenziert.32

Das endgültige Codesystem erfasst in fein gestaffelter Codierung Sprachkompetenzen und Spracheinstellungen der jeweiligen Gewährsperson, den Varietätengebrauch in ihrer Familie und an ihrem Wohnort. Ebenso wurden die Zeitzeugenaussagen zu ihren Lebensumständen und zur Sozialgeschichte ihrer Region codiert und dabei insbesondere Fragen der materiellen Situation der Familien und Berichte zum Verhältnis der Bevölkerungsgruppen erfasst. Das Codesystem wurde im Laufe der Auswertung immer wieder neu aufkommenden Gesichtspunkten der Inhaltsanalyse angepasst. Es bezog sich somit keineswegs nur auf die theoretischen Vorannahmen, die mit dem Leitfaden der sprachbiographischen Interviews und den standardisierten Nachfragen zu den narrativen biographischen ←35 | 36→Interviews überprüft wurden, sondern es konnte auch induktiv auf die subjektiven Relevanzsysteme der Probandinnen und Probanden ausgerichtet werden. Das MAXQDA-Programm ermöglicht eine derart flexible Anpassung des Codesystems an die Entwicklung des Forschungsfokus während eines langfristigen Forschungsvorhabens.

Details

Seiten
688
Jahr
2022
ISBN (PDF)
9783631893043
ISBN (ePUB)
9783631893050
ISBN (MOBI)
9783631893067
ISBN (Hardcover)
9783631877418
DOI
10.3726/b20368
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2023 (Januar)
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 688 S., 8 S/W-Abb., 7 Tab.

Biographische Angaben

Klaas-Hinrich Ehlers (Autor:in)

Klaas-Hinrich Ehlers ist Privatdozent für germanistische Sprachwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die Geschichte der Sprachwissenschaft, die Geschichte höflicher Routinen und die norddeutsche Regionalsprachenforschung. Seine zweibändige Geschichte der mecklenburgischen Regionalsprache ist aus mehreren Folgeprojekten hervorgegangen, die am Collegium Carolinum der Universität München angesiedelt waren. Für seine Forschungen zum Niederdeutschen sind ihm 2018 der Johannes-Saß-Preis der Bad Bevensen Tagung und 2022 der Fritz-Reuter-Preis der Carl Toepfer-Stiftung verliehen worden.

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Titel: Geschichte der mecklenburgischen Regionalsprache seit dem Zweiten Weltkrieg
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