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Narrative der Flucht

Medienwissenschaftliche und didaktische Perspektiven

von Caroline Frank (Band-Herausgeber:in) Christine Ansari (Band-Herausgeber:in)
©2022 Sammelband 498 Seiten

Zusammenfassung

Der Band gliedert sich in die Rubriken Flucht und Theater, Flucht und Romane/Erzählungen, Flucht und Spiel-/Dokumentarfilm sowie Flucht und Comic/Graphic Novel. Er führt Forschungsbeiträge zusammen, die an der Schnittstelle zwischen Literatur-/Medienwissenschaft und Literatur-/Mediendidaktik zu verorten sind. Der Fokus der Beiträge liegt auf der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit aktuellen Narrativen zum Thema Flucht und Vertreibung, die in den letzten circa 20 Jahren erschienen sind und sich im Besonderen mit Fluchtbewegungen in europäische Länder befassen. Es werden aber auch diachrone Perspektiven eröffnet, um Fluchtbewegungen der Gegenwart in einen weiteren historischen Rahmen einordnen zu können. Während einige Beiträge explizite Vorschläge zur Anwendung im (Schul-)Unterricht machen, liefern andere durch ihre wissenschaftlichen Zugangsweisen implizite Anregungen für eine Didaktisierung.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • I Einleitung(en)
  • Narrative der Flucht aus medienwissenschaftlicher und didaktischer Perspektive (Caroline Frank und Christine Ansari)
  • Globale Fluchtbewegung und europäische Ignoranz: „es ist kein Zeitungsartikel, kein Diskurs, / kein surrealer Film“ (Corinna Schlicht)
  • II Flucht und Theater
  • Maxim Billers Kühltransport (2001): Ein Versuch, Flucht und das Sterben auf dem Theater in Szene zu setzen (Johannes Birgfeld)
  • Dramaturgie der Überforderung – Flucht und Asyl in Hans-Werner Kroesingers Dokumentartheater am Beispiel von FRONTex SECURITY (2013) (Johann Emilian Horras)
  • Theatrale Grenzräume. Topologien der Flucht in Stücken von Margareth Obexer und Elfriede Jelinek (Felix Lempp)
  • III Flucht und Romane / Erzählungen
  • Flucht und Fiktionskompetenz. Zur Deutung von fiktiven Wahrheitsbehauptungen (Antje Arnold)
  • Fluchterfahrungen im Literaturunterricht der Primarstufe (Sebastian Bernhardt)
  • Flucht aufs Land? Flucht aus dem Land? – Narrative der Flucht bei Christa Wolf (Katharina Brechensbauer)
  • Involviertheit und Textwahrnehmung im Wechselverhältnis: Anregungen für ein Unterrichtskonzept zu Jannes Tellers Krieg (2011) und Mernousch Zaeri-Esfahanis Das Mondmädchen (2016) (Caroline Frank)
  • Flucht und plurale Identitätsbildung. Literarisches Lernen mit Im Jahr des Affen (2016) von Que Du Luu (René Kegelmann)
  • Einfach so verschwunden. Narrative der Verfolgung in Frank Cottrell Boyce’ Der unvergessene Mantel (2016). Eine Didaktisierung unter literatur-semiotischen Gesichtspunkten (Martina Kofer)
  • Bootsfluchten und Fluchträume: Eine Analyse spatialer Fluchtnarrative (Beatrice Nickel)
  • IV Flucht und Spiel-/Dokumentarfilm
  • Flüchtlings- und Rückkehrerschicksale in der Filmberichterstattung der Nachkriegs-Wochenschau (1950er-Jahre) (Sigrun Lehnert)
  • Zwischen Assimilationswunsch und Superheldentum: Die Darstellung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge in den französischsprachigen Spielfilmen Welcome (F 2009) und Le Havre (FIN/F/D 2011) (Anna Carina Mensch)
  • „Collected videos filmed by refugees themselves…“. Cellphone-footage als Quelle des Dokumentarfilms am Beispiel von Elke Sasses #MyEscape (D 2016) (Alfonso Meoli)
  • Flucht und Dokumentarfilm (Peter Seibert)
  • V Flucht und Comic / Graphic Novel
  • In der Fremde spricht man nicht stumm. Erzählend-kreatives Schreiben als Zugang zu sprachlichen Fremdheitserfahrungen in Shaun Tans Silent Graphic Novel The Arrival (2006) (Felix Böhm)
  • Repräsentation des Themenkomplexes Flucht und Migration im Superheldencomic am Beispiel von Ms. Marvel (2014) (Janwillem Dubil)
  • Fluchtnarrative in zeitgenössischen Graphic Novels – aus didaktischer Perspektive (Heidi Rösch)
  • Beiträger:innen
  • Reihenübersicht

Caroline Frank und Christine Ansari

Narrative der Flucht aus medienwissenschaftlicher und didaktischer Perspektive

Abstract: The introductory article emphasises the relevance of dealing with narratives of flight in the (German) classroom with recourse to current as well as past refugee movements. Dealing with such narratives contributes to turning schools into places of learning that strongly oppose processes of subtle or direct resentment against refugees and migrants. As institutions of education and agencies of socialisation schools have a key function not only considering the integration of refugee children and adolescents but also with regard to raising awareness for cultural diversity. This results in the necessary task of implementing these current challenges into teaching concepts.

A short research overview as well as selected arguments for a discussion of narratives of flight in the (German) classroom are followed by a presentation of the individual articles and sections.

Keywords: introduction, research overview, sections’ presentation

„Wir schaffen das“ – Angela Merkels 2015 formulierter hoffnungsvoller Ausspruch zur Bewältigung der ,Flüchtlingskrise‘ und ihrer Folgen in Deutschland wird nach wie vor kontrovers diskutiert. Zugleich steigt die Zahl derjenigen, die weltweit zu den Flüchtlingen gerechnet werden können, kontinuierlich an und ist 2020 „mit 26 Millionen höher als jemals zuvor.“1 Deutschland zählt dabei auch 2020 neben der Türkei, Kolumbien, Pakistan und Uganda zu den fünf größten Aufnahmeländern von Flüchtlingen. Wenn man bedenkt, dass die anderen vier Länder im Unterschied zu Deutschland zu den Staaten mit niedrigen oder mittleren Einkommen zählen, die im Besonderen deshalb so viele Flüchtlinge beherbergen, weil sie in geografischer Nähe zu Konfliktregionen liegen, kommt Deutschland als Fluchtziel im globalen Kontext eine besondere Rolle zu.

Zwar ist die Zahl der (Erst-)Asylanträge 2020 in Deutschland im Vergleich zu 2019 um 28 % gesunken2, dieser Effekt ist jedoch zu nicht unwesentlichen ←11 | 12→Teilen, das ist zumindest zu vermuten, auf die Corona-Pandemie und die daraus resultierenden Mobilitätsbeschränkungen und -einschränkungen sowie die verschärften Grenzkontrollen zurückzuführen. Zugleich ist davon auszugehen, dass die Auswirkungen der Pandemie bestehende soziokulturelle und soziopolitische Konflikte und zugleich auch Armutsgefälle weiter verschärfen und die Zahl der Flüchtenden zusätzlich erhöhen werden. Die gesamtgesellschaftlichen Konsequenzen der 2015 ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht habenden Fluchtbewegung nach Europa und nach Deutschland stellt in ihrer vielschichtigen Dimensionalität somit eine bleibende Herausforderung dar.

Dabei ist nicht von der Hand zu weisen, dass der innereuropäische wie auch der speziell in den deutschsprachigen Ländern stattfindende Diskurs über Flucht und Flüchtlinge beeinflusst, wie der/die einzelne über Flüchtlinge und Migrant:innen denkt. Zwar konnte die sozialpsychologische und sozialwissenschaftliche Forschung nachweisen, dass die Akzeptanz „von offen rassistischen Vorurteilen im Zuge von Veränderungen sozialer Normen über die letzten Jahrzehnte deutlich abgenommen hat.“3 Dies wiederum bedeutet jedoch nicht, dass zugleich auch Ressentiments gegenüber bestimmten Bevölkerungs-/Menschengruppen beseitigt wären; es zeigt sich vielmehr, dass Voreingenommenheit auf subtilere Art und Weise auftritt.4 In Bezug auf Flüchtlinge lassen sich bereits auf der Ebene einzelner Wörter Vorurteile der Mehrheitsgesellschaft identifizieren, die jedoch längere Zeit nicht diskutiert wurden und die erst seit einigen Jahren Gegenstand einer kritischen Betrachtung sind. So werden Fluchtbewegungen nach Europa häufig mit Determinativkomposita bezeichnet, in denen „Flüchtling“ oder „Flucht“ als Determinans und ein Nomen aus dem Bereich der Naturkatastrophen oder -phänomene als Determinatum genutzt wird (z.B. ,Flüchtlingswelle‘, ,Flüchtlingsstrom‘, ,Flüchtlingslawine‘). Das damit einhergehende Framing im Sinne eines Assoziations- und Bedeutungsrahmens, der in Verbindung zum jeweiligen Wort steht, beschreibt Jakob Biazza am Beispiel von ,Flüchtlingswelle‘ folgendermaßen:

Welle [ist] etwas, das sich anstaut und auftürmt – und zwar auch noch proportional zur Größe des Hindernisses, das sich ihr in den Weg stellt. Man rechnet bei einer Flüchtlingswelle also mit einer großen bis sehr großen Menschenmasse, die chaotisch, ungeordnet und zudem auch noch wieder und wieder an den Grenzen anbrandet. Zum anderen ist eine Welle eine Naturgewalt und als solche theoretisch geeignet, ←12 | 13→ganze Städte wegzuspülen. Man baut Wellenbrecher, Staudämme und Befestigungen, um Zivilisationen vor ihrer zerstörerischen Wucht zu schützen. Problemdefinition und -lösung sind damit klar gesetzt: Fremde Massen ergießen sich in unsere Gesellschaften und drohen, sie mitzureißen. Wer das aufhalten will, suggeriert das Wort, muss alle Einfallstore schließen und sehr, sehr hohe Schutzwälle bauen.5

Das Kompositum wurde bereits in der Asyldebatte 1993 verbreitet und avancierte ab 2015 zum Hauptsynonym für Migrationsbewegungen, die im Besonderen aufgrund des Bürgerkriegs in Syrien aufkamen. Gerade weil der Begriff ,Flüchtlingswelle‘ inzwischen zum alltäglichen Sprachgebrauch gehört, ist davon auszugehen, dass er von vielen Menschen benutzt wird, die sich der Bedeutung des Kompositums gar nicht (mehr) bewusst sind.6

Gerade Schulen sollten in diesem Zusammenhang als Orte verstanden werden, an denen sich Prozessen subtiler und direkter Ressentiments gegen Flüchtlinge und Migrant:innen nachdrücklich entgegengestellt wird, denn Schule besitzt als Bildungsinstitution und Sozialisationsinstanz eine Schlüsselfunktion nicht nur hinsichtlich der Integration geflüchteter Kinder und Jugendlicher (z.B. im integrativen Sprachunterricht), sondern auch in Bezug auf die Sensibilisierung für kulturelle Vielfalt – wobei sich als notwendige Aufgabe stellt, diese aktuellen Herausforderungen in (ggf. fächerübergreifende) Unterrichtskonzepte zu implementieren.

Schneller als bei früheren einschneidenden historischen Ereignissen leisten Autor:innen, Regisseur:innen und bildende Künstler:innen der Gegenwart zahlreiche literarische, filmische und bildkünstlerische Beiträge zum aktuellen Diskurs über Flucht und Vertreibung. Im Schulunterricht bietet sich deshalb die Option, eine Vielzahl an Medien zu untersuchen. Gleichsam kann und soll dabei aber auch eine diachrone Perspektive eingenommen werden, die den Kindern und Jugendlichen aufzeigt, dass Flucht und Vertreibung gesellschaftshistorisch keine auf die unmittelbare Gegenwart beschränkten Phänomene sind. Die Beschäftigung mit Medien zum Thema Flucht im (Schul-)Unterricht kann Schüler:innen laut Dieter Wrobel somit einerseits für eine der „zentralen Herausforderungen der Gegenwart sensibilisieren“, ←13 | 14→zugleich aber auch eine Erschließung „historisch und geografisch entfernte[r]‌ Zeit-Räume“7 ermöglichen.

Durch eine Besprechung von Narrativen der Flucht und Vertreibung im Unterricht wird Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit eröffnet, Perspektivübernahmen zu vollziehen und die eigene Empathiefähigkeit8 auszubilden. Denn die narrativen Schilderungen von „Fluchtschicksalen und -verläufen lassen abstrakte Phänomene, die meist außerhalb des eigenen Alltags passieren, plastisch und konkret erscheinen.“9 Zugleich können geflüchtete Kinder und Jugendliche über fiktionalisierte Formen von Welt- und Wirklichkeitserfassung, die auf ähnliche Erfahrungswelten referieren, das eigene Erleben wiedererkennen, es reflektieren und sich mit anderen austauschen.

Darüber hinaus lassen sich Narrative der Flucht als Gegenstand des Schulunterrichts auf vielfache Weise begründen, denn sie …

  • verhandeln Grundfragen der menschlichen Existenz, da Flucht und Vertreibung sowie damit in Zusammenhang stehend das Nachdenken über mögliche Konnotationen und Denotationen von Heimat ein anthropologisches Grundthema sind.10
  • können als transkulturelle Narrative dazu beitragen, am Beispiel von fiktiven Weltentwürfen veränderte „Existenzgrundlagen des Menschen in einer Weltmigrationsgesellschaft“11 zu thematisieren und im Sinne der ←14 | 15→interkulturellen Verständigung natürlich zugleich auch ein solidarisches Miteinander und den Aufbau sozialer Verantwortung zu befördern.12
  • regen aufgrund ihres häufig ähnlich strukturierten Plots, dem zumeist eine der Heldenreise ähnliche Quest zugrunde liegt und der sich in funktional ähnliche Stationen – nach Wrobel „Transit-Orte“13 – gliedern lässt, auch Fragen danach an, welche Rollen den äußere wie innere Grenzen überschreitenden flüchtenden Figuren zugeschrieben werden können und inwiefern sich diese Rollenzuschreibungen bzw. -muster im Plotverlauf verändern.14
  • erzählen oft unter Verwendung besonderer narrativer Mittel auf Ebene des discours von der Flucht und damit zugleich auch von deren Folgen für die Figuren. Die Beantwortung von Fragen nach dem Grad an Mittelbarkeit (Distanz und Fokalisierung) sowie nach der Stellung und dem Ort des Erzählens in Kombination mit Fragen nach Erzählhaltung und -verhalten sowie nach der stilistischen und rhetorischen Durchformung ist deshalb zumeist von besonderem Mehrwert für die Analyse der Figurenpsychologien.
  • sind wegen des Themas, von dem sie erzählen, herausfordernde Gegenstände des literarischen – und weiter gefasst: des medialen – Lernens und ←15 | 16→können so das Spektrum der Texte für den (Literatur-)Unterricht produktiv erweitern.15

Diese Liste ließe sich selbstredend noch weiter fortsetzen, wir haben uns jedoch entschieden, im Besonderen die Aspekte herauszustellen, die uns in Bezug auf die Beschäftigung mit Narrativen der Flucht an der Schnittstelle von Medienwissenschaft und Didaktik und zugleich mit Blick auf die Relevanz der Medien für den (Schul-)Unterricht besonders wichtig erscheinen.

Zu den Themen Flucht und Vertreibung in narrativen Medien gibt es natürlich ob der Diachronizität der Phänomene und ihrer gesamtgesellschaftlichen Relevanz, die sich nicht zuletzt darin spiegelt, dass Autor:innen, Regisseur:innen und bildende Künstler:innen Flucht und Vertreibung zum Gegenstand ihrer (fiktionalen wie faktualen) Texte bzw. Kunstwerke machen, Forschungsarbeiten aus den unterschiedlichsten (wissenschaftlichen) Bereichen.

Auch zu literarischen Texten und anderen Medien, die in fiktionalisierter Form im Speziellen von den jüngsten globalen Fluchtbewegungen ab den 2010er Jahren erzählen, liegen bereits diverse Publikationen vor, auf die wir hier nur in Auswahl und unter der Differenzierung in literatur-/medienwissenschaftliche sowie didaktische Publikationen Bezug nehmen können.16 Rein literatur-/medienwissenschaftliche Publikationen zum Thema wählen dabei häufig einen analytischen Schwerpunkt, der sich aus der Fokussierung auf ein Genre oder eine Gattung17 bzw. auf bestimmte Vermittlungsverfahren oder ←16 | 17→auch inhaltliche Aspekte ergibt.18 Viele (Sammel-)Publikationen führen jedoch auch Beiträge zum Thema Flucht, Grenzen, Migration etc. unter ganz unterschiedlichen thematischen und methodischen Schwerpunktsetzungen zusammen. Auffällig ist dabei, dass in diesen Publikationen zwar auch Beiträge zu Narrativen über die jüngsten Fluchtbewegungen enthalten sind, der zeitliche Rahmen jedoch meist ein (literar-)historisch weiterer ist, sodass Narrative zum Thema Flucht, Exil und Migration vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis zur Gegenwart untersucht werden.19

Im Bereich der literaturdidaktischen Forschung zum Thema sind Materialsammlungen im Sinne von Text-/Medienerschließungen einerseits von Publikationen andererseits zu unterscheiden, die die Analyse und Interpretation der zumeist literarischen Narrative um didaktische Überlegungen und/oder Unterrichtsentwürfe oder -modelle ergänzen.20

Der vorliegende Band zu Flucht als Thema in Literatur, Film und Comics ergänzt den wissenschaftlichen sowie didaktischen Diskurs zum Thema gewinnbringend, indem er Beiträge zusammenführt, die an der Schnittstelle zwischen Literatur-/Medienwissenschaft und Literatur-/Mediendidaktik zu verorten sind. Im Unterschied zu anderen Publikationen, die ebenfalls einen didaktischen Schwerpunkt haben – z.B. von Wrobel / Mikota (2017) und Pavlik / Thurn (2018) –, folgt der hier vorliegende Band einem weiten Text- und Narrationsbegriff und führt Beiträge zusammen, die im engeren wie auch im weiteren Sinne zu den Narrationen zählen – basierend auf dem Konzept eines medienübergreifenden (Deutsch-)Unterrichts, in dem nicht nur (literarische) ←17 | 18→Texte, sondern auch andere narrative Medien untersucht werden können und sollen.

Dass Comics, Filme, TV-Serien, Computerspiele etc. zu den Narrationen im engeren Sinn gehören, konnte die transmediale Narratologie inzwischen hinlänglich und überzeugend begründen.21 Der Narrationsbegriff kann jedoch auch gewinnbringend auf die literarischen Gattungen Dramatik und Lyrik erweitert werden, die in der literaturwissenschaftlichen Forschung zumeist explizit von der Epik abgegrenzt werden:

Narration as a communicative act in which a chain of happenings is meaningfully structured and transmitted in a particular medium and from a particular point of view underlies not only narrative fiction proper but also poems and plays in that they, too, represent temporally organized sequences and thus relate „stories“, albeit with certain genre-specific differences, necessarily mediating them in the manner of presentation.22

Dies wiederum macht es im Sinne einer transgenerischen Narratologie, die die Erzählung als Repräsentation einer Kette von Handlungen – vermittelt durch eine wie auch immer geartete narrative Instanz – versteht, möglich, auch dramatische und lyrische Texte zu den Narrationen zu zählen. Im Besonderen in Bezug auf dramatische Texte bedarf diese Erweiterung des Narrationsbegriffs einer Erläuterung, sind in Dramentexten doch abgesehen von Botenberichten oder Mauerschauen keine Erzählinstanzen im engeren Sinne zu identifizieren:

In dramatic texts in performance, on the other hand, the sequence of happenings is presented directly, corporeally, in the form of live characters interacting and communicating on stage, without an overt mediator […] and seemingly without any mediation whatsoever. Nevertheless, selection, segmentation, combination and focus of the scenes presented imply the existence of a superordinate mediating instance […] or, in other terms, of the abstract author […]. In addition, narrative elements and structures do normally occur at the intradiegetic level of the characters’ utterances, but can also be introduced at the extradiegetic level, such as prologues and epilogues and comments by stage managers or overt narrators.23←18 | 19→

Auf diese Weise lassen sich, selbstredend mit Einschränkungen, auch in dramatischen Texten narrative Elemente identifizieren. Wenn also in der ersten Rubrik des vorliegenden Sammelbandes Dramentexte bzw. Theaterinszenierungen untersucht werden, dann möchten wir als Herausgeber:innen die Leser:innen ganz explizit dazu anregen, die dort untersuchten Texte sowie Theaterprojekte zum Thema im weiteren Sinne zu den Narrationen zu zählen. Wir animieren die Leser:innen somit jenseits der klassischen Dramen- und Inszenierungsanalyse zu intergenerischen sowie intermedialen Lektüren, bei denen Flucht auf der Ebene der Story sowie auf der Ebene der Vermittlung in den Blick genommen wird – und das wiederum mit und ohne den Einbezug von im engeren Sinn erzähltheoretischen Taxonomien.

Details

Seiten
498
Jahr
2022
ISBN (PDF)
9783631874738
ISBN (ePUB)
9783631874745
ISBN (Hardcover)
9783631770146
DOI
10.3726/b19514
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (September)
Schlagworte
Flucht Vertreibung Migration Narration Theater Comic Graphic Novel Gegenwartsliteratur Gegenwartsfilm
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 498 S., 14 farb. Abb., 23 s/w Abb., 2 Tab.

Biographische Angaben

Caroline Frank (Band-Herausgeber:in) Christine Ansari (Band-Herausgeber:in)

Caroline Frank ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachgebiet ›‹Neuere deutsche Literaturwissenschaft/Medienwissenschaft› an der Universität Kassel. Sie wurde an der Universität des Saarlandes promoviert. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Heilung seelischer Störungen in Literatur und Film, Narratologie, serielles Erzählen, Literatur- und Medienvermittlung sowie Gegenwartsliteratur. Christine Ansari ist Lehrkraft für besondere Aufgaben am Institut für Germanistik der Universität Kassel, an der sie auch promoviert wurde. Ihre Forschungsschwerpunkte sind literarische Sozialisation/literarisches Lernen, Kinder- und Jugendliteratur, Werbung und Literatur/Werbung im Kontext Neuer Medien, Flucht und Vertreibung als Thema von Literatur und Unterricht.

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