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Niederdeutschdidaktik

Grundlagen und Perspektiven zwischen Varianz und Standardisierung

von Birte Arendt (Band-Herausgeber:in) Robert Langhanke (Band-Herausgeber:in)
©2021 Konferenzband 466 Seiten
Open Access

Zusammenfassung

Die Regionalsprache Niederdeutsch etabliert sich zunehmend in unterschiedlichen Bildungseinrichtungen. Dieser Prozess wirft zahlreiche didaktische Fragen auf, die bisher weder umfassend gestellt noch konstruktiv beantwortet wurden. Die 16 interdisziplinären Beiträge dieses wegbereitenden Sammelbandes zur modernen Niederdeutschdidaktik bieten erste Antworten, indem sprachhistorische und dialektologische Verankerungen beschrieben, institutionelle Zusammenhänge geklärt, Standardisierungs- und Orthografieaspekte problematisiert sowie Lehrmaterialien und -methoden reflektiert werden. Sie ziehen Vergleiche zu anderen Sprachen und entwerfen zukünftige Arbeitsfelder der Niederdeutschvermittlung auf empirischer und theoretischer Basis. In der Summe begründen sie die wissenschaftliche Niederdeutschdidaktik, bieten Grundlagen, Ansätze und Perspektiven.
Dieses Buch ist mit dem 24. Fritz-Reuter-Literaturpreis 2022 und dem Johannes-Sass-Preis 2023 ausgezeichnet worden.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Zur Relevanz einer Niederdeutschdidaktik (Birte Arendt / Robert Langhanke)
  • 1. Kapitel: Grundlagen: Dialektologische und sprachhistorische Perspektiven
  • Welches Niederdeutsch unterrichten? Ein kritischer Problemaufriss vor dem Hintergrund der jüngeren Entwicklung des Niederdeutschen in Mecklenburg-Vorpommern (Klaas-Hinrich Ehlers)
  • Grammatik des Mecklenburgisch-Vorpommerschen (André Köhncke)
  • Von „sassescher Buchsprache“ und „Lübischer Norm“. Schriftsprachliche Standardisierungsprozesse im Mittelniederdeutschen und ihre Relevanz für aktuelle Normierungsdiskurse (Andreas Bieberstedt)
  • 2. Kapitel: Fokussierungen: Niederdeutsche Perspektiven aus Mecklenburg-Vorpommern
  • Der Rahmenplan Niederdeutsch für die Sekundarstufen I und II in Mecklenburg-Vorpommern (Susanne Bliemel / Mathias Hoffmann)
  • Kooperative Lehr-Lern-Aktivitäten im Niederdeutschunterricht in einer mikroanalytischen Perspektive (Birte Arendt)
  • Fremdsprachenlernen digital – neue Wege in der Niederdeutschdidaktik (Ulrike Stern / Birte Arendt)
  • Und wir hatten eben die Deutschlehrerin, die uns gleich mit Plattdeutsch vollgestopft hat – Zeitzeugenberichte zur Behandlung des Niederdeutschen in mecklenburgischen Schulen zwischen den 1920er und den 2000er Jahren (Klaas-Hinrich Ehlers)
  • 3. Kapitel: Ansätze: Niederdeutschdidaktische Perspektiven aus Norddeutschland
  • Niederdeutsch als Lehrvarietät. Aspekte einer Normierung des Niederdeutschen für den Unterricht am Beispiel der Orthografie (Andreas Bieberstedt)
  • Niederdeutsche Literalität als Voraus- und Zielsetzung des Unterrichtshandelns. Argumente für den parallelen Schriftspracherwerb im Hochdeutschen und im Niederdeutschen (Robert Langhanke)
  • Niederdeutsch an Schulen (in Niedersachsen) ‒ Verschiedene Lernergruppen an einem Ort (Franziska Buchmann)
  • Unterrichtsmaterial für den Niederdeutschunterricht an Grundschulen im Münsterland (Helmut H. Spiekermann / Hans-Joachim Jürgens)
  • Paul un Emma. Ein Bericht aus der niederdeutschen Schulbuchwerkstatt (Robert Langhanke / Marianne Ehlers / Karen Nehlsen)
  • Unterrichten ohne Norm: Niederdeutschunterricht an der Volkshochschule alsSprachpolitik von unten (Hannah Reuter)
  • 4. Kapitel: Integrationen: Fremdsprachdidaktische Perspektiven
  • Überlegungen zu einer Nachbarsprachendidaktik – Reflexionen am Beispiel Schleswigs (Elin Fredsted)
  • Zur Förderung von Sprachlernkompetenz durch sprachenübergreifende Aufgaben (Steffi Morkötter / Melanie van Iersel)
  • Kooperative Lern- und Lehr-Methoden – auch für den Niederdeutschunterricht (Jana Schulz)
  • Reihenübersicht

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Birte Arendt / Robert Langhanke

(Greifswald / Flensburg)

Zur Relevanz einer Niederdeutschdidaktik

1. Ausgangspunkt

Der Sammelband basiert auf der interdisziplinären internationalen Fachtagung „Wie lehrt man die Regionalsprache Niederdeutsch? Sprach- und fremdsprachdidaktische Perspektiven“, die als Kooperation des Kompetenzzentrums für Niederdeutschdidaktik der Universität Greifswald und der Abteilung für Niederdeutsche Sprache und Literatur und ihre Didaktik der Universität Flensburg vom 12. bis zum 13. April 2018 am Alfried Krupp Wissenschaftskolleg mit dessen großzügiger Förderung von den Bandherausgeber*innen gemeinsam mit Ulrike Stern (Universität Greifswald) ausgerichtet wurde. Auf dieser Tagung traten erstmals niederdeutsche Philolog*innen, Fachdidaktiker*innen und tätige Lehrer*innen in einen konstruktiven, aber auch kontroversen Austausch zu den Fragen einer modernen Niederdeutschvermittlung (vgl. Langhanke 2018). Dieser Band verfolgt das Ziel, die Vielfalt an Perspektiven, die auf der Tagung artikuliert wurden, zu sichern, weiterzudenken und mit dem Schwerpunkt Standardisierung zu fokussieren. Die folgenden Überlegungen gestalten seine Einführung.

Die Erforschung und Darstellung der älteren und neueren niederdeutschen Sprache und Literatur hat in der niederdeutschen Philologie als einem eigenständigen Teilgebiet der Germanistik eine lange Fachtradition (vgl. Stellmacher 1981; Cordes/Möhn 1983). Insbesondere das Mittelniederdeutsche, unter anderem in seiner Funktion als Verkehrssprache der Hanse, darf als gut erforschte historische Varietät gelten (vgl. u.a. Peters 2012, 2019; Bieberstedt i.d.B., Kap. 1). In jüngster Zeit wurden detaillierte sprachliche Vermessungen des regionalsprachlichen Gesamtspektrums in Norddeutschland vorgenommen; hierfür sind vornehmlich die Projekte Sprachvariation in Norddeutschland und Regionalsprache.de sowie zahlreiche Anschlussprojekte verantwortlich (vgl. Elmentaler/Rosenberg 2015; Ganswindt et al. 2015). In interdisziplinären Forschungszusammenhängen, so zum Beispiel am Zentrum für kleine und regionale Sprachen der Universität Flensburg, wird das Niederdeutsche im Kreise anderer nichtstandardisierter Sprachen kontrastiv betrachtet. Die Arbeitsgruppe Regionalsprache und regionale Kultur. Mecklenburg-Vorpommern im ostniederdeutschen Kontext der Universitäten Greifswald und Rostock stellt Forschungen zum Niederdeutschen mit spezifischem Bezug zu ←9 | 10→Mecklenburg-Vorpommern an. In den vergangenen Jahrzehnten sind darüber hinaus die sprachpolitische Förderung der niederdeutschen Sprache und die Auswirkungen dieser Bemühungen in den Fokus der Forschung geraten (vgl. Arendt 2010). Die daraus resultierenden didaktischen Fragestellungen wurden im Gegensatz zur objektsprachlichen Beschreibung des Niederdeutschen wenig beachtet und stellen ein dringendes Forschungsdesiderat dar (vgl. Langhanke 2013), da die institutionelle Implementierung des Niederdeutschen an den Kindergärten und insbesondere an den Schulen Norddeutschlands, die im nächsten Abschnitt konturiert wird, fachwissenschaftlich initiiert, begleitet und evaluiert werden muss.

Der Tagungsband widmet sich diesem Desiderat, indem auf der Grundlage der vorliegenden objektsprachlich orientierten Forschungsergebnisse Fragen zur Didaktik und zu den Methoden der Niederdeutschvermittlung mit fremdsprachdidaktischen Ansätzen gebündelt und im diskursiven Austausch aufeinander bezogen und weiterentwickelt werden. In diesen Diskurs sind zahlreiche Kolleg*innen eingebunden. Ein großer Dank gilt daher den Autor*innen des Bandes für die gute und geduldige Zusammenarbeit. Ebenso danken wir den Reihenherausgeber*innen für die Aufnahme des Tagungsbandes sowie dem Peter Lang Verlag für seine langmütige und zielführende Betreuung. Eine grundsätzliche Voraussetzung des Bandes war die Konferenzförderung durch das Alfried Krupp Wissenschaftskolleg, dessen Leiter Christian Suhm das Vorhaben engagiert begleitete, sowie die Unterstützung durch die Universität Greifswald, namentlich das Kompetenzzentrum für Niederdeutschdidaktik. Auch dafür danken die Bandherausgeber*innen. Abschließend gilt besonderer Dank Ulrike Stern, die nicht nur für die Organisation der Tagung mitverantwortlich zeichnete, sondern auch gemeinsam mit Anne Hertel vom KND gewissenhaft und umsichtig das Lektorat des Bandes übernahm. Seine nähere Ausrichtung wird in den folgenden Abschnitten der Einleitung vorgestellt.

1.1 Niederdeutsch als Unterrichtsfach

Mehrere Beiträge des vorliegenden Bandes setzen sich mit dem Niederdeutschen als institutionell gesteuertem Vermittlungsgegenstand auseinander. In den Bundesländern des nordniederdeutschen und mecklenburgisch-vorpommerschen Sprachraums (Bremen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Schleswig-Holstein) wird Niederdeutsch über unterschiedliche Formate mit dem Ziel der Sprachvermittlung, so z.B. als eigenständiges Unterrichtsfach, als Wahlpflichtfach, als Arbeitsgemeinschaft in der Nachmittagsbetreuung oder als ‚durchgängiges Unterrichtsprinzip‘, im schulischen Kontext ←10 | 11→in wachsendem Ausmaß verankert. Diese Einbindung in unterschiedliche Bildungsinstitutionen von der Kindertagesstätte bis zur Hochschule sorgt für eine neue Verlässlichkeit der institutionellen Förderung zur Sicherung des Spracherhalts, wirft aber zahlreiche inhaltliche und organisatorische Fragen auf. Die landschaftliche Heterogenität der dialektalen Sprachformen, die eine Standardisierung zunächst als unangemessen erscheinen lässt, und die Vielfalt der organisatorischen Strukturen, die bisher eine straffe Bündelung vermissen lassen, zählen zu den Herausforderungen für das Unterrichtsprojekt Niederdeutscherwerb bzw. -vermittlung.

Die wissenschaftlich fundierte Erforschung der niederdeutschdidaktischen Problemfelder Standardisierung, Einbindung der L1-Sprache Hochdeutsch, Alter der Sprachlerner*innen, Schriftlichkeit und Mündlichkeit, korpusbasierte Entwicklung von Texten und Materialien sowie weiterer Detailthemen befindet sich noch in der Anfangsphase. Auch die dringend notwendige bundesländerübergreifende Arbeit zur Schulfachentwicklung konnte bisher kaum in Angriff genommen werden. Für diese Entwicklungsphase gestaltet der Band Anregungen und Vorschläge.

1.2 Niederdeutsch als Fremdsprache

In Mecklenburg-Vorpommern wird Niederdeutsch seit 2017 als dritte Fremdsprache in der Sekundarstufe unterrichtet (vgl. Rahmenplan Niederdeutsch 2017). Hamburg, Niedersachsen und Schleswig-Holstein können auf grundsätzlich vergleichbare Strukturen verweisen oder bauen diese schrittweise auf. Die Vermittlung des Niederdeutschen als zweite oder dritte Fremdsprache bedeutet nicht allein die organisatorische Integration in den schulischen Alltag nach der ersten Fremdsprache Englisch und möglichen weiteren Fremdsprachen (u.a. Latein, Französisch). Vielmehr sind auch bei der Vermittlung der Regionalsprache vergleichbare fremdsprachdidaktische Perspektiven einzunehmen. Dieser Umstand erklärt sich aus den Sprachbiografien der gegenwärtigen Schüler*innengeneration in Norddeutschland und aus den sprachstrukturellen Spezifika des Niederdeutschen im Vergleich zum Hochdeutschen. So ist die niederdeutsche Sprache einer überwiegenden Anzahl der Lernenden fremd. Ihnen ist das Niederdeutsche in der Regel allenfalls über Informationen und bisweilen Sprechweisen ihrer Großeltern oder Urgroßeltern vertraut. Dieser Zustand gilt bereits seit mindestens drei Jahrzehnten und ist somit keine neue Entwicklung. Die meisten Schüler*innen hatten vor dem schulischen Niederdeutschunterricht keinen Kontakt zum Niederdeutschen und verfügen somit weder über produktive noch rezeptive Kompetenzen. Sie sind mit ihrer institu←11 | 12→tionell geprägten Spracherbwerbsbiografie typische Vertreter*innen der sogenannten new speakers (Arendt 2021; Jaffe 2015).

Trotz enger Sprachverwandtschaft zwischen dem Niederdeutschen und dem Hochdeutschen und jahrhundertelangem Sprachkontakt, die beide das Erlernen des Niederdeutschen für Hochdeutschsprecher*innen erleichtern, bestehen auf allen sprachstrukturellen Ebenen fortgesetzt deutliche Differenzen, wie etwa die unverschobenen Plosivlaute und nicht durchgeführten Diphthongierungen auf der phonetischen, der Kasussynkretismus auf der morphologischen sowie die in der gesprochenen Sprache inzwischen sehr selten gewordene daun/doon-Periphrase auf der syntaktischen Ebene. Diese Differenzen verhindern eine vollständige Erschließung der niederdeutschen Sprache allein ausgehend von einer hochdeutschen Kompetenz und legitimieren die strukturierte Niederdeutschvermittlung analog zu einer weniger eng verwandten Fremdsprache.

1.3 Zielsetzung des Bandes

Ausgehend von dieser Problemstellung soll der Band eine Reflexion des sprachvermittelnden Unterrichtshandelns für die Regionalsprache Niederdeutsch anregen. Dabei beabsichtigt er eine dreifache Ergänzung bisheriger Arbeiten: Er will erstens relevante Grundlagen entfalten, zweitens Ansätze für einen modernen, spracherwerbsorientierten Niederdeutschunterricht zeigen und drittens Perspektiven für rezente sprach- und bildungspolitische Fragestellungen zum Thema bieten. Allen Beiträgen ist eine problematisierende und kritisch reflektierende Sichtweise insbesondere zum Thema Standardisierung inhärent.

Das Kompositum Niederdeutschdidaktik, also die Lehre von der Vermittlung der niederdeutschen Sprache und Literatur, führt im Grundwort Didaktik. Eine Niederdeutschdidaktik hat sich somit an grundlegenden didaktischen Positionen und Fragestellungen zu orientieren. Diese lassen sich durch die 9-W-Frage „Wer soll was von wem wann mit wem wo wie womit und wozu lernen?“ (Jank/Meyer 2009, 16 f.) zusammenfassen. Die Beantwortung dieser Fragen ist allein über den Austausch zwischen sprach- und literaturorientierten Fachwissenschaften, wie z.B. der Dialektologie, der Soziolinguistik oder der älteren und neueren Literaturwissenschaft, sowie einer lehr-lern-orientierten Didaktik möglich. Diese Auseinandersetzung setzte für eine Niederdeutschdidaktik erst kürzlich ein, und auch die Beiträge des Sammelbandes beantworten die neun Fragen weder vollständig noch abschließend. Sie liefern jedoch Anregungen zu den Fragen nach dem Wer, Was, Wie und Wozu. Zentral ist in zahlreichen ←12 | 13→Beiträgen das Was, da mehrfach sprachstrukturelle Aspekte der Standardisierung erörtert werden.

Aus den akzentuierten Fragestellungen ergeben sich Verschränkungen, Übereinstimmungen und Abgrenzungen für den Umgang mit der Regionalsprache und ihrer Vermittlung. Der Band möchte also

mögliche Grundlagen beschreiben,

Perspektiven verbinden, die eher additiv atomar zu einzelnen niederdeutschdidaktischen Projekten arbeiten, und somit Bundesländer- und Institutionsgrenzen überschreiten,

Ansätze eines interdisziplinären Dialogs anregen und somit Konzepte zur wissenschaftlich fundierten Fachentwicklung auf Basis aktueller fremdsprachdidaktischer Forschungsergebnisse entwerfen.

Adressat*innen dieser Themen sind neben Wissenschaftler*innen selbstverständlich Lehrer*innen, Referendar*innen, Fachkräfte sowie Niederdeutschstudierende.

Die Erarbeitung von Ergebnissen in den genannten Feldern ist ein dringen- des Desiderat in der niederdeutschen Philologie und bietet zugleich Anknüpfungspunkte für allgemeine fremdsprachdidaktische Fragegestellungen, ins- besondere zur Frage einer gesteuerten Vermittlung nicht-standardisierter Sprachformen.

1.4 Rahmenthema Standardisierung

Fragen einer Standardisierung des Niederdeutschen werden in nahezu allen Beiträgen thematisiert. Dieses Rahmenthema verdankt sich in einem organisatorischen Sinne der Entstehung des Bandes als Ergebnis der Tagung „Wie lehrt man die Regionalsprache Niederdeutsch?“, die unter anderem zu einer Auseinandersetzung mit Fragen der Standardisierung aufrief. Eine weitere Begründung des Rahmenthemas ist seine hohe Relevanz in den einzelnen Debatten der Greifswalder Konferenz und insbesondere in ihrer Abschlussdiskussion. Zudem bestimmt das Thema auch weitere gegenwärtige Diskussionen über die Vermittlung von Regional- und Minderheitensprachen.

Um Standardisierung als roten Faden der Beiträge zu knüpfen, wurden im Vorfeld alle Beiträger*innen gebeten, sich unter anderem auch zu diesen fünf Thesen zu positionieren:

1.Jeder Niederdeutschunterricht steht vor der grundlegenden Frage, welche Varietät des Niederdeutschen zu unterrichten ist. Die rezenten unterrichtlichen Gegebenheiten und Notwendigkeiten lassen eine standardisierte Form ←13 | 14→des Niederdeutschen nahezu unerlässlich erscheinen. Damit wird der Niederdeutschunterricht einem Revitalisierungskonzept zugeordnet und vom natürlichen Wandel einer spezifischen regionalen sprechsprachlichen Form des Niederdeutschen abgegrenzt.

2.Die Entscheidung für die Vermittlung standardisierter Formen des Niederdeutschen bedeutet den Anschluss an etablierte gesteuerte Fremdspracherwerbs- und Fremdsprachvermittlungsprozesse und zugleich die Gestaltung einer ‚künstlichen‘ Lehrvarietät. Die angestrebte sprachliche Normierung des Niederdeutschen für den Unterricht eröffnet jedoch weiterhin die willkommene Möglichkeit, regionale Varianten an das Erlernte anzuschließen. Zudem müssen unterschiedliche großräumliche Normen des Niederdeutschen (z.B. Nordniederdeutsch, Mecklenburgisch-Vorpommersch, Westfälisch, Ostfälisch, Brandenburgisch) entwickelt werden, die in einem Folgeschritt weiter zu differenzieren sind, so zum Beispiel durch eine Abgrenzung des Ostfriesischen innerhalb des Nordniederdeutschen. Für diese Differenzierungen kann auch die Vitalität eines niederdeutschen Sprachraums ausschlaggebend sein.

3.Im Zuge einer Diskussion der Zuschreibungen ‚künstlich‘ oder ‚natürlich‘ zu bestimmten sprachlichen Formen des Niederdeutschen bleibt zu bedenken, dass auch die ‚künstlicheren‘, standardisierten Sprachausprägungen, auf die Sprachlerner*innen im Unterricht in der Regel zunächst treffen, um regionale Varianten ergänzt werden können. Individuelle Nachteile, die aus einem Standardisierungsansatz resultieren, lassen sich nicht ausmachen, da die schulischen Sprachlerner*innen zumeist ohne dialektale Vorkenntnisse in den Spracherwerb starten.

4.Statt den rezenten hochdeutschen Einfluss auf das Niederdeutsche auch im gesteuerten Fremdspracherwerb zusätzlich zu manifestieren, sollen ein niederdeutscher Wortschatz und eine niederdeutschspezifische Grammatik gefördert werden, die dann über die Erprobung in der Sprachwirklichkeit ebenfalls mit den Entwicklungen eines regionalen Sprachwandels im Niederdeutschen in Berührung kommen und sich entsprechend anpassen werden. Regionalspezifische und hochdeutsche Einflüsse können individuell an die erlernten Formen angeschlossen werden.

5.Das Konzept eines modernen niederdeutschen Fremdsprachenunterrichts lässt sich nur über eine Standardisierung des sprachlichen Lernstoffes erzielen.←14 | 15→

2. Inhalte der Beiträge

Die 16 Beiträge des Bandes widmen sich den aufgeworfenen Fragen zur Niederdeutschvermittlung und der einhergehenden Standardisierung gemäß der interdisziplinären Ausrichtung der Tagung aus unterschiedlichen Perspektiven, die sich in vier Gruppen einteilen lassen:

Das erste Kapitel „Grundlagen: Dialektologische und sprachhistorische Perspektiven“ bündelt drei Aufsätze, die eine grundlegende Vorbereitung des Themas Niederdeutschdidaktik leisten.

Das zweite Kapitel „Fokussierungen: Niederdeutsche Perspektiven aus Mecklenburg-Vorpommern“ stellt ein Bundesland ins Zentrum und beleuchtet in vier Beiträgen fachdidaktische Aspekte von der Lehrplanentwicklung bis hin zu digitalen Vermittlungsangeboten.

Das dritte Kapitel „Ansätze: Niederdeutschdidaktische Perspektiven aus Norddeutschland“ weitet die Blickrichtung auf den gesamten norddeutschen Raum aus und entfaltet über sechs Aufsätze unterschiedliche fachdidaktische Themen von der Orthografie über die Lehrwerkserstellung bis hin zur niederdeutschsprachigen Literacy-Entwicklung und bringt Ansätze aus vier Bundesländern ein.

Das vierte Kapitel „Integrationen: Fremdsprachdidaktische Perspektiven“ leistet über drei Aufsätze den konkreten Blick auf fremdsprachdidaktische Vermittlungsmodelle, die teilweise auch am Beispiel regionaler Sprachen, jedoch nicht am niederdeutschen Beispiel, entwickelt werden und auf die Vermittlung anderer Sprachformen übertragen werden können.

Details

Seiten
466
Jahr
2021
ISBN (PDF)
9783631857328
ISBN (ePUB)
9783631858899
ISBN (Hardcover)
9783631856451
DOI
10.3726/b18929
Open Access
CC-BY
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (April)
Schlagworte
Fremdsprachendidaktik Standardisierung Lehrmaterialerstellung Niederdeutschvermittlung Sprachpolitik Spracherwerb
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 466 S., 10 s/w Abb., 25 Tab.

Biographische Angaben

Birte Arendt (Band-Herausgeber:in) Robert Langhanke (Band-Herausgeber:in)

Birte Arendt ist Privatdozentin am Institut für Deutsche Philologie der Universität Greifswald und Leiterin des Kompetenzzentrums für Niederdeutschdidaktik. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Mehrsprachigkeit bei Regional- und Minderheitensprachen v.a. in digitalen Kontexten, diskursiver und bilingualer Spracherwerb in Peer-Interaktionen sowie Sprachreflexion und Sprachkritik. Robert Langhanke ist Lehrkraft für besondere Aufgaben an der Abteilung für Niederdeutsche Sprache und Literatur und ihre Didaktik der Europa-Universität Flensburg. Er arbeitet zu verschiedenen Themenfeldern der niederdeutschen Philologie und publiziert zur norddeutschen Regionalsprachenforschung, zur älteren und neueren niederdeutschen Literatur sowie zur Niederdeutschdidaktik.

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