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Die Poesie der Zukunft: August Otto-Walsters Poetik von Prekarisierung und Prekarität in Am Webstuhl der Zeit (1873)

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Dieser Beitrag nimmt die heutige Empfindlichkeit für soziale Regression, Prekarität, das Erodieren von sozialen Sicherheitssystemen und Fragen der Klassenformierung als Anregung, einen neuen Blick auf die Literatur der Arbeiterbewegung der 1860er und 1870er Jahre zu werfen, als von einer vollständig organisierten Arbeiterklasse sowie von sozialer Sicherung und dem Wohlfahrtsstaat nicht bzw. nur ansatzweise die Rede war. Eine Llektüre von August Otto-Walsters Roman Am Webstuhl der Zeit (Social-politscher Roman, 1873) im Licht der damaligen Debatten über die Vorzüge von Literatur im Klassenkampf unter Sozialisten zeigt das politisch-ästhetische Projekt eines aktivistischen Schriftstellers, der seine Leser sich selbst als solidarisch und demokratisch wahrnehmen lassen wollte. Otto-Walsters Roman präfiguriert eine sozial(istisch)e Gesellschaftsform, indem der Plot beschreibt, wie eine Gesellschaft durch Beratung und allgemein zugestimmte Kompromisse erfolgreich von innen her verändert werden kann. Der Roman, der sein politisch-ästhetisches Projekt auf Meta-Ebene zur Schau trägt, ist somit als eine Lektion in demokratischer Haltung konzipiert, die eine solche zentrifugale Reform bedingt. Dass sich dieses politisch-ästhetische Projekt zudem auch in dem sprachkritischen, (raum-)symbolischen und affektiven Entwurf abzeichnet, deckt dieser Beitrag in einer explorierenden Lektüre auf.

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Notes

  1. Für Prekaritätsdarstellungen in der Gegenwartsliteratur und im Kino, siehe Böhm & Kovacshazy (2015). Siehe auch Korte & Regard (2014) und Simonsen & Hogg (2021).

  2. Die Eigentümlichkeit jeder Phase der geschichtlichen Entwicklung des Kapitalismus steht außer Frage, aber es zeichnen sich, wie schon Karl Marx und Friedrich Engels im Kommunistischen Manifest vorausgesagt haben, Zyklen von Krisen ab, die die gegenwärtige Prekarität in gewissen Aspekten als eine Schattenseite ökonomischer Krisen und als Wiederkehr oder vielmehr als Intensivierung kontinuierlicher Unsicherheitssysteme und -Erlebnisse denkbar machen.

  3. Erst nach den 1878 verordneten Sozialistengesetzen hat Otto von Bismarck angefangen, rudimentäre soziale Sicherungssysteme zu entwickeln, zunächst mit einer Krankenversicherung (im Jahre 1883) und einer Unfallversicherung (im Jahre 1884).

  4. Lassalle meinte mit diesem „ehernen“ Gesetz, dass der Arbeiterlohn sich immer in Richtung des zum Erhalt einer Nationalbevölkerung gerade ausreichenden Existenzminimums entwickeln würde. Marx kritisierte diese Theorie, weil sie den Lohn mystifizierte und deshalb als rückschrittlich galt (Marx, 1875).

  5. Lassalle betrachtete die Arbeiterklasse als die einzige geschichtsmächtige Kraft, während er alle sonstigen sozialen Strata (Bourgeoisie, Bauernschaft, Handwerker, Mittelklasse etc.) als „reaktionäre Masse“ diffamierte. Marx war aus strategischen Gründen dazu bereit, Allianzen mit anderen Klassen zu schließen, die durch den Kapitalismus gleichfalls in eine prekäre Lage geraten könnten (z.B. die verarmende Handwerker, die von der großen Industrie wegkonkurriert wurden). Für Lassalle wäre diese Form von klassenübergreifender Solidarität undenkbar (cf. Marx, 1875).

  6. Im Folgenden wird mit dem Siglum OW auf Otto-Walsters Roman verwiesen. In seinem Roman Allerhand Proletarier veranschaulicht Otto-Walster einen Streitpunkt in der SDAP, ob die Arbeiter mit dem von imminentem sozialpolitischem Abstieg gefährdeten Kaufmannsstand ein Bündnis anstreben sollten oder nicht. Ferdinand Lassalle lehnte eine Allianz mit der sog. reaktionären Masse eindeutig ab (Carsten, 1991, S. 68–81).

  7. Hake beschreibt die Rolle, die die Arbeiterbildungsvereine bei dem ästhetischen Projekt des Sozialismus gespielt haben, und auch, wie sich dieses Projekt im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelt hat. Interessant ist, wie Literatur und Theater halbwegs der 1870er Jahre, nach Otto-Walsters Umsiedlung in die VS, immer mehr als eine Ableitung vom echten Klassenkampf betrachtet werden. Symptomatisch redet Liebknecht in einem Brief über das zeitgenössische Berliner Theater von der Unvereinbarkeit von Klassenkampf und Literatur: „das kämpfende Deutschland hat keine Zeit zum Dichten“ (Liebknecht, 1891, 710); Bebel beharrte auf dem Leitspruch „Unter den Waffen schweigen die Musen“ (Hake, 2017, 158).

  8. Vor der Gründung der Sozialdemokratischen Partei 1869 in Eisenach treten die linksliberalen, bürgerlichen Demokraten in Unfrieden mit der radikaleren, marxistischen Richtung von August Bebel aus der deutschen Arbeiterbewegung (siehe Carsten 1991, S. 15–67).

  9. Der Erfolg des Romans lässt sich aus der Auflagenhöhe ableiten: Wolfgang Friedrich weist zwischen 1870 und 1893 zwölf Buch- und Presseveröffentlichungen des Romans nach (cf. Bürgel, 1983, S. 172).

  10. Die sozialistische Literaturkritik kritisierte Otto-Walsters Tendenzroman Am Webstuhl der Zeit, weil er einigen von Lassalles Ideen einen literarischen Ausdruck gibt und von einem noch nicht zu vollem Wachstum gelangten Sozialismus zeugt (Münchow, 1981, S. 275–287). Daneben wurde aus stilistischer Hinsicht angeprangert, dass die Privatgeschichten der Arbeiterfiguren, die übrigens nicht immer konsequent ausgearbeitet werden, oft in einer lockeren Beziehung zur politischen Hauptgeschichte stehen. Solche kritische Lektüre droht die Bedeutung von Otto-Walsters Roman zu unterschätzen, wie sie sich damals widerspiegelte in den Interventionen von Parteimitgliedern auf dem SDAP-Parteitag 1871, als die Veröffentlichung des Romans im französisch-preußischen Krieg wegen Papiermangels gefährdet war. Letztendlich plädierte Bebel für eine rasche Veröffentlichung in Der Volksstaat, dem Parteiorgan. Obwohl Am Webstuhl der Zeit um die Jahrhundertwende in Arbeiterkreisen zu einem der beliebtesten literarischen Werke zählt—so zeigen uns die vielen (überarbeiteten) Neuauflagen bis um die Jahrhundertwende (vgl. Mathes 1987, S. 40)—, reflektiert der Roman die reellen Probleme seiner Entstehungszeit bzw. die komplexe Sachlage der Arbeiterbewegung am Ende der 1860er und am Anfang der 1870er Jahre, als ADAV und SDAP einander bekämpften.

  11. Es scheint fast, als ob Otto-Walster sich erst allmählich dieses Wirkungspotentials bewusst geworden ist: ein narratives Detail, das die Zentralstellung des poetischen Präsens ermöglicht, ist, dass der Erzähler zwischen dem zweiten und dem dritten Kapitel auf einmal vom Präteritum zum Präsens wechselt.

  12. Vgl. Marx’ Lob an die Pariser Kommune: „Die Arbeiterklasse verlangte keine Wunder von der Kommune. Sie hat keine fix und fertigen Utopien durch Volksbeschluß einzuführen. Sie weiß, daß, um ihre eigne Befreiung und mit ihr jene höhre Lebensform hervorzuarbeiten, der die gegenwärtige Gesellschaft durch ihre eigne ökonomische Entwicklung unwiderstehlich entgegenstrebt, daß sie, die Arbeiterklasse, lange Kämpfe, eine ganze Reihe geschichtlicher Prozesse durchzumachen hat, durch welche die Menschen wie die Umstände umgewandelt werden. Sie hat keine Ideale zu verwirklichen; sie hat nur die Elemente der neuen Gesellschaft in Freiheit zu setzen, die sich bereits im Schoß der zusammenbrechenden Bourgeoisgesellschaft entwickelt haben“ (Marx, 1871). In den Worten von William Roberts heißt es: „The precise institutional arrangements that will best suit any particular group of free and associated laborers will necessarily have to take into account the particularities of their situation, their common resources, their characters and histories and interrelations. The people best placed to know those particularities will be those free and associated laborers themselves” (Roberts, 2017, S. 238).

  13. Cf. die Argumente, mit denen Marx in einem Brief an Johann Baptist von Schweitzer vom 13. Oktober 1868, Ferdinand Lassalle, den Führer der ADAV, angreift: „Er fiel in den Fehler Proudhons, die reelle Basis seiner Agitation nicht aus den wirklichen Elementen der Klassenbewegung zu suchen, sondern letzterer nach einem gewissen doktrinären Rezept ihren Verlauf vorschreiben zu wollen“ (Marx, 1868). Auch bei Lassalle handele es sich—so Marx—nur um realitätsferne, abstrakte Lösungen für die soziale Frage.

  14. Dass eine der wichtigsten Romanfigur Friedrich Lange genannt wird, soll den Gegenwartsbezug des Romans gleichfalls steigern, verweist der Name doch auf einen Aktivisten in der Arbeiterbewegung, der ähnlich wie Otto-Walster eine Versöhnung zwischen den zwei konkurrierenden Arbeiterfraktionen ADAV und VDAV angestrebt hatte. 1866 tritt Lange desillusioniert aus der Politik zurück, weil er Bismarcks Machtergreifung als Beweis für die Unveränderlichkeit der Arbeiterlage interpretiert. Otto-Walsters Roman spielt genau in derselben Zeit, aber veranschaulicht das Scheitern der nationalliberalen Bourgeoisie an der Obermacht der Arbeiter. Am Webstuhl der Zeit scheint so Langes politisches Erbe kontrafaktisch als Verbildlichung einer für möglich erachteten Gegenwart fortzuschreiben. Für mehr Information über Leben und Werk von Friedrich Lange, siehe Hussain & Patton (2021).

  15. Demzufolge manifestiert das politische Projekt sich auf poetologischer Ebene nicht als Dementierung, sondern vielmehr als Transformation oder Experiment mit der bürgerlich-realistischen Romanpoetik. Zum Teil schreibt und liest sich Am Webstuhl der Zeit als Umschrift von bürgerlichen Ideologien und realistischen Schreibweisen zu den Themen Arbeit und Prekarität. Eugène Sues Les Mystères de Paris (1847; cf. supra) und Gustav Freytags auflagenreicher Bildungsroman Soll und Haben (1855) können als zwei Spielarten der bürgerlichen Tradition betrachtet werden. Während Sue zwischen guten und bösen Arbeitern unterscheidet und die Rettung aus prekären Lebensumständen mit moralischen Kategorien korreliert, entlarvt Otto-Walster die bürgerliche Moral als ideologisches Trugbild. Während Freytag auf der poetischen Aura der von Kaufmännern verhandelten Kaufwaren beharrt und dabei die Nachtseiten des Kapitalismus – prekäre Arbeit – total ausblendet, stellt Otto-Walster diesem Bild eine vehemente Kritik an der bourgeoisen Gesellschaft und das Bild einer sozialistischen, demokratischen Gemeinschaft gegenüber, in der „Verstand […], Consequenz und selbst etwas Poesie“ liegen (OW I, S. 48).

  16. Otto-Walster stellt die abstrakte Idee des Klassengegensatzes in diesen Nebengeschichten dar, um jeweils Teilaspekte oder konkrete Auswirkungen der Dichotomie hervorzuheben: Solidarität/Brüderlichkeit vs. Egoismus, Menschlichkeit vs. Mitleidlosigkeit, Knechtschaft vs. Macht, Monopol vs. Genossenschaft, Demokratie vs. Tyrannei, Recht vs. Willkürherrschaft, Rede vs. Aberglaube…

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Rys, M. Die Poesie der Zukunft: August Otto-Walsters Poetik von Prekarisierung und Prekarität in Am Webstuhl der Zeit (1873). Neophilologus 106, 283–302 (2022). https://doi.org/10.1007/s11061-021-09724-3

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