Zwei Stücke - drei Dramatiker: Bertolt Brechts Theatermaximen in Max Frischs 'Die große Wut des Philipp Hotz' und Friedrich Dürrenmatts 'Der Besuch der alten Dame'


Hausarbeit, 2007

16 Seiten, Note: 1,8


Leseprobe


Inhalt

Zwei Stücke – Drei Dramatiker

Theaterrevolution nach

Brechts Maximen – das epische Theater

Brecht, Frisch und Die große Wut des Philipp Hotz
Brechts Marxismus und das Private in Frischs Literatur
Episches Theater der Verfremdung jedoch ohne politischen Aufruf

Brecht, Dürrenmatt und Der Besuch der alten Dame
Brechts Marxismus und die Welt erkennen mit Dürrenmatt
Episches Theater der Verfremdung für den analytischen Blick

Erfolg und Misserfolg von Brechts Maximen – Der gute Mensch von Sezuan

Bibliographie

Zwei Stücke – drei Dramatiker

Bertolt Brechts Theatermaximen in Max Frischs „Die große Wut des Philipp Hotz“ und Friedrich Dürrenmatts „Der Besuch der alten Dame“

Manchmal scheint auch mir, daß jedes Buch, so es sich nicht befaßt mit der Verhinderung des Kriegs, mit der Schaffung einer besseren Gesellschaft und so weiter, sinnlos ist, müßig, unverantwortlich, langweilig, nicht wert, daß man es liest, unstatthaft. Es ist nicht Zeit für Ich-Geschichten. Und doch vollzieht sich das menschliche Leben oder verfehlt sich am einzelnen Ich, nirgends sonst.

Aus dem Roman „Mein Name sei Gantenbein“ von Max Frisch, 1964[1]

Theaterrevolution nach 1945

Literatur muss die Menschen erziehen. Literatur hat die Aufgabe eine bessere Gesellschaft zu schaffen. Literatur für eine bessere Welt. Derartige Maximen waren eine Reaktion deutscher wie internationaler Schriftsteller, Dramatiker und Lyriker auf den zweiten Weltkrieg und die unsäglichen Verbrechen des dritten Reiches. Es war eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn und Recht von Literatur in einer Welt nach 1945.

Unter den deutschen Dramatikern vertrat die Umwälzung der gängigen allen voran Bertolt Brecht. Seine Überlegungen, Aussagen und Aufsätze über das Theater gelten weltweit als Revolution der Bühne im 20. Jahrhundert, als Begründung des modernen Theaters. Kein Dramatiker-Zeitgenosse hat nicht auf Brechts Form des epischen Theaters und dessen erzieherische Maßnahmen reagiert, hat sie nicht selbst in sein Werk aufgenommen. Brechts episches Theater avancierte zum Gegenmodell zur klassischen Form des aristotelischen Theaters und ist als solche in der Theaterwelt und Theaterwissenschaft heute noch etabliert.

Inwieweit die beiden Schweizer Literaturgrößen des 20. Jahrhunderts, Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt, in ihren Stücken Die große Wut des Philipp Hotz und Der Besuch der alten Dame, Brechts Theater übernommen und abgewandelt haben, soll im Folgenden besprochen werden. Zum besseren Verständnis steht eine knappe Erläuterung von Brechts epischem Theater voran.

Brechts Theatermaximen – das epische Theater

Als überzeugter Marxist sah Brecht seine Dramen als „Instrument[e] der Aufklärung im Sinne einer revolutionären gesellschaftlichen Praxis“[2]. Das neue „Theater des wissenschaftlichen Zeitalters“[3] sollte dem Zuschauer als eine Parabel auf die eigene Lebenswelt bewusst werden. Es sollte damit einen Denkprozess auslösen, der ihn zu gesellschaftsveränderndem Handeln anregt. Dies bedeutete eine Revolution des klassischen aristotelischen Theatersystems, in dem Mimesis und Identifikation die Hauptziele darstellten[4].

Das epische Theater Brechts ist in seiner Form erzählend (nicht handelnd), es soll die Aktivität des Zuschauers wecken, von ihm Entscheidungen erzwingen und ihn dem Gezeigten gegenübersetzen.[5] Der Zuschauer soll sich nicht unbewusst in die Fabel einfühlen und treiben lassen (können)[6] ; nicht der Illusion des Theaters verfallen.

Brecht entwickelte zu diesem Zweck die Methode der Verfremdung[7]. Beispielsweise wird die Handlung durch Kommentare oder Lieder unterbrochen, erläutert oder erweitert, so dass der Zuschauer eine Distanz zum Stück und seinen Darstellern aufbaut. Die Charaktere selbst erscheinen als Typen. Sie sind in sich widersprüchlich und sollen keine Figuren aus Fleisch und Blut darstellen, was durch eine neue Art des Spielens erreicht wird, in welcher der Akteur nicht mehr mit seiner Figur identifizierbar ist, sondern immer auch gleichzeitig der Schauspieler auf der Bühne bleibt. Auch der offene Szenenwechsel, das Bühnenbild und die Ausstattung können diese Distanz verstärken.

Brecht wollte das gesellschaftliche System als vom Einzelnen beeinflussbar und veränderbar erscheinen lassen[8]. Der Zuschauer sollte die Gesellschaft des marxistischen Modells als Vorbild erkennen und aufgerufen sein, danach zu streben und zu handeln. Jedoch nicht jeder Dramatiker, welcher Brechtsches Theater für sich verwendete, verfolgte mit den gleichen Mitteln den selben Zweck.

Brecht, Frisch und Die große Wut des Philipp Hotz

Max Frisch bewunderte an Brecht bereits in seinem ersten Tagebuch, „dass hier ein Leben wirklich vom Denken aus gelebt wird“[9]. Wie Marianne Kesting es ausdrückte, strebte Frisch stets Brechtsche Konsequenz an, erreichte diese aber nie aus Gründen politischer Zweifel[10]. Er stellte in Frage, ob durch Brechts Theateraufführungen auch nur ein Einziger seine politische Denkweise geändert habe[11]. Brecht hatte sich dem Marxismus verschrieben und das epische Theater aus politischer Überzeugung entwickelt, Frisch dagegen bekannte sich zum Privaten als der eigentlichen Domäne der Literatur[12]. In diesem Sinne spricht durch einen Titelhelden wirklich einmal der Autor, da Gantenbein überlegt: Literatur muss politisch sein und Gesellschaft verbessern, um nicht „sinnlos“ und „unverantwortlich“ zu sein. Doch das Leben dreht sich dennoch immer um das „einzelne[n] Ich“ (siehe Zitat S.3, dem Essay vorangestellt).

Die große Wut des Philipp Hotz ist eine Parodie ohne direkten politischen Bezug oder Hintergrund. Die Hauptfigur, Hotz, ist ein Intellektueller, der vergeblich versucht, durch Ausschalten des Geistes zu handeln, um von seiner Frau ernst genommen zu werden. In letzter Konsequenz will er tatkräftig der Fremdenlegion beitreten. Diese lehnt ihn wegen Kurzsichtigkeit ab. Er scheitert somit auf ganzer Linie und kehrt zu seiner Frau zurück. Am Ende bleibt scheinbar alles beim alten: seine Frau fällt ihm zur Begrüßung selig um den Hals und Hotz antwortet: „ist Post für mich gekommen?“[13].

Ein politisch-marxistisches Ziel ist hier keinesfalls zu erkennen. Doch ist der Schwank um Philipp Hotz deswegen kein episches Theater?

Brechts Methode der Verfremdung nutzt Frisch in seinem Schwank durchaus. Bereits in seiner Vorstellung vom Bühnenbild (1958) wird die Intention einer antinaturalistischen, antiillusionistischen und experimentellen Aufführung deutlich:

das Zimmer [...] erscheint [...] ohne Wände; also gegenüber dem sonstigen Bühnenboden erhöht. [...] es soll eine Bühne auf der Bühne sein, ein Podest, eine Schlachtbank. Natürlich wird die Gefahr von Naturalismen, die naheliegen könnten, dadurch nicht gebannt, wenn der Hauptdarsteller seinerseits nicht Clown genug wäre; die Bühne auf der Bühne [...] gibt dem Hauptdarsteller [...] die Möglichkeit, in augenfälliger Wiese aus der Szene zu treten, dahin nämlich, wohin die anderen Figuren nie gelangen, und dann wieder in die Szene zu steigen[14]

Durch das Bühnenbild, sowie durch die Anweisungen an den Darsteller zur Spielart und Bewegung, soll hier die „Gefahr von Naturalismen“ gebannt werden – das ist Brechtsches Denken im reinsten Sinne. Und Verfremdung steckt ebenfalls in der Fabel. Beispielsweise in dem ständigen Wechsel zwischen Szenen und Conférencen, in denen Hotz aus der Bühne auf der Bühne heraustritt und das Publikum direkt anspricht: „Ich weiß, auch Sie, meine Damen und Herren, stehen ganz und gar auf der Seite meiner Frau“[15]. Das Spiel wird dem Zuschauer immer wieder als Theater bewusst gemacht, wenn Hotz Kommentare und Erklärungen an das Publikum abgibt und wie ein Erzähler die Handlung vorausdeutet:

Ich habe gesagt: Eher zertrümmere ich unsere ganze Wohnung! – aber man nimmt mich ja nicht ernst, man lächelt, man geht nach Hause Arm in Arm mit mir, man traut es mir nicht zu, bloß weil ich ein gebildeter Mensch bin... [...]

Man soll mich kennenlernen.

Er tritt in die Szene.[16]

Außerdem nimmt der Charakter von Hotz selbst, das lächerlich Überzogene und ins Unglaubhafte überspannte seiner Figur, bereits dem Zuschauer die Illusion einer Realität. Er will entschlossen klingen und sicher, packt aber in ein „winziges Köfferchen“ nur Hemd, Zahnbürste und Pyjama „Alles Weitere, nehme ich an, liefert die Fremdenlegion.“[17] Hotz muss sogar künstlich seine Wut aufrechterhalten: „Nur jetzt nicht die Wut verlieren!“[18] Und seine Handlungsfähigkeit will er unter Beweis stellen, indem er die Wohnung zertrümmert. Hotz handelt allerdings auch hier nicht im Affekt; er engagiert zwei „Dienstmänner“ und erläutert seiner Frau: „Ich habe Ihnen die Liste gegeben. Wegen Frauengut. Es wird nicht berührt, was du in die Ehe gebracht hast. Nicht berührt. Ich gehe mit Hemd und Zahnbürste, wie du siehst, ohne deinen Dünndruck-Goethe“[19].

Die Diskrepanz zwischen Hotz´ Aussagen und seinem Handeln ist zu offensichtlich, zu grotesk und lächerlich – Hotz ist nicht „wirklich“. Keinen Moment zweifelt der Zuschauer daran, dass eine Parodie auf den pedantisch akkuraten, Schweizer Intellektuellen schlechthin gegeben wird; vielleicht sogar auf die Schweiz an sich.

Doch die Krönung der Desillusionierung ist, wenn Hotz einen Widerspruch aufdeckt, der nur durch das Theater aufgehoben werden kann. „Was ich sagen wollte: eigentlich kann ich gar nicht wissen, was hier vorgeht – eigentlich bin ich in diesem Augenblick drunten bei Frau Oppikofer...“[20] Der Darsteller ist in diesem Ausspruch Figur, Schauspieler, Erzähler und impliziter Autor zugleich.

Somit hat Max Frisch mit Die große Wut des Philipp Hotz einen durch und durch anti-illusionistischen Schwank verfasst. Das, was ihn von dem epischen Theater in Brechtschem Sinne allerdings unterscheidet, ist die Aussage im Hintergrund. Frisch ruft hier nicht zu einem neuen, besseren Gesellschaftssystem auf, erst recht zu keinem Marxistischen. Er kritisiert durch Parodie und Übertreibung und regt dadurch zur Kritik, vielleicht sogar Selbstkritik an. Ob der Zuschauer daraufhin handelt oder nicht, ja, ob Handlungsbedarf überhaupt besteht, überlässt Frisch dem Zuschauer, „Ich schreibe nicht um zu lehren“[21], „Zu fragen bin ich da und nicht zu antworten“[22].

[...]


[1] Frisch 1964, S.68

[2] Hahnengrep 1992, S.5

[3] Brecht 1948/49, S.65

[4] Siehe hierzu: Duden – 1

[5] Siehe hierzu das Schema mit einigen „Gewichtsverschiebungen vom dramatischen zum epischen Theater“ in Brecht 1938, S. 78.

[6] Brecht 1948/49, S.92

[7] Brecht 1948/49, S.81

[8] Brecht 1948/49, S.78f.

[9] Zitiert nach Kesting 1980, S. 453

[10] Kesting 1980, S. 459

[11] Siehe hierzu Frisch in: Der Autor und das Theater. Öffentlichkeit als Partner. Zitiert nach Gontrum 1980, S.168

[12] Ebd. S.459

[13] Frisch 1958, a, S. 521

[14] Frisch 1958, b

[15] Frisch 1958, a, S. 487

[16] Frisch 1958, a, S. 487

[17] Ebd. S.487

[18] Ebd. S.493

[19] Ebd. S.495

[20] Ebd. S.507

[21] Frisch im Briefwechsel mit Walter Höllerer, zitiert nach Gontrum 1980, S.166

[22] Frisch in seinem Tagebuch, zitiert nach Gontrum 1980, S. 167

Ende der Leseprobe aus 16 Seiten

Details

Titel
Zwei Stücke - drei Dramatiker: Bertolt Brechts Theatermaximen in Max Frischs 'Die große Wut des Philipp Hotz' und Friedrich Dürrenmatts 'Der Besuch der alten Dame'
Hochschule
Universität Leipzig  (Germanistik)
Veranstaltung
Bilder Helvetias in der neueren Literatur in der deutschsprachigen Schweiz
Note
1,8
Autor
Jahr
2007
Seiten
16
Katalognummer
V73264
ISBN (eBook)
9783638740722
ISBN (Buch)
9783638903486
Dateigröße
460 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
In dem folgenden Aufsatz geht es um die beiden Schweizer Literaturgrößen Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt. Es geht um deren Rezeption der Theaterrevolution Bertolt Brechts, des episches Theaters der Desillusion und der Verfremdung. Frisch sowie Dürrenmatt nehmen Brechts Anregungen in ihre Stücke auf, legen jedoch Brechts Ideologie beiseite und verfolgen ihre eigenen, sehr unterschiedliche Ziele. Dies wird Anhand eines Vergleiches der oben genannten (Titel) Stücke analysiert.
Schlagworte
Zwei, Stücke, Dramatiker, Bertolt, Brechts, Theatermaximen, Frischs, Philipp, Hotz, Friedrich, Dürrenmatts, Besuch, Dame, Bilder, Helvetias, Literatur, Schweiz
Arbeit zitieren
Carolina Franzen (Autor:in), 2007, Zwei Stücke - drei Dramatiker: Bertolt Brechts Theatermaximen in Max Frischs 'Die große Wut des Philipp Hotz' und Friedrich Dürrenmatts 'Der Besuch der alten Dame', München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/73264

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