Antidemokratische Haltungen werden hierzulande nicht nur mit Blick auf Querdenker/innen, Pegida-Aktivist/innen und Propagandist/innen der Neuen Rechten, sondern auch im Zuge von Gewalttaten wie denen in Hanau, Halle und Kassel sichtbar. Zugleich lässt das parlamentarische Erstarken der Alternative für Deutschland (AfD) erkennen, dass demokratische Prinzipien als Grundlage für ein gelingendes Miteinander von einem quantitativ bedeutenden Teil der Gesellschaft nicht mehr erkannt, nicht mehr verstanden oder sogar abgelehnt werden. Was aber folgt aus dem allseits anerkannten Befund, dass etablierte demokratische Prinzipien mehr und mehr verletzt werden? Wie lässt sich dem Umstand begegnen, dass enttäuschte Demokrat/innen (mit volatilen Überzeugungen) und erklärte Feinde der Demokratie (mit manifesten Überzeugungen) auf die Straße gehen? Wie kann in einer historisch außergewöhnlich politisierten, emotionalisierten und medialisierten Zeit die Sensibilität für die Vorzüge unserer Demokratie als Staats- und Lebensform erhalten oder geweckt werden? Und schließlich: Wie sollte auf im Schulkontext artikulierte antidemokratische Positionen reagiert werden?

Der von Carl Deichmann und Marc Partetzke vorgelegte Sammelband „Demokratie im Stresstest“ sucht nicht nur nach Antworten auf die genannten Fragen, sondern liefert mit der 332 Seiten zählenden Anthologie zugleich eine lesenswerte Krisendiagnose. Unter Verweis auf die Krisendiskurse der vergangenen Jahre erkennen die Herausgeber neben einer Legitimations‑, Repräsentations- und/oder Souveränitätskrise auch eine veritable Krise der Demokratie insgesamt, wenn sie schreiben, dass „die mannigfachen Stresstests, denen sie ausgesetzt ist, in immer kürzeren Abständen“ auftreten und teilweise „eine völlig neue Qualität“ aufweisen (S. VII).

Deichmann und Partetzke ist beizupflichten, wenn sie konstatieren, dass der Verlust der von Ralf Dahrendorf (1992) beschriebenen „Ligaturen“, d. h. jener tief verankerten „kulturelle[n] Bindungen, die Menschen in die Lage versetzen, ihren Weg durch die Welt der Optionen zu finden“, unablässig voranschreiten. „[N]icht zuletzt deshalb, weil im Zeitalter der Digitalisierung die Kommunikationsstrukturen in der Alltagswelt der Schüler*innen durch soziale Medien zwar einerseits zu demokratischem Engagement führen, andererseits aber durch politische Stimmungen, Emotionen und immer neue ‚Empörungswellen‘ geprägt sind“ (S. VII), können Politikdidaktik und politische Bildung als in besonderer Weise herausgefordert gelten.

In diesem Kontext besteht das Ziel des vorliegenden Sammelbandes nicht nur darin, die genannten politischen und gesellschaftlichen Phänomene unter politikdidaktischen Aspekten zu analysieren. Zugleich zielt das Werk darauf, „Forschungsansätze, laufende Forschungsprojekte, Methoden der Lehr-Lernforschung und Forschungsergebnisse vorzustellen, die sich auf die veränderten Bedingungen in der (außer-)schulischen politischen Bildung und mögliche Unterrichtsprojekte beziehen“ (S. VII). Die Beiträge diagnostizieren dabei nicht nur die gesellschaftliche und politische Realität, sondern entwickeln sie zu einer als wegweisend zu lobenden „Realitäts- und Zeitanalyse“ (ebd.) weiter. Noch immer koexistieren im Feld der politischen Bildung streng individuelle Ansätze, die allein auf die Subjekte als Erklärungsgrößen (z. B. für politische Sozialisationsprozesse) zielen, sowie gesellschaftssoziologische Ansätze, die der Eingebundenheit in soziale Gruppen und Netzwerke besondere Bedeutung beimessen. Diese Trennlinie durchbricht der vorliegende Sammelband mittels des methodischen Zugriffs als Bindeglied. Von einem gemeinsamen methodologischen Grundverständnis ausgehend, adressiert er zudem die „Dimension der sozialen und politischen Institutionen“ sowie die „Dimension der regulativen Ideen und der Werte“ (S. V).

Eröffnet wird der Reigen der 17 thematisch vielschichtigen Beiträge mit einem lesenswerten Zugriff von Johannes Schmoldt, der das Verhältnis von Rhetorik und Hermeneutik in den Blick nimmt, um – ausgehend von Arbeiten Hans-Georg Gadamers – einige zentrale Säulen für Kommunikationsanlässe und -prozesse im Kontext politischer Bildung zu beleuchten (S. 13): „Prinzipiell ist daher in der Politischen Bildung jede Redesituation geeignet, über erzielte oder nicht erzielte Wirkungen zu reflektieren.“ Es wäre insofern ein weiteres Mittel zur rhetorisch-hermeneutischen Urteilsbildung, Lernende stärker über angestrebte und erreichte Wirkungen und entsprechende Strategien reflektieren zu lassen. Tonio Oeftering begründet zu Recht, dass „die Frage, in welcher Welt wir eigentlich leben, […] sich nicht nur immer dringlicher [stellt], weil eine Antwort auf sie die Voraussetzung für zukünftige Handlungsfähigkeit darstellt“ (S. 17). Angesichts der zunehmenden Komplexität gesellschaftlicher Entwicklungen scheint die Frage, unter welchen Vorzeichen politische Bildung stattfinden kann, immer schwieriger zu beantworten. Dies gelte vor allem dann, wenn man den Blick auf das zuletzt intensiv beleuchtetete „Verhältnis von Rationalität und Emotionen in der politischen Bildung“ richte (S. 24). Die Marburger Politikdidaktikerin Susann Gessner sieht die Aufgabe politischer Bildung unter Verweis auf die allgemeinpädagogischen Arbeiten von Arno Combe und Ulrich Gebhard insbesondere darin, verfestigte Selbst- und Weltinterpretationen herauszufordern, um Verstehens- und Verständigungsprozesse anzuregen (vgl. S. 78).

Stefan Müller führt in seinem Beitrag mit dem Titel „Perspektivenvielfalt und Normativität als Antwortmöglichkeiten der politischen Bildung auf demokratische Herausforderungen?“ eine Differenzierung ein, welche die Struktur von Perspektivenvielfalt zwischen additiven und reflexiven Modellen am „Idealbild“ diskutiert (S. 103–121). Diesem theoretisch ausgerichteten Beitrag stehen zwei Texte gegenüber, die sich aktuellen gesellschaftspolitischen Fragestellungen aus einer dezidiert praxisorientierten Perspektive widmen. Julian Kreienhoop und Hendrik Schröder gehen in ihrem Beitrag „fact or fake? Eine politikdidaktische Untersuchung“ u. a. der Frage nach, ob Schüler/innen Informationen von Desinformationen unterscheiden können oder ob sie sich im Rahmen ihrer politischen Urteilsbildung von fingierten Likes und Sharepics beeinflussen lassen (S. 211–228). Dabei rekurrieren sie auf einen Fragebogen, den die Autoren im Rahmen einer ersten Stichprobe in der neunten Jahrgangsstufe eines Gymnasiums eingesetzt haben. Theoretisch angebahnt wird der Beitrag von Wolf J. Schünemann, der unter der Überschrift „Das Desinformationsdilemma“ nicht nur die bislang vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Wirkung von Desinformation auf demokratische Kommunikationsprozesse skizziert, sondern zugleich verschiedene empirische Verfahren der Effektmessung kritisch beleuchtet, um – ausgehend von dem Bewusstsein für die diskursiven Verwundbarkeiten unserer Zeit – Aufträge für die politische Bildung zu formulieren (S. 193–210).

Als überaus aufschlussreich ist sodann der den vorliegenden Band abschließende Beitrag anzusehen. Die Politikwissenschaftlerin Isabelle-Christine Panreck wirft einen Blick über den Ärmelkanal, wenn sie den Weg der curricularen Verankerung von Demokratiebildung in England nachzeichnet, um zu erklären, warum das Fach Citizenship dort erst 2002 an weiterführenden Schulen verpflichtend eingeführt wurde (S. 316): „So hat das Verweisen von Bildungspolitik in die Sphäre des Privaten in England Tradition. […] Der Druck, politische Bildung als Schulfach zu etablieren, ging einige Dekaden beinahe ausschließlich von Lehrer*innen und Schulen aus.“ Nahezu ausschließlich auf deren Drängen bahnte sich politische Bildung ab den 1870er-Jahren über den Geschichtsunterricht ihren Weg in die Lehrpläne. Erst als Reaktion auf die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts rückten „die Teilhabe an demokratischen Prozessen und der Schutz der liberalen Demokratie in den Vordergrund, freilich ohne in die gesetzliche Verankerung eines Schulfaches zu münden“ (S. 316).

Der Tagungsband trägt neben einem forschungs- zugleich ein zentrales bildungspolitisches Anliegen in sich. Dabei überzeugt er durch gesellschaftspolitische Aktualität, hohe thematische Relevanz und ein besonderes Maß an Konsistenz hinsichtlich des method(olog)ischen Zugriffs. Mit dem Fokus auf hermeneutische Verfahren wird dem in der politischen Bildung mitunter vernachlässigten Forschungsstrang der hermeneutischen Politikdidaktik eine sichtbare Plattform geboten. Schließlich symbolisiert der Band die Intergenerationalität hermeneutischer Politikdidaktik. Mit Carl Deichmann, seit 2011 Emeritus der Friedrich-Schiller-Universität Jena, und seinem 2020 auf die Professur für Politikdidaktik und Politische Bildung an der Universität Hildesheim berufenen Schüler Marc Partetzke lenken gleich zwei publikationsstarke Kollegen ihr Augenmerk auf die mitunter (zu) wenig beachtete Forschungsmethode der hermeneutischen Politikdidaktik. Ihnen gelingt es mit der Zusammenschau der Beiträge, den Zusammenhang zwischen hermeneutischer Politikdidaktik auf der einen und wissenschaftlichen Methoden der Lehr-Lern-Forschung auf der anderen Seite zu diskutieren.

Dem Band ist indes noch aus einem weiteren Grund zu wünschen, dass er in den kommenden Jahren und Jahrzehnten als kostbarer Steinbruch politikdidaktischer Forschungsfragen wahrgenommen werden wird. So könnte er einen gewichtigen Beitrag zur Illumination politischer Bildung in politikwissenschaftlichen Kontexten leisten, lässt die Strahlkraft der politischen Bildung respektive der Politikdidaktik außerhalb der Domäne doch mitunter zu wünschen übrig. Dass dies nicht gerechtfertigt ist, zeigt die Tatsache, dass unsere „Demokratie im Stresstest“ eine „Demokratiebildung“ verlangt, die den reflektierten Umgang mit divergierenden oder gar widerstreitende Perspektiven auf politische Sachverhalte schult.