Einleitung und Problemstellung

Die im German Journal of Exercise and Sport Research geführte Debatte über die Anerkennung wettkampfmäßiger Video- und Computerspiele – des sogenannten eSports – als Sport hat auch zu einer Wiederbelebung der für lange Zeit ruhenden Diskussion um eine wissenschaftliche Bestimmung respektive Definition des Sportbegriffs geführt. Diese Debatte fand ihren Ausgangspunkt in den Diskussionsbeiträgen von Borggrefe (6,7,a, b), Wendeborn, Schulke, und Schneider (2018) sowie Seven (2018) und wurde anschließend in zwei Hauptbeiträgen von Willimczik (2019) und Schürmann (2019) aufgegriffen.

Borggrefe (6,7,a, b) argumentiert auf der Basis systemtheoretischer Überlegungen Stichwehs (1990), dass sich wettkampfmäßige Video- und Computerspiele nicht sinnhaft an das soziale System Sport anschließen lassen und dass sie die gesellschaftliche Legitimität des Sports gefährden, und sie leitet daraus Handlungsempfehlungen für den organisierten Sport im Umgang mit eSport ab, die im Kern eine klare Abgrenzungsstrategie beinhalten. Diese Überlegungen haben sowohl Kritik an dem gewählten systemtheoretischen Bezugsrahmen und der daraus abgeleiteten Abgrenzung zwischen Sport und eSport, als auch an dem Versuch, das Phänomen „Sport“ überhaupt theoretisch fassen und abgrenzen zu wollen, hervorgerufen.

So üben Wendeborn et al. (2018) Kritik an dem von Stichweh (1990) abgeleiteten Verständnis von Sport und diskutieren alternative Zugänge, um die Anschlussfähigkeit des eSports an den Sport zu prüfen. Seven (2018) sieht bei Borggrefe eine „Fehleinschätzung der konstitutiven Relevanz der Bewegung im Sport“ (ebd.), die die „sportwissenschaftliche Ächtung“ des eSports mit dem „Hinweis auf die mangelnde Kopplung der motorischen Aktivität des spielenden Individuums und der daraus resultierenden Aktion des Avatars“ begründe (ebd.) und verweist hingegen auf die „instrumentelle Funktion des Avatars“, dessen Bewegungsausführung „in ihrer Qualität ursächlich durch ein spielendes Individuum bestimmt“ werde (2018, S. 585). Willimczik (2019) geht davon aus, dass „die Ableitung des Sportbegriffs aus sozialwissenschaftlichen Theorien aus prinzipiellen Gründen nicht möglich sei“ (2019, S. 82). An Stichwehs Vorschlag des binären Codes „Leisten/Nicht-Leisten“ kritisiert er, „dass er seinem eigenen Anspruch nicht gerecht wird, Sport von anderen Gesellschaftssystemen (z. B. Kunst oder Gesundheit) abzugrenzen, also das System „singulär“ zu machen“ (ebd.). Legte man darüber hinaus nicht Stichwehs Code-Vorschlag, sondern den von Schimank (1988) – „Sieg/Niederlage“ – zugrunde, dann „spräche alles dafür, dass der DOSB den eSport-Verband als Mitgliedsorganisation aufnehmen muss“ (Willimczik, 2019, S. 82f.). Gleichzeitig moniert Willimczik, dass beide – Stichweh und Schimank – „den Sport (unberechtigterweise) auf den traditionellen Wettkampfsport“ einschränkten (ebd.). Schürmann (2019) kritisiert schließlich Borggrefes „Doppelstrategie“, „angesichts des Faktums der Pluralität von Sportverständnissen eine Definition zur Grundlage zu machen und weder darauf zu reflektieren, warum diese Definition und keine andere, noch darauf zu reflektieren, wie man zu Definitionen kommt“ (2019, S. 4; Hervorhebungen im Original).

Reflektiert man diese Kritikpunkte, dann dürften einige auch daraus resultieren, dass das Format der Diskussionsbeiträge keine tiefergehenden wissenschaftlichen Analysen ermöglichte und theoretische Überlegungen zum Teil nur angedeutet bzw. zugespitzt formuliert dargelegt werden konnten. Der vorliegende Beitrag zielt daher auf die Elaborierung der systemtheoretischen Überlegungen zur Unterscheidung von Sport und eSport, die im Rahmen der Diskussionsbeiträge (Borggrefe, 6,7,a, b) nicht geleistet werden konnte, um damit implizit auch den genannten Kritikpunkten zu begegnen. Dazu wird im ersten Schritt der Frage nachgegangen, wie sich Sport überhaupt mithilfe von Theorien beobachten lässt und welche erkenntnistheoretische Position dem systemtheoretischen Ansatz zugrunde liegt. An diese Überlegungen anschließend wird Sport zunächst gesellschaftstheoretisch beobachtet, um darzulegen, wie sich die Einheit des Sportsystems in soziologischer Perspektive konstruieren lässt. Zudem werden Formen der strukturellen Kopplung des Sportsystems mit anderen gesellschaftlichen Teilsystemen reflektiert. Von dieser gesellschaftstheoretischen Konstruktion wird in der weiteren Analyse die organisationstheoretische Beobachtung von Sport und eSport unterschieden, bei der die Integration von eSport als Entscheidungsproblem von Sportverbänden und -vereinen konstruiert wird. Abschließend werden weitere Perspektiven für die wissenschaftliche Beobachtung von Sport und eSport skizziert.

Erkenntnistheoretische Überlegungen

Auf der Grundlage der Kybernetik zweiter Ordnung (von Foerster) hat sich das konstruktivistische Erkenntnisprogramm der soziologischen Systemtheorie von Anfang an von ontologischen Beschreibungen der Welt abgegrenztFootnote 1 und stattdessen die Frage in den Mittelpunkt gerückt, wie unterschiedliche Beobachter die Welt beobachten. Im Kontext des vorliegenden Beitrags geht es also nicht darum zu bestimmen, was Sport ist, sondern wie er im Rahmen wissenschaftlicher Analysen als gesellschaftliches Phänomen beobachtet werden kann und wie er folglich von anderen Phänomenen abgrenzt werden kann (siehe zu diesen erkenntnistheoretischen Überlegungen allgemein Luhmann, 1992, S. 68ff., zur Anwendung auf den Sport Bette, 1999, S. 44ff.).

Ein wissenschaftlicher Beobachter beobachtet die Welt anhand von Theorien, d. h. beobachtungsleitenden Unterscheidungen, die es ermöglichen sollen, die Welt zu ordnen und zu verstehen. Dabei kann jedes beobachtende System „nur sehen, was es sehen kann. Es kann nicht sehen, was es nicht sehen kann. Es kann auch nicht sehen, daß es nicht sehen kann, was es nicht sehen kann“ (Luhmann, 2004b [1986], S. 52). Jede Theorie hat also ihre eigenen „blinden Flecken“, die nur durch eine „Beobachtung der Beobachtung“, also eine Beobachtung zweiter Ordnung, aufgehoben werden können (vgl. Luhmann, 1992, S. 64). Die Beobachtung zweiter Ordnung mit ihren wiederum spezifischen Unterscheidungen zielt darauf, zu erkennen, welche Unterscheidungen der Beobachter erster Ordnung verwendet hat, was er in seiner Beobachtung ein- und was ausgeschlossen hat. Der Beobachter erster Ordnung kann also beobachtet werden „im Hinblick auf das, was er sehen, und im Hinblick auf das, was er nicht sehen kann“ (ebd.). Wissenschaftliche Erkenntnis setzt also voraus, dass ein Beobachter seine beobachtungsleitenden Unterscheidungen, also die Art und Weise, wie er ein Phänomen beobachtet, nachvollziehbar macht, so dass sie von anderen Beobachtern im Hinblick auf mögliche „blinde Flecken“ beobachtet werden können. Das Offenlegen der beobachtungsleitenden Unterscheidungen ist in diesem Sinne Bedingung der Möglichkeit für wissenschaftliche Anschlusskommunikation sowie den damit einhergehenden Erkenntnisgewinn.

Wenn im Rahmen des vorliegenden Beitrags also das Phänomen „Sport“ entlang der soziologischen Systemtheorie Luhmannscher Prägung beobachtet wird, dann geht es darum, ein Beobachtungsangebot zu unterbreiten, das darauf zielt, den Sport als gesellschaftliches Phänomen zu fassen und von anderen Phänomenen abzugrenzen. Damit soll zugleich explizit zu Beobachtungen zweiter Ordnung angeregt werden, also zu Anschlusskommunikationen im Sinne der Auseinandersetzung mit den beobachtungsleitenden Unterscheidungen des vorliegenden Beitrags.Footnote 2

Die nachfolgenden systemtheoretischen Überlegungen sind von der zentralen beobachtungsleitenden Prämisse geprägt, dass sich Sport als Phänomen weder durch Rekurs auf körperlich-biologische Faktoren, also Formen körperlicher Beanspruchung und physiologischer Reaktionen, noch durch psychische Faktoren, z. B. bestimmte Motive des Sporttreibens, hinreichend erklären lässt, sondern dass es hierzu der Berücksichtigung sozialer Faktoren bedarf, z. B. der Reflexion darüber, wie der Sport zu einem gesellschaftlich relevanten Thema wird und welche kommunikativen Anschlüsse er produziert. Das Soziale wird dabei in Form sozialer Systeme konstruiert, die aus Kommunikation bestehen und sich in selbstreferenzieller, autopoietischer Weise fortlaufend reproduzieren, also eine je systemspezifische Handlungslogik ausdifferenzieren, die die Kontingenz des Handelns der an der Kommunikation partizipierenden Individuen reguliert (siehe dazu ausführlich Luhmann, 1984). Im Kontext des vorliegenden Beitrags wird der Fokus auf zwei Ebenen der Ausdifferenzierung sozialer Systeme gerichtet, nämlich „Gesellschaft“ und „Organisation“.Footnote 3

Sport und eSport gesellschaftstheoretisch beobachtet

Die soziologische Systemtheorie beschreibt die moderne Gesellschaft als eine funktional differenzierte, die sich in unterschiedliche gesellschaftliche Funktionssysteme gliedert. Diese Beschreibung resultiert daraus, dass Luhmann die unterschiedlichen Teilsysteme zunächst danach differenziert hat, welche unverzichtbare Funktion sie für die Gesellschaft erbringen. So ist z. B. das Politiksystem dafür zuständig, dass kollektiv bindende Entscheidungen getroffen werden, das Wirtschaftssystem kümmert sich um die Bereitstellung von Gütern und Dienstleistungen, um Bedürfnisse von Konsumenten zu befriedigen, das Wissenschaftssystem produziert „Wahrheiten“, und das Medizinsystem ist für die Heilung von Krankheiten zuständig. Im Zuge der sogenannten autopoietischen Wende hat Luhmann dann allerdings seine gesellschaftstheoretische Konzeption vom Funktionsbegriff auf den Begriff des binären Codes umgestellt. Binäre Codes spezifizieren die autopoietische Reproduktion gesellschaftlicher Funktionssysteme, indem sie Sinngrenzen für anschlussfähige Kommunikationen sowie für die systemspezifische Handlungslogik beschreiben, die die Kontingenz des sozialen Handelns im System reguliert (siehe hierzu ausführlich Luhmann, 2004b [1986], S. 75ff.). Der Positivwert beschreibt dabei jeweils kommunikative Anschlussfähigkeit, der Negativwert fungiert als Abgrenzungswert. So operiert das Politiksystem entlang des binären Codes „Macht haben/keine Macht haben“ und legt demnach Handlungen nahe, die auf die Gewinnung bzw. Sicherung politischer Macht gerichtet sind. Die Wirtschaft strukturiert ihre systemspezifischen Kommunikationen entlang des Codes „zahlen/nicht zahlen“: Nur wer Geld hat, kann an wirtschaftlichen Kommunikationen teilhaben, also etwas kaufen oder produzieren, wer kein Geld hat, muss zunächst seine Zahlungsfähigkeit wiederherstellen, z. B. über bezahlte Arbeit oder die Veräußerung von Gütern.

Auf der Basis der Theorie funktionaler Differenzierung haben mehrere Autoren Vorschläge unterbreitet, auch den Sport als ein gesellschaftliches Funktionssystem zu beschreiben. Zu nennen ist hier in chronologischer Reihenfolge zunächst die Arbeit von Cachay (1988), der im Rahmen historischer Analysen die Ausdifferenzierung des Sportsystems über funktionale Anschlussofferten im Medizin- und Erziehungssystem bestimmt, dabei jedoch die autopoietische Wende nicht berücksichtigt und folglich auch keinen binären Code beschreibt. Der erste Vorschlag einer sportspezifischen binären Codierung stammt vielmehr von Schimank (1988), der die zentrale Handlungslogik des Sports mit „Sieg/Niederlage“ kennzeichnet: „Gleichgültig wer wann wo welchen Sport betreibt: Er will seinen Gegner besiegen und die eigene Niederlage vermeiden“ (S. 185).Footnote 4 Eine Besonderheit des Sportsystems sieht Schimank darin, dass sich dieses nur über den binären Code von anderen Systemen abgrenzen lässt, nicht aber über eine unverzichtbare systemspezifische Funktion (S. 183). Dies kompensiert der Sport jedoch dadurch, dass er zum „Kristallationspunkt einer Pluralität von Leistungsbezügen anderer gesellschaftlicher Teilsysteme wurde“, weil er „multifunktional instrumentalisierbar“ ist (S. 198), also beispielsweise zu erzieherischen, politischen, militärischen, gesundheitlichen und wirtschaftlichen Zwecken genutzt werden kann (S. 198ff.).

Stichweh (1990) definiert den Sport der modernen Gesellschaft hingegen als „jenes Funktionssystem, das aus allen Handlungen besteht, deren Sinn die Kommunikation körperlicher Leistungsfähigkeit ist“ (S. 379f.) und hebt damit drei Aspekte, die die Einheit des modernen SportsFootnote 5 prägen, hervor: Dies betrifft erstens den Körperbezug, der besagt, dass jede Operation im Kontext des Sports immer eine „Handlung des Körpers“ (S. 379) ist. Diese Handlung des Körpers bezeichnet zweitens „eine Leistung, die auf die Leistungsfähigkeit des an ihr beteiligten Körpers schließen lässt“ (ebd.). Das Besondere der Leistungen im Sport ist drittens, dass „ihr Sinn […] nicht irgendeine Verwertbarkeit ihrer Wirkung außerhalb des Sports [ist]“ (ebd.). Die Leistung ist also im Sport Selbstzweck und nicht nur Mittel zum Zweck, systemspezifische Ziele zu erreichen.Footnote 6

Was im Sportsystem als Leistung fungiert, lässt sich mit Hilfe des Begriffs des „Rekords“ bestimmen, den Stichweh, anders als Schimank, nicht als „vereinzelte Sonderleistung“, die es zu überbieten gilt, versteht, sondern im Sinne der „Aufzeichnungsspur, die jede einzelne Leistung im System hinterläßt“, d. h., die „Aggregation von Leistungen wird im System als Erwartung hinsichtlich zukünftiger Leistungen verwendet“ (ebd., S. 384). In diesem Sinne übt Stichweh dann auch Kritik an Schimanks Codevorschlag „Sieg/Niederlage“, weil dieser den Sport auf den agonalen Aspekt, also wettkampfbezogene Leistungen, eingrenzt (ebd., S. 385) und damit körperliche Leistungen, die nicht agonal strukturiert sind, wie zum Beispiel die des Läufers, „der sich […] allein auf die Laufbahn begibt, um seine 1500-m-Zeit zu testen“, nicht berücksichtigt (ebd., S. 386).Footnote 7 Stichweh schlägt daher als binären Code, der die Einheit des gesamten Sportsystems beschreibt, (körperliches) „Leisten/Nicht-Leisten“ vor (ebd., S. 387). Während „Leisten/Nicht-Leisten“ also als Leitorientierung und Primärcode des Sports insgesamt fungiert, stellt „Sieg/Niederlage“ eine Zweitcodierung dar, die die Handlungslogik des Spitzensports spezifiziert.Footnote 8

Die Operationen des Sportsystems sind – wie die aller sozialen Systeme – Kommunikationen, die weitere Kommunikationen anregen: „Ein Speerwurf ist als Mitteilung „Ich kann den Speer so weit werfen!“ zu verstehen.“Footnote 9 Eine Besonderheit des Sportsystems liegt darin, dass es auf die „Kommunikation von und die Kommunikation über körperliche Leistungen spezialisiert ist“ (ebd., S. 380), d. h., kommunikative Anschlüsse in zweierlei Hinsicht bietet – ein Aspekt, den Stichweh anführt, ohne ihn allerdings weiter zu erläutern. Eine Reflexion dieses Aspekts findet man jedoch bei Riedl (2006, S. 39ff.), der argumentiert, dass das Sportsystem seine Autopoiesis nicht ausschließlich auf der Basis der Kommunikation von körperlichen Leistungen aufrechterhalten kann, weil das Mitteilungshandeln auf nichtsprachliche Handlungen des Körpers reduziert ist, nicht aber auf Formen sprachlicher Codierung beruht: Man wirft den Speer, ohne dies verbal zu beschreiben. Daher bedarf es nach Riedl zusätzlich der Kommunikation über körperliche Leistungen, z. B. durch Schieds- oder Wettkampfrichter, die das Ergebnis der körperlichen Leistung verbalisieren und so sinnhafte Anschlüsse für die Kommunikation weiterer körperlicher Leistungen schaffen. Eine zentrale Funktion kommt in diesem Zusammenhang auch dem Publikum des Sports zu, das körperliche Leistungen beobachtet und darüber kommuniziert, also nichtsprachliche Kommunikationsprozesse in sprachliche transformiert und damit eine konversationelle Ebene erzeugt, auf der sich sportliche Handlungen beschreiben lassen, wodurch die kommunikative Anschlussfähigkeit des Systems erhöht wird und sportliche Handlungen als solche bezeichnet werden (Riedl, 2006, S. 60f.).

Mithilfe der Theorie funktionaler Differenzierung lässt sich das Sportsystem zum einen als selbstreferenzieller Kommunikationszusammenhang, der sich auf der Basis des binären Codes (körperliches) „Leisten/Nicht-Leisten“ in autopoietischer Weise reproduziert und von anderen Kommunikationszusammenhängen abgrenzt, beschreiben, zum anderen kann auch das Verhältnis des Sports zu seiner gesellschaftlichen Umwelt bestimmt werden. Dies deutet Schimank (1988) bereits an, wenn er, wie oben beschrieben, auf die „multifunktionale Instrumentalisierbarkeit“ des Sports in der Gesellschaft verweist. Systemtheoretisch betrachtet, lassen sich die Beziehungen des Sports zu anderen gesellschaftlichen Funktionssystemen mit dem Begriff der strukturellen Kopplung kennzeichnen, der beschreibt, wie gesellschaftliche Funktionssysteme trotz ihrer autopoietischen Reproduktion und der „legitimen Indifferenz“ (Tyrell, 1978) gegenüber der Handlungslogik der jeweils anderen Systeme, aufeinander reagieren können. Es geht also um das spezifische Verhältnis zwischen selbstreferenzieller Geschlossenheit und Umweltoffenheit der Systeme (siehe hierzu ausführlich Luhmann, 1997, S. 92ff. und 776ff.).

Von struktureller Kopplung spricht man dann, wenn systemspezifische Kommunikationen im Rahmen eines reziproken Leistungsaustauschs zur Lösung des Selbstreferenzproblems des jeweils anderen Systems beitragen. Als Beispiel lässt sich hier die strukturelle Kopplung von Recht und Politik über das Medium „Verfassung“ anführen: Das Rechtssystem operiert anhand der binären Codierung „Recht/Unrecht“ und ist dabei aber darauf angewiesen, dass überhaupt definiert wird, was Recht und was Unrecht ist. Diese Definition leistet die Politik durch die Verfassungsgebung. Umgekehrt operiert die Politik anhand des binären Codes „Macht haben/keine Macht haben“, wobei aber das Rechtssystem über die Einhaltung der Verfassung wacht und definiert, wer die politische Macht hat und kollektiv bindende Entscheidungen treffen darf. Beide Systeme sind demnach zur Aufrechterhaltung ihrer selbstreferenziellen Operationsweise (Gesetze verabschieden, Recht sprechen) auf Kommunikationen des jeweils anderen Systems angewiesen (Luhmann, 1997, S. 782f.). Ein solcher intersystemischer Austausch findet auch zwischen dem Sportsystem und anderen gesellschaftlichen Funktionssystemen statt, wobei sich kommunikative Anschlüsse in beiderlei Hinsicht, also bezogen auf die Kommunikation von und über körperliche Leistung ergeben. Zu nennen sind hier vor allem die strukturellen Kopplungen des Sports mit den Systemen Gesundheit, Erziehung, Wirtschaft, Massenmedien und Politik (siehe hierzu bereits Bette & Schimank, 1995, S. 52ff.; Riedl, 2006, S. 63ff.; Borggrefe & Cachay, 2010, S. 52f.; Dresen & Kläber, 2014, S. 58).

Blickt man zunächst auf die strukturelle Kopplung von Sport- und GesundheitssystemFootnote 10, dann lässt sich der reziproke Leistungsaustausch zur Lösung des Selbstreferenzproblems des jeweils anderen Systems wie folgt beschreiben: Die sportspezifische Kommunikation körperlicher Leistung kann im therapeutischen wie im präventiven Sinne genutzt werden, um Krankheiten zu behandeln bzw. Gesundheit zu fördern. Umgekehrt ist ein Mindestmaß an Gesundheit Voraussetzung dafür, dass körperliche Leistungen überhaupt kommuniziert werden können.Footnote 11 Dieses reziproke Verhältnis, das beispielsweise im Begriff „Gesundheitssport“ zum Ausdruck kommt, ändert jedoch nichts daran, dass es sich in beiden Fällen jeweils um autonome, selbstreferenziell operierende Funktionssysteme handelt.

Die strukturelle Kopplung von Sport- und Erziehungssystem beruht darauf, dass Sport – zum Beispiel im Rahmen des schulischen Sportunterrichts – zu einem Bildungsinhalt erklärt und so an die Vermittlungskommunikationen im Erziehungssystem angeschlossen wird. Dadurch erbringt das Erziehungssystem eine wichtige Leistung zur Lösung des Selbstreferenzproblems des Sportsystems, indem es zur Verbreitung und gesellschaftlichen Legitimation des Sports beiträgt. Dies funktioniert insoweit, als das Erziehungssystem dem Sport positive pädagogische Wirkungen zuschreibt.

Die strukturelle Kopplung zwischen Sport und Politik zeigt sich zum einen im Hinblick auf die Kommunikation von körperlichen Leistungen, da die Politik in der Gesellschaft nicht nur für das Treffen kollektiv bindender Entscheidungen zuständig ist, sondern darüber hinaus auch wohlfahrtstaatliche Aufgaben zu erfüllen hat, die die Gesundheitsfürsorge genauso betreffen wie die Förderung von Settings, in denen in erzieherischer Absicht Wissen und Werte vermittelt werden. Die wohlfahrtstaatliche Anschlussfähigkeit sportlicher Kommunikationen zeigt sich darüber hinaus auch in Integrationsleistungen im Hinblick auf Personen unterschiedlicher sozialer, ethnischer und kultureller Herkunft. Zum anderen eröffnet die Kommunikation über körperliche Leistungen politische Anschlussmöglichkeiten, weil die Politik Interesse am Publikum des Sports hat, das man der eigenen Handlungslogik entsprechend in Wähler transformieren und darüber hinaus auch die Leistungen des Sports zur Identifikationsstiftung und nationalstaatlichen Repräsentation nutzen möchte.Footnote 12 Im Gegenzug für die gesundheitlichen, erzieherischen, integrativen und identifikatorischen Leistungen des Sports versorgt die Politik diesen mit wichtigen Ressourcen, die zur Aufrechterhaltung der systemspezifischen Kommunikation benötigt werden, zum Beispiel mit Sportstätten und Fördergeldern.

Die strukturelle Kopplung zwischen Sport und Wirtschaft sowie Sport und Massenmedien schließt primär an die Kommunikation über körperliche Leistungen und das Publikumsinteresse an, das insbesondere der Spitzensport erzeugt. Genauso wie die Politik wollen auch Wirtschaft und Massenmedien das Publikum des Sports entsprechend ihrer eigenen Handlungslogik in Konsumenten bzw. Medienrezipienten (TV-Zuschauer, Zeitungsleser, Internet-User) transformieren. Der Sport bietet der Wirtschaft vielfältige und zielgruppenspezifische Werbemöglichkeiten sowie einen Imagegewinn, der auf Produkte abfärben und deren Absatz fördern soll. Für die Massenmedien stellt er fortlaufend spannende und berichtenswerte Ereignisse zur Verfügung, die eine hohe mediale Reichweite erzeugen. Im Gegenzug statten Wirtschaft und Massenmedien den Sport vor allem mit finanziellen Ressourcen aus (Sponsoringgelder, Zahlungen für Übertragungsrechte), die dieser benötigt, um die fortlaufende Reproduktion sportlicher (Spitzen‑)Leistungen aufrechtzuerhalten.

Blickt man im Lichte der dargelegten gesellschaftstheoretischen Überlegungen nun auf das Phänomen „eSport“, dann gilt es erstens zu reflektieren, ob sich eSport sinnhaft an die Kommunikation von und über körperliche Leistung anschließen lässt. Darüber hinaus ist zweitens zu analysieren, welche Funktionen und Folgen die kommunikative Einbeziehung von eSport für die strukturellen Kopplungen des Sportsystems mit anderen Systemen hätte. Die gesellschaftstheoretische Reflexion bezieht sich also sowohl auf die prinzipielle kommunikative Anschlussfähigkeit von eSport im System Sport als auch prospektiv auf die funktionale AnalyseFootnote 13 möglicher Auswirkungen einer Einbeziehung von eSport für die Beziehungen des Sports zu seiner gesellschaftlichen Umwelt. Die Ausführungen verbleiben jeweils auf der Ebene theoretischer Überlegungen, die als beobachtungsleitende Unterscheidungen für empirische Untersuchungen genutzt werden können.

Sinnhafte Anschlüsse für eSport?

„eSport“ bezeichnet das wettkampfmäßige Spielen von Video- bzw. Computerspielen auf Computern und Konsolen. Über Eingabegeräte (Computer-Maus, Tastatur, Controller) steuern die Spieler Avatare, wobei je nach Spiel und Genre dabei unterschiedliche Spielziele verfolgt werden. Zu den wichtigsten Genres gehören Shooter-Spiele (z. B. Counterstrike [Valve Corporation, Bellevue, WA, USA], Playerunknown’s Battlegrounds [PUBG Corporation, Seongnam, Südkorea], Call of Duty [Activision, Santa Monica, CA, USA]), in denen die Avatare beispielsweise kämpfende Soldaten, Polizisten und Terroristen symbolisieren, und Multi-Online-Battle-Arena(MOBA)-Spiele (z. B. League of Legends [Riot Games, Los Angeles, CA, USA], Dota [Valve Corporation, Bellevue, WA, USA]), in denen die Avatare Fantasiefiguren (z. B. Monster) darstellen. Beiden Genres ist gemein, dass der Sieg im Wettkampf jeweils über simulierte Tötungs- und Zerstörungshandlungen ermittelt wird. Eine dritte Spielekategorie bilden die Sportsimulationen (z. B. FIFA [Electronic Arts, Redwood City, CA, USA], NBA2K [2K Games, Novato, CA, USA]), in denen bekannte Sportarten wie Fußball oder Basketball im Videospiel simuliert werden. Die Wettkämpfe finden sowohl online als auch im Rahmen von Veranstaltungen, bei denen die Spieler vor Ort anwesend sind, statt. Es gibt Spiele, bei denen die Spieler im Eins-gegen-Eins antreten, wie auch Mehr-Spieler-Spiele. Die Beobachtung des eSports erfolgt über das digitale Spielgeschehen, nicht über die spielenden Spieler. Bei großen Wettkämpfen sitzen die Spieler beispielsweise in Containern und sind so von Publikum und Gegner getrennt.

Betrachtet man eSport nun entlang der von Stichweh genannten drei Merkmale zur Bestimmung der Einheit des Sports, dann lässt sich Folgendes festhalten: Das erste Merkmal – die Handlung des Körpers – ist im eSport über die Bedienung des Eingabegeräts, über das der Avatar gesteuert wird, gegeben. Auch das zweite Merkmal – die Leistung, die auf die Leistungsfähigkeit des an ihr beteiligten Körpers schließen lässt – ist erfüllt, denn eSportler entwickeln spezifische motorische Fähigkeiten und Fertigkeiten im Hinblick auf das „Klicken“ des Eingabegeräts, die viel Übung erfordern und die über Sieg und Niederlage im Wettkampf entscheiden. Das dritte Merkmal – Kommunikation körperlicher Leistung als Selbstzweck – ist im eSport hingegen nicht erfüllt. eSportler kommunizieren nicht, „Ich kann klicken!“ oder „Ich kann besser klicken als Du!“, sondern das Klicken ist ausschließlich Mittel zum Zweck, einen Avatar zu bewegen. Das Klicken allein erzeugt keine kommunikativen Anschlüsse, weder im Hinblick auf die Kommunikation von noch hinsichtlich der über körperliche Leistungen.Footnote 14 Auch die Zuteilung von Sieg und Niederlage erfolgt im eSport nicht darüber, wie viele Klicks pro Minute jemand schafft oder welche Tastenkombinationen koordinativ bewältigt werden, sondern darüber, wie viele Tore ein Avatar bei der Fußballsimulation schießt, wie viele gegnerische Monster getötet, Terroristen erschossen oder Panzer vernichtet werden, um Geländegewinne zu erzielen und die gegnerische Basis zu erobern. Selbstverständlich bewegen sich die Avatare nicht unabhängig vom Klicken der Spieler, aber das Klicken bleibt dabei nur Mittel zum Zweck, die körperliche Leistung ist nicht als Selbstzweck verstehbar. Dieser Gedanke lässt sich an einem Beispiel aus der Musik verdeutlichen: Genauso wie ein eSportler erbringt auch ein Pianist zweifellos hochkomplexe körperliche Leistungen, aber er kommuniziert damit doch nicht, wie virtuos er die Tasten bedient, sondern er macht Musik, und niemand ist bislang auf die Idee gekommen, Pianospielen als Sport zu beobachten, selbst dann nicht, wenn es im Rahmen von Wettbewerben wie „Jugend musiziert“ stattfindet. Und ebenso wenig taugt die motorische Aktivität des Klickens, wettkampfmäßige Computer- und Videospiele als Sport zu beobachten.Footnote 15 In diesem Sinne ist Seven (2018, S. 585) zu widersprechen, wenn er dem Avatar in Computer- und Videospielen eine „ähnliche Rolle“ wie dem Lenkdrachen beim Kitesurfen zuschreibt. Beim Kitesurfen erfolgt die Kommunikation der körperlichen Leistung in Form der Auseinandersetzung des Sportlers mit seinem Sportgerät, die als Handlungseinheit sinnhaft zu beobachten ist. Eine solche Handlungseinheit gibt es in der Beobachtung des eSports nicht: Wenn die Beobachtung des Klickens bedeutsam wäre, um Sinn zu erzeugen, dann könnte man in eSport-Übertragungen kaum darauf verzichten, parallel zum virtuellen Spielgeschehen auch die klickenden Hände einzublenden. Und man dürfte die klickenden Spieler bei den Wettkämpfen auch nicht durch Container von Gegnern und Zuschauern abschirmen.

Funktionen und Folgen für strukturelle Kopplungen

Reflektiert man die Überlegungen zu den strukturellen Kopplungen zwischen dem Sportsystem und anderen gesellschaftlichen Funktionssystemen, dann dürfte sich die Einbeziehung von eSport in den Kommunikationszusammenhang „Sport“ im Hinblick auf die betreffenden Systeme sehr unterschiedlich auswirken. Blickt man zunächst auf die Kopplung mit dem Gesundheitssystem, dann ist davon auszugehen, dass eSport die Leistungserbringung für das Gesundheitssystem massiv beeinträchtigen würde, denn wettkampfbezogene Computer- und Videospiele konterkarieren die positiven Effekte, die dem Sport im Hinblick auf die Heilung und Prävention von Bewegungsmangelkrankheiten zugeschrieben werden. Sie sind auf die Bewegung der Finger beschränkt und fördern die allgemeine Bewegungsarmut durch das Sitzen vor den Bildschirmen. Darüber hinaus hat die WHO 2018 Computerspielsucht als offizielle Krankheit eingestuft. Zu nennen ist zudem die Diskussion um die zunehmende Kurzsichtigkeit von Kindern und Jugendlichen, die mit Mediennutzung und der fehlenden Exposition gegenüber Tageslicht assoziiert wird.

Ebenso ist mit negativen Effekten im Hinblick auf die Leistungserbringung gegenüber dem Erziehungssystem zu rechnen: So weisen neurowissenschaftliche Erkenntnisse auf den problematischen Einfluss von Computer- und Videospielen auf Kinder und Jugendliche vor und während der Pubertät beispielsweise im Hinblick auf die Entwicklung der Empathiefähigkeit hin. Hinzu kommen pädagogische Legitimationsprobleme, die vor allem daraus resultieren, dass diejenigen Computer- und Videospiele, die die Wettkampfszene im eSport dominieren, die kommerziell am erfolgreichsten sind und die meisten Spieler und Zuschauer anziehen, diejenigen Spiele sind, in denen es um die Simulation von Töten, Zerstören und Erobern geht, also um Sinn-Kontexte, die mit Sport und den ethischen Werten, die ihm in pädagogischer Hinsicht zugeschrieben werden, nicht zu vereinbaren sind.

Um Missverständnisse zu vermeiden, gilt es mit Blick auf die beschriebenen Beziehungen zum Gesundheits- und Erziehungssystem zu betonen, dass diese auf positiven gesundheitlichen und pädagogischen Zuschreibungen beruhen, die den Sport insgesamt prägen, auch wenn er in seinen gesundheitlichen und pädagogischen Wirkungen durchaus ambivalent ist, also immer auch negative Effekte produziert, was sich am Beispiel der Gewaltthematik im Boxen oder auch an negativen Externalitäten des Spitzensports (u. a. Überforderung der Athletenkörper, Doping, Beeinträchtigung von Ausbildungs- und Berufskarrieren) verdeutlichen lässt. Bei einer Integration von eSportFootnote 16 ist davon auszugehen, dass dadurch negative Effekte gerade im Hinblick auf Erziehungs- und Gesundheitsprobleme noch einmal verstärkt würden.

Im Hinblick auf die Beziehung zum Politiksystem erscheinen mögliche Folgen einer Einbeziehung von eSport ambivalent: Wie gesehen, ist auf gesundheitlicher und erzieherischer Ebene einerseits mit negativen Folgen für die Leistungserbringung durch das Sportsystem zu rechnen, die auch die Erfüllung wohlfahrtsstaatlicher Aufgaben tangieren dürften. Andererseits geht es dem politischen System ja auch darum, Sportzuschauer und auch die Sportler selbst als Wähler zu gewinnen, und da eSport insbesondere männliche Jugendliche und junge Männer als Spieler und Zuschauer in hoher Zahl anspricht, dürfte ein politisches Ziel darin liegen, über die Anerkennung und Legitimierung von eSport als Sport vor allem diese Gruppe als Wähler zu gewinnen.Footnote 17

Mit Blick auf Wirtschaft und Massenmedien dürfte eine Integration von eSport hingegen strukturelle Kopplungen eindeutig fördern, denn eSport erzeugt eine sehr hohe Zuschauerresonanz, die sich im Rahmen von Sponsoring und Berichterstattungen nutzen lässt, um die systemspezifischen Selbstreferenzprobleme der Wirtschaft und der Massenmedien zu lösen und die dem Sport darüber erhebliche finanzielle Ressourcen sichern dürfte. Dabei ist aber auch herauszustellen, dass Systemprobleme des eSports, die beispielsweise Sexismus oder die Debatte über „Killerspiele“ betreffen, strukturelle Kopplungen mit Wirtschaft und Massenmedien genauso beeinträchtigen können, wie dies beim Doping im Spitzensport der Fall ist.

Reflektiert man die gesellschaftstheoretischen Überlegungen zusammenfassend, dann lässt sich festhalten, dass sich eSport nicht sinnhaft an die Kommunikationen des Sportsystems anschließen lässt, weil eSport nicht über die Kommunikation körperlicher Leistung beobachtet wird und die körperliche Leistung des Klickens im eSport nicht Selbstzweck ist, sondern lediglich ein Mittel darstellt, um einen Avatar zu steuern. Bei einer kommunikativen Einbeziehung des eSports und einer damit einhergehenden Veränderung der Sinngrenzen des Sports ist von unterschiedlichen Auswirkungen auf die strukturellen Kopplungen des Sportsystems mit seiner gesellschaftlichen Umwelt auszugehen: Während der reziproke Leistungsaustausch mit dem Gesundheits- und dem Erziehungssystem durch die Einbeziehung von eSport eindeutig beeinträchtigt werden dürfte, deuten sich im Bereich von Wirtschaft und Massenmedien hingegen funktionale Effekte an, die Leistungsbeziehungen zu intensivieren und dem Sport den Zugang zu erheblichen finanziellen Ressourcen zu eröffnen. Die Folgen für die strukturelle Kopplung mit dem Politiksystem sind hingegen ambivalent einzuschätzen: Während wohlfahrtsstaatliche Aufgaben im Bereich der Gesundheitsfürsorge und der Erziehung beeinträchtigt werden dürften, sind zumindest im Hinblick auf die Gewinnung eSport-affiner Wählergruppen funktionale Effekte für die Politik und die damit verbundene Förderung des Sports zu erwarten.

Sport und eSport organisationstheoretisch beobachtet

Während es auf der gesellschaftstheoretischen Ebene um die sinnhafte Anschlussfähigkeit von Kommunikation in Funktionssystemen und die Folgen für strukturelle Kopplungen geht, rückt auf der organisationstheoretischen Ebene ein spezifischer Modus von Kommunikation in den Blickpunkt, nämlich Entscheidungen. In systemtheoretischer Perspektive stellen Organisationen einen spezifischen Typus sozialer Systeme dar, der sich aus einem Netzwerk von Entscheidungen (re)produziert (Luhmann, 2006 [2000], S. 63). Im Kontext der vorliegenden Problemstellung sind vor allem Entscheidungen in Sportverbänden und -vereinen von Interesse, die den Umgang mit eSport betreffen, wobei im Folgenden zwischen Mitgliedschafts- und Programmentscheidungen differenziert wird.

Mitgliedschaftsentscheidungen

Organisationen zeichnen sich dadurch aus, dass sie über den Ein- und Austritt ihrer Mitglieder entscheiden können (Luhmann, 2004a [1975], S. 109ff.). Die Mitgliedschaft unterliegt dabei formalen Regeln, die für deren Konstitution und Aufrechterhaltung verbindlich sind. So können auch Dachverbände des organisierten Sports wie der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) und die Landessportbünde entscheiden, welche Fachverbände bei ihnen Mitglied werden können und welche Sportarten darüber vertreten werden. Im DOSB regelt dies die Aufnahmeordnung (DOSB, 2018a), in der sowohl „sportliche“ als auch „organisatorische“ Voraussetzungen für die Aufnahme von Mitgliedsverbänden festgelegt sind. Im Bereich der sportlichen Voraussetzungen betrifft dies drei Kriterien: „Die Ausübung der Sportart muss eine eigene, sportartbestimmende motorische Aktivität eines jeden zum Ziel haben, der sie betreibt. […] Die Ausübung der eigenmotorischen Aktivitäten muss Selbstzweck der Betätigung sein“. […] Und die „Sportart muss die Einhaltung ethischer Werte wie z. B. Fairplay, Chancengleichheit, Unverletzlichkeit der Person und Partnerschaft durch Regeln und/oder ein System von Wettkampf- und Klasseneinteilungen gewährleisten“ (DOSB, 2018a, S. 2f.). Im Bereich der organisatorischen Voraussetzung ist darüber hinaus u. a. festgelegt, dass ein Verband, der Mitglied werden möchte, in mindestens der Hälfte der Landessportbünde mit einem Landesverband vertreten ist, bundesweit eine Mindestmitgliederzahl von 10.000 vertritt, im Sinne von § 52 der Abgabenordnung wegen Förderung des gemeinnützigen Zweckes Sport steuerbegünstigt ist und Jugendarbeit in nicht nur geringfügigem Umfang betreibt (ebd., S. 3).

Ein Verband, der den organisierten eSport in Deutschland vertritt, wie dies der eSport-Bund Deutschland (ESBD) für sich in Anspruch nimmt, könnte also nur dann als Mitglied im DOSB aufgenommen werden, wenn die sportlichen und organisatorischen Aufnahmevoraussetzungen erfüllt wären. Fragt man daher zunächst danach, ob wettkampfmäßige Computer- und Videospiele, die der ESBD vertritt, die genannten sportlichen Voraussetzungen erfüllen, dann lässt sich dies für alle drei Kriterien verneinen: Wettkampfmäßige Computer- und Videospiele sind erstens nicht durch eine sportartbestimmende motorische Aktivität gekennzeichnet, denn die Beobachtung von eSport erfolgt – wie oben gezeigt – nicht über die motorische Aktivität der Bedienung des Eingabegeräts, sondern über das virtuelle Spielgeschehen und die Bewegung eines Avatars. Das Klicken ist – zweitens – eben nicht „Selbstzweck der Betätigung“, sondern lediglich Mittel zum Zweck, einen Avatar zu bewegen. Und drittens lässt sich die Simulation von Tötungshandlungen, die in zahlreichen eSport-Titeln – und vor allem in denjenigen, die die meisten Spieler und Zuschauer anziehen – über die Zuordnung von Sieg und Niederlage entscheidet, nicht mit den ethischen Werten des DOSB vereinbaren. Darüber hinaus wird auch keine der organisatorischen Voraussetzungen aktuell vom ESBD erfüllt. Auf der Basis der geltenden Voraussetzungen wäre also eine Entscheidung zur Aufnahme des organisierten eSports unter das Dach des organisierten Sports gar nicht möglich.Footnote 18

Programmentscheidungen

Über die Mitgliedschaft von eSport-Verbänden im organisierten Sport hinaus sind auch Entscheidungen zu reflektieren, die eine programmatische Verankerung von eSport in Sportverbänden und -vereinen betreffen. Programme bezeichnen – systemtheoretisch betrachtet – Strukturen, die die sachliche Anschlussfähigkeit von Entscheidungen regulieren, indem sie Ziele und Aufgaben der Organisation beschreiben (Luhmann, 2006 [2000], S. 256ff.).Footnote 19 Hier geht es also um die Frage, ob Sportverbände und -vereine die Entscheidung treffen, eSport als Thema aufzugreifen und daraus Ziele und Aufgaben für die Organisation abzuleiten.

Wie andere Organisationen orientieren sich auch Sportverbände und -vereine bei Programmentscheidungen in hohem Maße an den Erwartungen ihrer Umwelten. Angesichts der prinzipiellen Freiwilligkeit der Mitgliedschaft liegt eine Besonderheit darin, dass es sich um Interessenorganisationen handelt, die sich in ihren Zielen und Aufgaben zuallererst an ihrer inneren Umwelt in Gestalt der sie konstituierenden Mitglieder und deren spezifischen Interessen zu orientieren haben (vgl. Schimank, 2000, S. 310f.). Darüber hinaus haben Sportverbände und -vereine auch die Erwartungen ihrer äußeren Umwelt – etwa wirtschaftlicher und staatlicher Organisationen – zu beachten, vor allem deshalb, weil sie in hohem Maße von deren Unterstützung abhängig sind, sei es in Form direkter Zuwendungen, steuerrechtlicher Begünstigungen oder dadurch, dass sie öffentliche Sportstätten nutzen können. Solche Unterstützungsleistungen basieren im Kern auf den oben beschriebenen strukturellen Kopplungen zwischen dem Sport und seiner gesellschaftlichen Umwelt.

Sportverbände und -vereine haben im Hinblick auf die programmatische Verankerung von eSport also erstens die Interessen ihrer Mitglieder zu reflektieren: Lassen sich über das Angebot wettkampfmäßiger Computer- und Videospiele Bedürfnisse von Mitgliedern befriedigen oder stoßen diese bei Mitgliedern eher auf Ablehnung? Lassen sich damit neue Zielgruppen als Mitglieder gewinnen und an die Vereine binden? Welche Funktionen resp. Folgen hat dies im Hinblick auf bereits vorhandene Mitglieder und bestehende Angebote? Zweitens sind aber auch Beziehungen zu Organisationen in der äußeren Umwelt zu reflektieren, die auf strukturellen Kopplungen beruhen: Lässt sich die hohe gesellschaftliche Legitimation und die damit einhergehende staatlich gewährte Gemeinnützigkeit der Sportvereine, die nicht zuletzt auf der Zuschreibung positiver gesundheitlicher und pädagogischer Wirkungen beruht, aufrechterhalten, wenn zukünftig neben dem Sport auch Computer- und Videospiele angeboten werden? In welcher Höhe können Sportverbände und -vereine finanzielle Ressourcen durch die Vermarktung von eSport akquirieren?

Dabei muss im Hinblick auf die zu treffenden Entscheidungen klar sein, dass Funktionen der programmatischen Verankerung von eSport (Mitgliedergewinnung, Ressourcenakquise) nicht ohne Folgen (interne Konflikte, Legitimationsverlust) zu haben sind, so dass Funktionen und Folgen im Entscheidungsprozess jeweils abzuwägen sind. Dass solche Entscheidungen den organisierten Sport derzeit vor große Herausforderungen stellen, zeigt sich in der aktuellen Positionierung des DOSB, die in der Mitgliederversammlung 2018 verabschiedet wurde. Dort hat der DOSB im Hinblick auf das Phänomen „eSport“ entschieden, eine Abgrenzung zwischen „elektronischen Sportartensimulationen“ und „eGaming“ vorzunehmen: Der Begriff „elektronische Sportartsimulation“ bezeichnet dabei die „Überführung von Sportarten in die virtuelle Welt“ (DOSB, 2018b, S. 2). Darunter fasst der DOSB sowohl klassische eSport-Titel wie FIFA oder NBA2K, bei denen Avatare über einen Controller gesteuert werden, aber auch digital gestützte Formen sportlicher Aktivitäten wie zum Beispiel „digitales Bogenschießen“.Footnote 20 Den Begriff des „eGaming“ benutzt der DOSB hingegen, um „alle anderen virtuellen Spiel- und Wettkampfformen“ zu bezeichnen, in denen es nicht um die Simulation von Sportarten geht (ebd). Dazu gehören vor allem die die eSport-Szene dominierenden MOBA- und Shooter-Spiele.

Diese Differenzierung des DOSB ist in zweierlei Hinsicht irreführend: erstens, weil damit auch Bewegungsformen im Kontext des sogenannten eSports diskutiert werden, die damit gar nichts zu tun haben (wie eben „digitales Bogenschießen“). Und zweitens, weil mit der Differenzierung in „elektronische Sportartensimulationen“ und „eGaming“ eine Grenze gezogen wird, die sich beispielsweise nach den Kriterien der eigenen Aufnahmeordnung nicht plausibel begründen lässt: Auch Sportsimulationen lassen keine „sportartbestimmende motorische Aktivität“ erkennen, sondern sie simulieren nur sportliche Handlungen. Auf der motorischen Ebene des Klickens gibt es keine Unterschiede zu den als „eGaming“ bezeichneten eSport-Titeln, die eine Integration von Sportsimulationen in den Sport rechtfertigen könnten. Dass diese Entscheidung dennoch so getroffen wurde, lässt sich einerseits dadurch erklären, dass man damit den Interessen von Mitgliedsverbänden Rechnung getragen hat, allen voran des einflussreichen Deutschen Fußball-Bundes (DFB), der die Vermarktung von „eFootball“ in eigens etablierten Ligen vorantreibt. Andererseits konstatiert der DOSB eine „grundsätzliche Anschlussfähigkeit an aktuelle jugendkulturelle Trends“ und hofft darauf, dass „über diese Angebote neue Wege zur Mitgliederbindung und -gewinnung“ eröffnet werden können (ebd., S. 3). Zugleich will man die „ethischen Grundsätze“ des DOSB dadurch bewahren, dass man die nicht sportbezogenen eSport-Titel, die diesen Grundsätzen widersprechen, explizit ausschließt.

Diese Positionierung wurde jedoch inzwischen durch ein vom DOSB in Auftrag gegebenes Rechtsgutachten (Fischer, 2019) in Frage gestellt, das zu dem Schluss kommt, dass eSport in Gänze – also auch die vom DOSB als anschlussfähig erachteten „elektronischen Sportartsimulationen“ – „aus rechtlicher Sicht nicht die Vorrausetzungen erfüllt, um als gemeinnützig anerkannt zu werden“ (DOSB, o.J., Folie 1). Aus diesem Grund hat der DOSB Arbeitsgruppen eingesetzt, um über eine „Schärfung der gemeinsamen Position von DOSB und Mitgliedsorganisationen nachzudenken“ (ebd.).

Reflektiert man die organisationstheoretischen Überlegungen zusammenfassend, dann lässt sich festhalten, dass die Anerkennung resp. Nichtanerkennung von eSport für Sportverbände ein Entscheidungsproblem darstellt, das Mitgliedschafts- und Programmentscheidungen betrifft. Auf der Basis der aktuell im organisierten Sport geltenden formalen Mitgliedschaftsbedingungen zeigt sich, dass eSport-Verbände keine Mitgliedschaft im DOSB beanspruchen können. Entscheidungen zu einer programmatischen Verankerung von eSport-Angeboten unterliegen der Abwägung von Funktionen und Folgen, die aus den Erwartungen der inneren und äußeren Umwelt resultieren.

Perspektiven für die wissenschaftliche Beobachtung von Sport und eSport

Im Rahmen der vorliegenden systemtheoretischen Analyse ging es darum, beobachtungsleitende Differenzen darzulegen, die auf gesellschaftstheoretischer Ebene sowohl eine Abgrenzung von Sport und eSport als auch die Reflexion der Funktionen und Folgen einer möglichen Integration erlauben, und die auf organisationstheoretischer Ebene dazu anregen, die Integration von eSport als Entscheidungsproblem unter Abwägung möglicher Funktionen und Folgen zu konstruieren. Die Darlegung dieser beobachtungsleitenden Differenzen ist Bedingung der Möglichkeit für Beobachtungen zweiter Ordnung, also für eine differenzierte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den vorgelegten Überlegungen.

Für die weitere wissenschaftliche Beobachtung von Sport und eSport sollen abschließend zwei mögliche Perspektiven skizziert werden: Die erste – gesellschaftstheoretische – Perspektive betrifft die Frage nach der unverzichtbaren Funktion des Sports in der modernen Gesellschaft. Konkret geht es darum, ob die Kommunikation körperlicher Leistungen, die das Sportsystem konstituiert, angesichts gravierender gesellschaftlicher Wandlungsprozesse, die insbesondere mit der Digitalisierung einhergehen, inzwischen nicht den Status einer gesellschaftlich unverzichtbaren Funktion erlangt hat. Denn nahezu alle Bereiche der modernen Gesellschaft – allen voran Wirtschaft, Massenmedien, Politik, Wissenschaft, Erziehung, Militär, Medizin und Gesundheit – sehen sich durch die fortschreitende Digitalisierung mit tiefgreifenden Veränderungsprozessen konfrontiert, die vor allem Prozesse der Entkörperlichung beschleunigen. Je stärker diese fortschreitet, desto bedeutsamer dürften Gesellschaftsbereiche werden, die noch unmittelbare Körpererfahrungen ermöglichen, und die die Gesellschaft dringend benötigt, um die Folgen der Digitalisierung abzupuffern. Die Funktion der Kommunikation körperlicher Leistungen dürfte damit gesellschaftlich unverzichtbar werden, da man nur im Sport mithilfe des Körpers noch Unmittelbarkeit erfahren kann, was in anderen Gesellschaftsbereichen eben zunehmend unmöglich wird.Footnote 21 Diese besondere Funktion des Sports begründet seine enorme Inklusionsfähigkeit in der modernen Gesellschaft, so dass es bezogen auf seine Bestandssicherung und den Erhalt gesellschaftlicher Bedeutsamkeit geradezu kontraproduktiv wäre, durch die Integration von eSport eine „Digitalisierung des Sporttreibens“ zu fördern. In der Literatur finden sich theoretisch elaborierte Anknüpfungspunkte, die Karl-Heinrich Bette in seinen Arbeiten zur Paradoxie moderner Körperlichkeit (Bette, 2005 [1989]) sowie zum Abenteuer- und Risikosport (Bette, 2004) herausgearbeitet hat und in denen er systemtheoretische mit körpersoziologischen Überlegungen sowie Überlegungen zur reflexiven Modernisierung verknüpft.

Die zweite – organisationstheoretische – Perspektive betrifft empirische Studien, die Entscheidungen zur programmatischen Verankerung von eSport in Sportverbänden und -vereinen rekonstruieren und dabei der dargelegten Komplexität des Problems Rechnung tragen. Dabei gilt es, insbesondere die Funktionen und Folgen einer Integration von eSport-Angeboten im organisierten Sport empirisch zu untersuchen. Zu denken ist hier beispielsweise an Fallstudien in Sportvereinen, die bereits eSport-Angebote implementiert haben. Die zu erwartenden Erkenntnisse dürften für die Sportentwicklung richtungsweisend sein, wenn sie es ermöglichen, Chancen und Risiken angemessen abzuwägen sowie Entscheidungen zu begründen, die die gesellschaftliche Bedeutung des Sports langfristig sichern können.