Die "Harry-Potter"-Romane als literarisches Phänomen. Themen, Motive und Figurenkonzeption der klassischen Kinder- und Jugendliteratur in Joanne K. Rowlings weltberühmter Buchreihe


Diploma Thesis, 2008

114 Pages, Grade: 1,0


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Grundlegende Begriffsabgrenzungen
2.1 Systematisierung und Definition von Kinder- und Jugendliteratur
2.1.1 Korpusbildung über die literarische Handlungsebene
2.1.2 Korpusbildung über die Textebene
2.1.3 Definition anhand der Altersbegrenzung
2.2 Kanon der klassischen Kinder- und Jugendliteratur und der Begriff ,Kinderklassiker‘
2.3 Die „Harry-Potter“ -Romane als Kinderklassiker
2.4 Abgrenzung der Begriffe ,Thema‘, ,Motiv‘ und ,Figurenkonzeption‘
2.4.1 Das Thema als abstraktester Baustein eines literarischen Werkes
2.4.2 Motive als zentrale Kerne eines Textes
2.4.3 Die Figurenkonzeption in der Wechselwirkung mit Thema und Motiv
2.4.4 Klassische Figurenkonzeptionen in „Harry Potter“
2.5 Kanonbildung in der klassischen Kinder- und Jugendliteratur

3. Textsortentraditionen in der klassischen Kinder- und Jugendliteratur
3.1 Phantastische Kinder- und Jugendliteratur
3.1.1 Das Zwei-Welten-Modell als Grundlage der Begriffsdefinition
3.1.2 Klassische Strukturmotive als Elemente der phantastischen Literatur
3.1.3 Das Motiv der ,Anderswelt‘
3.1.4 Die Anderswelt als Strukturmotiv in „Harry Potter“
3.1.5 Das Motiv der ,magischen Reise’
3.1.6 Das Strukturmotiv der phantastischen Reise’ in „Harry Potter“
3.1.7 Das Thema des ,Kampfes zwischen Gut und Böse‘
3.1.8 Der ,Kampf Gut gegen Böse’ als zentrales Thema der „Harry-Potter"- Romane
3.2 Das Abenteuerbuch in der Kinder- und Jugendliteratur
3.2.1 „Harry Potter“ in der Tradition des Abenteuerbuches

3.2.2 Klassische Motive des Abenteuerbuches
3.2.3 Das Thema der ,Suche‘ in der Abenteuerliteratur
3.2.4 Das Thema der ,Suche‘ in „.Harry Potter“.
3.2.5 Der ,Gral‘ als Motiv der Artusdichtung in „Harry Potter“...
3.2.6 ,Wald‘, ,Fluss‘ und ,Meer‘ als Abgrenzungsmotive in der Abenteuerliteratur und in den „Harry-Potter“ -Romanen
3.3 Charakteristika und Motive des Subgenres Kriminalgeschichte in der Literatur
3.3.1 Einteilung des Genres über strukturelle Merkmale
3.3.2 Systematisierung über klassische Bauformen
3.3.3 Die klassische Detektivgeschichte für Kinder und Jugendliche
3.3.4 Die „Harry-Potter“- Romane als klassische Detektivgeschichte
3.3.5 Die Detektivgeschichte als Serie in der Kinder- und Jugendliteratur im Vergleich mit „Harry Potter“
3.3.5 Themen, Figuren und Motive der Detektivgeschichte
3.3.6 Die Figur des ,Detektivs‘ in der Kinder- und Jugendliteratur
3.3.7 Harry Potter als Detektiv
3.3.8 Das Thema der ,Angst‘ und seine Verarbeitung in „Harry Potter“
3.3.10 Das Motiv des ,Zufalls‘ in „Harry Potter“
3.4 Märchen, Mythen und Sagen als Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur und ihre Themen und Motive in „Harry Potter“
3.4.1 Strukturmerkmale des Märchens und die Ansätze in „Harry Potter“
3.4.2 Typologie und Grundtyp des Märchens in Abgrenzung zur Sage
3.4.3 Die Motive ,Außenseiter‘, ,Elternferne‘, ,Elternlosigkeit‘ und ,Essen‘ im Märchen
3.4.4 Klassische Märchenmotive in „Harry Potter“
3.4.5 Das ,Spiegelmotiv‘ im Märchen und seine Variation in „Harry Potter“
3.4.6 Das Märchenmotiv der ,Verwandlung‘ in den „Harry-Potter“ -Romanen
3.4.7 Der Mythos in der Kinder- und Jugendliteratur
3.4.8 Das Motiv des ,Labyrinths‘
3.4.9 Das Labyrinth in „Harry Potter“
3.4.10 Fabeltiere und -wesen des Mythos und ihre Gestaltung in „Harry Potter“
3.5 Die Tradition des britischen Boarding school novel.
3.5.1 ,Schule‘ als Handlungsort im Boarding school novel
3.5.2 Das Schulthema in „Harry Potter“
3.5.3 ,Freundschaft‘ als Grundthema des Boarding school novel
3.5.4 Das Thema ,Freundschaft‘ in „Harry Potter“

4. Schlussbemerkung

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

„Er wird berühmt werden - eine Legende - [...] ganze Bücher wird man über ihn schreiben - jedes Kind auf der Welt wird seinen Namen kennen!“1 Das prophezeit die Hexe Minerva McGonagall auf den ersten Seiten eines 1997 in England mit der Auflage von 500 Stück erschienen Buches. Seitdem wurden sechs weitere Bände veröffentlicht, der Letzte in England am 26. 07. 2007. Mit ihm endet eine Kinderbuchreihe, aus der bis heute weltweit 325 Millionen Exemplare in 200 Ländern verkauft wurden und die in 65 Sprachen übersetzt sind.2 Die Autorin dieser Bücher, Joanne K. Rowling, deutet mit den Worten am Anfang ihres Erstlingswerkes „Harry Potter und der Stein der Weisen“ voraus, welchen Weg die Geschichten über den Zauberschüler nehmen sollte - der Name ,Harry Potter’ ist längst in aller Munde. Joanne K. Rowlings Zauberlehrling war wochenlang in den nationalen und internationalen Bestsellerlisten vertreten, die Verfilmungen der ersten fünf Bände spielten Millionen ein und zu den Lesern gehören bekanntermaßen längst nicht nur Kinder und Jugendliche, sondern auch Erwachsene. Bleibt die Frage nach dem Warum. Warum hat eine Bücherreihe in über 200 Ländern Erfolg? Warum steht ein Kinderbuch wochenlang an der Spitze der Bestsellerlisten? Warum lesen nicht nur Kinder, sondern auch Erwachsene diese Bücher?

Dieser Diplomarbeit liegt die These zugrunde, dass die Antworten auf diese Fragen zum Großteil innerhalb der Bücher selbst zu finden sind: in ihrer Intertextualität und den Themen und Motiven, derer sie sich aus erfolgreichen Klassikern der Kinder- und Jugendliteratur bedienen. Die Arbeit will den literaturwissenschaftlichen Anteil am Erfolg der Romanreihe aufzeigen. Auf der Grundlage aller sieben Bände, denn vor allem für die Entwicklung einzelner Figuren sind alle Bände relevant, soll versucht werden, Parallelen zu ziehen, zwischen den Merkmale klassischer Kinder- und Jugendliteraturgenres, deren Themen, Motiven und Figurenkonzeptionen und der Romanreihe von Joanne K. Rowling.

Im ersten Teil der Arbeit sollen zunächst der Begriffe ,Kinder- und Jugendliteratur’ und dessen Merkmale (Kap. 2.1), sowie die Termini ,Klassiker‘ (Kap. 2.2), ,Thema‘, ,Motiv‘ und ,Figurenkonzeption‘ definiert (Kap. 2.4) und auf die „Harry-Potter"- Reihe bezogen werden. Es soll aufgezeigt werden, inwiefern auch „Harry Potter“ das Potential hat, zum Kinderklassiker zu werden (Kap.2.3).

Obwohl „larry Potter" sicherlich in der Tradition der phantastischen Kinder- und Jugendliteratur geschrieben wurde, finden sich viele Anklänge an andere klassische Kinder- und Jugendbuchgenres. Im zweiten Teil sollen die Merkmale, Themen, Motive und typische Figuren der Genres Phantastik (Kap. 3.1), Abenteuer (Kap. 3.2), Kriminalroman (Kap. 3.3), Boarding school novel (Kap. 3.5), Märchen und Mythen (Kap. 3.4) und deren Verarbeitung in erfolgreichen internationalen Kinderklassikern, jeweils mit Schwerpunkt auf einem Klassiker dieses Genres, dargestellt werden. Im Kapitel zu den Genres soll außerdem untersucht werden, inwiefern diese auch in „larry Potter" festzustellen sind, wie sie dort verarbeitet werden und warum sie jeweils zum Erfolg des „larry-Potter"- Phänomens beitragen.

2. Grundlegende Begriffsabgrenzungen

Termini wie ,Kinder- und Jugendliteratur’, ,Motiv‘ und ,Thema‘ lassen eine Vielzahl an Definitionen zu. Im Folgenden sollen die Definitionen ausgeführt werden, die die Basis für diese Arbeit bilden.

2.1 Systematisierung und Definition von Kinder- und Jugendliteratur

Der Begriff ,Kinder- und Jugendliteratur’ ist schwer zu fassen. Es gibt eine Vielzahl von Definitionen, die versuchen, sich dem Begriff zu nähern. Diese Arbeit orientiert sich an den Definitionen für Kinder- und Jugendliteratur nach Hans-Heino Ewers. Ewers stellt verschiedene Definitionsgruppen auf. Ihnen liegt jeweils ein ähnlicher Ansatz zugrunde. Ewers unterscheidet zwischen Definitionen, bei welchen eine Korpusbildung auf der literarischen Handlungsebene stattfindet (Kap. 2.1.1) und solchen, bei denen ein Korpus auf Textebene gebildet wird (Kap. 2.1.2). Schließlich führt er in seiner Zusammenfassung noch eine Definition an, die auf der Altersbegrenzung eines Werkes basiert (Kap. 2.1.3).

2.1.1 Korpusbildung über die literarische Handlungsebene

Nach Ewers beruht die Korpusbildung der ersten Definitionsgruppe auf bestimmten Aktionen beziehungsweise literaturbezogenen Handlungen. Was Kinder- und Jugendliteratur ist, wird auf der literarischen Handlungsebene definiert. Solche möglichen Handlungen sind teils die bewusste Entscheidung für die Lektüre bei den Kindern und Jugendlichen, teils die Verfügung einer autorisierten Personengruppe, dass ein bestimmtes Werk oder eine bestimmte Gattung der Kinder- und Jugendliteratur zuzuordnen ist und teils die Absichtsbekundung des Autors, dass sich sein Werk speziell an diese Zielgruppe richtet (Lektüreentscheidung, der Auswahlakt oder die Absichtsbekundung).

(1) Die am weitesten gefasste Definition dieser Gruppe bezeichnet jegliche Literatur, die von Kindern und Jugendlichen konsumiert wird. In diesem Zusammenhang wird auch von Kinder- und Jugendlektüre gesprochen. Entscheidendes, korpusbildendes Kriterium ist die Rezeption durch eine bestimmte Personengruppe. Allein die Aktion des Gelesenwerdens durch Kinder und Jugendliche macht sie zur Kinder- und

Jugendliteratur. (2) Als intentionale Kinder- und Jugendliteratur wird das, was Kinder oder Jugendliche konsumieren sollen, definiert. Erwachsene verfügen darüber, wie ein Text verwendet werden soll. Sie sprechen einem literarischen Text, einer Gattung oder einem Ausschnitt die Eigenschaft zu, Kinder- und Jugendliteratur zu sein3. Die Begriffsbestimmung basiert entweder auf der Aktion, darüber zu verfügen, wie ein Text verwendet werden soll, oder darauf, dass ein literarisches Werk oder eine bestimmte Gattung der Kinder- und Jugendliteratur zugeordnet wird. Jedoch konsumieren Kinder und Jugendliche auch Werke, die ursprünglich nicht für sie bestimmt waren. Umgekehrt setzt sich Literatur, die als potentielle Kinder- und Jugendliteratur gilt, nicht durch, und wird deshalb als nicht-akzeptierte Kinder und Jugendliteratur bezeichnet.4 (3) Die intentionale Kinder- und Jugendliteratur lässt sich segmentieren in intendierte Literatur, also die, die Jugendliche konsumieren sollen, und nicht-intendierte Kinder- und Jugendliteratur. Letztere bezeichnet Literatur, die von Kindern und Jugendlichen heimlich gelesen wird, deren Konsum also unbemerkt bleibt, Literatur, die geduldet, beziehungsweise toleriert wird und Literatur, deren Konsum aktiv versucht wird zu verhindern.5 Aus der intentionalen Kinder- und Jugendliteratur lässt sich ein weiterer Teil herausheben: (4) Die positiv sanktionierte Kinder- und Jugendliteratur deckt sich mit den Erwartungen von der Personengruppe, die die intentionale Kinder- und Jugendliteratur als solche definiert (gesellschaftlich autorisierte Instanzen, wie Geistliche, Erwachsene, Pädagogen, etc.). Jedoch ist intentionale Kinder- und Jugendliteratur zugleich auch positiv sanktioniert. Die negativ sanktionierte Kinder- und Jugendliteratur wird gegen den Willen dieser Personengruppe von Verlegern und Druckern auf den Markt gebracht.6

Bei den oben aufgeführten Einteilungen handelt es sich jedoch nicht um starre und unveränderbare Konstrukte. So kann beispielsweise nicht-intendierte Kinder- und Jugendliteratur zur intendierten werden und damit auch positiv sanktioniert werden.

Bettina Kümmerling-Meibauer listet in ihrem Nachschlagewerk „Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur“ 534 klassische Kinder- und Jugendbücher auf. Dort finden sich längst nicht nur für diese Lesergruppe konzipierte Werke, sondern auch „erwachsenliterarische Werke, die den Status von Kinderbuchklassikern erlangt haben.“7 Beispiele dafür sind Daniel Defoes „Robinson Crusoe” oder Charles Dickens‘ „Oliver Twist“. Diese Werke wurden nicht als Jugendliteratur geschrieben, sondern waren zunächst Erwachsenenliteratur. Da sie über lange Zeit von Kindern und Jugendlichen konsumiert wurden, sind sie als Kinder- und Jugendliteratur sanktioniert worden und zum Teil durch altersgerechte Überarbeitungen zur kind- bzw. jugendgemäßen Literatur, wie sie im folgenden Definitionsblock bestimmt wird (Kap. 2.1.2), geworden. Sie gehören inzwischen zum klassischen Kanon der Kinder- und Jugendliteratur.

(5) Allen vorangegangen Definitionen ist gemein, dass die Texte, auf die sie sich beziehen, bereits als Literatur für Erwachsene auf dem Markt waren. Zur Kinder- und Jugendliteratur wurden sie erst nachträglich, entweder weil sie von Kindern und Jugendlichen gelesen wurden, oder weil sie von Erwachsenen nachträglich zur potentiellen Kinder- und Jugendliteratur erklärt wurden.8 Die historisch jüngste Form der intentionalen Kinder- und Jugendliteratur ist die spezifische Kinder- und Jugendliteratur, die von vorneherein für Kinder- und Jugendliche gemacht wurde. In diesen Bereich fällt der größte Teil der Kinder- und Jugendliteratur der vergangenen Jahrzehnte.9

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Aus: Ewers, Hans-Heino: Literatur für Kinder und Jugendliche, S. 22.

2.1.2 Korpusbildung über die Textebene

Für Kinder- und Jugendliteratur lassen sich auch auf der Textebene unterschiedliche Definitionen formulieren. Gegenstand dieser Definitionen ist ein Korpus von Werken mit identischen Eigenschaften auf Textebene. Auf Textebene wird versucht, Kinder- und Jugendliteratur als besonderes Symbolsystem zu sehen. Schon deshalb handelt es sich hier um eher wertende und normative Definitionen. Darüber hinaus schränkt die eigene Auffassung von dem, was Kinder- und Jugendliteratur ist, den Gegenstand schon im Vorfeld ein.10

(1) Die älteste Definition formuliert Werke und Gattungen als Kinder- und Jugendliteratur, die wichtiges Wissen für Kinder und Jugendliche enthalten und Werte und Normen vermitteln. In diesem Fall wird von Kinder- und Jugendliteratur als Erziehungs- und Sozialisationsliteratur gesprochen. Problematisch an dieser Definition ist, dass jeder Text ohne erzieherische Absicht, keine Kinder- und Jugendliteratur sein kann. Demnach gibt es keinen Text, der bloße Unterhaltung ist.
(2) Definitionskriterium für die an Kinder- und Jugendliche adressierte Literatur ist hingegen eine sichtbare Adressierung an den kindlichen oder jugendlichen Leser, zum Beispiel in Form einer Leseransprache.11 Im Gegensatz zur intentionalen Literatur zählen nur Texte dazu, die diese Adressierung enthalten, eine bloße Deklaration als Kinder- und Jugendliteratur ist nicht ausreichend.
(3) Als kind- oder jugendgemäße Literatur wird definiert, was für eine bestimmte Altersstufe als adäquate Literatur angesehen wird. Aus der entwicklungspsychologischen Altersstufentheorie wird die altersstufenadäquate Kinder- und Jugendliteratur abgeleitet. Kinder- und Jugendliteratur ist also daran geknüpft, welches Sprachvermögen, welches intellektuelle Fassungsvermögen oder welche Bedürfnisse, Wünsche und Wertvorstellungen Kinder und Jugendliche einer bestimmten Altersgruppe haben. Je nach dem wird ein Text auf formaler, stilistischer Ebene und inhaltlicher, thematischer Ebene an die Altersgruppe angepasst.12
(4) Bei der Definition von Kinder- und Jugendliteratur als Anfänger- und Einstiegsliteratur steht die literaturästhetische Bildungsfunktion im Mittelpunkt. Diese Art der Literatur bereitet auf den späteren Umgang mit Literatur und dem literarischen System vor. Die Texte müssen bestimmte Voraussetzungen erfüllen: Einfachheit, Redundanz, Regelhaftigkeit und Nähe zur Mündigkeit. Aufgrund dieser Textmerkmale kann auch von Kinder- und Jugendliteratur als einfache Literatur gesprochen werden.13 Dadurch wird der Kinder- und Jugendliteratur jedoch jegliche Zugehörigkeit zur Hochliteratur abgesprochen.

Insgesamt sind aber genannte textbezogene Definitionen zu eng gefasst und schließen stets einen Großteil dessen aus, was allgemein als Kinder- und Jugendliteratur betrachtet wird. Auch die Definitionen auf Handlungsebene sind nicht vollständig. Der Versuch, Kinder- und Jugendliteratur in einer einzigen,

allumfassenden, allgemeingültigen Definition zu beschreiben ist nicht möglich und würde diesem weiten Feld nicht gerecht werden.

2.1.3 Definition anhand der Altersbegrenzung

Eine weitere Definition von Kinder- und Jugendliteratur erfolgt nach Ewers über die Altersbegrenzung beziehungsweise Altersempfehlung. Demnach ist alles, was als Kinderbuch bezeichnet wird, für Leser bis zehn bzw. elf Jahre gedacht, das Jugendbuch für Zwölf- bis 14-Jährige.14 Diese grobe Einteilung lässt sich weiter aufspalten und führt zu Bezeichnungen wie Bilderbuch, Erstlesebuch und Mädchenliteratur.15 Der Begriff Mädchenliteratur zeigt, dass es außerdem eine geschlechterspezifische Kategorisierung gibt.

Die „Harry-Potter“ -Romane lassen sich den verschiedensten Definitionsgruppen der Kinder- und Jugendliteratur zuordnen. Entsprechend dieser Definitionen sind die „Harry-Potter“ -Romane Kinder- und Jugendliteratur. Als von Kindern und Jugendlichen gelesene Literatur entspricht „Harry Potter“ der Definition der Kinder- und Jugendlektüre. Des Weiteren kann bei „Harry Potter“ von positiv sanktionierter intentionaler Kinder- und Jugendliteratur gesprochen werden. Die „Harry-Potter“ - Romane wurden als Kinder- und Jugendliteratur veröffentlicht. Erwachsene haben darüber verfügt, die Romane der Kinder- und Jugendliteratur zuzuordnen. „Harry Potter“ ist nicht nur in den Bestsellerlisten der Kinder- und Jugendliteratur vertreten, sondern auch in der Onlineversion des Meyer Lexikon unter dem Schlagwort ,Kinder- und Jugendliteratur’ als Beispiel für Kinder- und Jugendphantastik aufgeführt.16 Als positiv sanktionierte Kinder- und Jugendliteratur deckt sich „Harry Potter“ mit den Erwartungen der autorisierten Instanzen wie Erwachsene und Pädagogen, beispielsweise haben die Romane auch Beachtung für den Deutschunterricht an Schulen gefunden. Nicht zuletzt entspricht Rowlings Werk auch der Definition der spezifischen Kinder- und Jugendliteratur, denn die Romane sind als Kinder- und Jugendliteratur konzipiert und an den kindlichen und jugendlichen Leser adressiert. Bei den Definitionen auf Textebene entsprechen die „Harry- Potter“ -Romane einer Erziehungs- und Sozialisationsliteratur, denn in ihnen werden

wichtige Werte wie Freundschaft und Loyalität vermittelt. Harry Potter als nicht ganz makelloser jugendlicher Held eignet sich gut zur Identifikation und dient so als Beispiel für die Rezipienten, die in ihm Werte wie Gerechtigkeit, Hilfsbereitschaft und Solidarität verkörpert finden. Im Sinne einer Definition anhand der Altersbegrenzung werden die „Harry-Potter“ -Romane als Kinderbuch bezeichnet. Für die Bücher gibt es eine Empfehlung ab zehn Jahren. „Harry Potter“ erfüllt damit die Kriterien der verschiedenen Arten der Kinder- und Jugendliteratur.

2.2 Kanon der klassischen Kinder- und Jugendliteratur und der Begriff ,Kinderklassiker‘

Der Begriff ,Kinderklassiker‘ bezieht sich in Anlehnung an die englische Bezeichnung ,children’s classics' sowohl auf Kinder-, als auch auf Jugendliteratur.17 Als Kinderklassiker gelten „alle Gattungen und Genres der Kinder- und Jugendliteratur sowie Werke volksliterarischen Ursprungs (Märchen, Fabeln, Sagen) und Werke der Erwachsenenliteratur, die entweder durch kinderliterarische Bearbeitung [...] oder mehr oder minder unverändert zu Kinderbüchern geworden sind.“18 Der Begriff bezieht sich zudem eher auf einzelne Werke als auf Autoren, auch wenn gerne zum Beispiel von Erich Kästner oder Astrid Lindgren als Kinderbuchautoren die Rede ist. Die Bildung des Klassikerbegriffs kann in der Forschung zum einen auf diachronen Merkmalen wie Popularität und Langlebigkeit und zum anderen auf synchronen Merkmalen wie literarisch-ästhetischen Werten zum Beispiel der Vorbildfunktion klassischer Kinderbücher basieren.19

Kümmerling-Meibauer, die die Auswahl nach synchronen Merkmalen getroffen hat, definiert den Begriff ,Kinderklassiker‘ über acht Kriterien: Innovativität, Repräsentativität, ästhetische Gestaltung der Sprache, Einfachheit, Darstellung der kindlichen Erlebniswelt, Phantasie, Polyvalenz und Cross-Writing. Mindestens drei dieser Kriterien sollen erfüllt sein, um ein Buch als Kinderklassiker zu bezeichnen.20

Das Kriterium der (1) Innovativität wird auch oft mit dem Aspekt der Originalität in Zusammenhang gebracht. Als innovativ gilt ein Werk, das ein oder mehrere Merkmale der Kinderliteratur, also zum Beispiel Inhalt, Motive, Genre, Erzählweise oder Sprache einführt und/oder vorbildlich literarisch umsetzt. Kümmerling- Meibauer nennt als Beispiel Langston Hughes Werk „Popo and Fifina“, das als erster Klassiker der afroamerikanischen Kinderliteratur gilt.21

Der Begriff der (2) Repräsentativität bezieht sich darauf, dass ein kinderliterarisches Werk bedeutendster Vertreter für die Etablierung eines Merkmals oder herausragender Repräsentant einer kinderliterarischen Entwicklung ist. Emmy von Rhoden thematisiert in ihrem Mädchenentwicklungsroman „Der Trotzkopf“ in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum ersten Mal das Internat beziehungsweise die Schule. Das Thema, das in früheren Mädchenbüchern überhaupt keine Rolle gespielt hat, nimmt bei Rhoden über die Hälfte des Romans ein.22 Das Werk ist damit Vorreiter für viele spätere Mädchenbücher, wie Enid Blytons „Hanni und Nanni“.

In Verbindung mit dem Genre, dem Thema und der Erzählstruktur ergibt sich das Kriterium der (3) ästhetischen Gestaltung der Sprache. Möglich ist zum Beispiel die Kombination verschiedener Sprachstile oder die Einführung neuer sprachlicher Formen (Sprachspiel, Nachahmung von Kindersprache, mündlicher Erzählstil). Dieses Merkmal steht in engem Zusammenhang zum Kriterium der Einfachheit.23 Mark Twain lässt in seinem Werk „Die Abenteuer des Huckleberry Finn“ Huck Finn als 14-jährigen Ich-Erzähler auftreten, der teils naiv, teils ironisch aus der Sicht eines gesellschaftlichen Außenseiters die Ereignisse schildert. Durch diesen mündlichen, der Kindersprache nachgeahmten Erzählstil etabliert Mark Twain nicht nur einen neuen Erzählstil für viele spätere Kinder- und Jugendromane, sondern entwickelt auch seine eigene Sprachgestaltung aus dem Vorgängerwerk „Die Abenteuer des Tom Sawyer“ weiter, über das Huckleberry Finn zu Anfang seiner Abenteuer bemerkt:

„Jenes Buch hat ein gewisser Mark Twain geschrieben, und er hat die Wahrheit erzählt, wenigstens so in der Hauptsache. Es sind wohl Dinge darin enthalten, die er ein bisschen zurechtgestutzt hat, aber wie gesagt, im großen und ganzen ist er bei der Wahrheit geblieben.“24

Das Kriterium der (4) Einfachheit orientiert sich am Sprachvermögen, der Literaturerfahrung und dem Wissen des Kindes, berücksichtigt also den entwicklungspsychologischen Reifegrad. Die Einfachheit bezieht sich dabei sowohl auf Handlung und Personen, als auch auf die Darstellung der kindlichen Empfindungen. Durch die abwechselnde Verwendung von einfachen und komplexeren Strukturen wird der kindliche Leser allmählich an Literatur herangeführt. Die Einfachheit kann sich auf verschiedene Arten zeigen, ohne dabei trivial zu werden: die Ereignisse können chronologisch dargestellt, die Personenzahl begrenzt gehalten, die Ortswechsel gering gehalten, der Zeitrahmen kurz gehalten oder eine anschauliche Sprache ohne Fremdwörter und Verschachtelungen verwendet werden.25 Otfried Preußler bildet mit seinem Werk „Die kleine Hexe“ durch kurze, in sich geschlossene Kapitel und bekannte Erzählformen aus dem Märchen einen Übergang von kurzen Texten wie Märchen zu einem längeren Kinderroman.26

Das Merkmal der (5) Darstellung der kindlichen Erlebniswelt bezieht sich auf den Hauptgehalt des Werkes. Im Mittelpunkt der Kinder- und Jugendliteratur sollen die Kinder und Jugendlichen selbst stehen. Von besonderem Interesse sind die Schilderung ihres Alltags und die Beschreibung ihrer Gefühls- und Erlebniswelt. Problematisch stellt sich dar, dass Kinderliteratur von Erwachsenen produziert wird, die oftmals schon aufgrund der zeitlichen Distanz zu ihrer eigenen Jugend keinen unmittelbaren Zugang zu dieser Gefühls- und Erlebniswelt haben. Nach Kümmerling-Meibauer ist das Kriterium der Darstellung der kindlichen Erlebniswelt in der Regel trotzdem in der Kinder- und Jugendliteratur erfüllt.27

Dem Kriterium der (6) Phantasie können drei unterschiedliche Komponenten zugeordnet werden: das Zusammentreffen realistischer und phantastischer Elemente, die Verbindung von eingeschränkter kindlicher Mitteilungsfähigkeit und der Darstellung der komplexen psychischen Befindlichkeit des Kindes und/oder das Schaffen einer abgeschlossenen, phantastischen Welt, in der die Handlung trotzdem plausibel abläuft. In Pamela Travers Buch „Mary Poppins“ landet das Kindermädchen Mary Poppins mit ihrem Regenschirm auf phantastische Weise in der realen Welt einer Londoner Familie und ist somit ein Bindeglied zwischen zwei Welten.28 Die zweite Komponente tritt in Form von Tagebucheinträgen geschriebenen Romanen auf. Die Welt von Mittelerde, aus J.R.R. Tolkiens „Der Herr der Ringe“ oder „Der kleine Hobbit“ ist ein Beispiel für die dritte Komponente. Die sekundäre Welt wird durch ihre in sich schlüssige Logik nicht in Frage gestellt. Ihre Regeln und Bewohner erscheinen dem Leser plausibel.

Das Kriterium der (7) Mehrdeutigkeit wird bei Kümmerling-Meibauer auf bewusst offen konzipierte Handlungen und Figuren bezogen, aber auch auf eine Ambivalenz des Schlusses oder der Integration metafiktionaler Passagen. Letzteres kann sich durch das Auftreten des Autors in seinem Werk äußern, dadurch, dass der Prozess des Schreibens thematisiert wird oder dadurch, dass zwei verschiedene Darstellungen der Handlung zu zwei alternativen Schlussfassungen führen.29 In „Sophies Welt“ von Jostein Gaarder muss die Hauptfigur Sophie Amundsen feststellen, dass ihre Welt nur Bestandteil eines Buches ist, das ein Soldat im Libanon für seine Tochter schreibt. Sophie entwickelt zusammen mit ihrem ebenfalls fiktiven Philosophielehrer Alberto einen Plan, dieser fiktiven Welt zu entkommen. Ob den beiden dies wirklich oder nur scheinbar gelingt, bleibt offen. Der Autor thematisiert nicht nur den Prozess des Schreibens und vermischt verschiedene Ebenen, sondern lässt auch die Interpretation des Schlusses offen.

Das Phänomen (8) Cross-Writing kann einerseits bedeuten, dass viele Kinderbuchautoren auch Werke für Erwachsene schreiben, andererseits, dass sich kinderliterarische Texte auch an erwachsene Mitleser wenden oder aber, dass ein als Erwachsenenbuch konzipiertes Werk vom Autor für Kinder umgeschrieben wird. Diese Mehrfachadressiertheit findet sich zum Beispiel in den Werken von Astrid Lindgren oder in „Krabat“ von Otfried Preußler. Diese Werke sind inhaltlich und strukturell komplexer angelegt und waren zum Teil von Anfang an auch für eine erwachsene Mitleserschaft konzipiert.

2.3 Die „Harry-Potter“ -Romane als Kinderklassiker

Kümmerling-Meier selbst zweifelt in einem Interview das Potential der „Harry-

Potter“- Romane an, Kinderklassiker zu werden. Sie spricht ihnen die Kriterien der Innovativität und der literarischen Qualität ab.30 Gleichwohl lassen sich im Hinblick auf „Harry Potter“ als potentiellen Kinderklassiker die im Folgenden ausgeführten Kriterien beziehen.

Joanne K. Rowling verbindet in den Romanen verschiedene erfolgreiche Genres miteinander. Es finden sich Parallelen zu Märchen, Mythen und Sagen, zum Boarding school novel, zum Abenteuerroman, zum Kriminalroman und zur phantastischen Literatur. Außerdem greift Rowling erfolgreiche Motive auf. Zwar ist Rowling keine Vorreiterin in der Synthese von Genres, jedoch ist die Anzahl der Genres, die sich in ihrem Werk wiederfinden und deren Verbindung miteinander nahezu einzigartig. Daher kann bei der „Harry-Potter“- Heptologie durchaus von Innovativität gesprochen werden.

Die Repräsentativität der „Harry-Potter“- Romane erschließt sich aus dem veränderten Umgang mit Kinder- und Jugendliteratur. Die Romanreihe wurde kurz nach ihrem Erscheinen zu einem Phänomen, das sich auf verschiedene Medien wie Fernsehen und Internet ausgeweitet hat und schließlich auch zu einem bis dahin für Kinderliteratur einzigartigen Hype wurde. Der Umgang der jungen Leser mit der Literatur hat sich verändert und nimmt einen anderen Raum in der Lebenswirklichkeit der kindlichen Leser ein. Dem jeweiligen Neuerscheinen eines Bandes wurde regelrecht entgegengefiebert und durch Lesenächte in Buchhandlungen zelebriert. Das Werk bestimmt die Freizeitgestaltung des Kindes, das sich in Fanclubs, Foren oder im Rahmen des Web 2.0 im „Harry-Potter“- Wiki engagiert. Dadurch bekommt die Kinderliteratur auch wirtschaftlich einen anderen Stellenwert: durch die Produktion von Merchandising-Artikeln, die Veranstaltung von Themenpartys und die Verfilmungen haben sich Verdienstmöglichkeiten über den Verkauf des Buches hinaus ergeben und zu einem großen Interesse der Wirtschaft an der Kinder- und Jugendliteratur geführt.

Im Bezug auf die ästhetische Gestaltung der Sprache entwickelt Joanne K. Rowling keine eigene Sprache, wie es etwa J.R.R Tolkien für seine Welt Mittelerde tut. Die ästhetische Gestaltung der Sprache kommt jedoch in den vielen Neologismen

und sprechenden Namen zum tragen. In die deutsche Übersetzung konnten viele dieser Bedeutungen nicht transportiert werden. Nur ein Teil der in der Originalausgabe deutlich sprechenden Namen ist erhalten geblieben beziehungsweise auch ohne Kenntnisse der englischen Sprache zu erkennen. Der Nachname Sirius Blacks zum Beispiel bezieht sich auf die Zugehörigkeit der Blacks zu einer altehrwürdigen Zauberfamilie, die der ,schwarzen Magie’ anhing. Sein Vorname bezeichnet den Hauptstern im Sternbild Canis Maior (der Große Hund)31, was auf seine Gestalt als ,Animagus‘ hindeutet. Diese ist ein schwarzer Hund. Gleichzeitig wird hier auch die Mehrfachadressiertheit ersichtlich, da sich diese Interpretationsebene nur dem erwachsenen Leser, der entsprechendes Hinter­grundwissen hat, eröffnet. Ein weiteres Beispiel für den kreativen Umgang mit sprechenden Namen ist der Name des Lehrers für die Verteidigung gegen die dunklen Künste aus Band drei, Professor Remus Lupin. Sein Vor- und Nachname weist jeweils darauf hin, dass er bei Vollmond die Gestalt eines Werwolfs hat. Lupin, als Ableitung des lateinischen Wortes ,lupus‘ und Remus, als der Name einer der beiden sagenhaften Gründer Roms, der von einem Wolf gesäugt wurde.32 Rowling entwickelt außerdem Neologismen, denen später mit dem Erscheinen eines „Harry- Potter“-Wörterbuches Rechnung getragen wird.33 Ein Beispiel hierfür ist das Wort ,Muggel‘ (engl.: muggle), das einen Nicht-Zauberer bezeichnet. Die Bildung des Wortes geht in diesem Fall daraus hervor, dass es weder in der englischen Sprache noch im Deutschen einen Begriff für eine derartige Person gibt. Joanne K. Rowling gab in einem Interview an, dass sie das Wort vom englischen Wort ,mug‘ abgeleitet hat, was soviel wie ,Trottel‘ heißt.34 Zu den sprechenden Namen gehören auch kombinierte Begriffe wie ,Kreischbeißer‘, bei welchem es sich um eine Pflanze aus Professor Sprouts Kräuterunterricht handelt. Wie auch dieses Beispiel zeigt, spielt Rowling mit der Namensbildung auf Charaktereigenschaften oder Eigenarten einer Person oder einer Sache an. Im Falle der Pflanze sagt es etwas über deren Eigenschaft bei falscher Handhabung aus. Sie kreischt und beißt.35

Die Entwicklung verschiedener Zauberformeln ist im Ansatz schon die Entwicklung einer neuen, eigenen Sprache. In Zauberformeln, wie ,Expecto Patronum’ (lat.: Ich erwarte meinen Schutzherr) oder ,Riddikulus‘ (lat.: lächerlich) wird deren lateinischer Ursprung zum Teil in der jeweiligen Wirkung des Zaubers sichtbar: Mit ,Expecto Patronum’ wird Hilfe herbei gerufen, durch ,Riddikulus‘ wird ein ,Irrwicht‘ in etwas Lächerliches verwandelt und so bekämpft. Diese große Anzahl an Zauberformeln hat im Zuge des Hypes die Herausgabe von „ Das magische Wörterbuch Englisch-Deutsch “ und „ Das Zauberhandbuch “ veranlasst.

Ein anderes Mittel der ästhetischen Gestaltung ist die Entwicklung der Schlangensprache „Parsel“36, als die Sprache der dunklen Magie. Die Sprachästhetik beruht bei Joanne K. Rowling also auf der Entwicklung von sprechenden Namen oft in Verbindung mit Neologismen und bereits ersten Ansätzen, eine eigene Sprache für ihre Romanwelt zu schaffen.

Obwohl die Handlung der Romane meist eine chronologische Reihenfolge beibehält und auch die Anzahl der Hauptpersonen übersichtlich ist, ist das Kriterium der Einfachheit bei Rowling nur bedingt erfüllt. Durch viele Neologismen, eine Vielzahl von Personen und Rückblenden sind Handlung und Sprache zum Teil komplex und daher eher untypisch für einen Kinderklassiker. Auch aus entwicklungs­psychologischer Sicht ist die Handlung nicht für alle Altersstufen gut geeignet. Vor allem die Bände vier bis sieben enthalten für junge Leser im Grundschulalter aufgrund ihrer Brutalität schwierige Szenen, wie etwa den Angriff der Schlange auf Arthur Weasley im Zauberministerium37, die folterähnliche Bestrafung Harry Potters durch Dolores Umbridge38, den Tod von Cedric Diggory39 oder den Tod von Fred Weasley.40

Schwerpunkt des traditionsreichen englischen Boarding school novel ist die Darstellung der kindlichen Erlebniswelt. So auch bei „Harry Potter“, der viele Elemente des englischen Genres aufweist: ausführlich wird der Schulalltag in Hogwarts und die alterstypischen Probleme der Schüler wie Mobbing, Rivalitäten unter Altersgenossen und später die erste Liebe, zum Beispiel zwischen Harry Potter und Cho Chang geschildert.

Hinsichtlich der Phantasie treffen in den Romanen zwei nebeneinander bestehende Welten aufeinander. In „Harry Potter“ trifft die Welt der Muggels, also die reale Welt, die nach dem Leser bekannten Regeln funktioniert, auf die Zauberwelt, für die diese Regeln zum Teil nicht gelten. Schnittstelle ist das Bahngleis 9 [3]/4 am Londoner Bahnhof King’s Cross. Harry Potter ist die Figur, der zunächst nur die reale Welt bekannt ist. Durch sein Schicksal und seine Abstammung betritt er die magische Welt und koppelt beide Bereiche miteinander. Wie auch in anderen Klassikern weiß der magische Kosmos von der Existenz der anderen Welt, z.B. im Falle von Peter Pans Never-Never-Land, umgekehrt aber nicht. Nur ausgewählte Personen aus der realen Welt erfahren von der Existenz der Anderswelt. Aber im Gegensatz zur Tradition einer „Mary Poppins“ können sich die Ereignisse in der magischen Welt auf die reale Welt auswirken. Die für einen Kinderklassiker typische Phantasie findet sich demnach auch in „Harry Potter“.

Eine Polyvalenz oder Mehrdeutigkeit ist in „Harry Potter“ vor allem in der Konzeption der Personen vorhanden. Einige Figuren sind im Gegensatz zur Einfachheit der Kinder- und Jugendliteratur ambivalent gestaltet. Ihre Zuordnung zu Gut oder Böse fällt, zumindest bis kurz vor Ende des letzten Bandes, schwer. Severus Snape wird in Band eins bis fünf als eine böse, unfaire, niederträchtige und boshafte Person dargestellt. Nur kurz deutet sich in diesen Bänden an, dass der Charakter der Kategorie des Guten zuzuordnen ist, etwa als er Harry Potter während des Quidditchspiels in Band eins das Leben rettet.41 Erst, als in Band sechs und sieben die Jugend des Lehrers für den Leser rekonstruiert wird, offenbart sich ein deutlich komplexerer Charakter. Am Ende des letzten Bandes wird schließlich aufgelöst, dass Snape auf der Seite des Guten steht.

Eine Polyvalenz der Handlung gibt es in „Harry Potter“ nur in Details, wie etwa das Verhältnis, in welchem Albus Dumbledore zu Grindewald stand. Erst nach dem Erscheinen von Band sieben bestätigte Rowling Vermutungen von erwachsenen Lesern, dass Dumbledore verliebt in Grindewald war und damit die einzige homosexuelle Figur in „Harry Potter“ ist.42 Das Kriterium der Polyvalenz ist bei „Harry Potter“ insgesamt weniger deutlich erfüllt, denn diese Art der Mehrdeutigkeit wird für den kindlichen Leser im Verborgenen bleiben.

Das gilt jedoch nicht für die unzähligen erwachsenen Leser, die die Romanreihe unumstritten hat. Beispielsweise gibt es spezielle Erwachsenenausgaben mit Schutzumschlägen, die den Buchtitel verbergen. Auch die älteren Leser beteiligen sich teilweise an Fanclubs und -seiten und stehen so den jungen Lesern in nichts nach. Weil „Harry Potter“ sowohl von Kindern und Jugendlichen, als auch von Erwachsenen konsumiert wird, ist es ein Paradebeispiel für Cross-Writing.

Die „Harry-Potter“- Heptologie erfüllt nahezu alle Kriterien des Klassikerbegriffs. In Bezug auf Innovativität, Repräsentativität, die Sprache, die kindliche Erlebniswelt, die Phantastie und das Cross-Writing erfüllt J. K. Rowlings „Harry Potter“ die Definition des Kinderklassikers. Da der erste „Harry-Potter“- Roman „Harry Potter und der Stein der Weisen“ jedoch erst 1997 erschien ist, fehlt ihm die zeitliche Distanz, die für den Eingang in den Kanon der klassischen Kinder- und Jugendliteratur nötig ist. Schon deshalb wird er bis dato nicht als Kinder- und Jugendklassiker bezeichnet.

2.4 Abgrenzung der Begriffe ,Thema‘, ,Motiv‘ und ,Figurenkonzeption‘

Termini wie ,Thema‘, ,Motiv‘ und ,Figurenkonzeption‘ sind die Basis, auf der Parallelen zwischen erfolgreicher klassischer Kinder- und Jugendliteratur und „Harry Potter“ gezogen werden sollen. Deshalb sollen im Folgenden die Begriffe ,Thema‘, ,Motive‘ und ,Figurenkonzeption‘ abgegrenzt werden. Laut Daemmrich „bestimmen Themen die Verwendung von Motiven, beeinflussen die Figurenkonzeption und integrieren durch Synchronisierung und Raffung mehrschichtiger Zeitabläufe den Aufbau von Texten“43. Themen, Motive und die Figurenkonzeption bedingen sich also wechselseitig und sorgen für die Dynamik einer Handlung.

2.4.1 Das Thema als abstraktester Baustein eines literarischen Werkes

Im „Metzler Literatur Lexikon“ ist das Thema als „die für einen Text oder Textabschnitt zentrale Problemkonstellation beziehungsweise der Leitgedanke“44 eines Textes definiert. Bei Daemmrich wird der Begriff weiter konkretisiert. Dort ist das Thema der entwickelnde Grundgedanke, die geistige Komponente eines Textes. Es wird in Einzelanalysen auch auf die zentralen Ideen, welche in charakteristischen Konfliktsituationen zum Ausdruck kommen, bezogen. Im Thema ist die zentrale Idee eines Werkes verankert.45 Das Thema befindet sich damit auf einer abstrakteren Ebene als zum Beispiel das Motiv. Die Substanz eines Themas besteht sowohl aus qualitativen Eigenschaften, wie dem Sinngehalt, als auch aus quantitativen Eigenschaften, seinem Vorkommen. Texte können mehrere Themen entwickeln oder auf ein zentrales Thema ausgerichtet sein. Themen sind strukturbildende Grundbausteine eines Textes.46

In den „Harry-Potter“ -Romanen finden sich mehrere Themen, die Romane sind nicht auf ein zentrales Thema beschränkt. Dennoch nehmen diese wenigen Themen großen Raum in den Texten ein. Themen wie ,Freundschaft‘, ,Schule‘, ,Gut gegen Böse’ und ,Magie‘ ziehen sich durch die Romanreihe und haben schon durch ihr häufiges Vorkommen Gehalt. Die Themen bei „Harry Potter“ sind nicht nur strukturbildend. Vielmehr bestimmen sie den Handlungsort und die gesamte Situation und zwar nicht nur für einen Textabschnitt, sondern für die komplette Romanreihe.

2.4.2 Motive als zentrale Kerne eines Textes

Während das Thema die geistige Sphäre, die Idee oder das Problem eines Textes ist, stellt das Motiv den konkreten Kern dar. Ursprünglich in der „ Encyclopedia“ (1765) als Bezeichnung für die charakteristische, melodische Einheit einer musikalischen Komposition erwähnt, gibt es heute neben der musikalischen viele verschiedene Begriffsdefinitionen für das Motiv. Motive werden „mit dem Gegenstand, der stofflichen Vorlage, der Grundidee und dem thematischen Element, das einem Kunstwerk seine besondere Prägung verleiht“, aber auch mit „dichterische(n) Grundhaltungen und bildliche(n) Züge(n)“47 identifiziert. In der Architektur, Malerei und Plastik kennzeichnet es einen ornamentalen oder figurativen Zug. Und in den bildenden Künsten ist das Motiv ein nachweisbares formales Element, zum Beispiel eine S-Konfiguration in der Malerei oder eine charakteristische Struktureigenheit wie die hervortretenden Sockelplatten bei Säulen.48 Es existieren bezüglich der Begriffsabgrenzung widersprüchliche Auffassungen nebeneinander. Für die Literaturwissenschaft ist die Definition im „Metzler Literatur Lexikon“ relevant, die das Motiv als „die kleinste bedeutungsvolle Einheit eines literarischen Textes oder selbstständig tradierbares intertextuelles Element“49 bestimmt.

Je nach dem, wie bedeutend ein Motiv für den Text ist, kann zwischen Haupt-, bzw. Kernmotiv, Neben- und Füllmotiv unterschieden werden. Kernmotive in „Harry Potter“ sind zum Beispiel die ,Identitätssuche‘ des Protagonisten oder das Motiv der ,Elternlosigkeit‘, wie es sich auch in der klassischen Kinder- und Jugendliteratur etwa im Märchen vom Aschenputtel findet. Nebenmotive sind beispielsweise der ,Brunnen‘ oder der ,See‘. Beide Motive finden sich sowohl in klassischer Kinder- und Jugendliteratur, zum Beispiel in den Märchen „Frau Holle“, „Die kleine Seejungfrau“ oder in der griechischen Mythologie, als auch in „Harry Potter“: der ,Brunnen‘ im Mädchenklo der maulenden Myrte oder der See, der zu Schuljahresanfang überquert werden muss.

Motive können unterschiedliche Funktionen in einem Text erfüllen. Sie können stützen, unterstreichen, vergegenwärtigen und die thematische Organisation von Texten klären50, also zum Einen Text konstituierende und zum Anderen Text gliedernde Funktion haben. Letzteres trifft auch auf das Leitmotiv eines Textes zu, das als strukturierendes Inhaltselement definiert wird.51 Blinde Motive hingegen werden vom Autor verwendet, ohne dass sich dieser dessen bewusst ist. Ein Motiv wird also aus Versehen verwendet. Diese Art von Motiven eignet sich nicht zur Interpretation. Des Weiteren existiert in der Literaturwissenschaft die Unterscheidung zwischen Typen-Motiven, Situations-Motiven, Raum-Motiven, Zeit-Motiven und

Ding-Motiven.52 Sowohl in der Kinder- und Jugendliteratur, als auch in „Harry Potter“ lassen sich den Typen-Motiven das ,Außenseitermotiv‘ und das Motiv des ,Helden‘ zuordnen, Situations-Motive sind zum Beispiel der ,Bruderkonflikt‘ und das ,Duell der Zauberer‘, zu den Raum-Motiven gehören das Motiv des ,Sees‘ oder des ,Labyrinths‘, ein Zeit-Motiv ist unter anderem ,Mitternacht‘, der ,Spiegel‘ und der ,Brunnen‘ lassen sich den Ding-Motiven zuordnen.

Klassischer Kinder- und Jugendliteratur sind auf inhaltlicher Ebene eine Fülle an Themen und Motiven gemein. Diese Themen und Motive finden sich auch bei „Harry Potter“. Zwar ist „Harry Potter“ noch kein „Klassiker“, jedoch zeichnen sich viele thematische und motivische Parallelen zu den erfolgreichen Kinder- und Jugendbuchklassikern ab. Die Frage, ob sich „Harry Potter“ zu einem Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur entwickelt, wird sich dennoch erst in einigen Jahren beantworten lassen.

2.4.3 Die Figurenkonzeption in der Wechselwirkung mit Thema und Motiv

Die dritte Komponente des Wechselspiels ist die Figurenkonzeption. Es gibt sowohl eine Wechselwirkung zwischen Thema und Figurenkonzeption, als auch zwischen Motiv und Figurenkonzeption.

Literarische Figuren haben charakteristische, zum Teil auch stilisierte Züge. Diese erhalten sie durch die ihnen zugeordneten Verhaltensweisen, die Aussagen anderer oder die Beobachtungen des Erzählers. Die Figuren können auch mit Themen und Motiven fest verknüpft sein.53 Die Korrelation hat vor allem für die Dynamik der Handlung große Bedeutung. Im Wechselspiel zwischen Handlung und Figurenkonzeption haben sich in der Literaturwissenschaft vier dominante Figurenkonzeptionen durchgesetzt: „(1) die vorbildliche Persönlichkeit, (2) die Person, die Kritik herausfordert, (3) der scheinbar einfache Mensch, dessen Lebenserfahrungen beachtenswert sind, (4) und die Figur, die eine Stufe der Ent­wicklung erreicht, auf der Selbsterkenntnis und Weltverständnis möglich werden.“54

2.4.4 Klassische Figurenkonzeptionen in „Harry Potter“

Es gibt in der Literatur Verknüpfungen von Figuren mit bestimmten Motiven, die unveränderlich sind, wie etwa ,Pandora‘ und die ,Büchse‘ oder die ,Nixe/Nymphe‘ mit der ,Femme fatale’. In „Harry Potter“ findet sich zum Beispiel die klassische Verknüpfung von der Figur des typischen ,Helden‘ mit dem Motiv der Bewährungsprobe’. Darauf soll später konkreter eingegangen werden. Des Weiteren gibt es inzwischen auch traditionelle Verbindungen von typischen Figuren­konzeptionen und Themen.

(1) Dem Thema der ,Selbstverwirklichung’ zum Beispiel ist gewöhnlich eine Figur angegliedert, die in ihrem Bestreben den Wunsch nach gesellschaftlicher Reform erkennen lässt. Sie ist lebensbejahend und entwicklungsfähig und erfährt ihr Leben als eine ständige Prüfung. Ihr Versagen ruft Mitleid hervor, ihre Erfolge führen zur Bewunderung.55 In der klassischen Kinder- und Jugendliteratur findet sich die Figur Robinson Crusoes aus Daniel Defoes gleichnamigem Roman. Die Figur des Robinson ist stark an das Motiv ,Selbstverwirklichung‘ geknüpft. Robinson ist auf seiner einsamen Insel einer Folge von Ereignissen, oft auch existentiellen Problemen ausgesetzt, die seine Ausdauer, Geistesgegenwart und physische Kraft auf die Probe stellen. Im Sinne der Selbstverwirklichung bewährt sich Robinson, überwindet alle Hindernisse und entwickelt besonders hochgeschätzte Eigenschaften, wie eisernen Überlebenswillen und -kunst. Dieses Motiv erlaubt verschiedene Möglichkeiten der Konstellation zwischen Figur, Gesellschaft, Kultur und Natur.56

In „Harry Potter“ ist der Protagonist selbst eine solche Figur. Harry Potter erfährt nicht nur in seinem Schulalltag die alterstypischen Prüfungen wie Klausuren, Mobbing zwischen Gleichaltrigen oder die Willkür von Autoritäten, sondern darüber hinaus auch die Prüfungen, die sich aus dem Kampf zwischen ihm und Lord Voldemort beziehungsweise zwischen ihm als das „Gute“ und dem „Bösen“ ergeben. Auf den Kampf mit dem Bösen lässt er sich zwar auch aus persönlichen Rachegründen ein, darüber hinaus aber, weil er sich als der Junge, der überlebt57, seiner Verantwortung der Gesellschaft gegenüber bewusst ist. Er strebt die Reform hin zu einer Gesellschaft ohne das Böse an.

(2) Ein weiterer Figurentypus ist vor allem an das Thema der ,Aggression‘ gebunden. Dieser Typus handelt aus absoluter Willkür und verneint die Lebensansprüche anderer.58 In Lewis‘ „Das Wunder von Narnia“ zerstört die böse Hexe Jadis Charn, das Königreich ihres Vaters, wegen eines Thronfolgestreits mit ihrer Schwester. Durch die Verwendung des „unaussprechlichen Wortes“59 wird jede lebende Kreatur vernichtet. Ihre willkürliche Handlung erklärt sie ohne Mitgefühl: „Ich war doch die Königin. Sie gehörten alle mir. Sie waren doch zu keinem anderen Zweck da, als mir zu Willen sein.“60 Ihre Aggression macht selbst vor der eigenen Familie nicht halt. Sie kennt keine Moral und keine Kategorien wie Gnade oder Mitgefühl und sieht sich selbst „von allen Gesetzen entbunden.“61

Beispiele für eine willkürlich handelnde Figur in Verbindung mit dem Thema der Aggression in den Rowling-Romanen sind Lord Voldemort, der selbst ihm treu ergebene Anhänger für sein eigenes Wohl opfert62, Professor Dolores Umbridge, die vom Ministerium gesandte Lehrerin, die Harry Potter mit foltergleichen Methoden zu Unrecht bestraft63, oder Severus Snape, der Harry Potter ohne nachvollziehbaren Grund im Unterricht schikaniert.64

(3) An die Themen ,Liebe‘, ,Entsagung‘ und der ,Transzendenz des Willens’ sind häufig Figuren geknüpft, die dem inneren Ruf ihres Gewissens folgen, ihrem Willen im Interesse einer höheren Lebensgesetzlichkeit entsagen oder sich in der Stunde der Prüfung frei für eine ethische Ordnung entscheiden.65 Außerdem schließt die Figurenkonzeption „Erscheinungsformen ein, in denen einzelne Personen ihren persönlichen Wünschen entsagen oder dem Ideal ihrer Lebenserfüllung, auch angesichts tödlicher Bedrohung durch die Gesellschaft, treu bleiben.“66 Diesem Figurentyp entspricht zum Beispiel die kleine Seejungfrau aus dem gleichnamigen Märchen von Hans Christian Andersen. Sie gibt Familie und Stimme auf und wird aus Liebe zu einem Prinzen zum Menschen. Weil er diese Liebe nicht erwidert, besteht ihre einzige Chance zu überleben darin, den geliebten Prinzen zu töten und wieder zur Seejungfrau zu werden. Sie handelt jedoch selbstlos, entsagt der Liebe und opfert ihr eigenes Leben:

„Aber da warf sie es [das Messer] weit hinaus in die Wogen; [...]. Noch einmal sah sie mit halbgebrochenen Blicken auf den Prinzen, stürzte sich vom Schiff in das Meer hinab und fühlte, wie ihr Körper sich in Schaum auflöste.“67

Die Seejungfrau stirbt, hat ihren eigenen Wünschen entsagt und in der Stunde der Prüfung moralisch entschieden. Diesem Figurentyp entsprechen auch die Eltern Harry Potters. Lily Potter, Harry Potters Mutter, hat im Kampf gegen Voldemort aus Liebe ihr Leben für ihr Kind geopfert.68 Auch einige Mitglieder des Orden des Phönix opfern sich im Kampf gegen das Böse für die Allgemeinheit.

(4) Die Konzeption des entwicklungsfähigen Menschen, dessen Prüfung zugleich zur Prüfung der Möglichkeit gesellschaftlicher Veränderungen wird, kann mit Themen wie ,Suche‘ oder ,Reform‘ verknüpft sein. Die Figuren vereinen Ehrfurcht vor dem Menschlichen mit dem Bekenntnis zur Gemeinschaft.69 Sie können „durch vorbildliches Handeln den Weg zur sittlichen Erneuerung der Gesellschaft weisen, im kleinen Kreis eine tragfähige Lebensbasis gründen, eine revolutionäre Erneuerung anstreben oder auch Selbsterkenntnis und Überblick über das Leben erreichen.“70 Eine solche Figur ist zum Beispiel Frodo Beutlin aus J.R.R. Tolkiens „Der Herr der Ringe“. Der am Anfang des Romans naive und auf das Wissen um seine Welt beschränkte Hobbit wird zum Träger des Ringes, begibt sich auf eine beschwerliche Reise und widersteht der Versuchung, den Ring zu tragen. Durch sein vorbildliches Verhalten wird am Ende der Ring vernichtet und damit die sittliche Ordnung von Mittelerde erneuert. Gleichzeitig entwickelt er sich zu einer höheren Figur, erreicht Weisheit und Selbsterkenntnis, die es ihm unmöglich macht, in sein altes Leben zurückzukehren. Bestandteil des Themas sind auch verschiedene Hilfsmittel, die der Figur bei den verschiedenen Prüfungen auf ihrem Weg helfen sollen. Frodo erhält das Schwert Stich und das Licht von Earendils Stern von der Königin des Waldes. Diese Gegenstände helfen zum Beispiel beim Kampf gegen die Riesenspinne

Kankra. Eine Figur, die dem widerspruchslos entspricht findet sich bei Harry Potter nicht. Dennoch gibt es Figuren, die sich stark entwickeln. Der schüchterne, unsichere und zunächst scheinbar auch untalentierte Neville Longbottom, ein Freund Harry Potters, entwickelt nicht nur seine magischen Fähigkeiten weiter, sondern überwindet auch seine Unsicherheit und wird zu einem mutigen Kämpfer, der in einer entscheidenden Situation den Sieg des Guten sichert.71

[...]


1 HP 1, S. 19.

2 http://www.carlsen-harrypotter.de/web/autorin <Stand: 5. Juli 2008>

3 Vgl. Ewers, Hans-Heino: Was ist Kinder- und Jugendliteratur? Ein Beitrag zu ihrer Definition und zur Terminologie ihrer wissenschaftlichen Beschreibung. In: Günter Lang (Hg.): Taschenbuch der Kinder- und Jugendliteratur Band 1. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren 2000, S. 3. Im Folgenden abgekürzt als: Ewers, Hans-Heino: Was ist Kinder- und Jugendliteratur?, S.

4 Vgl. Ewers, Hans-Heino: Literatur für Kinder und Jugendliche. Eine Einführung in grundlegende Aspekte des Handlungs- und Symbolsystems Kinder- und Jugendliteratur. Mit einer Auswahlbibliographie Kinder- und Jugendliteraturwissenschaft. München: Fink 2000, S. 19. Im Folgenden abgekürzt als: Ewers, Hans-Heino: Literatur für Kinder und Jugendliche, S.

5 Vgl. Ewers, Hans-Heino: Was ist Kinder- und Jugendliteratur?, S. 3f.

6 Vgl. Ewers, Hans-Heino: Was ist Kinder- und Jugendliteratur?, S. 4.

7 Kümmerling-Meibauer, Bettina: Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur. Ein internationales Lexikon. Stuttgart: Metzlersche Verlagsbuchhandlung 1999, S. V. Im Folgenden abgekürzt als: Kümmerling, Meibauer, Bettina: Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur, S.

8 Vgl. Ewers, Hans-Heino: Literatur für Kinder und Jugendliche, S. 22.

9 Vgl. Ewers, Hans-Heino: Was ist Kinder- und Jugendliteratur?, S. 5.

10 Vgl. Ewers, Hans-Heino: Was ist Kinder- und Jugendliteratur, S. 6.

11 Vgl. Ewers, Hans-Heino: Was ist Kinder- und Jugendliteratur?, S. 7.

12 Vgl. Ewers, Hans-Heino: Was ist Kinder- und Jugendliteratur?, S. 7f.

13 Vgl. Ewers, Hans-Heino: Was ist Kinder- und Jugendliteratur?, S. 8.

14 Vgl. Ewers, Hans-Heino: Was ist Kinder- und Jugendliteratur?, S. 14.

15 Vgl. Ewers, Hans-Heino: Literatur für Kinder und Jugendliche, S. 29.

16 Vgl. http://lexikon.meyers.de/meyers/Kinder-_und_Jugendliteratur <Stand: 15. Juli 2008>

17 Vgl. Kümmerling-Meibauer, Bettina: Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur, S. IX.

18 Kümmerling-Meibauer, Bettina: Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur, S. X.

19 Kümmerling-Meibauer, Bettina: Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur, S. IX.

20 Vgl. Kümmerling-Meibauer, Bettina: Kinderliteratur, Kanonbildung und literarische Wertung. Stuttgart: Metzler 2003, S. 194ff. Im Folgenden abgekürzt als: Kümmerling-Meibauer: Kinderliteratur, Kanonbildung und literarische Wertung, S.

21 Vgl. Kümmerling-Meibauer: Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur, XII.

22 Vgl. Kümmerling-Meibauer: Kinderliteratur, Kanonbildung und literarische Wertung, S. 197.

23 Vgl. Kümmerling-Meibauer: Kinderliteratur, Kanonbildung und literarische Wertung, S. 199.

24 Mark Twain: Tom Sawyer und Huckleberry Finn. Wien: Tosa 1965, S. 245.

25 Vgl. Kümmerling-Meibauer: Kinderliteratur, Kanonbildung und literarische Wertung, S. 201f.

26 Vgl. Kümmerling-Meibauer: Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur, S. XIII.

27 Vgl. Kümmerling-Meibauer: Kinderliteratur, Kanonbildung und literarische Wertung, S. 202.

28 Vgl. Kümmerling-Meibauer: Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur, S. XIV.

29 Vgl. Kümmerling-Meibauer: Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur, S. XV.

30 Vgl. http://www.rossipotti.de/ausgabe13/kulturtasche.html <Stand: 15. Juli 2008>.

31 Hein, Rudolf: Kennen Sie Severus Snape? Auf den Spuren der sprechenden Namen bei Harry Potter. Bamberg: Colibri 2001, S. 27. Im Folgenden abgekürzt als: Hein, Rudolf: Kennen Sie Severus Snape?, S.

32 Vgl. Hein, Rudolf: Kennen Sie Severus Snape?, S. 91f.

33 Vgl. Rowling, Joanne K./Zollner, Barbara M.: Langenscheidts Großes Zauberwörterbuch Englisch - Deutsch. München: Langenscheidt 2003.

34 Vgl. Hein, Rudolf: Kennen Sie Severus Snape?, S. 102.

35 Vgl. HP 5, S. 645.

36 Vgl. HP 2, S. 11.

37 Vgl. HP 5, 543.

38 Vgl. HP 5, S. 315f.

39 Vgl. HP 4, S. 667.

40 Vgl. HP 7, S. 645.

41 Vgl. HP 1, S. 313.

42 Vgl. http://www.spiegel.de/kultur/literatur/0,1518,512613,00.html <Stand: 15. Juli 2008>

43 Daemmrich, Horst und Ingrid: Themen und Motive in der Literatur. Ein Handbuch.Tübingen: Francke 1995 (=UTB für Wissenschaften 8034), S. XXIV. Im Folgenden abgekürzt als: Daemmrich: Themen und Motive in der Literatur, S. XXIV.

44 Dieter Burdorf, Christoph Fasbender, Burkhard Moeninghoff (Hgg.): Metzler Literatur Lexikon. Stuttgart: J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung 2007 Lexikon, S. 768. Im Folgenden abgekürzt als: Metzler Literatur Lexikon, S.

45 Vgl. Daemmrich: Themen und Motive in der Literatur, S. XXIf.

46 Vgl. Daemmrich: Themen und Motive in der Literatur, S. XXIII.

47 Daemmrich: Themen und Motive in der Literatur, S. XIV.

48 Vgl. Daemmrich: Themen und Motive in der Literatur, S. XIV.

49 Metzler Literatur Lexikon, S. 514.

50 Vgl. Daemmrich: Themen und Motive in der Literatur, S. XVIII.

51 Vgl. Metzler Literatur Lexikon, S. 514.

52 Vgl. Metzler Literatur Lexikon, S. 514.

53 Vgl. Daemmrich: Themen und Motive in der Literatur, S. 156.

54 Daemmrich: Themen und Motive in der Literatur, S. 157. Nummerierung wurde nachträglich eingefügt.

55 Vgl. Daemmrich: Themen und Motive in der Literatur, S. 159.

56 Vgl. Daemmrich: Themen und Motive in der Literatur, S. 159.

57 Vgl. HP 1, S. 5.

58 Vgl. Daemmrich: Themen und Motive in der Literatur, S. 159.

59 Lewis, Clive S. Das Wunder von Narnia. Wien: Ueberreuter 2002, S. 58. Im Folgenden abgekürzt als: Lewis, Clive S. Das Wunder von Narnia, S.

60 Lewis, C.S.: Das Wunder von Narnia, S. 58.

61 Lewis, C.S.: Das Wunder von Narnia, S. 59.

62 Vgl. HP 1, S. 323.

63 Vgl. HP 5, S. 315.

64 Vgl. HP 1, S. 151f.

65 Vgl. Daemmrich: Themen und Motive in der Literatur, S. 159f.

66 Daemmrich: Themen und Motive in der Literatur, S. 160.

67 Andersen, Hans Christian. Märchen und Historien. Band. 1. Frankfurt am Main: Gutenberg 1964, S. 144.

68 Vgl. HP 1, S. 17f.

69 Vgl. Daemmrich: Themen und Motive in der Literatur, S. 161.

70 Daemmrich: Themen und Motive in der Literatur, S. 161.

71 Vgl. HP 5, S. 917ff.

Excerpt out of 114 pages

Details

Title
Die "Harry-Potter"-Romane als literarisches Phänomen. Themen, Motive und Figurenkonzeption der klassischen Kinder- und Jugendliteratur in Joanne K. Rowlings weltberühmter Buchreihe
College
University of Bamberg  (Neuere Deutsche Literaturwissenschaft)
Grade
1,0
Author
Year
2008
Pages
114
Catalog Number
V1159251
ISBN (eBook)
9783346557209
ISBN (Book)
9783346557216
Language
German
Keywords
harry potter, phänomen, buch marketing, kinderbuch, kinderbuchliteratur, literaturmarketing, intertextualität, englisch, english, jugendbuch, jugendbuchmarketing, literarisches phänomen, bestseller, joanne k. rowling, rowling, englische kinderbuchliteratur, der Stein der Weisen, Philosopher’s Stone, die Kammer des Schreckens, Chamber of Secrets, der Gefangene von Askaban, literaturwissenschaft, Prisoner of Azkaban, der Feuerkelch, Goblet of Fire, der Orden des Phönix, Order of the Phoenix, der Halbblutprinz, Half-Blood Prince, die Heiligtümer des Todes, Deathly Hallows, kinderbuchmarketing, märchen, boarding school noval, boarding school novel, detective story, harry, ron, hermine, einhorn, drache, sagen, themen, motive, figurenkonzeption, klassische kinderbuchliteratur, septologie, buchverfilmungen, internatsgeschichten, quidditch, zauberwelt, internationale bestseller, literarische erfolge, erfolgreiche kinderbücher, abgrenzung kinder
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Kerstin Kremer (Author), 2008, Die "Harry-Potter"-Romane als literarisches Phänomen. Themen, Motive und Figurenkonzeption der klassischen Kinder- und Jugendliteratur in Joanne K. Rowlings weltberühmter Buchreihe, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1159251

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