Lügen, Täuschungen und textinterne Unstimmigkeiten als Stilmittel zur motivierten Weitererzählung des Nibelungenliedes


Hausarbeit (Hauptseminar), 2014

19 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Gliederung

1. Einleitung

2. Die erste Lüge als rollender Stein

3. Der Zusammenhang zwischen minne und Macht

4. Die Standeslüge

5. Unstimmigkeiten als Stilmittel?

6. Warum Siegfried nicht um Brünhild wirbt

7. Welche Funktion(en) haben Lügen und Täuschungen im Nibelungenlied?

8. Resümee

1. Einleitung

Das Nibelungenlied ist in seiner thematischen Vielfalt nahezu unerschöpflich und bietet bis heute Stoff für spannende Diskussionen, gedankliche Interpretationen, historische Untersuchungen und Diskurse über die Aktualität diverser Themen im Epos. Das Interesse für ein bestimmtes Untersuchungsfeld wird vermutlich immer aus subjektiven Präferenzen heraus geweckt. Die Auswahl des Themas der hier vorliegenden Arbeit bildet da nun keine Ausnahme. Aus dieser Fülle der thematischen Vielfalt, hat mich stets die Frage beschäftigt, warum Siegfried bei Ankunft in Worms nicht etwa wahrheitsgemäß seine Werbungsabsicht um Kriemhild ausspricht und stattdessen zu einer irrsinnigen Lüge greift, die den Grundstein für die Katastrophe und seinen eigenen Untergang legt. Bereits diese ersten einleitenden Zeilen enthalten subjektive Interpretation und Mutmaßungen, und genau hier liegt die Schwierigkeit und die Herausforderung im Umgang mit dem Nibelungenlied. Es ist außerordentlich schwierig, sich dem Epos zu widmen, ohne die Helden und ihr Handeln zu bewerten und zu deuten. Die Herausforderung liegt dann darin begründet, für die subjektiven Mutmaßungen, im Text enthaltene Belege und Beweise zu finden, die diese Vermutung unterstützen. Für das ausgewählte Thema dieser Arbeit sind solche Textbelege für das Verständnis der darzustellenden Problematik von unverzichtbarer Bedeutung. Ich werde versuchen das Thema des minne-Erwerbs durch Täuschung anhand einiger Beispiele, die exemplarisch für das Betrügerische im Nibelungenlied und meiner Ansicht nach die Hauptszenarien für den Weg zum Untergang sind, zu diskutieren und die augenscheinlichen Unstimmigkeiten, die sich aus dem Untersuchungsfeld und den Textstellen ergeben, zu analysieren. Dabei werde ich mich auf Zitate und Äußerungen von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen beziehen, die ich entweder zur Unterstützung eigener Aussagen verwenden oder kritisch hinterfragen werde. Diese Arbeit wird sich an der Leitfrage orientieren, warum Lügen im Nibelungenlied nötig werden und welchen Gehalt Lügen und die Unstimmigkeiten für den Verlauf der Erzählung tragen. Interessant in diesem Zusammenhang wird auch die Rolle der Absicht dieser Diskrepanzen durch die Nibelungenlied-Autoren/Erzähler sein.

2. Die erste Lüge als rollender Stein

Die erste Szene, die gleichsam der Anstoßstein für alle anderen folgenden betrügerischen Handlungen im Nibelungenlied ist, stellt die Ankunft Siegfrieds in Worms und die damit verbundene Lüge um den wahren Grund seines Besuches, nämlich die Werbung um die burgundische Königstochter Kriemhild, dar. Da Siegfried bei seiner Ankunft in Worms König Gunther zum Zweikampf um Land und Herrschaft herausfordert, stellt sich unausbleiblich die Frage nach dem wahren Grund seiner Reise. Dem Rezipienten kommt der Zweifel über die Ernsthaftigkeit des von dem Helden selbst angegebenen Grundes: „sô wil ich Kriemhilden nemen, die scœnen juncfrouwen von Burgonden lant […].“ (48,4f). Und auch die letzten Worte „[…] durch ir unmâzen scœne […]“ (49,2) die diesen Satz beenden, machen deutlich, dass es Siegfried nicht um Kriemhild als Person, losgelöst von all den machtvollen Attributen, die sie besitzt, geht, sondern dass dieser sich selbst Vorteile durch eine Heirat verspricht. Hier zeigt sich also zunächst der Machthunger Siegfrieds. Durch den späteren Verlauf des Epos allerdings, scheint sich diese Vermutung zu relativieren. Nicht zuletzt, weil der Held es schlichtweg nicht nötig hat, fremdes Land zu erobern, da er nicht etwa ein Besitzloser, sondern ein mächtiger Königssohn ist, sondern weil dieser sich freiwillig und unentgeltlich anbietet, Gunther im Kampf gegen die Könige Liudegast und Liudeger zu helfen. Nur könnte hier wiederum gemutmaßt werden, dass hinter diesem freundschaftlichen Dienst ein berechnender und eigennütziger Plan steckt. Um Licht in dieses Durcheinander zu bringen, muss nun Schritt für Schritt vorgegangen werden. Zunächst müssen die möglichen Gründe für Siegfrieds vermeidliche „Falschaussage“ diskutiert werden, um herauszuarbeiten, welche Art der Täuschung hier vorliegt. Siegfried „mohte wol verdienen scœner frouwen lîp“ (47,3) und auch Kriemhild möchte er sich durch seine Taten „verdienen“. Daher, und das legt der Text ganz deutlich dar, will sich Siegfried mit Gunther messen, da dieser als der kühnste unter den drei Königen gilt. So sagt Siegfried zu Gunther:

„Nu ir sît sô küene, als mir ist geseit,

sone rúoch ich, ist daz iemen liep oder leit:

ich wil an iu ertwingen, swaz ir muget hân:

lant unde bürge, daz sol mir werden undertân.“ (Strophe 110)

Anstatt sein Vorhaben (nämlich die Heirat mit Kriemhild) vorzutragen, konfrontiert er Gunther mit einer abwegigen Herausforderung. Handelt er impulsiv oder gar kalkuliert? In der Forschung wird Siegfrieds hôhen muot (Übermut) oft als Grund für das Handeln Siegfrieds angegeben. Einleuchtender und überzeugender erscheint mir allerdings eher die Begründung, dass es im Rahmen der Brautwerbung um die Legitimation von Herrschaft geht, denn die Darstellung der Brautwerbung greift im Nibelungenlied auf den Vergleichspunkt der Herrschaft zurück. Nach dem Verständnis des Brautwerbungsschemas bekommt der Werber nämlich nur die Frau, wenn die Herrschaften beider Seiten, also die des Werbers und die des Brautvaters, sich gegenseitig als gleichwertig anerkennen. Die Handlung Siegfrieds kann eher als eine Handlung um die êre verstanden werden. Er will durch die unter Beweisstellung seiner Kräfte sich als legitimer und einzig richtiger Werber um Kriemhild beweisen, denn immerhin geht es darum, dass er nach der Heirat würdig ist, die Krone als rechtmäßiger König zu tragen. Die Problematik besteht allerdings darin, dass am Wormser Hof andere Regeln herrschen, als dort, wo Siegfried herkommt. Durch die Schlichtung und Aufklärung Gernots wird Siegfried dann schlussendlich als Gleichgestellter mit den Burgunden am Wormser Hof aufgenommen. Siegfrieds erste Lüge macht also überhaupt erst weitere Täuschungen nötig. Dem Rezipienten wird signalisiert, dass Siegfried ein hohes Bereitschaftspotential für Täuschungshandlungen besitzt. Siegfried hat einen provozierenden Charakter. Er wählt nicht den direkten Weg der Wahrheit, sondern nimmt stattdessen Umwege auf sich. Das Problematische bei seinem Verhalten ist, dass er sich mit seiner Lüge nicht etwa aus einer ausweglosen Situation heraus rettet, sondern selbst eine Situation schafft, die unabdingbar weitere Täuschungen nach sich ziehen muss. Eine weitere These, die ich aufzustellen vermag, ist die, dass Kriemhild erst selbst die „kühnen“ Handlungen Siegfrieds provoziert, indem sie sich dazu entschlossen hatte, niemals die Liebe eines Mannes in ihr Herz zu lassen. Warum aber lässt sie sich- salopp gesagt- doch noch eine Hintertür zu ihrem Herze offen, indem sie eine mögliche Heirat an Bedingungen knüpft, die ein Werber erfüllen muss? Eine denkbare Erklärung wäre die, dass sie als Frau zwar die Bestätigung für ihre Schönheit und ihre Stärke benötigt, allerdings nicht von der Liebe eines Mannes abhängig ist. Wie der Text den Rezipienten verrät, wies Kriemhild jeden ihrer Werber ab, wobei sie die Aufmerksamkeit derer durchaus genoss:

Diu ir unmazen scoene was vil witen kunt,

und ir hohgemüete zuo der selben stunt

an der juncfrouwen so manec helt ervant.

ez ladete vil der geste in daz Guntheres lant. (45)

Swaz man der werbenden nach ir minne sach,

Kriemhilt in ir sinne ir selber nie verjach,

daz sie deheinen wolde ze eime trute han.

er was ir noch vil vremde, dem dem si wart sider undertan. (46)

Dieses Verhalten erinnert doch sehr stark an die der Herrinnen, die in den Minneliedern von den Minnesängern (vergebens) umworben wurden. Aus dieser Überlegungsperspektive heraus könnte man das Auftreten Siegfrieds am Wormser Hof mit dem eines Minnesängers vergleichen und verständlich erörtern. Denn sich in dieser Position befindend, ist Siegfried „gezwungen“ sich wie ein Ritter zu verhalten, um so der Dame seines Herzens seinen Dienst zu erweisen. Diese Überlegung, Siegfrieds Handeln aus der Sicht der minne zu erklären, wird auch textintern in Strophe 131 vom Autor unterstützt, wenn er von hohe minne spricht:

Swa so bi den frouwen durch ir höfscheit

Kurzewile pflagen die riter vil gemeit,

da sah man ie vil gerne den helt von Niderlant.

Er het uf hohe minne sine sinne gewant. (Strophe 131) [eigene Hervorhebung]

Den Gedanken weiterführend, kann man davon ausgehen, dass der Stratordienst, den Siegfried Gunther im späteren Verlauf der Erzählung leistet, auch nur von Gedanken an die minne geleistet wurde. Siegfried leistet seinen Minnedienst also durch Taten und eben diese heroisch-kriegerischen Taten und das unerschrockene Auftreten Siegfrieds sind es letztendlich, die Kriemhilds Herz heimlich mit minne füllen lässt. Dieses Gefallen an solch Heldentaten beweist, wie sehr Kriemhild auf Macht und Ehre bedacht ist.

3. Der Zusammenhang zwischen minne und Macht

Um die Handlungen Siegrieds und Kriemhild auf die minne hin zu untersuchen, bedarf es einer kurzen Erläuterung, wie minne in diesem Zusammenhang gedeutet und verstanden wird. Kriemhild verbindet mit minne nicht etwa die leidenschaftliche Liebe zwischen zwei Personen, sondern nur Leid. Aus ihrem Wissen heraus, dass die minne bereits vielen Frauen nur Schmerz und Leid zugefügt hat, bevorzugt sie ein Leben âne recken minne (15, 2). Siegfried hingegen will, nicht zuletzt auf Anraten seiner Verwandten und Gefolgsleute (48), heiraten. Seine minne zu Kriemhild ist allerdings geprägt von ihrer unermesslichen Schönheit und ihrem hohen Stand. Zudem ist es eine sogenannte „Fernminne“, da sich beide noch nie im Leben begegnet sind. Es sind die machtvollen „Qualitäten“ Kriemhilds, die Siegfried als Herrscher großen Nutzen bringen können und allein dieses Wissen lässt bei Siegfried minne aufkommen. „Die Entstehung des Minneaffekts ist keine individuelle Entscheidung Siegfrieds; über das Wissen von Kriemhilds tugentt verfügt er nur durch die Vermittlung der Gesellschaft.“[1] Nun bleibt trotzdem die Frage, warum Siegfried seine eigentliche Intention vertuscht und so viel List anwendet, um Kriemhild zu erobern. Warum fordert er Gunther heraus und warum leistet er den Burgunden seinen Dienst und zieht sogar in den Krieg? Der Drachentöter selbst sagt, dass er seine Hilfe als Freund anbietet: „welt ir vriwent suochen, der sol ich einer sîn“ (156, 3). Die nachfolgende Deutung Jan-Dirk Müllers aber entlarvt Siegfrieds Begründung als unwahr bzw. bedingt wahr und gibt eine plausible Erklärung auf die oben bestellte Frage. Müller sieht in Siegfrieds Werbung um Kriemhild ,,beide Motive - Kampf um die Herrschaft und Kampf um die Frau - so selbstverständlich miteinander verknüpft, daß sie füreinander eintreten können. Der Zweikampf um Gunthers Land soll, so scheint Sivrit vorauszusetzen, ihm auch die Frau verschaffen, deretwegen er nach Worms gekommen ist. Damit trifft er auf Unverständnis und Ablehnung. Das Prinzip, daß der Stärkste die Schönste erhält, wird abgebogen. Es läßt sich in dem komplexen Herrschaftssystem von Worms nicht unmittelbar realisieren." [2] Siegfried geht es also zwar um die minne, allerdings nicht untrennbar von den Herrschaftsmöglichkeiten, die durch die Heirat mit der Prinzessin einhergehen. Dieser Dienst ist aber nicht etwa, wie von Siegfried angegeben, ein bloßer Freundschaftsdienst, sondern steht auch unter dem Zeichen der minne. Hier werden Minne und Macht miteinander verwoben. Siegfried demonstriert seine Stärke aber nicht ausschließlich aus Nächstenliebe und der minne wegen, sondern um sich selbst zu profilieren und sich sowohl als verdienter Ehegatte Kriemhilds als auch als exzellenter Herrscher Worms von sich zu überzeugen. Er zieht in den Krieg, um das Land zu beschützen, das bald womöglich sein eigenes sein könnte. Er erfüllt quasi die Rolle Gunthers, des derzeitigen Königs

[...]


[1] Grenzler, Thomas, „Erotisierte Politik - Politisierte Erotik?: die politisch-ständische Begründung der Ehe-Minne in Wolframs "Willehalm", im "Nibelungenlied" und in der "Kudrun"“, Göppingen, 1992. S. 145.

[2] Müller, Jan-Dirk,„Spielregeln für den Untergang, Die Welt des Nibelungenliedes“, Tübingen 1998. S. 139.

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Lügen, Täuschungen und textinterne Unstimmigkeiten als Stilmittel zur motivierten Weitererzählung des Nibelungenliedes
Hochschule
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg  (Philosophisches Institut)
Veranstaltung
Hauptseminar Nibelungenlied
Note
1,7
Autor
Jahr
2014
Seiten
19
Katalognummer
V274185
ISBN (eBook)
9783656666271
ISBN (Buch)
9783656666240
Dateigröße
513 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
lügen, täuschungen, unstimmigkeiten, stilmittel, weitererzählung, nibelungenliedes
Arbeit zitieren
Ani Kirakosyan (Autor:in), 2014, Lügen, Täuschungen und textinterne Unstimmigkeiten als Stilmittel zur motivierten Weitererzählung des Nibelungenliedes, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/274185

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