Gedichtanalyse und -interpretation zu "Entartung der Welt" von Walther von der Vogelweide


Hausarbeit, 2017

16 Seiten, Note: 1,0

Anonym


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Leben und Werk Walthers von der Vogelweide

3. Das Gedicht „Entartung der Welt“ einschlieBlich einer Ubersetzung in das Neuhochdeutsche

4. Gedichtanalyse und -interpretation
4.1 Inhalt und formaler Aufbau
4.2 Sprachliche Gestaltung und Interpretation

5. Thematischer Bezug zur Gegenwart

6. Schluss

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Die Epoche des hohen Mittelalters war eine Epoche voller Gegensatze. Eine Epoche voller „Liebe, Gluck und Leid, Tod, Schuld und Erlosung, Individuum und Gesellschaft" (Brunner, Hahn, Muller & Spechtler, 1996, S.13f.).

Dieses Leben voller Gegensatze, sowie das vorherrschende Feudalsystem bestimmten nicht nur die Gesellschaft, sondern nahmen auch einen wesentlichen Einfluss auf die mittelhochdeutsche Literatur. Schriftsteller der Lieddichtung und der GroBepik, der zwei Formen hofischer Literatur, waren nicht frei, sondern dienstbar. Sie waren abhangig „von der Gunst ihrer Auftraggeber“ (Bumke, 1986, S.596), dem Stand der Adligen. Man kann jedoch nicht von einer generellen Unterwurfigkeit der Schriftsteller sprechen. Im Gegenteil ubten einige von ihnen starke Kritik an der hofischen Gesellschaft aus, wahrend sie trotzdem darauf achteten, dass ihre Kunst „annahmefahig [blieb]“ (Brunner et al., 1996, S.14), um ihren Lebensunterhalt bestreiten zu konnen.

So auch Walther von der Vogelweide. Zwischen ca. 1200 und 1220 suchte er am Wiener Hof vergeblich nach einer gesicherten Erwerbsquelle (vgl. Ehrismann, 2008, S.41). In dieser Zeit entstand der „Wiener Hofton“, in dem sich Walthersmomentane pessimistische Grundhaltung aufgrund der aussichtslosen finanziellen Stellung in den 14 Sangspruchstrophen widerspiegelte.

Walther von der Vogelweides Sangspruchdichtung war weitgehendstgepragt durch gesellschaftskritische Themen und Lehren, die bis in die Gegenwart reichen.

Wie bedeutend die Gedichte der Spruchlyrik tatsachlich waren und vor allem immer noch sind, wird im Verlauf der Hausarbeit anhand eines Beispiels deutlich werden. Im Folgenden soll die vierte Strophedes „Wiener Hoftons“ mit dem Titel „Entartung der Welt“ aus dem Bereich ebendieser Spruchdichtung ubersetzt, analysiert und interpretiert werden, nachdem kurz auf das Leben und Werk des Autors Walther von der Vogelweide eingegangen wird. AbschlieBend soll die Thematik des Gedichtes vertieft und Parallelen zur Gegenwart aufgezeigt werden.

2. Leben und Werk Walthers von der Vogelweide „Walther von der Vogelweide gilt als der bedeutendste deutsche Lyriker des Mittelalters“ (Bauschke-Hartung, 2017, S.15).

Eine genaue Biographie ist nicht bekannt, doch durch das deutliche Einbringen seiner eigenen Person und anderen historischen Personlichkeiten in seinen Gedichten, kann man,im Gegensatz zu anderen Lyrikern dieser Zeit,einen ungefahren Verlauf seines Lebens nachvollziehen.

Er wurde vermutlich um 1170 geboren und verstarb in Wurzburgum 1230.

Walther absolvierte seine Ausbildung in Osterreich. Ab diesem Zeitpunkt war es sein Lebensziel, am Wiener Hof dauerhaft Aufnahme zu finden, welches er jedoch nie erreichen konnte (vgl. Brunner, 2019, S.175). Sowohl seine regionale Herkunft, als auch seine soziale Stellung in der Gesellschaft sind stark umstritten. Basierend auf eigenen Aussagen in seinen literarischen Werken, kann man jedoch davon ausgehen, dass erden GroBteil seines Lebens ein fahrender Berufsdichter war, der mit Lyrik seinen Lebensunterhalt bestreiten musste und keinen festen Platz in der Standegesellschaft einnahm(vgl. Bauschke-Hartung, 2017, S.15ff.). Dabei traf er auf unterschiedliche Furstenund Grafen, bei denen er zeitweiseam Hof angestellt warund fur die er unter anderem auch politische Lyrik verfasste.

Walther von der Vogelweide war„einer der unabhangigsten, unkonventionellsten, auch unruhigsten und streitbarsten Geister“ (Bauschke-Hartung, 2017, S.15), was ihn schon zu Lebzeiten zu einer bewunderten und bedeutenden Personlichkeit machte.

Das vielseitige und umfangreiche Werk Walthers kann in die drei Gattungen Minnesang, Sangspruchdichtung und religiose Lieddichtung gegliedert werden (vgl. Brunner, 2019, S.176), wobei letztere vor allem als Propaganda fur die damaligen Kreuzzuge fungierte und eher einen kleineren Teil des Werkes einnahm. Ursprunglich praktizierte Walther den angesehenen Minnesang mit der Hauptthematik Liebe, doch er nahmschon bald die rechtlose Stellung eines fahrenden Sangspruchdichters ein. Mit seiner Spruchlyrik verbreitete er die Themenbereiche der Politik, Religion, Fahrenden-und Weltklage, der hofischen Gesellschaft und Sittenlehre. Jene ist aus heutiger Sicht sein wichtigster Beitrag zur mittelhochdeutschen Literatur, da die Spruchlyrik sich erst durch Walther von der Vogelweide zu einer anerkannten Gattung etablierte.

Als einziger Dichter, „der im selben Umfang als Minnesanger und als Sangspruchdichter gewirkt hat“ (Bumke, 1986, S.691), nahm Walther von der Vogelweide eine absolute Sonderstellung ein.

Durch ihn kam es zu Annaherungen und Mischungen der beiden sonst strikt getrennten Gattungen im thematischen und formellen Bereich (vgl. Brunner et al., 1996, S.16). Letztendlich wurde durch Walther von der Vogelweide die Sangspruchdichtung sogar „zu einer Gattung, die gleichberechtigt neben dem Minnesang stand“ (Brunner, 2019, S.179). Er selbst sah sie jedoch nie als „Zentrum seines Tuns“ (Bauschke-Hartung, 2017, S.27), sondern eher als Notwendigkeit.

3. Das Gedicht „Entartung der Welt“ einschlieBlich einer Ubersetzung in das Neuhochdeutsche

So we dir werlt, wie ubel du stest! waz dinge du alz an begest, die von dir sint ze lidenne ungenaeme! du bist vil nach gar ane scham. got weiz wol, ich bin dir gram: din art ist elliu worden widerzaeme. waz eren hast uns her behalten? nieman siht dich froiden walten, als man ir doch wilent pflac. we dir, wes habent diu milten herze engolten? fur diu lopt man die argen richen. werlt, du stest so lasterlichen, daz ich ez niht betiuten mac. triuwe und warheit sint vil gar bescholten, daz ist ouch aller eren slac. Ach, weh dir, Welt, wie schlecht du dastehst! Was fur Dinge du tust, die durch dich unertraglich zu erleiden sind! Du bist fast ganzlich ohne Scham. Gott weiB wohl, ich bin dir bose: Deine Art ist widerwartig geworden. Welche Ehren hast du uns bewahrt? Niemand sieht dich Freude schenken, wie man sie doch einst genoss. Weh dir, wofurmussendie freigiebigen Herzen buBen? An ihrer Stelle lobt man die bosen Reichen. Welt, du stehst so lasterhaftda, dass ich es nicht erklarenkann. Treue und Wahrheit sind fast ganzlich verachtet, das ist auch ein Schlag fur alle Ehren.

4. Gedichtanalyse und -interpretation

4.1 Inhalt und formaler Aufbau

Das Gedicht „Entartung der Welt“ von Walther von der Vogelweide stellt die vierte von vierzehn Strophen des „Wiener Hoftons“ dar, ist aber als eigenstandiges Vortragswerk zu betrachten (vgl. Bauschke-Hartung, 2017, S.468).

Die Schelt-und Klagestrophe richtet sich gegen die Welt im Allgemeinen und Speziellen. Vor allem der gesellschaftliche Wandel von einer positiven hofischen Welt zu einer Welt voller Geiz und Ungerechtigkeit aufgrund der Standegesellschaft steht im Mittelpunkt des Gedichtes.

Die Strophe besteht aus funfzehn Versen, von denen die Verse eins bis sechs den Aufgesang und die Verse sieben bis funfzehn den Abgesang bilden. Der Aufgesang ist nochmals in den ersten (V.1-3) und zweiten Stollen (V.4-6) aufzugliedern. Dies sind die Merkmale einer Kanzone, die haufigste Strophenform in der Sangspruchdichtung.

Im Aufgesang (V.1-6) beschreibt Walther zusammenfassend sein Anliegen. Er klagt die Welt hinsichtlich ihrer Taten (V.2f.) und ihrer Art (V.6) an. Die genaueren Grunde und Ausfuhrungen dazu finden sich dann erst im Abgesang (V.7-15), in dem von fehlender Freude (V.8), der Bevorzugung der Reichen vor den Mildtatigen (V.10f.) und dem Verfall von Treue und Wahrheit (V.14) gesprochen wird. Walther baute die Strophe also vom Allgemeinen hin zum Speziellen auf.

Fur den Aufgesang wahlte Walther von der Vogelweide einenSchweifreim: aab ccb. Der Abgesang lasst sichkeinem typischen Reimschema zuordnen,sondern besteht aus zwei gleichgebauten Perioden und einem Schlussvers: ddef ggef e. Der Schlussvers bildet mit Vers 9 und 13 ein 3er-Reimpaar.

Die sich reimenden Verse sind auch hinsichtlich des VersmaBes gleich gebaut. Bei den zwei Terzinenstollen des Aufgesangs folgt ein Sechsheber auf zwei Vierheber. Im Abgesang folgen dem funfhebigen Reimpaar jeweils ein Vier-und ein Sechsheber, wahrend auch der Schlussvers vier Hebungen aufweist (vgl. Bogl, 2006, S.48 und Bauschke-Hartung, 2017, S.465).

Genauso verhalt es sich mit den Kadenzen. Folgt in der ersten Terzinenstolle eine weibliche auf zwei mannliche, so geschieht das auch in der zweiten. Im Abgesang ist die Kadenz der beiden Reimpaare weiblich, die derZweier-undDreierversgruppe mannlich.

Die Verseingange und das Versinnere sind dagegen von keiner so starken RegelmaBigkeit gepragt. Die Verse beginnen mit einer Hebung (V. 5, 8, 9, 10, 11, 12, 14) und einer Senkung (V. 1,2, 3, 4, 6, 7, 13, 15) in fast gleichem Verhaltnis, wobei im Aufgesang die auftaktigen und im Abgesang die auftaktlosen Verse uberwiegen. Es kann von folgendem Aufbau ausgegangen werden:

Aufgesang: A4ma A4ma A6wb / A4mc 4mc A6wb Abgesang: A5wd 5wd / 4me 6mf / 5wg 5wg / A4me 6mf / A4me

Die Verse sind groBtenteils alternierend, das Metrum des Gedichts schreibt jedoch offenbar nicht zwingend Alternation vor, da auch Verse mit Fullungsfreiheit vorkommen: In den Versen 1 (fibel du), 10 (habent diu) und 11 (lopt man die) erscheinenjeweils ein dreisilbigerTakt, womit von der Alternation abgewichen wird. Trotzdem wurde der in mittelhochdeutscher Metrik vorgeschriebene Zweivierteltakt eingehalten, indem darauf geachtet wurde, dass alle Takte gleich lang sind. In den genannten dreisilbigen Takten mussten beispielsweise die unbetonten Silben gekurzt werden, um den Zweivierteltakt zu gewahrleisten.

Zugunsten derAlternation und vor allem auch zur Einhaltung des Zweivierteltaktes wurden auBerdem Elisionen in den Versen 3 (lidenne un-), 10 (herze en-) und 14 (triuwe und) eingesetzt. Auch eine Reihe von Tonbeugungen (V.3: von, sint; V.9: als, fr, V.11: ffir, lopt; V.15: 1st) fungieren als Mittel zur Aufrechterhaltung der Alternation und des Zweivierteltaktes.

Es lasst sich erkennen, dass sich im GroBen und Ganzen der Inhalt der Form anpasst. Dies ist logisch notwendig, da der Wiener Hofton aus 14 gleichgebauten Kanzonen besteht und somit der Inhalt in diese Form gebracht werden muss.

4.3 Sprachliche Gestaltung und Interpretation

Walther ist gleichzeitig Autor und lyrisches Ich des Gedichtes, wahrend die Welt, behandelt als Person, die Rolle des lyrischen Du einnimmt.

Gleich zu Beginn der Strophe personifiziert Walther von der Vogelweide die Welt: So we dir werlt (V.1). Die Personifikation zieht sich durch die gesamte Klagestrophe. Direkte Ansprachen (du bist...(V.4), din art ist...(V.6)) und die Zuweisung von alleiniger Handlungsmacht lassen die Welt als einen lieblosen, bosartigen Menschen erscheinen, der an der misslichen Lage der Gesellschaft Schuld tragt. Ihr wird sogar die menschliche Fahigkeit des Stehens zugeschrieben: wie ubel du stest (V.1), du stest so lasterlichen (V.12).

Die Strophe hat starken Mahn-und Appellcharakter. Wahrend formell die Welt angesprochen wird, verbirgt sich dahinter eine Kritik an der hofischen Gesellschaft. Die Welt steht also fur die Menschen, die fur die Entartung der Welt verantwortlich sind.

Die rhetorischen Fragen (V.7, V.10) und die Ausrufe (V.1, V.3) unterstutzen die Verdeutlichung der thematischen Brisanz des Gedichtes.

Auch die Wiederholungen der Emphasen werlt (V. 1 , V.12) und we dir (V.1, V.10) drucken Verzweiflung uber die Situation Walthers und der niederen Bevolkerung aus. Die personliche Involviertheit und Betroffenheit Walthers wird auBerdem durch den zweimaligen Ubergang zur Ich-Aussage in den Versen 5 und 13 deutlich.

Der Aufgesang ist gepragt durch Alliterationen und Assonanzen, welche eine besondere Dramatik in den entsprechenden Textstellen bewirken. Der erste einleitende Vers ,So w e dir w e rlt, wie ubel du st e st' (V.1) verdeutlicht durch den Einsatz beider genannter Stilmittel gleich zu Beginn die Ernsthaftigkeit der Thematik und veranlasst den Leser/ Horer zum Innehalten und Aufmerken. Durch das Weiterfuhren des Stilmittels der Alliteration in den Versen 2 (dinge du), 5 (weiz wol) und 6 (worden widerzaeme) wird die dramatische Spannung aufrechterhalten und die entsprechenden Textstellen hervorgehoben. In den ersten beiden Versen liegt die Betonung auf der angeklagten Welt (we dir werlt, wie...; dinge du). In Vers 6 (worden widerzaeme) wird das Augenmerk auf den Verfall der Welt gelenkt, welche sich zum Widerwartigen verandert hat.

Markant ist die Assonanz in Vers 4: ,n a ch g a r a ne sch a m‘. Diese Aussage war fur Walther besonders wichtig, da er in der fehlenden Scham die Ursache fur den Verfall der Welt sah. Diese auBerordentliche Bedeutsamkeit wurde somit auffallend von ihm durch das Stilmittel der Assonanz hervorgehoben.

[...]

Ende der Leseprobe aus 16 Seiten

Details

Titel
Gedichtanalyse und -interpretation zu "Entartung der Welt" von Walther von der Vogelweide
Hochschule
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
Note
1,0
Jahr
2017
Seiten
16
Katalognummer
V1035697
ISBN (eBook)
9783346443175
ISBN (Buch)
9783346443182
Sprache
Deutsch
Schlagworte
gedichtanalyse, entartung, welt, walther, vogelweide
Arbeit zitieren
Anonym, 2017, Gedichtanalyse und -interpretation zu "Entartung der Welt" von Walther von der Vogelweide, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1035697

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