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Sprachkontrast und Mehrsprachigkeit

2021
978-3-8233-9349-8
Gunter Narr Verlag 
Patrick Wolf-Farré
Katja Cantone-Altintas
Anastasia Moraitis
Daniel Reimann

In den letzten Jahren ist die sprachkontrastive Arbeit stärker in den Fokus der (Zweit-)Spracherwerbsforschung und der Fremdsprachenforschung gerückt, während die Berücksichtigung entsprechender Forschungsergebnisse im Unterricht erst allmählich einsetzt. Diese Publikation soll dazu beitragen, die Verbindung zwischen sprachkontrastiver Arbeit und Mehrsprachigkeitsdidaktik zu stärken. Hierzu sind Beiträge internationaler Forscher:innen versammelt, die anhand verschiedener Sprachen theoretische Grundlagen und praktische Anwendungsbeispiele erarbeiten. Von den hier zusammengeführten Ansätzen, Prinzipien und Methoden können besonders Lehrkräfte profitieren, um sie im Sinne einer aufgeklärten Mehrsprachigkeitsdidaktik im schulischen Kontext zu integrieren. Weiterhin eignet sich der Band dazu, Studierenden des Lehramts den Zugang zu sprachvergleichender Arbeit zu erleichtern und sie für einen bewussten Umgang mit Sprache zu sensibilisieren. Nicht zuletzt finden sich auch Anregungen für weitere Forschung im Bereich der Linguistik und Fremdsprachenforschung.

Multilingualism and Language Teaching 8 Patrick Wolf-Farré / Katja F. Cantone / Anastasia Moraitis / Daniel Reimann (Hrsg.) Sprachkontrast und Mehrsprachigkeit Linguistische Grundlagen, didaktische Implikationen und Desiderata Sprachkontrast und Mehrsprachigkeit Multilingualism and Language Teaching Herausgegeben von Thorsten Piske (Erlangen), Silke Jansen (Erlangen) und Martha Young-Scholten (Newcastle) Band 8 Patrick Wolf-Farré, Katja F. Cantone, Anastasia Moraitis, Daniel Reimann (Hrsg.) Sprachkontrast und Mehrsprachigkeit Linguistische Grundlagen, didaktische Implikationen und Desiderata © 2021 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 2199-1340 ISBN 978-3-8233-8349-9 (Print) ISBN 978-3-8233-9349-8 (ePDF) ISBN 978-3-8233-0254-4 (ePub) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® 7 11 47 69 95 127 153 Inhalt Patrick Wolf-Farré, Katja F. Cantone, Anastasia Moraitis, Daniel Reimann Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Grundlagen Anastasia Moraitis Sprachkontrast und Mehrsprachigkeit. Linguistische Grundlagen, didaktische Implikationen und Desiderata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Björn Rothstein Bedingungen für die Einbindung von nicht-landessprachlichen Herkunftssprachen in den landessprachlichen Deutschunterricht. Ein kasuistisch-didaktischer Blick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marios Chrissou Phraseologie und Phraseodidaktik: theoretische Grundlagen und Aspekte der Unterrichtsgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marion Grein Die Rolle der Sprachtypologie bei der Ausbildung unserer DaF/ DaZ Studierenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Empirie und Fallstudien Ruth Videsott Kontrastive Grammatik im Sprachunterricht in ladinischen Schulen Südtirols . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Giuseppe Manno Die Lesekompetenz im Französisch als erste und als zweite Fremdsprache unter Berücksichtigung der Schulsprache Deutsch am Übergang von der Primarzur Sekundarstufe I. Erkenntnisse aus einem doppelten Systemvergleich am Ende der 6. und der 7. Klasse in der Deutschschweiz . 181 217 241 271 319 Anastasia Moraitis, Katja F. Cantone, Patrick Wolf-Farré Herkunftsbedingte Mehrsprachigkeit als begünstigender Faktor sprachvergleichender Arbeit im Deutschunterricht? . Ergebnisse einer Befragung von Lehramtsstudierenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Raúl Sánchez Prieto Bulgarisch L1, Deutsch L2 und Spanisch L3: Die Vergangenheitstempora. Die verbale Temporalität des Spanischen als Tertiärsprache bei bulgarischsprachigen Studenten/ Schülern im deutschen Kontext: Sprachtransfer und Interferenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Halyna Leontiy „Isch komm isch“ - Sprachinterferenzkomik, Sprachkontrastierung und kulturelle Mehrfachzugehörigkeit am Beispiel der Comedy von Benaissa Lamroubal (RebellComedy) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Konzeptionelle Entwürfe Daniel Reimann Für eine Didaktik des Rumänischen als Schulsprache in Deutschland. Begründungszusammenhänge, linguistische Dimensionen und Umsetzungsperspektiven für die Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joachim Theisen Sprachstatt Sprechunterricht - ein Plädoyer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt Vorwort Patrick Wolf-Farré, Katja F. Cantone, Anastasia Moraitis, Daniel Reimann Im Mittelpunkt des Sammelbandes steht die kontrastive Linguistik als eine der Subdisziplinen der vergleichenden Sprachwissenschaft. Im Vergleich ergeben sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Sprachen, im Vergleich öffnen sich Zugänge zur eigenen und fremden Sprache und im Vergleich lassen sich sprachliche und kulturelle Grenzen erkennen und somit überwinden. Dabei kann sich eine erste Annäherung auf theoretischer Ebene vollziehen. Werden zwei Sprachen gegenübergestellt, dann lassen sich - basierend auf typologischen Klassifikationen - sprachspezifische Eigenschaften wie morpho‐ syntaktische Konstruktionen herausarbeiten. In unterrichtlichen Kontexten können die erkannten Unterschiede gegebenenfalls Prognosen über potenzielle Schwierigkeiten bei der Aneignung einer Sprache vor dem Hintergrund einer typologisch differenten Sprache ermöglichen. Nachdem Mehrsprachigkeit als Thema im didaktischen Diskurs nahezu all‐ gegenwärtig erscheint, ist die Forderung nach der Berücksichtigung, Sichtbar‐ machung oder Förderung anderer Sprachen als der Deutschen im schulischen Alltag nach wie vor von hoher Aktualität. Während aber Sprachkontrastivität in ihrer Bedeutung für den Spracherwerb in der Fremdsprachenforschung viel diskutiert wurde und mitunter noch wird, offenbaren Schulbuchanalysen einen Mangel an Anwendungsmöglichkeiten von Sprachvergleichen in der Un‐ terrichtspraxis (im Deutschunterricht wie auch im Fremdsprachenunterricht). Angesichts der Tatsache, dass von Seiten der schulischen Curricula entspre‐ chende Inhalte gefordert werden, ist diese Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis kritisch zu betrachten. Hinzu kommt, vielleicht auch als Folge dieses Mangels, dass seitens der angehenden Lehrkräfte sprachkontrastive Arbeit im Unterricht häufig als gute Idee angesehen wird, die aber nur sehr schwer umzusetzen ist. Es gilt das Dilemma zu überwinden, das zwischen den Vorgaben der schuli‐ schen Curricula einerseits - nämlich mehrsprachigkeitssensibel im Unterricht zu agieren - und dem Mangel didaktisch adäquater und den Unterricht unterstützender Materialien andererseits besteht. Die entscheidende Frage lautet daher: Wie kann sprachvergleichende Arbeit im Sprachenunterricht implementiert werden, ohne die Lernenden, aber auch ohne die Lehrenden zu überfordern? In einer von Mehrsprachigkeit und sprachlicher Vielfalt geprägten Gesellschaft ist die Beantwortung dieser Frage mehr als dringlich. Das vorliegende Werk, das besonders Studierende des Lehramts im Blick hat, will erste Schritte zur Beantwortung dieser Frage gehen. Es vereint Ansätze aus der Germanistik, Romanistik und Deutsch als Zweitsprache / Deutsch als Fremdsprache mit kultursoziologischen, fachdidaktischen und mehrspra‐ chigkeitsforschenden Blickwinkeln. Dabei werden Forschungsperspektiven aus Deutschland, der Schweiz, Griechenland, Italien und Spanien gebündelt, die dazu beitragen möchten, genau die Lücke zwischen theoretischem Diskurs und praktischer Umsetzung wissenschaftsbasiert zu schließen. Alle Beiträge sind aus einer Ringvorlesung hervorgegangen, die im Sommersemester 2019 in Kooperation der Institute für DaZ/ DaF und Romanistik an der Universität Duisburg-Essen stattgefunden hat. Diese Veranstaltungsreihe verfolgte gleich zwei Ziele: Zunächst sollte sie die Studierenden auf möglichst praxisnahe Weise an die sprachkontrastive Arbeit heranführen. Weiterhin sollte speziell die naheliegende Verbindung zwischen den Themen der Mehrsprachigkeit im Unterricht und dem Sprachvergleich herausgearbeitet werden. Wir möchten an dieser Stelle dem Dekan der Fakultät für Geisteswissen‐ schaften an der Universität Duisburg-Essen, Herrn Prof. Dr. Dirk Hartmann, herzlich für die Finanzierung danken, wodurch die Veröffentlichung ermöglicht wurde. Ebenfalls danken wir der Kommission zur Qualitätsverbesserung in Lehre und Studium, welche die Ringvorlesung mit Mitteln unterstützt und uns damit den internationalen und interdisziplinären Austausch ermöglichte hatte, der die Grundlage für dieses Werk darstellt. Unser Dank gilt auch den studentischen und wissenschaftlichen Hilfskräften Monique Grüter, Sebastian Wolf und Sarah Schiffbäumer, die uns bei der Arbeit an diesem Sammelband tatkräftig unterstützt haben. Die Beiträge des vorliegenden Bandes unterlagen einem je zweifachen, doppelt-blinden Peer-Review-Verfahren. So sei an dieser Stelle allen externen Gutachterinnen und Gutachtern, die mit ihrer Expertise zur Veröffentlichung dieses Buches beigetragen haben, für ihre Zeit und ihren kritischen Blick besonders gedankt. 8 Patrick Wolf-Farré, Katja F. Cantone, Anastasia Moraitis, Daniel Reimann I. Grundlagen 1 Der vorliegende Beitrag stellt in überarbeiteter und erweiterter Form Inhalte vor, die thematisch in die gleichnamige Ringvorlesung (cf. Einführung in diesem Sammelband) eingeführt haben. Sie richtete sich primär an Bachelorstudierende des Lehramtes Deutsch im Modul zur Kontrastiven Linguistik und Deutsch als Zweitsprache und der Fremdsprachenvermittlung. Sprachkontrast und Mehrsprachigkeit Linguistische Grundlagen, didaktische Implikationen und Desiderata Anastasia Moraitis 1 Einführung 1 Die Bildungs- und Schulpolitik hat ein besonderes Interesse daran, das Bewusst‐ sein für Mehrsprachigkeit in den Schulklassen zu schärfen und zu fördern. Mit Blick auf die philologischen Fächer werden laut den curricularen Vorgaben von den Lernern umfangreiche Kompetenzen erwartet, die für das Erreichen einer dem Schulabschluss adäquaten Ausbildung bindend sind. Zur Ausbil‐ dung gehört auch, empathisch motivierte Begegnungen mit verschiedenen Her‐ kunftssprachen zu ermöglichen und zu fördern. Für Schulen - bspw. in Nord‐ rhein-Westfalen - wurde daher festgelegt: „Dem Deutschunterricht kommt für das sprachliche Lernen in allen Fächern orientierende Funktion zu […]. Kinder und Jugendliche anderer Herkunftssprachen können aus ihren Erfahrungen der Mehrsprachigkeit einen Beitrag zur vertieften Sprachkompetenz und Sprachbe‐ wusstheit leisten“ (cf. KLP 2004, 11). Mit Beendigung der Jahrgangsstufe 9/ 10 an einer Realschule sollten Schülerinnen und Schüler über eine hohe Reflexions‐ kompetenz verfügen: „Sie reflektieren ihre Kenntnis der eigenen Sprache und ihre Bedeutung für das Erlernen von Fremdsprachen. (Mehrsprachigkeit zur Entwicklung der Sprachbewusstheit und zum Sprachvergleich nutzen)“ (cf. KLP 2004, 41). Mit Beendigung der Sekundarstufe I am Gymnasium haben die Lerner sich mit Mehrsprachigkeit als individuellem und gesellschaftlichem Phänomen beschäftigt (cf. KLP 2019, 31). Ähnliches gilt auch für das Fach Deutsch an Hauptschulen am Ende der Doppeljahrgangsstufen 5/ 6, 7/ 8 und 9/ 10 (cf. KLP 2011, 19, 23, 28). Die Vermittlung von fachspezifischen Inhalten sowie die Bezugnahme auf Themen zur Förderung sog. soft skills obliegt den Lehrkräften. Von ihnen sind folglich neben fundierten einzelsprachlichen Kompetenzen auch Grundkenntnisse über sprachwissenschaftliche Themen zu erwarten. Zudem gewinnt professionelles Wissen über Schlüsselthemen wie Sprachbewusstheit und Mehrsprachigkeit in der Lehramtsausbildung besonders vor dem Hinter‐ grund einer wachsenden mehrsprachigen Gesellschaft zunehmend an Bedeu‐ tung. Angesichts dieser aktuellen gesellschaftlichen Veränderungstendenzen formiert sich eine Mehrsprachigkeitsdebatte, die insbesondere Überlegungen innerhalb einer Mehrsprachigkeitsdidaktik dringlich werden lässt. Parameter der Inklusion und Diversität lassen die Frage nach sprachlicher Integration und mehrsprachigen Unterrichtspraktiken sowie deren Realisation bspw. über die Einbeziehung von herkunftsbedingter Mehrsprachigkeit in Unterrichtssettings, Sprachkontrast/ -vergleich akuter werden. Daher liegt das prioritäre Anliegen dieses Beitrags darin, die Hervorhebung des Sprachvergleichs mit drei rele‐ vanten Themenfeldern zu flankieren und in diese einzuführen. Das sind a) die linguistische Disziplin „Vergleichende Sprachwissenschaft“ (cf. Abschnitt 2), b) das Arbeitsfeld „Mehrsprachigkeit und Mehrsprachigkeitsdidaktik“ und c) das Thema „(Sprach)bewusstheit“ (cf. Abschnitt 3-4). Mehrsprachigkeit und Sprach‐ kontrast, das sei vorab festgehalten, bedingen einander auf vielen Ebenen. Diese Bedingtheit hebt die Bedeutung von sprachvergleichender Arbeit in den Vordergrund und macht sie zu einer wertvollen didaktischen Strategie in der Auseinandersetzung mit Sprache(n). 2 Sprachwissenschaftliche Grundlagen Mit Rekurs auf die curricularen Vorgaben ist es notwendig, einen Blick auf das Arbeitsfeld der Sprachwissenschaft zu werfen, konkret auf die „Verglei‐ chende Sprachwissenschaft“. In dieser werden Disziplinen subsummiert, die sich mit dem Vergleich von Einzelsprachen auf diachroner und/ oder synchroner Achse beschäftigen. Die im Laufe der Geschichte allmählich ausdifferenzierten Forschungsstränge werden heute als Subdisziplinen der theoretischen und angewandten Sprachwissenschaft betrachtet und nach Lehmann (2013) in drei Arbeitsbereiche unterteilt, die er wie folgt beschreibt: 12 Anastasia Moraitis 2 So bspw. in Dammel / Kürschner / Nübling (2010). 3 Es sei zudem auf Publikationen hingewisen, die kontrastive Vergleiche beim Erlernen von Deutsch als Fremd- und Zweitsprache didaktisieren, bspw. Rug (2011). 1. Wenn die allgemeine Sprachwissenschaft typologischen Vergleich von Spra‐ chen betreibt, ist sie allgemein-vergleichende Sprachwissenschaft. 2. a) Wenn die historische Sprachwissenschaft historischen/ genetischen Vergleich von Sprachen betreibt, ist sie historisch-vergleichende Sprachwissenschaft. b) Wenn die geographisch-vergleichende Sprachwissenschaft arealen Ver‐ gleich von Sprachen betreibt, ist sie Areallinguistik. 3. Wenn die angewandte Sprachwissenschaft den kontrastiven Vergleich von Sprachen betreibt, ist sie kontrastive (oder konfrontative) Linguistik. Abb. 1: Schematische Darstellung nach Lehmann (2013). Das Schaubild visualisiert die differenten Arbeitsfelder der vergleichenden Sprachwissenschaft und unterstreicht die enge Vernetzung und ihre daraus resultierende Komplexität nach Lehmann. Während die ersten beiden Subdiszi‐ plinen (cf. oben 1-2) nach den typologischen, historischen und geographischen Zusammenhängen von Sprache fragen, beschäftigt sich die Kontrastive Lingu‐ istik (cf. 3) als Teildisziplin der Angewandten Linguistik mit dem Vergleich von mindestens zwei Sprachen (L1 und L2) 2 . Sie ist zudem in der Fremdsprachendi‐ daktik 3 und in der Mehrsprachigkeitsdidaktik verortet (cf. Abschnitt 4). 13 Sprachkontrast und Mehrsprachigkeit 4 Auch wenn das Augenmerk in diesem Beitrag nicht explizit auf den Sprachkontakt gelegt wird, soll an dieser Stelle kurz darauf aufmerksam gemacht werden. Dies aus mehreren Gründen. Einmal aufgrund der gegenseitigen Abhängigkeit der Disziplinen Sprachkontakt und Sprachvergleich. Zum anderen, um daran zu erinnern, dass Dis‐ kurse in der Forschung abhängig sind von Raum und Zeit. Erst in der Rückschau sind differenziertere Betrachtungsweisen der historisch-vergleichenden Philologien möglich. Dazu gehört die Auseinandersetzung mit kolonialen wie postkolonialen Sprachideologien, die den Blick auf rassistische Anklänge lenken, mit denen bspw. Kreolsprachen etikettiert wurden. Ausführlich: bspw. Kaye / Tosco (2001, 11); Krämer (2014). Weiterführend cf. auch: Stolz / Vossmann / Dewein (2011). Zur besseren Einordnung des komplexen, aus vielen Teildisziplinen beste‐ henden Geflechts soll im nächsten Abschnitt ein kurzer Exkurs in die Sprach‐ geschichte dienen und mit folgendem Zitat eingeführt werden: Die historische Perspektive ist […] in wissenschaftlicher Hinsicht absolut notwendig für das Verständnis der Fragestellungen innerhalb der Disziplinen. Denn die Frag‐ stellungen einer Wissenschaft stehen nicht in einem leeren Raum. Sie sind nicht absolut, und sie sind nicht unzeitlich. Vielmehr entspricht jede Fragestellung einer geschichtlichen Situation und kann nur im Rahmen dieser und von dieser her richtig verstanden werden. […]. In dieser Hinsicht ist die Geschichte eines jeden Gegen‐ standes Kontinuität und Änderung zugleich, d. h. Entwicklung. (Coseriu / Meisterfeld 2003, 3) 2.1 Von der traditionellen Grammatik zur vergleichenden Philologie. Ein historischer Streifzug Angefangen bei der bereits in der Antike gestellten Frage, was eine Sprache überhaupt konstituiere, bis zur Prognose für die Kontrastive Linguistik für das Jahr 2020 (v. Stutterheim 2018) kann für die Sprachwissenschaft ein Weg nach‐ gezeichnet werden, der noch lange nicht beendet ist. 4 Grammatiktheoretische Grundlagen - Basis von sprachvergleichender Arbeit - differenzierten sich im Laufe der Jahrhunderte immer stärker aus, bis alle Erkenntnisse gebündelt im beginnenden 20. Jahrhundert in die Disziplin Linguistik mündeten. Von den zahllosen sprachhistorischen Meilensteinen, die im Laufe der Zeit gesetzt wurden, können hier nur einige wenige angeführt werden, was der sehr umfangreichen Materialfülle geschuldet ist. Mit Rekurs auf die Antike sind für die frühe Zeit Philosophen und Grammatiker wie Protagoras, Platon und Aristoteles prominent zu nennen. Basierend auf ihren Erkenntnissen (bspw. Beschreibung der Syntax) entwickelte der griechische Grammatiker Dionysios Thrax die erste bisher bekannte systematisch aufgebaute Grammatik Τέχνη γραμματική (Technē grammatikē) ( Jungen / Lohstein 2007, 47sqq.; Wildgen 14 Anastasia Moraitis 5 Zur stärkeren Differenzierung des historischen Gesamtbildes sei hier bspw. auf den Sanskritspezialisten Pänini hingewiesen, dessen Abhandlung über die altindische Linguistik circa 500 v. Chr. entstanden ist (cf. Jungen / Lohstein 2007, 25). 2010, 7sqq.) 5 , bestehend aus der heute als Teildisziplinen der Linguistik bezeich‐ neten Phonologie, der Morphologie und den Wortarten. Darauf aufbauend sollten noch weitere Grammatiken folgen, die einem Lehrer als Vorlage, nicht nur für den muttersprachlich orientierten Unterricht, zur Verfügung stehen sollten. Der Philosoph und Grammatiker Ambrosius Theodosius Macrobius (360-425 n. Chr.) sticht neben vielen anderen wegen seiner auf wissenschaftli‐ cher Basis gestellten Grammatik besonders hervor. Er prüfte die griechische und lateinische Sprache nicht nur nach ihren Gesetzmäßigkeiten, sondern betrachtete sie auch unter sprachkontrastiven Gesichtspunkten ( Jungen & Lohstein 2007, 66, 73). Macrobius war offensichtlich nicht nur mehrsprachig sozialisiert, er besaß neben den mündlichen Fähigkeiten auch schriftsprachliche Kompetenzen. Mehrsprachige Kompetenzen, dieser Einschub sei an dieser Stelle erlaubt, spiegeln eine gewisse Selbstverständlichkeit antiker Gesellschaften wider. Im Zuge ihrer geographisch weitreichenden Handelsbeziehungen, aber auch aufgrund kriegerischer Auseinandersetzungen sowie kultureller Kontakte standen sie in einem regen Austausch mit Sprechern fremder Sprachen und/ oder Sprachvarietäten. Boschung und Riehl (2011, iiisqq.) bemerken hierzu: Schöne Beispiele für historische Mehrsprachigkeit in der Antike liefern etwa das Anatolien des 1. Jahrhunderts v. Chr. oder das römische Imperium, das in weiten Teilen eine Diglossie-Situation zwischen der lateinischen Staatssprache und den jeweiligen Sprachen der beherrschten Gebiete zeigt. D.h. die Sprachen waren auf verschiedenen Domänen verteilt: Es gab in der Regel eine oder mehrere gesprochene Sprachen, und eine geschriebene Sprache, nämlich Latein. Dabei spielt aber das Griechische eine Sonderrolle, war es doch im gesamten Ostteil des Imperium Romanums bestimmend. Die Beschäftigung mit den antiken Sprachen verliert auch in den folgenden Jahr‐ hunderten nicht an Intensität. Im Zuge frühmittelalterlicher Didaktisierungen ( Jungen / Lohnstein 2007, 83sqq.) entstanden schubweise differente theoreti‐ sche Ansätze, um Sprache sowie ihre Funktion zu erklären. So waren Anhänger der scholastischen Philosophie (13. Jahrhundert) „an der Sprache als Werkzeug zur Analyse der Struktur der Wirklichkeit“ interessiert (Lyons 1995, 15). In ihrer Essenz ergab sich ein Bild von Sprache als universellem Medium: „[…] alle Sprachen haben Wörter für dieselben Begriffe, und alle Sprachen weisen dieselben Teile der Rede und andere allgemeine grammatische Kategorien auf.“ (Lyons 1995, 16). Der allmählich weiter fortschreitende Umbruch bestehender geopolitischer Gegebenheiten, das heliozentrische Weltbild, die Neuformierung 15 Sprachkontrast und Mehrsprachigkeit 6 Auch: „Conrad Ges(s)ner“, cf. Jancke (o. J.). 7 In der neuhochdeutschen Übersetzung lautet der ausführliche Titel „Mithridates oder über die Verschiedenheit der Sprachen, sowohl der alten als auch derer, die heute bei den verschiedenen Nationen in Gebrauch sind“ (Fueter 1964). von Staaten und deren allmählich erwachendes Nationalbewusstsein, die mis‐ sionarischen Aktivitäten (bspw. der Jesuiten) auch außerhalb der damaligen europäischen Welt und viele weitere Entwicklungen warfen ein neues Licht auf die Sprachforschung. In der Folgezeit stieg das Interesse daran, das Wissen über das bisher bekannte Sprachenrepertoire hinaus zu erweitern. Der Schweizer Naturforscher und Universalgelehrte Konrad Gesner 6 erlangte aufgrund seines im Jahre 1555 verfassten Werks „Mithridates“ 7 Berühmtheit. Hierbei handelt es sich um eine erste europäische Sprachenenzyklopädie, die unter Berücksichti‐ gung der Verschiedenheit von Sprachen und Dialekten (darunter afrikanische und indische Sprachen) konzipiert wurde. Die berücksichtigten Sprachen sind alphabetisch geordnet und „es werden Vokalbellisten erstellt und das ‚Vater Unser‘ in möglichst vielen Sprachen aufgeführt“ (Elberfeld 2014, 26). Auch über die sprachverwandtschaftlichen Beziehungen wurde nachgedacht, sodass von Sprachfamilien oder von genetischer (Sprach-)einheit (Kausen 2010, 1sqq.) die Rede war. Mit der etwa zwei Jahrhunderte später angelegten Arte (1627), einer „Dreifach-Grammatik" mit den Sprachen Spanisch, Griechisch und Latein (Tri‐ lingue de tres artes), erhoffte sich der Spanier Gonzalo Correas (1570-1631) nicht nur eine höhere Effektivität in der Sprachvermittlung, sondern das Erreichen des pädagogischen Ziels „durch ein genaues Verständnis der Muttersprache Fremdsprachen, hier also Griechisch und Latein, schneller erlernen zu können“ ( Jungen / Lohstein 2007, 122). Seiner Annahme zufolge gab es universalgültige syntaktische Strukturen (LRL 1992, 622). Dass die Muttersprache eine Basis für das Erlernen einer Fremdsprache darstellt, erscheint rückblickend geradezu revolutionär. Einen weiteren Akzent setzten die neu aufgekommenen Human‐ wissenschaften sowie die natur- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen. Nicht mehr die einzelsprachlichen Aspekte allein waren nun zu berücksichtigen; prominent stand die Frage nach der „Geburt“ von Sprache im Raum, die durch Jo‐ hann G. Herders Abhandlung „Über den Ursprung der Sprache“ (1772) innerhalb des Wissenschaftsdiskurses neu positioniert und diskutiert wurde (Wildgen 2010, 10; Gardt 1999, 219sqq.). In der Reflexion des 19. Jahrhunderts wurde die Frage nach dem Verhältnis zwischen Sprache und Denken neu gestellt, die als Ergebnis mitunter diametral entgegengesetzte Positionen hervorbrachte (Gardt 1999, 230sqq.). Anders als seine Vorgänger und Zeitgenossen positionierte sich der Universalgelehrte Wilhelm von Humboldt (1767-1835). Dieser ging von der Annahme aus, Sprache sei das „Organ des Denkens“ über das sich die 16 Anastasia Moraitis 8 Weiterführende Literatur: bspw. Ferron (2007), Reuter (2011). Welt erschließen lasse (Elberfeld 2014, 49sq.). 8 Die differenten Zugänge, Sprache zu verstehen, erklären sich somit nicht nur aus dem Versuch heraus, Sprache in ihre grammatischen Komponenten zu zerlegen und zu kategorisieren; ihr wurden biologische, kognitive und soziale Komponenten zugewiesen. Durch William Dwight Whitney (1827-1894) erhielt die Sprachforschung konkretere Konturen und entwickelt sich so zu einer von anderen Disziplinen des 19. Jahr‐ hunderts weitestgehend unabhängigen Forschungsrichtung. Er bestimmte die Sprachwissenschaft als eine historische Wissenschaft mit den Worten: Diese Wissenschaft ist bestrebt, die Sprache, sowohl in ihrer Einheit als ein Mittel des menschlichen Ausdrucks und in Abgrenzung zur Kommunikation der Tiere, als auch in ihrer inneren Vielfalt von Material und Struktur zu verstehen. Sie versucht, die Ursache für die Ähnlichkeiten und Unterschiede der Sprachen zu entdecken und diese zu klassifizieren (…). Sie versucht festzustellen, was Sprache im Verhältnis zum Denken ist und wie es zu dieser Beziehung gekommen ist. (…) und, wenn möglich, wie die Sprache überhaupt entstanden ist. (Whitney 1899 in der Übersetzung von Wildgen 2010, 20) Hinter diesem Zitat verbergen sich zahlreiche Fragen, die die Linguistik heute noch beschäftigen. Was uns in der modernen Sprachforschung als selbstver‐ ständlich erscheint, bedurfte einer jahrtausendlang währenden Betrachtung von Sprache. Bereits in antiker Zeit setzte ein Nachdenken über die Funktionalität und Grammatikalität von Sprache ein. Über Jahrhunderte hinweg wurden zahlreiche Meilensteine sprachbetrachtender Arbeiten gesetzt, die „die nie mehr abgerissene Tradition der Ars grammatica [begründeten], ohne die auch die moderne Linguistik nicht bestehen würde“ ( Jungen / Lohstein 2007, 12). Der Sprachvergleich bildete, dies zeigte der kursorische Überblick, eine unver‐ zichtbare Konstante. Die Kontrastive Linguistik konnte sich als linguistische Disziplin erst später etablieren. 2.2 Kontrastive Linguistik - Unterdisziplin der Sprachwissenschaft Dem Sprachvergleich lassen sich eine Reihe von linguistischen Subdisziplinen zuordnen, darunter auch die Kontrastive Linguistik. Ausführliche Darstellungen finden sich in zahlreichen Artikeln und Monographien (bspw. König 1990, 1996; Tekin 2012; Theisen 2018). Der vorliegende Beitrag führt lediglich in die Thematik ein. Dem Versuch einer griffigen Definition entzieht sich die Kontrastive Linguistik, sodass Brdar-Szabó diese Vagheit wie folgt erklärt: „Die Kontrastive Linguistik stellt kein homogenes Phänomen dar, sondern ist durch 17 Sprachkontrast und Mehrsprachigkeit 9 Fries veröffentlichte 1945 seine Forschungen unter dem Titel: „Teaching and Learning English as a Foreign Language“. 10 Robert Lado publizierte 1957 „Linguistics across Cultures: Applied Linguistics for Language teachers“. viele Richtungen gekennzeichnet, die jeweils unterschiedlichen sprachtheore‐ tischen Ansätzen zuzuordnen sind und über unterschiedliche Proportionen theoretischer und deskriptiver Komponenten verfügen“ (2010, 520). Die Autorin macht auf ein Forschungsfeld aufmerksam, dessen hohe Komplexität in der historischen Entwicklung der Sprachforschung begründet liegt. Die Aufgabe der Kontrastiven Linguistik spezifiziert sie, indem sie nach dem Verhältnis zwischen L1 und L2 (Kontrastivität als Relation) fragt, wobei die Begriffe Transfer (Interferenz bzw. negativer Transfer) und Fehler zentral sind. Den praktischen und didaktischen Mehrwert der Kontrastiven Linguistik erkennt die Autorin in der Kontrastivität als Strategie des kognitiven Lernens (Brdar-Szabó 2010, 525sqq.), die sich in expliziter wie in impliziter Bewusstmachung ausprägt. Bei der expliziten Bewusstmachung werden die sprachlichen Einheiten der zu vergleichenden Sprachen mikroskopisch genau analysiert und bestimmt, sodass abweichende Auffälligkeiten wie auch die Sprachen verbindende Elemente in den Lernprozess eingebunden werden. Diese können sich bspw. auf lexikali‐ scher oder syntaktischer Ebene abspielen. Die implizite Bewusstmachung hin‐ gegen setzt auf die kognitiven Fähigkeiten des Lerners, individuelle Strategien (Hypothesenbildung durch Inferieren) zur Erschließung der zu vergleichenden Sprachsysteme bilden zu können (Brdar-Szabó 2010, 526sq.). 2.2.1 Kontrastive Linguistik: von der Kontrastivhypothese zur Interlanguage-Hypothese Seit ihren Anfängen, die um die Mitte des 20. Jahrhunderts anzusetzen sind und mit Erkenntnissen des amerikanischen Strukturalismus einhergingen, war und ist die Kontrastive Linguistik (synchron-vergleichende Linguistik) untrennbar mit Entwicklungsprozessen innerhalb der modernen Fremdsprachenforschung und -didaktik verknüpft, die sich um eine möglichst ‚lernernahe‘ Fremdspra‐ chenvermittlung bemühte. Mit Charles C. Fries (1887-1967) 9 und nachfolgend mit Robert Lado (1915-1995) 10 wurde der Weg für die Kontrastive Linguistik frei und für eine erste Hypothese - der Kontrastivhypothese -, die den Erwerb einer neuen Sprache zu erklären versuchte. Noch im Fahrtwind des Behaviorismus (Skinner 1957) verhaftet, wurde angenommen, dass Lerner ihre in der L1 bereits automatisierten sprachlichen Gewohnheiten (habit formation) ebenso in der L2 ausbilden könnten. Lado zufolge erfolgt bei Strukturgleichheit zwischen der L1 und der L2 eine schnellere Automatisierung sprachlicher Gewohnheiten. Nega‐ 18 Anastasia Moraitis tiver Transfer oder Interferenzen (bad habits) stellten hingegen die Unterschiede zwischen der Ausgangs- und der Zielsprache heraus. Er konnte beobachten: „[…] the student who comes in contact with a foreign language will find some features of it quite easy and others extremely difficult. Those elements that are similar to his native language will be simple for him, and those elements that are different will be difficult“ (Lado 1957, 2). Da für Lado das Sprachenlernen die Ausbildung von Stimulus-Response-Verbindungen (habit formation) bedeutete, maß er dem Lernen von interlingual abweichenden Sprachelementen hohe Bedeutung zu und versprach sich durch ständiges Wiederholen (pattern drill) großen Lernerfolg. Der lerntheoretische Hintergrund basierte auf den Ideen behavioristischer Annahmen, die dem Lernprozess keine kognitive Beteiligung des Lernenden zubilligte. Die Kontrastivhypothese konnte im Ergebnis die sehr hohen Erwartungen hinsichtlich einer effektiven Fremdsprachenmethodik und -didaktik jedoch nicht erfüllen (cf. König 1990, 117), und verlor bald an breiter Akzeptanz. Die Hauptkritik an der auf Synchronizität setzenden Untersuchung lag an dem nicht sichtbaren didaktischen Mehrwert und der fälschlicherweise starken Verquickung zwischen der Kontrastivhypothese und der Kontrastiven Linguistik als Teildisziplin. König und Nekula erläutern rückblickend nüchtern: Die Kontrastive Linguistik und darauf aufbauende Aussagen über Kontraste und über Lernschwierigkeiten und Strategien der Lehre wurden als zentrale Bestandteile einer Theorie des Zweitspracherwerbs gesehen und somit mit völlig unrealistischen Erwartungen verknüpft, die früher oder später enttäuscht werden mussten. (2013, 16) Noam Chomskys nativistisch orientierte Denkrichtung bildete einen weiteren Meilenstein in der Sprachforschung. Die Abkehr vom Behaviorismus machte den Weg frei für neue Erklärungsansätze bezüglich des Spracherwerbs, die in der Identitätshypothese und in der Interlanguage-Hypothese formuliert wurden. Der nativistische Ansatz (bspw. Chomsky 1986, 1988) knüpfte an die Vorstel‐ lung an, der Mensch verfüge über universelle, angeborene sprachspezifische Erwerbsmechanismen, dem LAD (language acquisition device), was ihn dazu befähige, jegliche Sprache der Welt bei adäquatem Input zu aktivieren. Während gemäß der Identitätshypothese (Dulay / Burt 1974) der Erwerb einer weiteren Sprache den Gesetzmäßigkeiten des Erstspracherwerbs folgt, fokussierte die Interlanguage-Hypothese (Corder 1967, 1981; Selinker 1972) sowohl die Erst‐ sprache (L1) als auch die Zweitsprache (L2) und ihr Verhältnis (Interlanguage) zueinander im Zweitspracherwerbsprozess. Die bereits aus der Analyse der Kontrastivhypothese gewonnenen zentralen Beobachtungsparameter - Fehler und Transfer - erfuhren neue Interpretationsansätze. Der Analyse von Fehlern wurde größere Aufmerksamkeit geschenkt, denn es galt, „das Verhältnis von 19 Sprachkontrast und Mehrsprachigkeit 11 Zur Vertifeung und zu den Anfängen der Sprachtypologie cf. bspw. Eckert (1986), 15sqq. 12 Die Historisch-Vergleichende Sprachwissenschaft koexistiert mit Forschungen philo‐ logischer, historischer und archäologische Disziplinen. Die taxonomische Orientierung biologische Konstellationen übertrug August Schleicher auf die Abstammungsverhält‐ nisse von Sprache (sog. Stammbaumtheorie). Kontrastiver Linguistik, Fehleranalyse und Lernersprachforschung zu eruieren (Brdar-Szabó 2010, 523). Der Erforschung von Interlanguages hatte sich gegen Ende des 20. Jahrhunderts die Tertiär- und die Mehrsprachigkeitsforschung angenommen, die, gespeist von verschiedenen wissenschaftstheoretischen Richtungen, eine Reihe von Modellen (Hufeisen 2003, 98sqq.) hervorbrachte. Vorangegangen war die Erkenntnis, dass der Zweitspracherwerb und das Erlernen von Fremdsprachen als „spezifische Unterformen und Ausprägungen des multiplen Sprachenlernens“ (Hufeisen 2003, 97) angesehen werden müssen. Die Mehrsprachigkeitsforschung erweiterte den bisherigen Forschungsradius zum multiplen Sprachenlernen erheblich und wird in Abschnitt 3 skizziert. 2.2.2 Die Historisch-Vergleichende Sprachwissenschaft, die Sprachfamilie und die Sprachtypologie 11 Die Historisch-Vergleichende Sprachwissenschaft 12 setzt einen weiteren Mei‐ lenstein entlang der historiographischen Entwicklung der Sprachwissenschaft und agiert auf diachroner Ebene. Als „Startsignal“ (Wildgen 2010, 12) für die Etablierung der Vergleichenden Sprachwissenschaft und der Indogermanistik gilt die in der Frühromantik erschienene Schrift „Über die Sprache und Weisheit der Indier“ (1808) von Friedrich Schlegel. Das Werk ist dreigliedrig konzipiert und geht auf die Geschichte ein, beleuchtet Sprachen und setzt auch philoso‐ phische Akzente. Der Sprachvergleich hatte zu folgendem Ergebnis geführt: Das alte indische Sanskrito […] hat die größte Verwandtschaft mit der römischen und griechischen sowie mit der germanischen und persischen Sprache. Die Ähnlichkeit liegt nicht bloß in einer großen Anzahl von Wurzeln, die sie mit ihnen gemein hat, sondern sie erstreckt sich bis auf die innerste Struktur und Grammatik. Die Übereinstimmung ist also keine zufällige, die sich aus Einmischung erklären ließe; sondern eine wesentliche, die auf gemeinschaftliche Abstammung deutet. Bei der Vergleichung ergibt sich ferner, daß die indische Sprache die ältere sei, die andern aber jünger und aus jener abgeleitet. (8, 115 zitiert nach Endres 2017, 219) Lange vor Friedrich Schlegel hatte der britische Indologe William Jones (1746- 1794) Ende des 18. Jahrhunderts den „sprachhistorischen Stein ins Rollen ge‐ bracht“ (Welte 1985, 78). Im Rahmen seiner vergleichenden Studien zwischen dem Sanskrit, dem Lateinischen, dem Griechischen, dem Gothischen und Kelti‐ 20 Anastasia Moraitis 13 Zur vertiefenden Auseinandersetzung mit Friedrich Schlegel cf. bspw. Coseriu (1968), 46-54. 14 Trotz seiner bedeutenden sprachtypologischen Arbeit sei an dieser Stelle auf die Einteilung der Sprachen in höher und niederer Stufe hingewiesen. Zur letztere Gruppe ordnete er die amerikanischen Sprachen. Für einen schnellen Überblick cf. Haßler / Neis (2009), 856sqq. 15 Der vollständige Titel lautet: „Über das Conjugationssystem der Sanskritsprache. Nebst Episoden des Ramajan und Mahabharat in genauen metrischen Übersetzungen aus dem Originaltexte und einigen Abschnitten aus den Veda“. schem entdeckte Jones Ähnlichkeiten sowohl in den grammatischen Formen als auch in den Verbwurzeln. Seine Erkenntnisse publizierte er bereits 1788 in der damals renommierten Fachzeitschrift Asiatic Researches. Forciert durch Wilhelm von Humboldt und von Schlegel weiter vorangetrieben, erwuchs aus diesem Arbeitsfeld um 1800 die Sprachtypologie, die unabhängig von der genetischen Verwandtschaft von Sprachen nach sprachinhärenten Merkmalen (nach morphologischen, syntaktischen oder phonetischen Merkmalen) sucht (bspw. Skalička 1979, 21; Kausen 2010, 18). Schlegel richtete sein Augenmerk auf morphologische Erscheinungen von Sprachen, die er aufgrund ihrer Merkmale klassifizierte. Er schlussfolgerte: Entweder werden die Nebenbestimmungen der Bedeutung durch innere Verände‐ rungen des Wurzellauts angezeigt, durch Flexion, oder aber jedesmal durch ein eignes hinzugefügtes Wort, was schon an und für sich Mehrheit, Vergangenheit, ein zukünftiges Sollen oder andre Verhältnisbegriffe der Art bedeutet; und diese beiden einfachsten Fälle bezeichnen auch die Hauptgattungen aller Sprache […]. (Schlegel 1808, 8) Aufgrund ihrer typologischen Merkmale wurden die Sprachen in synthetische und analytische Sprachen eingeteilt, eine Klassifizierung, die bis heute gilt. Zu der Gruppe der synthetischen Sprachen wurden die flektierenden Sprachen (bspw. Deutsch, Griechisch, die slawischen Sprachen), die agglutinierenden Sprachen (bspw. Ungarisch, Türkisch) und die polysynthetischen Sprachen (bspw. indigene Sprachen in Nord- und Südamerika) gezählt. 13 Der Gruppe der analytischen (isolierenden) Sprachen wurden bspw. das Chinesische und das Vietnamesische zugeordnet. In der Forschung wird neben Wilhelm von Humboldt, Friedrich Schlegel 14 und seinem Bruder August Wilhelm Schlegel auch Franz Bopp genannt (Gardt 1999, 268sqq.). Der Sprachwissenschaftler und Sanskritforscher Bopp (1791-1867) gilt als Begründer der Indogermanistik. Er veröffentlichte 1816 eine Arbeit „Über das Conjugationssystem der Sanskrit‐ sprache“ 15 . In den Jahren zwischen 1833 und 1852 ergänzte der Band „Verglei‐ chende Grammatik des Sanskrit, des Send, des Armenischen, Griechischen, 21 Sprachkontrast und Mehrsprachigkeit Lateinischen, Litauischen, Altslavischen, Gothischen und Deutschen“ seine fortlaufenden Studien. Ziel war „[…] eine vergleichende, alles verwandte zu‐ sammenstellende Beschreibung des Organismus der auf dem Titel genannten Sprachen […] eine Erforschung ihrer physischen und mechanischen Gesetze und des Ursprungs der die grammatischen Verhältnisse bezeichnenden Formen“ (Bopp, 1833-1837, zitiert nach Lefmann, 1895, 183). 1818 folgte eine ähnlich konzipierte Abhandlung vom dänischen Indogermanisten Rasmus Christian Rask (1787-1832) über das Altnordische und Isländische. Merkmal der Historisch-Vergleichenden Sprachwissenschaft ist der dia‐ chrone Vergleich von Sprachen. Erst in der historischen Rückschau können Periodisierungen ermittelt werden, die Hinweise zum sprachlichen Wandel geben und auf Spuren hinweisen, die zur „Ursprache“ (genetische Typologie) führen. Auch die Ermittlung sprachlicher Universalien kann erst im diachronen Vergleich erfolgen, denn die Sprachtypologie braucht, anders als die Kontrastive Linguistik, die der Synchronizität und somit auch der zeitlichen Begrenztheit unterliegt, zu ihrer Erfassung zeitliche wie geographische unbegrenzte Räume. 2.3 Sprachvergleich - Der Vergleich als Methode Der Vergleich stellt nicht nur eine „universelle Kategorie menschlichen Verhal‐ tens“ dar (Kleinsteuber 2003, 78); er ist als Mittel von Erkenntnisgewinnung „[…] gerade konstitutiv für eine Disziplin, so etwa in der ‚Vergleichenden Literaturwissenschaft‘ (‚Komparatistik‘), bei der ‚Kontrastiven Linguistik‘ oder auch bei der ‚Historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft‘, die eine ganze Epoche der Sprachforschung prägte“ (Schweickard 1995, 22sq.). Mit dem Aufkommen der modernen Sprachwissenschaft wurde auch die Suche nach adäquaten Methoden virulenter, darunter auch die Frage nach einer Vergleichsbasis - dem tertium comparationis -, welches das Auffinden von Gemeinsamkeiten und Unterschieden, oder auch Universalien zwischen den zu vergleichenden Sprachen ermöglicht. Neben der Sprachwissenschaft beriefen sich eine Reihe von weiteren Disziplinen bspw. die vergleichende Physiologie, die vergleichende Ästhetik, die vergleichende Geschichte (Kalverkämper 1992, 61) auf den Vergleich als Methode. Ihre lange Entstehungsgeschichte findet einen Höhepunkt im 19. Jahrhundert durch den britischen Philosophen Stuart Mill (1806-1873), der „den Vergleich als Instrument zur systematischen Er‐ kenntnis“ in der Forschung etablierte (Kleinsteuber 2003, 78). Im Kern stellen sich zwei Forderungen: 22 Anastasia Moraitis • Die Gegenstände, die miteinander verglichen werden, dürfen weder völlig gleichartig, [sic] noch völlig unterschiedlich sein. • Jeder Vergleich muss die doppelte Frage nach Ähnlichkeiten und Unter‐ schieden stellen, die Konzentration auf nur eine der beiden Komponenten greift zu kurz und kann daher keinen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit stellen. (Kleinsteuber 2003, 79) Czachur (2013, 336sq.) identifizierte die vergleichende Methode als ein Ver‐ fahren, „das darauf ausgerichtet ist, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den verglichenen Elementen anzuzeigen.“ Vorausgesetzt, dass die „Vergleichbarkeit der identifizierten Elemente“ (ibid.) gegeben ist, folgt „das Postulat des tertium comparationis, einer dritten Größe, einer übereinzelsprach‐ lichen Bezugsgröße, auf die zwei zu vergleichende Phänomene gleichermaßen bezogen werden, um die Gemeinsamkeiten und Unterschiede ermitteln zu können“ (ibid.). Ausgehend davon, dass der Sprachvergleich didaktischen Zwe‐ cken nutzen solle, ist nach Helbig/ Götze das „Beschreiben vor Vergleichen“ (2001, 17) zu setzen, wobei die sprachtheoretische Grundlage (bspw. genera‐ tive Grammatik, taxonomische Grammatik), von der aus operiert wird, zu berücksichtigen ist. Der Prozess des Vergleichens findet im Anschluss statt (Krzeszowski 1967, 36). Das tertium comparationis ist somit ein Mittel, das unter Berücksichtigung der Gleichwertigkeit von den im Vergleich stehenden Spra‐ chen eine Vergleichsbasis setzt. Wie diese aussieht, wird in der Forschung nicht unisono bestimmt, daher diskursiv behandelt, da sich bisher kein adäquates Optimum abzeichnet. Eine ausführliche Analyse des Forschungsdilemmas liefert Tekin. Sie schlussfolgert, dass „[…] weder formale, semantische oder pragmatische Kriterien noch die Übersetzungsäquivalenz als adäquates t.c. von Sprachvergleichen dienen können“ (Tekin 2012, 120sqq., cf. auch Theisen 2016, 34sq.). In ihrem Aufsatz „Kontrastive Analyse 2020: Neue Horizonte“ will v. Stutterheim „[…] den Weg weitergehen und aufzeigen, wie durch eine Verschiebung des tertiums comparationis von der sprachgebundenen auf die konzeptuelle Ebene weiterführende Einsichten gewonnen werden können“ (2018, 288). Die Frage nach einem tertium comparationis ist eine Konstante in der Frage um eine adäquate Vergleichsbasis in der Kontrastiven Linguistik und kann daher nicht ganz außer Acht gelassen werden und muss demnach zumindest angerissen werden. 23 Sprachkontrast und Mehrsprachigkeit 3 Mehrsprachigkeit - Versuch einer begrifflichen Einordnung Die Bildungs- und Schulpolitik hat ein besonderes Interesse daran, das Bewusst‐ sein für Mehrsprachigkeit in allen Schulformen und Schulstufen (cf. Abschnitt 1) zu schärfen. In der terminologischen Auseinandersetzung mit dem Begriff Mehrsprachigkeit und den damit verbundenen Vorstellungen stellt sich bei Durchsicht der Fachliteratur bald heraus, dass die begriffliche Einordnung durchaus variiert, was damit zu begründen ist, dass die Forschung zur Mehrspra‐ chigkeit aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen schöpft (bspw. aus der Spracherwerbsforschung, der Sprachlernforschung, der Psycholingu‐ istik, der Soziolinguistik, der Erziehungswissenschaft, der Schulentwicklungs‐ forschung, der interkulturellen Pädagogik, der Didaktik). Was genau wird mit „Mehrsprachigkeit“ assoziiert? Der weite Begriff von Mehrsprachigkeit geht auf Mario Wandruszka (1979) zurück, der in jedem Kind ein mehr oder weniger mehrsprachiges Individuum mit eigenem Idiolekt erkennt. Videsott formuliert allgemeiner und erläutert: “Der Terminus Mehrsprachigkeit bezieht sich in der Regel auf die menschliche Fähigkeit, in mehreren verbalen Sprachen zu kommunizieren und impliziert die Koexistenz mehrerer Sprachen innerhalb eines individuellen oder sozialen Systems“ (2006, 51). Beide Autoren tragen der weltweiten sprachlichen Vielfalt Rechnung, und betonen die kommu‐ nikative Fähigkeit eines jeden Individuums in mehr als nur einer Sprache. In der Auseinandersetzung mit der individuellen Mehrsprachigkeit (Fürstenau / Gomolla 2011) haben sich für die Forschung hinsichtlich der Quantität und Qualität von sprachlicher Kompetenz zahlreiche Leerstellen ergeben, woraus sich anhängende Fragen entwickelt haben. So bspw. die Frage nach der sprachlichen Qualifizie‐ rung, deren Beantwortung in der Forschung durchaus diametral entgegengesetzte Antworten zu Tage gefördert hat. Ist ein Sprecher dann mehrsprachig, wenn sich die Lesefähigkeit in einer zweiten Fremdsprache dem muttersprachlichen Niveau angenähert hat und somit balanced bilingual (balanciert zweisprachig) ist (Macnamara 1969), oder genügen nur wenige sprachliche Äußerungen (Edwards 2004), um als mehrsprachig zu gelten? Für Bertrand und Christ gilt jemand als mehrsprachig, wenn er „auf der Basis der Kenntnisse seiner Muttersprache eingeschränkte Kenntnisse in wenigstens zwei weiteren Sprachen entweder in gleichen oder in unterschiedlichen Diskursbereichen hat (um z. B. soziale Kontakte in gesprochener oder geschriebener Sprache aufnehmen oder Texte lesen oder Fachgespräche führen zu können)“ (1990, 208). In den Diskurs fließen weitere Forschungsthemen ein, so zum Erstspracher‐ werb, der sowohl monolingual wie auch bilingual (L1, 2L1) verlaufen kann, zur Zweitspracherwerbs- und Tertiärsprachenforschung sowie lerntheoretische 24 Anastasia Moraitis Überlegungen (bspw. Behaviorismus, Nativismus). Es schließt sich auch die Frage nach der chronologischen Entwicklung von individueller Mehrsprachigkeit an. Der Sprachaneignungsprozess verläuft simultan oder sukzessiv, gesteuert in Lehr-Lernkontexten (bspw. Schule) oder ungesteuert im Rahmen alltagssprachli‐ cher Kommunikationssituationen (Ahrenholz 2014, 5; Müller et al. 2011, 13sq.). Im Zusammenhang mit Mehrsprachigkeit fällt auch der Begriff „Migrationshin‐ tergrund“, dem eine Gruppe von Menschen zugeordnet wird, die eine andere Erstsprache als Deutsch sprechen. Allerdings sollte der Blick für jenen Umstand geschärft werden, der aufgrund dieser Zuordnung Lerner mit einer anderen Erstsprache als Deutsch irrtümlich als eine homogene Gruppe betrachtet. Chlosta und Ostermann weisen in ihrem Beitrag mit der Frage „Mehrsprachigkeit, Migra‐ tionshintergrund - Wer ist gemeint? “ auf diverse Schwierigkeiten hin, die dazu geführt haben, dass diese Zuordnung „Migrationshintergrund“ in eine Schieflage geraten ist, denn „die verschiedenen Untersuchungen orientieren sich nicht immer am Merkmal der Mehrsprachigkeit“ (2012, 17). Dies wurde zum Anlass genommen, um im Jahre 2002 eine erste Sprachen‐ erhebung an Essener Grundschulen durchzuführen. Das im Bereich Deutsch als Zweitsprache/ Deutsch als Fremdsprache an der Universität Duisburg-Essen verortete Projekt hatte zum Ziel, die bisher bekannten statistischen Angaben zum Migrationshintergrund um Daten hinsichtlich der in Schulen vorkom‐ menden tatsächlichen sprachlichen Präsenz zu erweitern. Die Auswertung der Studie führte u. a. zu folgender Erkenntnis: „Die Zahl der Sprachnennungen übersteigt die Zahl der mehrsprachigen Schüler, da einige außer Deutsch zwei oder mehr andere Sprachen sprechen“ (ibid. 19). Ähnliche Ergebnisse erzielte auch eine in Hamburg angelegte Studie im Jahre 2003 (Fürstenau / Gogolin / Yağmur 2003). Auch wenn es sich um eine nicht auf Gesamtdeutsch‐ land übertragbare Studie handelte, so machten die Ergebnisse auf eine breite sprachliche Vielfalt von Herkunfts- und Familiensprachen aufmerksam und schärften das Bewusstsein für die individuellen Sprachbiographien. Im Sinne von Diversität und Inklusion ist ein verändertes Unterrichtsgeschehen nur konsequent. Mitzudenken sind in diesem Zusammenhang auch jene neu zu‐ gewanderten Schülerinnen und Schüler mit ihren sehr spezifischen biographi‐ schen und sprachbiographischen Verläufen, deren Teilhabe am schulischen Unterricht durch zusätzliche Faktoren (bspw. vorangegangene Alphabetisie‐ rung, bereits erfolgte oder nicht erfolgte Beschulung in den Heimatländern, Fremdsprachenkenntnisse) bestimmt werden. Die gesellschaftliche Realität zeichnet sich durch eine biographische und sprachliche Variationsbreite aus. Diese spiegelt sich in der 2005 verfassten Charta des „Europäischen Forums für Mehrsprachigkeit“, in der die Bedeutung von Mehrsprachigkeit für politische 25 Sprachkontrast und Mehrsprachigkeit 16 Cf. Europäische Charta für Mehrsprachigkeit (2005). 17 Einen guten Überblick hinsichtlich der durchaus synonym geführten Begrifffe Sprachbewusstsein und Sprachbewusstheit in der deutschsprachigen Literatur, cf. Hohm (2005), 59sqq., Tajmel (2016), 205sqq. sowie wirtschaftliche Verflechtungen ebenso hervorgehoben wird wie für die Zivilgesellschaft. Mehrsprachigkeit gilt als Ausdruck demokratischer Werte und als „das wünschenswerteste und wirkungsvollste Kommunikationsmittel für den öffentlichen Meinungsaustausch. Es steht für Toleranz und Achtung vor Minderheiten und unterschiedlichen Lebensauffassungen. Sprachliche und kul‐ turelle Vielfalt sind die Voraussetzung für ein europäisches Bürgerbewusstsein; sie sind wesentliche Bestandteile einer europäischen Identität“ 16 . 3.1 Mehrsprachigkeit und (Sprach)bewusstsein 17 Innerhalb der Mehrsprachigkeitsdebatte stellt der Begriff „(Sprach)bewusstsein“ (bspw. Wolff 2006, 51sqq.) eine nicht mehr wegzudenkende prominente Bezugs‐ größe dar, die als stabiler Faktor für die Entwicklung eines sensiblen und (sprach)bewussten Umgangs mit der eigenen sowie mit fremden Sprachen und Kulturen betrachtet wird. In einer gesellschaftlichen Konstellation mit demogra‐ phischen Verschiebungen aufgrund von Zuwanderung, wie sie in vielen Ländern Europas, darunter auch Deutschland, Realität ist, gilt es, Sprachideologien abzu‐ bauen und im Gegenzug kontinuierlich Brücken zu fremden Sprachen und ihren unverwechselbaren kulturellen Nuancen aufzubauen. Unlängst hat die Europäi‐ sche Union im Jahr 2000 in ihrer Charta (Artikel 21 und 22) zur Selbstverpflichtung auf Achtung der Kulturen, Religionen und Sprachen aufgerufen. Einige Jahre zuvor wurde im Weißbuch der Europäischen Union (1995) die Vielfalt der Sprachen hervorgehoben und zum Erlernen von Sprachen ermutigt. Der Blick auf den Begriff „Sprachbewusstsein“ aus soziolinguistischer und ideologiekritischer Perspektive sollte an dieser Stelle kurz angeschnitten werden. Aus soziolinguistischer Perspek‐ tive betrachtet, definiert Cornelia Stroh den Begriff wie folgt: „Darunter wird allgemein das Wissen gefaßt, eine bestimmte Sprache zu sprechen, das Wissen um ihre korrekte grammatikalische und soziale Verwendung und das Verfügen über Einstellungen und Bewertungen bezüglich Sprache“ (1993, 15). Die Linguistin hebt die subjektiven Erkenntnismöglichkeiten eines Individuums deutlich hervor, die aus den unterschiedlichsten Wissensbeständen resultieren, und ergänzt, dass eine direkte sowie indirekte Einflussnahme durch Aussagen und Meinungen von Sprechern und Sprecherinnen einer Gesellschaft bezüglich der Beurteilung von Sprache(n) das Sprachbewusstsein mitprägen (Stroh 1993, 16). Es handelt sich somit um ein soziales Phänomen, „das in Abhängigkeit von gesellschaftlichen und historischen Faktoren unterschiedliche inhaltliche Ausprä‐ 26 Anastasia Moraitis gungen aufweisen kann“ (Stroh 1993, 17). Ihre Ausführungen untermauert sie mit dem mehrmehrdimensional ausgrichteten Modell zu Language Awareness, das auf James und Garrett (1992) zurückgeht. Das sind die Dimensionen: 1. „Die kognitive Domäne, in der es um die Entwicklung von Bewusstheit für Muster, Kontraste, Kategorien, Regeln und Systeme geht. 2. Die Domäne der Performanz, in der es um die Herausbildung einer Bewusstheit für die Verarbeitung von Sprache, aber auch um die Her‐ ausbildung einer Bewusstheit für das Lernen im Allgemeinen und das Sprachlernen im Besonderen geht. Für Letztere wird auch der Begriff Sprachlernbewusstheit gebraucht. 3. Die affektive Domäne, die sich auf die Herausbildung von Haltungen, Aufmerksamkeit, Neugier, Interesse und ästhetisches Einfühlungsver‐ mögen bezieht. 4. Die soziale Domäne, in der es um die Entwicklung von Verständnis für andere Sprachen, um Toleranz für Minoritäten und ihre Sprachen geht. 5. Die Domäne der Macht, die sich auf das Vermögen, Sprache im Hinblick auf die ihr unterliegenden Möglichkeiten der Beeinflussung und Mani‐ pulation anderer zu durchschauen, bezieht.“ ( James / Garrett 1992, 12sqq. zitiert nach Wolf 2002, 184sq.) Von diesen verweist die vierte, die soziale Domäne auf die Notwendigkeit fremden Sprachen empathisch zu begegnen, was mit Rückgriff auf Stroh (s. o.) - um es einmal gedanklich durchzuspielen - aufgrund von gesellschaftlichen und/ oder individuellen Einstellungen verweigert werden kann. In der Zusam‐ menfassung verweisen die Domänen mit Blick auf die gesellschaftliche Ebene auf machtpolitische Interessen (bspw. mangelnde Toleranz gegenüber anderen Sprachen, folglich auch anderen Sprechern gegenüber). Auf individueller Ebene ist die intrinsische Motivation eine treibende Kraft, was mit gesellschaftlicher Akzeptanz einhergeht, und auf der kognitiven Ebene geht es um das Wissen über Sprache(n). Schließlich: „Größere Sprachaufmerksamkeit führt zu mehr Sprach‐ wissen und zu höherer Sprachbewusstheit, die wiederum aufmerksamer macht und das Wissen fördert“ (Oomen-Welke 2003a, 453). Nicht zuletzt gilt sprach‐ bewusstes Handeln als Schlüsselqualifikation für (angehende) Lehrerinnen und Lehrer und nimmt einen besonderen Stellenwert im Zusammenhang mit dem Lehren und Lernen von (Fremd)sprachen und von Deutsch als Zweitsprache ein (Rieder 2002, 449sqq.). Sprachbewusstsein ist somit als eine Größe identifiziert worden, auf der sich die Mehrsprachigkeitsdidaktik entfalten kann. Darauf nimmt der nächste Abschnitt Bezug. 27 Sprachkontrast und Mehrsprachigkeit 4 Mehrsprachigkeit und Mehrsprachigkeitsdidaktik In der Auseinandersetzung mit der Mehrsprachigkeitsdidaktik stellen sich sogleich zwei Kernfragen: Welche Implikationen werden mit diesem Terminus assoziiert? Welche didaktischen Umsetzungsmöglichkeiten stehen Lehrkräften zur Verfügung? Letztere wird nicht abschließend beantwortet werden können. Die in den 1980er und 1990er Jahren entwickelte und von der Fremdsprachen‐ forschung eingeführte Mehrsprachigkeitsdidaktik (bspw. Gnutzmann / Köpcke 1988; Krumm 1999a, b; Hufeisen 1991; Meißner 1995, 1998), verfolgte das über‐ geordnete Ziel „die Mehrsprachigkeit sowie das allgemeine Sprachbewusstsein von Fremdsprachenlernern zu fördern“ (Tekin 2012, 174). Etwas differenzierter umzeichnet Wiater das Profil von Mehrsprachigkeitsdidaktik: „Die Didaktik der Mehrsprachigkeit ist die Wissenschaft und Lehre vom kombinierten und koordinierten Unterricht und Lernen mehrerer Fremdsprachen innerhalb und außerhalb von Schule. Ihr primäres Ziel ist die Förderung der Mehrsprachigkeit durch Erarbeitung sprachenübergreifender Konzepte zur Optimierung und Effektivierung des Lernens von Fremdsprachen sowie durch die Erfahrung des Reichtums der Sprachen und Kulturen“ (2006, 60). Angelehnt an Vorstudien konkretisiert Wiater diese Gelingensbedingungen. Es werden folgende aufge‐ listet: • die Vorrangstellung des lernenden Subjekts und seiner funktionalen Kommunikationskompetenz, • die Zentrierung auf Fragen der Sprachtypologie, der Sprachfamilien, der Sprachähnlichkeiten, der Sprachparallelen und der sprachlichen Univer‐ salien zu Lasten der spezifischen und einzelnen Fremdsprachenkenntnis, • die curriculare Abstimmung hinsichtlich der Inhalte, Ziele, Methoden und Medien zwischen den zu lernenden Sprachen, • die Entscheidung über eine förderliche Sprachenabfolge, • die Nutzung der Beziehungen zwischen verschiedenen Sprachen für das Lernen (vgl. Transfer, Interferenz), • das Erarbeiten interlingual nutzbarer Elemente (Wortschatz, Formen) und Strategien für das Verstehen unbekannter, fremdsprachlicher Texte (vgl. Interferenz), • den Aufbau sprachengemeinsamer kognitiver Schemata und das Erlernen von Dekodierungstechniken, • lernorientierte Methoden und Individualisierung beim Sprachenlernen, 28 Anastasia Moraitis 18 In den Kernlehrplänen der anderen Schulformen konnte in den bisherigen Recherchen der Begriff „Bewusstheit“ nicht ermittelt werden. • die Vernetzung des schulischen mit dem außerschulischen Lernen und der vorgelernten und der nachgelernten Sprachen im Sinne einer lifelong language learning perspective und • Überlegungen zum interkulturell erziehenden Unterricht und zum multilin‐ gual bildenden Lernen in den Fremdsprachenfächern. (Wiater 2006, 60) Fachspezifische Inhalte der Vergleichenden Sprachwissenschaft decken den größten Teil der o. g. Anforderungen ab (bspw. Fokussierung auf die Sprachty‐ pologie, Sprachkontrast, genetische Verwandtschaft von Sprachen), und sind somit für eine Sensibilisierung im Sinne einer Language Awareness konstitutiv. Ein Blick auf die curricularen Vorgaben unterstreicht das Gesagte. Beispielhaft wird zusätzlich auf die Kernlehrpläne für das Gymnasium in der Sekundarstufe I Bezug genommen. 18 Im ausgewählten Kompetenzbereich für die Fremdsprache Französisch fehlt der Begriff Sprachbewusstsein (cf. KLP 2019, 14) ebenso in der Beschreibung für das Fach Spanisch. Zu den Fachkompetenzen, die Spanischler‐ nende zu bewältigen haben, zählt neben dem Sprachgebrauch auch die Fähigkeit einen Sprachvergleich zur Auffindung von Ähnlichkeiten und Verschieden‐ heiten durchführen zu können (cf. KLP 2019, 23). Es kann vorerst vorsichtig konstatiert werden, dass die Sensibilisierung für einen bewussten Umgang mit Mehrsprachigkeit nicht flächendeckend geschieht und diese aufklaffende Lücke dringend geschlossen werden sollte. Die Gelingensbedingungen sind zum einen von den internen curricularen Vorgaben abhängig, die es zu optimieren gilt. Zum anderen ist die thematische Abstimmung von Inhalten genau zu überlegen. Dass die Forschung zur Mehrsprachigkeitsdidaktik und ihre Umsetzung in konkreten Lehr-Lernzusammenhängen noch lange nicht abgeschlossen ist, stellt Marx besonders kritisch heraus. Sie konstatiert, dass der „Weg zu einer effektiven Mehrsprachigkeitsdidaktik und somit auch zu einer Vergrößerung der gesellschaftlichen Akzeptanz anderer Sprachen (v. a. der community lang‐ uages) größtenteils unbeschritten [geblieben ist]“ (2014, 20). Reimann versucht diese und weitere Lücken zu schließen und plädiert in seinem 2016 erschienenen Aufsatz „Aufgeklärte Mehrsprachigkeit - Sieben Forschungs- und Handlungs‐ felder zur (Re-)Modellierung der Mehrsprachigkeitsdidaktik“ für die Einbindung weiterer Sprachen als die klassischen Schulfremdsprachen in mehrsprachige Lehr-/ Lernprozesse, denn das „[…] Ziel mehrsprachigkeitsdidaktischer Bemü‐ hungen ist die Entwicklung einer transkulturellen kommunikativen Kompetenz, die als Fähigkeit zur Verständigung über Sprach- und Kulturgrenzen hinweg verstanden werden kann“ (Reimann 2016, 29). Zu diesem Zweck modelliert 29 Sprachkontrast und Mehrsprachigkeit Reimann sieben Diskurs- und Handlungsfelder (unter Einbezug bspw. von Herkunfts- und Familiensprachen, des Deutschen als Muttersprache und als Fremd-/ Zweitsprache), innerhalb derer die rezeptiven und produktiven Kompe‐ tenzen von Schülerinnen und Schülern aufgebaut werden sollen (2016, 18sqq.). Es schließt sich sodann die zweite Frage an: Welche didaktischen Umset‐ zungsmöglichkeiten können Lehrkräften an die Hand gegeben werden, um den curricularen Vorgaben genüge zu leisten und die Sprachenvielfalt im Klas‐ senzimmer zu berücksichtigen und in das Unterrichtsgeschehen einzubinden? Auf eine Antwort mit Umsetzungspotential ist vorerst noch nicht zu hoffen, unterscheiden sich doch die Perspektiven der beteiligten Forscher und Forsche‐ rinnen nicht selten. Bredthauer formulierte jüngst: „Die Forschung und Ent‐ wicklung mehrsprachiger Unterrichtskonzepte ist […] dringend erforderlich“ (2019, 128). Martinez klingt optimistischer, wenn sie festhält, dass es inzwischen eine Reihe von Aufgaben gibt, die die „rezeptive Kompetenz im Rahmen von interkomprehensiven Ansätzen, die Schulung produktiver und interkultureller Kompetenzen sowie Diskursfähigkeit“ fördern (2015, 11). Einschränkend betont sie jedoch die noch nicht vorhandene Typologie derart konzipierter Aufgaben und nennt zumindest einige zielführende Prinzipien wie einen intra- und inter‐ lingualen Transfer und die Interkomprehension (ibid. 12). Im Deutschunterricht, so beklagt Wildemann (2013, 324), sei das Potential metasprachlicher Kompe‐ tenzen bei mehrsprachigen Lernern längst nicht ausgeschöpft, obschon bereits im Jahre 2011 unter der Ägide des Landesinstituts für Lehrerbildung und Schul‐ entwicklung eine Handreichung mit Sprachvergleichen (z. B. Bosnisch-Deutsch; Polnisch-Deutsch; Portugiesisch-Deutsch) unter dem Titel „Mehrsprachigkeit zur Entwicklung von Sprachbewusstsein - Sprachbewusstsein als Element der Sprachförderung“ veröffentlicht worden war. Für diesen immer noch misslichen Umstand stellte sie folgende Gründe zusammen: • Im Deutschunterricht wird immer noch viel zu wenig auf das sprachliche Wissen mehrsprachiger Lerner rekurriert (Wildemann 2010a; 2010b; Roth 2006). • Die Diskussion und Entwicklung von Sprachförderung zielt vornehmlich zu einseitig auf die Beherrschung der Mehrheitssprache ab und ist damit primär defizitorientiert konzeptualisiert (dazu auch Ehlich 2009; Maas 2008; Wildemann 2010a). • Dies alles geschieht auf einer noch unzureichend empirisch erschlos‐ senen Grundlage im Hinblick auf Sprachaneignung, Sprachdiagnostik und Sprachfördermaßnahmen (dazu Redder 2011). 30 Anastasia Moraitis 19 Bspw. Rothstein (2010). Mit der Frage, inwiefern sich der Deutschunterricht an Schulen tatsächlich für die Idee einer Mehrsprachigkeitsdidaktik geöffnet hat, beschäftigte Marx. Unter Berücksichtigung des niedersächsischen Kerncurriculums sichtete sie Lehrwerke für den Deutschunterricht und unterzog diese einer genauen Ana‐ lyse (Marx 2014, 12sqq.). Zwei der Ergebnisse wurden zur Darstellung herausge‐ griffen: „Erstens wird häufiger auf die kulturelle Diversität eingegangen als auf die sprachliche, und zweitens besteht schon bei dieser Erstanalyse ein deutliches Übergewicht des Englischen“ (Marx 2014, 14). Auf qualitativer und quantitativer Ebene beobachtete Marx viele Leerstellen. Es ist zunächst festzuhalten, dass die gesichteten Lehrwerke einige Anknüpfungspunkte für eine Didaktik der Mehr‐ sprachigkeit anbieten, jedoch die Hinführung zu einer Sprachenbewusstheit nur schwach ausgeprägt ist. Ebenso inkonsequent aufbereitet ist die sprach‐ reflektierende Arbeit (bspw. Reflektion von Lexemen, sprachvergleichende Übungen, sprachübergreifende Lern-, Schreib- oder Erschließungsstrategien) (Marx 2014, 17sqq.). Diese ersten Ergebnisse Verweisen auf den Umstand, dass mehrsprachigkeitsfördernde Konzepte die schulische Alltagsrealität noch lange nicht erreicht haben, auch wenn bereits sprachvergleichendes Material für den didaktischen Einsatz entwickelt worden ist. 19 Aus der Perspektive von lehr‐ praktischen Überlegungen bedarf es aber einer Didaktik, die sich dem Wandel der Zeit zuwendet und die mehrsprachige Lebenswelt von Menschen stärker berücksichtigt bzw. ihre individuelle Mehrsprachigkeit nicht aus dem Blick verliert. Die Hinwendung zu allen Schülerinnen und Schülern unterstreicht die Idee einer Mehrsprachigkeitsdidaktik. Als weiteres Argument kann die Spracherwerbsforschung herangezogen werden, die unlängst durch zahlreiche empirische Studien die Bedeutung der Erstsprache für den Erwerb weiterer Sprachen belegen konnte (bspw. Cummins 1981; Brizić 2007). Diese Ressource nutzt mehrsprachigen Lernern „zum Erwerb einer Zweit- und Drittsprache, ganz im Sinne der Sprachbewusstheit (‚language awareness‘), um Verbindungen zwischen den Sprachen herzustellen und Gemeinsamkeiten oder Unterschiede transparenter werden zu lassen“ (Wiater 2006, 64). Die Rückbindung auf erwor‐ bene oder erlernte Sprachen entwickelt nicht nur das Sprachenbewusstsein, sie führt zudem „zu vertiefter Sprach(en)kompetenz (aller Sprachen, ob Erst-, Zweit-, Herkunfts- oder Fremdsprachen), zur Vorbereitung auf das Lernen weiterer Sprachen und zur Erhöhung der Sprachlernmotivation“ (Marx 2014, 9). Mehrsprachigkeit zielt darauf ab, individuelle Sprachbiographien ernstzu‐ nehmen und ein Bewusstsein für andere Sprachen und Kulturen zu entwickeln. Die Mehrsprachigkeitsdidaktik sucht nach Wegen, dieses Ziel zu erreichen. 31 Sprachkontrast und Mehrsprachigkeit 20 Hervorzuheben sind bspw. das umfangreiche Projekt zur mehrsprachigen Leseförde‐ rung, in dem mehrsprachigkeitsdidaktische Konzepte wie die Interkomprehension und der Sprachvergleich bewusst in den Leseprozess eingebunden werden. Dazu: „Mehrsprachiges Lesetheater“ (Kutzelmann et al. 2017) und „Mehrsprachiges Vorlesen“ (Hilbe et al. 2017). Die Frage nach adäquaten Unterrichtsmaterialien (u. a.) stellt weiterhin ein Desiderat dar, das im wissenschaftlichen Diskurs hochaktuell behandelt wird (Bredthauer 2019, 129), obschon es bereits erste Vorstöße in diese Richtung gibt. 20 Die Sprachbiographie und Sprachlernerfahrung von neu zugewanderten Schülerinnen und Schüler - dies gilt es zusätzlich zu bedenken - offenbart eine stärkere sprachliche und kulturelle Diversität als bisher berücksichtigt und die Frage nach didaktisch wirksamen Materialien ist auch mit Blick auf diese Schülergruppe virulenter denn je. 4.1 Mehrsprachigkeitsdidaktische Ansätze am Beispiel der Interkomprehension Im Kern bedient sich die Mehrsprachigkeitsdidaktik des Mittels der Bewusstma‐ chung bezogen auf das bereits vorhandene Wissen über die eigene Sprache und Kultur, wobei der Vergleich „eine Verbindung sprachlicher Wissensbestände“ herstellt (Wildenauer-Józsa 2005, 239; Brdar-Szabó 2010). Konzepte wie die Interkomprehension (Bär 2009), Translanguaging (bspw. García / Wei 2014) und Language Awareness (bspw. Neuland 2002, 5; Luchtenberg 1997; 2010) setzen eine Bewusstheit für Muster, Kontraste, Kategorien, Regeln und Systeme voraus bzw. werden durch sprachsensible Zugänge erst bewusstgemacht. Am Beispiel der Methode Interkomprehension soll dies näher expliziert werden. Der Terminus Interkomprehension, auch als Tandemkommunikation bekannt (Tafel 2009, 6), ist nicht leicht zu definieren (bspw. Meißner 1995). Tafel formuliert: „Unter Interkomprehension ‚gegenseitige Verständlichkeit‘ (frz. intercompré‐ hension, engl. Mutual intelligibility, intercomprehension), versteht man eine Kommunikationstechnik, die es gestattet, in der eigenen Muttersprache mit einem Sprecher einer anderen Sprache zu sprechen. Sprecher A spricht bspw. Russisch und versteht Ukrainisch, Sprecher B spricht Ukrainisch und versteht Russisch“ (2011, 5, Hervorhebungen durch die Autorin). Das Konzept sieht also weniger die Vermittlung neuer Sprachstrukturen im Sinne des tradi‐ tionellen Grammatikunterrichts vor als vielmehr die Aktivierung individueller Vorerfahrungen (sprachliches Wissen und Weltwissen), die durch die Sprecher und Sprecherinnen ins Spiel gebracht werden. In Verbindung mit dem Wissen über sprachliche Beziehungsgeflechte, die eine Zuordnung in eine Sprachfa‐ milie erlauben, ergeben sich Synergieeffekte und somit auch eine mögliche 32 Anastasia Moraitis Transferbasis. Im Falle des o. g. Beispiels ist die slawische Sprachfamilie der gemeinsame Nenner, auf den sich die beiden Kommunikationspartner stützen. Sofern also Schüler und Schülerinnen bereits eine Sprache der Sprachfamilie beherrschen, kann diese bezüglich der zu erlernenden Zielsprache die Funktion einer Brücken- oder Transfersprache einnehmen (bspw. Meißner 2007; Doyé 2010; Zybatow 2010). Die Förderung der Sprachenbewusstheit und der Sprach‐ lernbewusstheit sind Merkmale von Interkomprehension, die sich erst entfalten kann, wenn der Lerner sich auf eine sprachliche Entdeckungsreise begibt (intrinsische Motivation als Voraussetzung) und selbstbestimmt bedeutsame Inhalte ins Gespräch bringt. Diese und weitere Merkmale bezeichnet Bär als Prinzipien interkomprehensiver Arbeit. Diese sind: 1. das Prinzip der Bewusstmachung (kognitives Lernen) 2. das Prinzip der Lernerautonomisierung (entdeckendes Lernen) 3. das Prinzip der Authentizität (inhaltsorientiertes Lernen) 4. das Prinzip der Rezeptivität (verstehensorientiertes Lernen). (2009, 33sqq.) Vorrangig werden „die rezeptiven Kompetenzen des Lese- und Hörverstehens sowie die Erarbeitung transferbasierter Erschließungsstrategien“ anvisiert (Wi‐ ater 2006, 61). Das didaktische Vorgehen folgt den sog. sieben Siebe. Diese Analyseschritte werden nach der Vorlage von Wiater (2006, 62sq.) vorgestellt. Sie sehen folgende Vorgehensweise vor: 1. Absuchen des Textes auf enthaltenen internationalen Wortschatz. 2. Suche im Text nach dem Wortschatz, der in der ganzen Sprachgruppe gemeinsam vorhanden ist. 3. Ermitteln der für die Sprachgruppe charakteristischen Lautentspre‐ chungsformen mit Hilfe von vorher erworbenen Kenntnissen über den Lautwechsel (historische Philologie). 4. Untersuchen der Schreibweise (Grafie) und der Aussprachkonventionen. 5. Analyse der Morphosyntax auf relevante grammatische Phänomene. 6. Erfassung der Wortstellung und des Satzbaus. 7. Beobachtung zu Präfixen und Suffixen anstellen. Neben diesen Teilfertigkeiten empfehlen Zybatow / Zybatow (2002, 89) die Aneignung von Wissen über die geographische Verbreitung von Sprache(n) sowie über ihre historische Entwicklung. Mit diesem Analyseverfahren ist somit ein Abgleich und das Feststellen von Besonderheiten zwischen der Erstsprache und weiterer Sprachen (Suchen nach internationalem Wortschatz in Texten, Ermitteln von Lautentsprechungen, Analyse von morphosyntaktischen Phäno‐ 33 Sprachkontrast und Mehrsprachigkeit 21 Das Analyseverfahren mit konkreten Beispielen liefert bspw. Oleschko (2011). menen, Syntax und von Präfix und Suffixen) (Wiater 2006, 62) umsetzbar. 21 Ollivier / Strasser unterzogen das Konzept der Interkomprehension (IK) unter Berücksichtigung der Frage nach den hierfür notwendigen spezifischen Kom‐ petenzen einer ausführlichen und kritischen Analyse. Das Ergebnis stellt sich wie folgt dar: Unsere Arbeit hat gezeigt, dass der IK eine komplexe plurilinguale Kompetenz zu Grunde liegt. Wichtige Komponenten einer solchen Kompetenz sind linguistische Kenntnisse und kognitive Fähigkeiten und Fertigkeiten. Diese sind als übergeordnete Kompetenzbereiche zu betrachten, die für jegliche Form der IK für besonders wichtig erachtet werden. Je nach sprachlicher Aktivität (Rezeption oder Interaktion) werden […] unterschiedliche Teilkompetenzen hervorgehoben: Für die rezeptive IK sind dies linguistische Kompetenzen und kognitive Fähigkeiten und Fertigkeiten, für die interaktionale IK neben linguistischen Kompetenzen Einstellungen und Haltungen, kognitive Fähigkeiten und Fertigkeiten, interkulturelle und diskursive Kompetenz. (Ollivier / Strasser 2016, 124) Eine Didaktik unter Berücksichtigung von Mehrsprachigkeit, hier am Beispiel der Interkomprehension, baut auf solides linguistisches Wissen unter Einbezug von Teildisziplinen der Vergleichenden Sprachwissenschaft auf; darunter die ty‐ pologische Zuordnung von Sprachen, der Vergleich von Sprachen zur Herausar‐ beitung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden etc. Klein / Stegmann (2000) erachten das Konzept als vielversprechend und setzen auf eine Europäische Interkomprehension (EuroCom) (cf. auch germanistische Interkomprehension, slawische Interkomprehension, romanischen Interkomprehension), ein Projekt, dessen Ziel in der Vermittlung einer rezeptiven Mehrsprachigkeit liegt. 5 Fazit - Ausblick - Leerstellen Die veränderte bildungs- und schulpolitische Landschaft erfordert die Stärkung eines Bewusstseins für Mehrsprachigkeit in Schule und Gesellschaft. Für ein professionelles Handeln werden von Lehrkräften nicht nur fundierte linguisti‐ sche Kompetenzen erwartet, sondern auch der bewusste Umgang mit Themen wie Sprachbewusstheit und Mehrsprachigkeit. Sprachvergleichende Arbeit ist dabei zu einer wertvollen didaktischen Strategie in der Sprachvermittlung avanciert und spielt besonders in mehrsprachigkeitsdidaktischen Diskursen eine unentbehrliche Rolle. So bestätigt auch Reimann zukunftsweisend: 34 Anastasia Moraitis „In einem Zeitalter der inter- und transkulturellen Kommunikation und der Notwendigkeit, Instrumente für das Gelingen derselben bereit zu stellen, gewinnt sprachkontrastierendes Arbeiten unter Einbeziehung immer wieder auch von mehr als zwei Sprachen für die Weiterentwicklung einer Mehrspra‐ chigkeitsdidaktik, aber auch für die Erstellung von Grammatiken, Wörterbü‐ chern, Sprach-Tools für Web-2.0-Anwendungen usw. als Grundlagenforschung an neuer Bedeutung.“ (2014, 30) Es gibt noch eine Reihe von Leerstellen bezüglich der methodisch-didakti‐ schen Umsetzung eines unter mehrsprachigkeitsdidaktischen Gesichtspunkten berücksichtigenden Unterrichts. Wie bereits angeklungen, stellt sich u. a. wei‐ terhin die Frage nach adäquaten Unterrichtsmaterialien (Bredthauer 2019, 129). Aber es stellt sich auch die Frage danach, wie Lehrkräfte die curricularen Herausforderungen einer die Mehrsprachigkeit berücksichtigenden Didaktik annehmen. Eine von Bredthauer und Engfer (2018, 8) durchgeführte Studie ging ebendieser Frage in Form eines narrativen Reviews nach. Nach Abschluss der zwölf empirischen Studien wurden folgende Meinungen zusammengetragen. • Die Lehrkräfte befürworten meist den produktiven Transfer, Interfe‐ renzen halten sie jedoch oftmals immer noch für fehlergenerierend und lerngefährdend oder sind zumindest skeptisch hinsichtlich der Steuerbar‐ keit von intendierten Wirkungen (vgl. J: 125; F: 209). • Weit verbreitet scheint auch die Auffassung, dass die Kinder von Sprach‐ vergleichen überfordert würden, so dass sie nur den leistungsstarken Schülerinnen und Schülern nutzen würden (vgl. K: 68; J: 125). • Implizit wird auch von einigen Lehrkräften die time-on-task-Hypothese vertreten, weil sie Sorge äußern, dass durch den Einbezug anderer Sprachen die Lernzeit für die von ihnen unterrichtete Sprache verringert wird (vgl. L: 179; F: 213). • Bezogen auf die generelle Durchführbarkeit werden oftmals die gege‐ benen Rahmenbedingungen beklagt: die große sprachliche Vielfalt in den Klassen, die eigenen fehlenden sprachlichen Kompetenzen in anderen Sprachen, die Gruppengrößen, der Zeitmangel im Unterricht, der zeitliche Aufwand der Unterrichtsvorbereitung (vgl. I: 48; K: 68, C: 78sqq.). Die Kluft zwischen dem Willen, Lerner zur Sprachbewusstheit im Umgang mit Sprachen zu unterstützen einerseits und der Absenz brauchbarer didaktischer Anknüpfungspunkte in den Lehrwerken andererseits ist groß und erschwert der Lehrperson angesichts der großen Anzahl an verschiedenen Sprachen im Klassenraum das Unterrichten. Eine weitere Studie, die an der Universität Duis‐ burg-Essen vom Institut Deutsch als Zweitsprache/ Deutsch als Fremdsprache 35 Sprachkontrast und Mehrsprachigkeit im Jahre 2017 mit Lehramtsstudierenden des Fachbereichs Germanistik durch‐ geführt wurde (Beitrag in diesem Band), führte zu einem ähnlichen Ergebnis. Dies bestätigt auch eine aktuelle umfangreich angelegte Wirksamkeitsstudie zur Lehrerausbildung. In der Essenz, laut den Ergebnissen, ist der „Ausbau von Aus-, Fort- und Weiterbildungsangeboten im Bereich Deutsch als Zweitsprache und Mehrsprachigkeit“ (Benz 2019, 242) dringend notwendig. Die Autorinnen und Autoren erhoffen sich mit ihren Beiträgen in diesem Sammelband an der Entwicklung eines Bewusstseins für Mehrsprachigkeit, für die Mehrspra‐ chigkeitsdidaktik und für die Bedeutung von sprachvergleichender Arbeit beizutragen. 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Unter dem landessprachlichen Deutschunterricht verstehe ich das durch die in Deutschland gültigen Bildungspläne und Bildungsstandards beschriebene Schulfach Deutsch, das für alle Schülerinnen und Schüler inlandsdeutscher Schulen von Schulanfang bis Schulende obligatorisch ist und das die Kompetenzbereiche Umgang mit Texten, Schreiben, Lesen/ Zuhören und Sprachreflexion umfasst. Bedingungen für die Einbindung von nicht-landessprachlichen Herkunftssprachen in den landessprachlichen Deutschunterricht 1 Ein kasuistisch-didaktischer Blick Björn Rothstein 1 Herkunftssprachen im Deutschunterricht? Betrachtet man die bildungspolitischen Entscheidungen der vergangenen Jahre und ihre fachdidaktischen, bildungswissenschaftlichen sowie schulischen Um‐ setzungen, so erkennt man die klare Tendenz, schulische Querschnittsaufgaben fächerverbindend zu implementieren. Zu diesen Querschnittsaufgaben zählen beispielsweise die Vermittlung der deutschen Bildungssprache bzw. die sprach‐ liche Bildung, die Digitalisierung, die Demokratisierung, die Heterogenität und die Inklusion, die von den Fachdidaktiken und Bildungswissenschaften als jeweils sprachsensibler, auf die Möglichkeiten der Digitalisierung zurück‐ greifender, demokratische Werte vermittelnder und Heterogenität berücksich‐ tigender Fachunterricht aufgegriffen wurden. In einem sprachsensiblen oder (sprachbewussten Fachunterricht wird fach‐ liches mit sprachlichem Lernen verbunden (Becker-Mrotzek et al. 2013, Prediger 2013, Sumfleth et al. 2013), wenn Schülerinnen und Schüler mit Deutsch als Zweit- oder Fremdsprache durch den Fachunterricht beim Erlernen des Deutschen fach- und bildungssprachlich unterstützt werden. Im Kontext der Digitalisierung kann ebenso die Vermittlung von u. a. Digital Skills, Digital Literacy und Digital Data als eine den Unterricht betreffende Querschnittsauf‐ gabe verstanden werden (u. a. Gailberger 2018). Mittlerweile wird auch die Vermittlung demokratischer Werte als eine Querschnittsaufgabe verstanden, zu der alle Fächer beitragen sollen. Ein inklusiver Fachunterricht ist ein „gemeinsame[r] Unterricht aller Kinder und Jugendlichen an einer Regelschule, der diese in ihrer kognitiven, sprachli‐ chen, emotional-affektiven, sozialen und motorischen Entwicklung bestmöglich unterstützt. Unterricht meint dabei das gemeinsame Lernen an einem von allen geteilten Gegenstand“ (Becker-Mrotzek / Knopp 2018: 89). Ein weites Verständnis von Inklusion, so wie es Becker-Mrotzek & Knopp (2018) annehmen, ermöglicht eine bildungsinstitutionelle Antwort auf die Hete‐ rogenität, die aus personenbezogenen Hintergrundmerkmalen (Sozioökonomie und Migrationshintergrund), individuellem Lernpotenzial (bildungssprachliche Kompetenzen, Vorwissen, Intelligenz, Deutschkenntnisse) und sonderpädagogi‐ schem Förderbedarf resultiert ( John-Ohnesorg 2017: 9). Denkt man die Bereiche sprachliche Bildung, Heterogenität und Inklusion zusammen, so resultiert eine weitere Querschnittaufgabe „Mehrsprachigkeit“, die die schulische wie außer‐ schulische Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler betrifft und diejenigen inkludiert, deren erste Sprache nicht oder nicht ausschließlich Deutsch ist, sondern die (primär) in einer oder mehreren Sprachen sozialisiert wurden. Wer den Umgang mit Heterogenität konsequent zu Ende denkt, muss demzu‐ folge Unterrichtskonzepte zum Umgang mit Mehrsprachigkeit entwickeln, um (diejenigen) Schülerinnen und Schüler mit bzw. ohne individuelle herkunftsbe‐ zogene Mehrsprachigkeit im Sinne eines gesellschaftlichen Multilingualismus zusammenzubringen und auf ein reflektiertes, einander wertschätzendes Mit‐ einander vorzubereiten (vgl. beispielsweise das Curriculum Mehrsprachigkeit in Krumm / Reich 2013). Ein eigenes Schulfach Mehrsprachigkeit scheint sich gegenwärtig nicht durchzusetzen (Rösch 2017: 209). Stattdessen werden Konzepte eines mehr‐ sprachigkeitsberücksichtigenden oder -bewussten Fachunterrichts verfolgt, die sprachliche Vielfalt thematisieren und zu denen in den vergangenen Jahren unterschiedliche Konzepte entwickelt wurden (vgl. u. a. die Beiträge in Roth‐ stein 2011). Dabei zeichnet sich ab, dass in diesem Kontext der Rückgriff auf schülerseitige Herkunftssprachen didaktisch ein relativ neues Feld ist, das erst im vergangenen Jahrzehnt intensiver erforscht wurde (u. a. von Ricart Brede 2016, Geist 2018). „Herkunftssprachen sind die Sprachen, die Migranten als ihre Muttersprachen in anderssprachige Einwanderungsländer mitbringen“ (Reich 2008: 445), die sie als Umgangssprache nutzen (Brehmer / Mehlhorn 2018) und in der sie zusätzlich zur nationalen Amtssprache zu einem gewissen 48 Björn Rothstein Grad bilingual sind (Valdés 2001: 38; Montrul 2016). Traditionell wird den nicht-deutschen Herkunftssprachen im deutschen Bildungssystem bundesland‐ übergreifend vergleichsweise wenig Platz eingeräumt (Reich 2018). Während zwar einige Bundesländer wie Nordrhein-Westfalen eigene Unterrichtsfächer für bestimmte Herkunftssprachen anbieten, reduziert sich das Angebot in Baden-Württemberg z. B. auf nicht-staatlichen Unterricht an Konsulatsschulen (Brehmer / Mehlhorn 2018: 70). Diese ungleiche Vorgehensweise begründet sich nicht nur durch die Kultushoheit der Länder, sondern auch durch eine relativ disparate Forschungslandschaft zum herkunftssprachlichen Unterricht. Zwar existieren mittlerweile Vorschläge zur unterrichtlichen Einbindung nicht-deut‐ scher Herkunftssprachen, doch ist insgesamt der Beitrag herkunftssprachlicher (literaler) Kompetenz zum gesamtschulischen Bildungserfolg nach wie vor nicht nachgewiesen (vgl. Brehmer / Mehlhorn 2018 und die Beiträge in Mehlhorn / Brehmer 2018). Neben den Versuchen, ein eigenes Schulfach „Mehrsprachigkeit“ und/ oder „herkunftssprachlicher Unterricht“ zu etablieren, finden sich darüber hinaus auch Vorschläge wie Forderungen eines mehrsprachigkeitssensiblen Fachunter‐ richts: Erfahrungen der Mehrsprachigkeit führen zu vertiefter Sprachkompetenz und Sprach‐ bewusstheit. Sie sind Teil der Arbeit in allen Kompetenzbereichen des Faches und unterstützen somit interkulturelles Lernen und soziale Verständigung. Diese Ausbil‐ dung sprachlicher Fähigkeiten muss auch in den anderen Fächern bewusst gestärkt und weiterentwickelt werden. Vor allem Schülerinnen und Schüler mit Migrations‐ hintergrund, aber auch die mit Lernschwierigkeiten werden durch ein möglichst breit angelegtes sprachliches Lernen nachhaltig unterstützt […]. (KMK 2004: 7) Rösch (2017) fordert daher einen Fachunterricht, der „Mehr Sprachliche Bil‐ dung“ ermöglicht und somit auf Formen der sprachlichen Heterogenität, wie gesellschaftliche und individuelle Mehrsprachigkeit, reagiert: Mehr sprachliche Bildung zielt im Unterschied zu mehrsprachigen oder bilingualen Bildungsangeboten nicht auf die Kompetenz in zwei oder mehr Sprachen, sondern sensibilisiert für Multi-, Trans- und Interlingualität idealerweise in jedem Fachunter‐ richt. Im Sinne einer Linguizismuskritik wendet sich der Ansatz gegen das Prinzip der Einsprachigkeit und öffnet den Blick für Pluralität und Interdependenz in und zwischen Sprachen. (Rösch 2017: 173) Dabei ist ein solcher Unterricht beispielsweise für den Deutsch- und den Fremd‐ sprachenunterricht vorgeschlagen worden. Zu den einflussreichsten Konzepten zählt sicherlich die Vielsprachigkeitsdidaktik von Ingelore Oomen-Welke, die 49 Einbindung von nicht-landessprachlichen Herkunftssprachen in den Deutschunterricht u. a. in unterrichtsnahen Publikationen wie dem „Sprachfächer“ eine weite Verbreitung erfahren hat. Die Vielsprachigkeitsdidaktik bezieht systematisch nicht-deutsche Herkunftssprachen mit dem Ziel interkultureller und sprachli‐ cher Bewusstheit in den landessprachlichen Deutschunterricht ein und soll u. a. einen Beitrag zur sozialen Wertschätzung mehrsprachiger Schülerinnen und Schüler leisten. Zumindest aus Sicht des Deutschunterrichts sprechen vier Argumente für einen herkunftssprachenberücksichtigenden Fachunterricht. Erstens eignen sich nicht-deutsche Herkunftssprachen für distanzdidaktische Ansätze in be‐ sonderem Maße, indem durch den Vergleich zweier Sprachen der Blick auf grammatische Strukturen des Deutschen distanziert in Kontrast zu einer an‐ deren Sprache erfolgen kann. Aus diesem Grund profitieren auch monolinguale Schülerinnen und Schüler von der unterrichtlichen Einbindung der Herkunfts‐ sprachen, indem auch ihnen eine Distanzgewinnung zum Deutschen ermöglicht wird. Zweitens erlaubt der Einbezug nicht-deutscher Herkunftssprachen in den Deutschunterricht eine soziale Wertschätzung derjenigen, die mit einer nicht-deutschen Herkunftssprache sozialisiert wurden. Sie können als Exper‐ tinnen und Experten Auskunft zu sprachlichen und kulturellen Sachverhalten geben, die ihren Mitschülerinnen und Mitschülern nicht gleichermaßen zugäng‐ lich sind (Oomen-Welke 2011). Drittens kann der Einbezug nicht-deutscher Herkunftssprachen zu unterrichtlichen Ergebnissen führen, die ohne ihn nicht möglich wären: Der Vergleich bietet Einsichten in den Bau der Sprache, die bei einer rein einzelsprachlichen Fokussierung auf das Deutsche verborgen blieben (Rothstein 2010). Viertens kann der Einbezug der Herkunftssprache auch eine Lernhilfe darstellen, indem auf sie an relevanten unterrichtlichen Stellen zur Klärung von Unterrichtsthemen zurückgegriffen wird. Demnach gibt es gute Gründe für das Angebot eines herkunftssprachenbe‐ rücksichtigenden (Deutsch-)Unterrichts, doch birgt ein solcher Unterricht durch eine fehlgeleitete, unreflektierte Ansprache auch die Gefahr, die betreffenden am Unterricht teilnehmenden Herkunftssprachensprecherinnen und -sprecher zu überfordern, zu blamieren und/ oder zu stigmatisieren. Es sind daher inhalt‐ lich gewinnbringende, für die Befragten erfolgreiche und wertschätzende Stra‐ tegien der unterrichtlichen Einbindung von Herkunftssprachen erforderlich. Bisher liegen hierzu jedoch weder auf der Ebene von Plausibilitätsdidaktiken noch durch empirische Studien (kaum/ nur wenige) Vorschläge vor. Im Folgenden werde ich Bedingungen für die deutschunterrichtliche Einbin‐ dung von Herkunftssprachen diskutieren. Dazu stelle ich im zweiten Abschnitt zunächst den forschungsmethodischen Zugriff, die Kasuistik, vor, um im dritten Abschnitt fallbasiert sieben Bedingungen zu formulieren, denen die deutsch‐ 50 Björn Rothstein unterrichtliche Einbindung der Herkunftssprachen unterliegt. Im vierten Ab‐ schnitt systematisiere ich diese Bedingungen anhand des didaktischen Dreiecks. 2 Kasuistik als hier notwendiger methodologischer Zugriff Allgemein ist die empirische sprachdidaktische Forschung zum Deutschunterricht noch recht überschaubar (Stahns 2013, Jost 2019), wobei sich die Lage zu den einzelnen sprachdidaktischen Kompetenzbereichen unterscheidet: Während die Schreib- und die Lesedidaktik auf zahlreiche Studien und Modellierungen zurück‐ blicken können (vgl. den Überblick in Becker-Mrotzek, Grabowski / Steinhoff 2017), ist die Anzahl empirischer Arbeiten in den Bereichen Grammatikdidaktik bzw. Sprachreflexion noch relativ gering (Binanzer / Langlotz 2018, Funke 2018). Die bisher weitgehend fehlende empirische Erforschung der unterrichtlichen Einbeziehung von Herkunftssprachen lässt sich jedoch nur zum Teil durch diesen die Empirie marginalisierenden Trend erklären. Vielmehr scheint es der Fall zu sein, dass aufgrund der Fragestellung und den vielen verschiedenen daraus resultierenden Einflussfaktoren ein kontrolliertes Design in der Gesamtperspek‐ tive nur schwierig durchführbar ist. Wie ich weiter unten argumentiere, spielen für eine erfolgreiche unterrichtliche Einbindung von Herkunftssprachen u. a. die schülerseitigen herkunftssprachlichen Wissensbestände und die jeweiligen typologischen Merkmale der Herkunftssprache eine bedeutsame Rolle. Bedenkt man nur, dass sprachliches Wissen u. a. von Aspekten der Sprachbiografie, des Erwerbsverlaufs, der Literalisierung, des Schriftspracherwerbs, der Ein-, Zwei- oder Mehrsprachigkeit, des Sprachkontakts, der Inputfrequenz etc. abhängt und dass die Liste sprachtypologischer Merkmale relativ groß ist, so wird deutlich, dass zumindest mittelgroße empirische Vorhaben durch die Komplexität relevanter, miteinander interagierender Einflussfaktoren überfordert wären. Um dennoch meine folgenden Überlegungen plausibilisieren zu können, fahre ich daher einen kasuistischen Ansatz. Kasuistische Ansätze haben in der Geschichte der Wissenschaften, insbe‐ sondere in der Medizin und Jura, aber auch in der Pädagogik und Didaktik eine bemerkenswert lange Tradition (vgl. die Darstellung in Düwell / Pethes 2014). In Anlehnung an Steiner (2014) verstehe ich unter Fallarbeit bzw. Kasuistik „eine an Fällen orientierte Vorgehensweise des Lernens, Lehrens, Untersuchens und Forschens, die auf Erziehungs- und Bildungsprozesse im Kontext von Schule und Unterricht fokussiert ist und zum Zwecke der Veran‐ schaulichung, Analyse, Rekonstruktion, Entscheidungsfindung, Planung, Ent‐ wicklung, Reflexion oder ästhetischen Rezeption eingesetzt wird“ (Steiner 2014: 8). In den Bildungswissenschaften und der Pädagogik ist die Kasuistik als 51 Einbindung von nicht-landessprachlichen Herkunftssprachen in den Deutschunterricht Lehr-Lern-Methode beispielsweise in Konzepten wie dem gedächtnispsycholo‐ gischen Case-based-reasoning-Ansatz (Zumbach / Haider / Mandl 2008), im situierten Lernen (Fölling-Albers et al. 2004), im problemorientierten Lernen (Reusser 2005) oder im pragmatisch-semiotischen Ansatz (Steiner 2004) aufge‐ griffen worden. Der einzelne Fall und allgemeine Gesetzmäßigkeiten stehen dabei in einem Wechselverhältnis, in dem das Allgemeine über den Einzelfall hinausgehen und an andere Fälle transferierbar anschließen kann und/ oder der Einzelfall über das Allgemeine hinausgehen kann (Forrester 2014). Auch in der Deutschdidaktik hat die Kasuistik als Form der gegenstandso‐ rientierten Hermeneutik eine lange Tradition, die mit der Orientierung an „didaktischem Brauchtum, am Rezeptwissen“ von Ausbildern und Unterrichts‐ praktikern beginnt (Rothstein / Rupp 2017: 34) und erst durch die PISA-Studie in den 2000er Jahren durch neue deutschdidaktische, von den empirischen Sozial- und Bildungswissenschaften beeinflusste Forschungstraditionen (in einem heftigen Streit) Konkurrenz erhält (vgl. die Beiträge in Abraham et al. 2003). Noch heute dauert die Kontroverse an: Holzschnittartig könnte man folglich von einem - im Vergleich zu früheren, eher homogen strukturierten Epochen der germanistischen Sprach- und Literaturdidaktik - deutlich wahrnehmbaren Schisma zwischen Gegenstands- und Kompetenzorientie‐ rung sprechen. (Rothstein / Rupp 2017: 35) Die kompetenzorientierte deutschdidaktische Unterrichtsforschung orientiert sich zumeist an empirischen Methoden der Sozial- und Bildungswissenschaften, deren Anwendung zu Ausmessungen von Lerneffekten führt. Die Messbar‐ keit und Modellierung entsprechender unterrichtlich bedingter Effekte wird durchaus kontrovers diskutiert (Bredel 2014, Bremerich-Vos 2014), was zu ihrer teilweise massiven Ablehnung führt. Die Kasuistik ist prinzipiell kein Widerspruch zur Kompetenzorientierung, sie kann sich durchaus auf mess‐ bare Lerneffekte beziehen, indem an exemplarischen Einzelstudien Lernzuw‐ ächse gemessen werden: Das ist beispielsweise bei qualitativen introspektiven nicht-verallgemeinerbaren Studien der Fall. Zu einem beträchtlichen Teil spielen schülerseitige Lernzuwächse bei kasuistischen Studien jedoch keine sonderliche Rolle, stattdessen: Sachhaltig wird an spezifischen Fällen gezeigt, nach welchen Regeln sich alltäglicher Unterricht gestaltet, welche Prozesslogik ihn bestimmt und welche Handlungsalterna‐ tiven sich bei jeder Entscheidungsstelle potenziell ergeben. (Pflugmacher et al. 2009: 373) Prinzipiell schließen sich die empirische quantitative oder qualitative Forschung und die gegenstandsorientierte Hermeneutik nicht aus (Rothstein / Rupp 2017), 52 Björn Rothstein sondern können einander ergänzen, insbesondere in Fällen wie unserem, in denen Lernzuwächse nicht ohne Weiteres kontrollier- und messbar sind und in denen es zunächst um lehrerseitiges unterrichtliches Verhalten geht, wofür „Handlungs- und Deutungspraktiken zu rekonstruieren und zu prüfen“ (Pieper 2014: 9) sind. Die im Folgenden kasuistisch angelegte Vorgehensweise lehnt eine kompetenzorientierte, empirische Messung nicht ab, sondern lädt geradezu ein. Wie ich oben bereits diskutiert habe, eignet sich die Kasuistik in besonderem Maße zur Ermittlung von herkunftssprachlichen Einbindungsmöglichkeiten in den Deutschunterricht. Es stellt sich jedoch berechtigterweise die Frage, welche Art von Kasuistik der Fragestellung gerecht wird. Steiner (2014) unterscheidet zwischen sieben „Kasuistikfamilien“, die er nach Lehr-Lern-Arrangement, Ver‐ wendungsabsicht, Autorschaft, Realitätsbezug, Zweck der Bearbeitung und Grad der Lernerautonomie differenziert. Es resultieren z. B. Vorlesungen oder Seminare mit Fallbeispielen oder Formen einer praxisreflektierenden Kasu‐ istik, in denen Studierende retrospektiv selbst erlebte Fälle bearbeiten. Damit kombiniert Steiner (2014) die lehrbzw. lernseitige hochschulische Fallarbeit mit universitären Lehr-Lern-Kontexten und dem Fall selbst. Für die Analyse entsprechender lehramtsausbildender Lehrformate erscheint dies sinnvoll, ist jedoch für die hier verfolgte Fragestellung irrelevant. Stattdessen gilt es, eine rein fallbezogene Perspektive einzunehmen und zwischen Fällen mit Reali‐ tätsbezug, Extension und Repräsentationsform zu unterscheiden. In der allge‐ meinen Kasuistik wird traditionell zwischen realen, fiktiven und gemischten realitätsbezogenen Fällen unterschieden (vgl. Düwell / Pethes 2014 und Steiner 2014). Reale Fälle haben sich tatsächlich so ereignet, fiktive Fälle sind erfundene bzw. konstruierte „Erzählungen“ und gemischte Fälle kombinieren beides. Insbesondere in der Jurisprudenz und der Medizin spielt die Transferierbarkeit von Fällen in Form des exemplarischen Lernens eine besondere Rolle: Diese letztlich seit der Antike verhandelte Ausdifferenzierung in vollständig, teilweise und nicht transferierbare sowie in allgemeingültige Fälle (vgl. Aristoteles) hat wissenschaftsgeschichtlich eine virulente Rolle gespielt (vgl. z. B. die Arbeiten von John Stuart Mill, nach dessen Ansicht nur der einzelne Fall ein verlässliches Datum ist). Rezente wissenschaftstheoretische Arbeiten sehen eine Verbindung zwischen dem Allgemeinen und dem Einzelfall in seiner paradigmatischen Übertragbarkeit (Forrester 2014). Bis heute ist das Verhältnis von Einzelfall und Allgemeinem nicht abschließend geklärt. Mögliche Repräsentationsformen sind z. B. Erinnerungen, Transkripte von Unterrichtssituationen und Videographien von Unterricht, in deren deutschdidaktischem Zusammenhang vor allem die Pionierarbeiten von Wolfgang Boettcher zu nennen sind. 53 Einbindung von nicht-landessprachlichen Herkunftssprachen in den Deutschunterricht Im Folgenden fahre ich einen kasuistischen Ansatz mit teilfiktiven Erzäh‐ lungen. Diese Erzählungen plausibilisiere ich durch den systematischen Ein‐ bezug linguistischer Forschung zur Sprachtypologie, zum Spracherwerb, zur Migration und zum Sprachkontakt, indem ich von konstruierten Fällen ausgehe, die auf linguistischen Gegebenheiten beruhen. Dabei zeigt sich ein weiteres Mal die Bedeutsamkeit linguistischer Grundlagenforschung für die Sprachdidaktik Deutsch (vgl. Rothstein 2010 für eine ausführlichere Argumentation). Ich be‐ wege mich damit ungefähr im Terrain, der von Steiner (2014: 6) als problem- oder entscheidungsorientiert und praxisreflektierend bezeichneten Kasuistik, hier allerdings auf die Ebene des Falls bezogen. Im folgenden Abschnitt plausibilisiere ich zunächst rein kasuistische Bedin‐ gungen zur Einbindung von Herkunftssprachen in den landessprachlichen Deutschunterricht, um sie im Abschnitt vier zu systematisieren. 3 Bedingungen für die deutschunterrichtliche Einbindung von Herkunftssprachen Die Einbindung von nicht-landessprachlichen Herkunftssprachen in den lan‐ dessprachlichen Deutschunterricht ist abhängig von der zugrundeliegenden didaktischen Zielstellung. Grob lassen sich drei mögliche didaktische Konzepte unterscheiden: Sprachmittelnde Ansätze verweisen auf Herkunftssprachen als Lernhilfe, um Strukturen und Phänomene des Deutschen durch Rückgriff auf bereits in den Herkunftssprachen erworbene Elemente leichter erlernen zu können. Damit bewegen sich diese sprachmittelnden Ansätze im Bereich des sprachlichen Transfers, den sich die Tertiärsprachendidaktik bereits seit Längerem zu Nutze macht (u. a. Leitzke-Ungerer 2005). Interkulturelle Ansätze fokussieren kulturelle Aspekte der Herkunftsspra‐ chen in Bezug auf das Deutsche; ihr Ziel ist die soziale unterrichtliche Wertschät‐ zung und Erweiterung sprachlicher und (inter-)kultureller Kompetenzen der Herkunftssprachensprecher. Im folgenden Fall (i) von Ingelore Oomen-Welke lässt sich belegen, dass sich onomastische Rekrutierungspraktiken übereinzel‐ sprachlich und interkulturell ähneln (vgl. Nübling et al. 2012): Werden unter‐ richtlich Beispiele wie „de waagemaker“, „de koopmann“ und „de kuiper“ (allesamt Niederländisch) bzw. der Wagenmacher, der Kaufmann und der Küfer thematisiert, die sowohl Berufsals auch Familiennamen sind, lässt sich die Gewinnung von Familiennamen übereinzelsprachlich belegen. Nimmt man Ausdrücke wie „servant“, „snyder“, „shoemaker“ etc. hinzu, so lassen sich klare lexikalische Rekrutierungstendenzen für Familiennamen belegen 54 Björn Rothstein (Oomen-Welke et al. 2007). Weitere herkunftssprachliche Beispiele lassen den engen Zusammenhang zwischen Kultur und Sprache erahnen. Sprachreflexiven Ansätzen geht es darum, „Einsichten in den Bau“ und in das „Funktionieren der Sprache“ zu erreichen, die ohne den Einbezug von Herkunfts‐ sprachen bzw. allgemein von fremden Sprachen nicht oder nicht ohne Weiteres möglich wären oder die durch den Sprachvergleich besonders gut didaktisierbar sind. Im folgenden Fall (ii), der aus Behr (2011: 83) entnommen ist, werden flexionsmorphologische Infinitivmarkierungen dargestellt. Gegeben werden die deutschen Infinitive sprechen, spielen, lernen, die englischen Grundformen (to) run, (to) borrow, (to) think, die lateinischen Grundformen spectare, legere, ridere und die französischen Infinitive rendre, sentir, cacher. Die zugrundeliegende Frage lautet dabei, wodurch sich die Infinitive einzelsprachlich erkennen lassen. Durch den Sprachvergleich zeigt sich, dass es einzelsprachlich nicht nur eine, sondern mehrere morphologisch distinkte Infinitivmarker gibt (Französisch u. a. -er, -oir, -re) und dass die Infinitivmarkierung synthetisch (etwa im Deutschen, Französischen und Latein) oder analytisch wie im Englischen erfolgen kann. Im Deutschen ist dies nur -en bzw. -n (Thieroff / Vogel 2009: 10). Es ist durchaus denkbar, dass die sprachmittelnden, die interkulturellen und die sprachreflexiven Ansätze kombiniert werden; zum Teil dürften die Trennlinien ohnehin nicht immer scharf gezogen werden können. Im Fall (iii), einer lexikalischen unterrichtlichen Situation, kann die Behandlung von Interlexemen sowohl sprachmittelnd, interkulturell als auch sprachreflexiv er‐ folgen. Sprachmittelnd können Interlexeme z. B. beim Wortschatzausbau helfen (vgl. Meißner 2000). Interkulturell können sie bezogen auf die Zuschreibung eines Sachverhalts oder Gegenstands zu einer Kultur reflektiert werden. Die unterrichtliche Arbeit mit Interlexemen ermöglicht zudem Reflexionen über Entlehnungsprozesse und Sprachkontakt (vgl. Meißner 2000). Bedingung 1: Die Einbindung von Herkunftssprachen in den Deutschun‐ terricht hängt von der didaktischen Zielsetzung ab. Die didaktische Zielsetzung interagiert mit sprachtypologischen Aspekten. Die Relevanz sprachtypologischer Merkmale für die reflektierende Einbindung der Herkunftssprache(n) zeigt sich z. B. im Fall (iv), wenn ein Schüler oder eine Schülerin mit Portugiesisch als Herkunftssprache nach der Plusquamper‐ fekt-Auxiliarselektion gefragt wird: Portugiesisch bildet das Plusquamperfekt nicht periphrastisch (Schmitt 2001), daher ist die Frage falsch gestellt. 55 Einbindung von nicht-landessprachlichen Herkunftssprachen in den Deutschunterricht Bedingung 2: Die Einbindung von Herkunftssprachen in den Deutschun‐ terricht hängt von sprachtypologischen Merkmalen der auf das Deutsche zu beziehenden Sprache ab. Die relevanten sprachtypologischen Merkmale und didaktischen Ansätze hängen mit den unterrichtlich zu behandelnden sprachlichen Ebenen der Einzel‐ sprache(n) zusammen, je nachdem ob Aufgaben zu ihrer Phonetik, Phonologie, Graphematik, Morphologie, Syntax, Semantik, Pragmatik etc. erfolgen. Ein sprachmittelnder Ansatz, der sich im Fall (v) auf das Russische im Vergleich zum Deutschen bezieht, eignet sich aufgrund des im Russischen verwendeten kyrillischen Alphabets zumindest dann nicht, wenn es um die Vermittlung der lateinischen Buchstaben geht. Semantisch eignet sich der progressive Aspekt des Russischen zur Sprachmittlung bzw. -reflexion der rheinischen Verlaufsform allerdings sehr wohl. Syntaktisch und morphologisch unterscheiden sich die rheinische Verlaufsform und der russische Progressiv jedoch. Bedingung 3: Die Einbindung von Herkunftssprachen in den Deutschun‐ terricht hängt von den adressierten sprachlichen Merkmalen ab. Sprachliche Kompetenzen werden in der Regel durch personenbezogene Hin‐ tergrundmerkmale bedingt. Dazu zählen z. B. der Status als Erst-, Zweit- oder Fremdsprachler, die Sprachbiographie, der Literalisierungsgrad und der Grad des erfolgten Schriftspracherwerbs. Für den deutschunterrichtlichen Einbezug sind sie sowohl schülerwie lehrerseitig relevant: Nur Lehrkräften, die über ausreichend strukturelles Hintergrundwissen zu den Herkunftssprachen ihrer Schülerinnen und Schüler verfügen, kann ihr sachadäquates unterrichtliches Einbinden gelingen. Damit ist nicht gemeint, dass die Lehrkräfte die jeweiligen Sprachen selbst beherrschen müssen, sondern dass sie über metasprachliche Kenntnisse über die jeweiligen sprachlichen Strukturen und Besonderheiten verfügen. Folgender Fall (vi) soll dies belegen: Wer als Lehrkraft in einer deutschun‐ terrichtlichen Behandlung das Modussystem anderer Sprachen reflexiv einbe‐ ziehen möchte, muss mindestens wissen, dass es Sprachen mit und ohne morphologisch distinkten Konjunktiv gibt (vgl. die Beiträge in Rothstein / Thieroff 2010). Eine Frage des Typs „Was drückt der Konjunktiv im Italienischen aus? “ verbietet sich aufgrund des dort fehlenden morphologisch distinktiven Konjunktivs. Italienisch bedient sich der Consecutio Temporum, der syntaktisch 56 Björn Rothstein geregelten Distribution von Verbformen in bestimmten Kontexten, die ihm modale Lesarten erlauben (Squartini 2010). Anders gesagt: Im Italienischen besorgen Tempora in bestimmten Verwendungen den Job, den der Konjunktiv im Deutschen hat. Ein reflektierender Vergleich zwischen dem italienischen und dem deutschen Modussystem kann also nicht einen morphologisch distinktiven Konjunktiv zum Gegenstand haben, sondern muss bei den (relevanten) Funk‐ tionen ansetzen, die übereinzelsprachlich belegbar sind und diejenigen Formen identifizieren, die sie bedienen (vgl. Rothstein 2010 für ein entsprechendes Vorgehen beim deutsch-französischen Vergleich). Die Einbindung des Italieni‐ schen gelänge, wenn Consecutio Temporum und der deutsche Konjunktiv ver‐ glichen würden. Dass ein solches Vorgehen auch hohe schülerseitig zu erbrin‐ gende Vorkenntnisse erfordert, sollte deutlich sein. In diesem Zusammenhang sollte die schülerseitige herkunftssprachliche Sozialisation sehr differenziert betrachtet werden, z. B. kann nicht zwingend davon ausgegangen werden, dass die Herkunftssprache auch in der dritten Generation nach der Einwanderung weitergegeben wurde und ob sie daher schülerseitig „vollständig“ beherrscht wird bzw. ob eine Identifikation mit ihr besteht. Bedingung 4: Personenbezogene, schülerwie lehrerseitige Hintergrund‐ merkmale bedingen die Möglichkeiten der Einbindung von Herkunftsspra‐ chen in den Deutschunterricht. Wurden die Schülerinnen und Schüler nicht oder nicht ausreichend schrift‐ sprachlich in ihren Herkunftssprachen sozialisiert, so kann die schriftliche Einbindung ihrer Sprachen nicht gelingen. Sind sie wie im Fall (vii) nicht in der Lage, in ihrer Sprache zu lesen, so sind alle Versuche, sie zur De‐ kodierung relevanter schriftlicher Strukturen zu bringen, zum Scheitern ver‐ urteilt. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn das herkunftssprachliche Schriftsystem stark vom deutschen Schriftsystem abweicht. Haben die Her‐ kunftssprache und das Deutsche das gleiche Buchstabeninventar und ähneln sich die Graphem-Phonem-Korrespondenz-Regeln stark, so sind schülerseitige selbständige Transferleistungen aus dem Deutschen auf das herkunftssprach‐ liche Schriftsystem eher möglich als in Fällen mit geringer Übereinstimmung (vgl. etwa Harweg 1989 für schriftsystematische Zusammenhänge zwischen verschiedenen europäischen Sprachen). Im Fall (viii) könnte sich folglich ein Schüler selbst eher das Lesen in seiner finnischen Herkunftssprache in Form von Transfer durch seine Lesekompetenzen des Deutschen beibringen als ein Schüler mit Russisch als Herkunftssprache, das eine andere Alphabetschrift 57 Einbindung von nicht-landessprachlichen Herkunftssprachen in den Deutschunterricht als das Deutsche hat (vgl. Harweg 1989). In diesem Fall (ix) bedürfte es einer familiären, privaten oder institutionellen Unterstützung bzw. Anleitung, um herkunftssprachliche Lesekompetenzen zu entwickeln, oder zumindest der Bereitstellung von Materialien, um selbständig lesen zu können. Folglich muss gelten: Bedingung 5: Die mediale Präsentation der Herkunftssprachen (schriftlich vs. mündlich) regelt ihre Einbindungsmöglichkeiten in den Deutschunter‐ richt. Ein weiterer relevanter Faktor ist die Art der schülerbezogenen Adressierung und das damit verbundene kommunikative Ziel der Einbindung der Herkunfts‐ sprachen: Werden die betreffenden Schülerinnen und Schüler als Expertinnen und Experten, lediglich als Informantinnen und Informanten oder gar als „Abweichlerinnen und Abweichler“ befragt? Die Rolle als „Abweichlerin und Abweichler“ ist stigmatisierend und kann durch Bemerkungen des Typs „bei Euch in eurer Sprache ist eh alles anders“ ent‐ stehen. Sie sollte nicht nur aus pädagogischen Gründen vermieden werden und scheint besonders in Fällen stigmatisierter Sprachen und Sprechergruppen der Fall zu sein. Brizić / Lo Hufnagl (2018) diskutieren beispielsweise Aussagen von österreichischen Lehrkräften zu Schülerinnen und Schülern mit Kurdisch und Romani, zwei Sprachen, die „lange Phasen der Verfolgung und Stigmatisierung durchliefen: das Kurdische u. a. in der Türkei, das Romani u. a. im ehemaligen Jugoslawien und Nachfolgestaaten“ (Brizić / Lo Hufnagl 2018: 224). Deutlich wird, dass die interviewten Lehrkräfte Herkunftssprachen nur in bestimmten Konstellationen positiver betrachten. Die Unterscheidung zwischen Expertin bzw. Experte und Informatin bzw. Informant hängt von der Art des schülerseitigen Zugriffs auf sprachliches Wissen ab. Sprachliches Wissen ist das „Ausmaß an Zugänglichkeit von sprachlichen Kenntnissen“ (Funke / Andresen 2003: 439), das je nach Verba‐ lisierungsgrad unterschieden wird (u. a. Stude 2013, Krebs 2013): Explizites sprachliches Wissen ist „dasjenige Wissen, welches (im Gegensatz zum impli‐ ziten) bewusst zugänglich und verbalisierbar ist“ (Thißen 2017: 14). Seine Ver‐ balisierung ist auf mindestens zwei Arten möglich (Schuttkowski et al. 2015): Das nicht-fachsprachlich realisierte explizite sprachliche Wissen wird ohne linguistische Fachsprache verbalisiert (z. B. „Hüpferung hört sich komisch an“). Entsprechend wird fachsprachlich verbalisiertes explizites sprachliches Wissen unter Rückgriff auf Ausdrucksweisen und Termini der Sprachwissen‐ 58 Björn Rothstein schaft realisiert (z. B. „Die Nominalisierung Hüpferung verstößt gegen die deutschen Wortbildungsregeln“). Schülerinnen und Schüler, die unterrichtlich auf explizites bzw. implizites herkunftssprachliches Wissen zurückgreifen können, fungieren im Fall (x) als Expertinnen und Experten bzw. Informan‐ tinnen und Informanten: Bekanntermaßen hat das Russische keine Kopula im Präsens (Gagarina 2014: 232). Schülerinnen und Schüler mit russischer Herkunftssprache können durch den Vergleich mit dem Deutschen erkennen, dass in Sätzen wie „Peter wird Lehrer“ im Russischen kein Verb und folglich keine Kopula verwendet wird. Wenn sie dieses Wissen verbalisieren, kann dies fachsprachlich (z. B. im Russischen gibt es kein entsprechendes Verb) oder nicht-fachsprachlich („so was wie ‚wird‘ gibt es im Russischen nicht“) erfolgen. Als Expertinnen und Experten können auch solche Schülerinnen und Schüler im Fall (xi) fungieren, die über kein implizites herkunftssprachliches Wissen verfügen, aber in der Lage sind, fachsprachlich sprachliche Strukturen einer Herkunftssprache zu beschreiben, wenn ihnen das notwendige Daten‐ material zur Analyse der ausbleibenden Kopula „werden“ im Präsens in Form von Arbeitsblättern o. ä. zur Verfügung gestellt wird. herkunfts‐ sprachl. Wissen nicht-verbali‐ sierbar → implizit → InformantIn verbalisierbar → explizit fachsprach‐ lich → ExpertIn nicht-fach‐ sprachlich Tab. 1: Arten des herkunftssprachlichen Wissens und unterrichtliche Rolle Als Expertinnen und Experten befragte Schülerinnen und Schüler verfügen folglich über ein ausreichendes explizites sprachliches Wissen, um die er‐ fragten Strukturen bzw. Einheiten adäquat beschreiben bzw. ggf. erklären zu können. Wenn das Ziel die Zuweisung einer Expertenrolle ist, muss darauf geachtet werden, dass ein entsprechendes schülerseitiges Verhalten möglich wird und dass es nicht an Überforderung scheitert. Ähnliches gilt auch für ihre Rolle als Informantin und Informant: Wer nicht in seiner Herkunftssprache lesen kann, kommt nicht als Informantin und Informant für zu lesende Einheiten in Frage. 59 Einbindung von nicht-landessprachlichen Herkunftssprachen in den Deutschunterricht Bedingung 6: Die Adressierung der Herkunftssprachensprecherinnen und -sprecher als Expertinnen und Experten, Informantinnen und Informanten bzw. „Abweichlerinnen und Abweichler“ bestimmt die Möglichkeiten der herkunftssprachlichen Einbindung in den Deutschunterricht. Bei den Informantinnen und Informanten und denjenigen Expertinnen und Experten, die über ein implizites herkunftssprachliches Wissen verfügen, kann der unterrichtliche Zugriff auf ihre Herkunftssprachen zu schülerseitig rezeptiven und/ oder produktiven herkunftssprachlichen Beiträgen seitens der Schülerinnen und Schüler führen: Sie können sich mit eigenen Beispielen einbringen bzw. unterrichtlich vorgegebene, d. h. von der Lehrperson mitge‐ brachte Beispiele vorlesen, nachsprechen oder erläutern. In einem rezeptiven Arrangement werden herkunftssprachliche Beispiele unterrichtlich bereitge‐ stellt, z. B. durch entsprechende Materialien. Expertinnen und Experten ohne implizites herkunftssprachliches Wissen sind hingegen nur zu rezeptiven her‐ kunftssprachlichen Beiträgen in der Lage. Bedingung 7: Die Einbindung herkunftssprachlicher Daten in den Deutsch‐ unterricht kann rezeptiv und/ oder produktiv erfolgen Damit gelangt man zu folgendem Zusammenhang zwischen Arten des her‐ kunftssprachlichen Wissens, unterrichtlicher Schülerrolle und rezeptiver bzw. produktiver Einbindung: herkunftssprachl. Wissen nichtverb. → implizit → Infor‐ mantIn produktiv & rezeptiv verb. → explizit fachspr. → ExpertIn nur rezeptiv nicht-fachspr. Tab. 2: Arten des herkunftssprachlichen Wissens, (der) unterrichtliche(n) Rolle und (der) produktive(n) Einbindung 60 Björn Rothstein 4 Abschließende Überlegungen Wie hängen nun diese im vorhergehenden Abschnitt thematisierten Bedin‐ gungen zusammen? Wie lassen sie sich systematisch aufeinander beziehen und welche Konsequenzen resultieren aus ihren Kombinationsmöglichkeiten? Zur Beantwortung dieser Fragen bedarf es einer Modellierung, die unterschiedliche Ausgangspunkte einnehmen kann. Insgesamt lassen sich die Bedingungen aus Abschnitt drei zusammenfassen als jeweils schüler-, lehrer- und herkunftssprachenbezogene Gruppen. Die Bedingungen zwei und drei thematisieren Fragestellungen, die den Herkunfts‐ sprachen selbst, ihren typologischen Merkmalen und adressierten sprachlichen Ebenen zugrunde liegen. Die übrigen Bedingungen beziehen sich auf die am Unterricht beteiligten Schülerinnen und Schüler sowie ihre Lehrerinnen und Lehrer. Damit betreffen sie in einer klassischen didaktischen Modellierung die Pole Unterrichtsgegenstand, Lehrerinnen und Lehrer bzw. Schülerinnen und Schüler, wie sie in den verschiedenen Varianten des didaktischen Dreiecks dargestellt werden. Das didaktische Dreieck hat in der didaktischen Theorie‐ bildung eine lange Tradition, die nach Hudson & Meyer (2011: 18) in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beginnt bzw. die Zierer (2013: 209) bereits auf die Antike zurückführt. Im 20. Jahrhundert erlebte es zunächst eine erste Hochzeit, doch schon bald wurde es als zu simpel und trivial geschmäht (Sünkel 2002: 64). Mit Beginn der 1980er Jahre wurde es erneut aufgegriffen und insbesondere im Kontext der Internationalisierung von Allgemeiner Didaktik und Lehr-Lern-Forschung sowie im neuen Dialog dieser beiden „fremden Schwestern“ (Terhart 2005) als gemeinsamer kleinster Nenner aufgegriffen. Vielfach wird es - trotz aller Kritik (Gruschka 2002: 105) - als Ausgangspunkt für weiterführende Modellierungen didaktischer Theorien genutzt (u. a. Meyer 2005, Zierer 2013) und so soll es auch hier verstanden werden. In einer auf das Minimum reduzierten, nur auf die sprachlichen Merkmale ausgelegten, letztlich an das didaktische Dreieck angelehnten Form, bedeuten meine eben dargestellten Überlegungen den wechselseitigen Bezug von di‐ daktischem Konzept und damit verbundenen Lernzielen, den am Unterricht prinzipiell beteiligten Sprechern und dem Inhalt, d. h. der Sprache selbst. Die Wahl des didaktischen Konzepts lässt sich grob einteilen in sprach‐ mittelnde, sprachreflexive und/ oder interkulturelle Ansätze, die entweder her‐ kunftssprachliche Aspekte vermitteln oder reflektieren wollen und ggf. (zusätz‐ lich) auf interkulturelle Aspekte eingehen. Die Entscheidung, ob sprachmittelnd oder (sprach-)reflexiv gearbeitet werden soll, hängt zum einen von den schülerwie lehrerseitigen herkunftssprachlichen Voraussetzungen, zum anderen von 61 Einbindung von nicht-landessprachlichen Herkunftssprachen in den Deutschunterricht den Sprachen selbst ab. Bei ersteren entscheiden Hintergrundmerkmale, wie herkunftssprachliche Literalisierung, über die Möglichkeiten ihrer Adressie‐ rung (Informantin, Informant, Expertin, Experte etc.), ihres medialen Einbezugs (schriftlich oder mündlich) und ihres produktiven bzw. rezeptiven Zugriffs (haben sie beispielsweise ausreichend „Sprachgefühl“ in ihrer Herkunftssprache oder sollen Materialien zur Verfügung gestellt werden? ). Im Falle der unter‐ richtlich zu behandelnden Sprachen spielen sprachtypologische Merkmale (z. B. Vergleich zwischen agglutinierender und fusionierender Sprache) sowie die adressierte linguistische Ebene (Phonologie, Syntax etc.) eine Rolle. Wir gelangen zu folgender Darstellung: Abb. 1: Bedingungsfaktoren für die Einbindung von Herkunftssprachen in den Deutsch‐ unterricht Nimmt man die oben formulierten Bedingungen an die deutschunterrichtliche Einbindung von Herkunftssprachen und damit die Möglichkeit eines herkunfts‐ spracheneinbindenden Deutschunterrichts ernst, so ergeben sich Konsequenzen für die Deutschdidaktik, die Entwicklung von Curricula, die Lehrerausbildung und die Vermittlung von Lehrerprofessionalität. Deutschdidaktisch gilt es, diejenigen Unterrichtsinhalte und Kompetenzbereiche zu identifizieren, in denen die herkunftssprachliche Einbindung besonders gewinnbringend ist. Im vorliegenden Beitrag wurde aus fachlicher Perspektive nur für den Bereich der Sprachreflexion argumentiert, wobei auch die Bereiche Umgang mit Texten, Schreiben und Sprechen/ Zuhören einzubeziehen sind. 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Im vorliegenden Aufsatz werden zunächst die phraseologischen Grundbegriffe zur Abgrenzung des Untersuchungsgegenstands behandelt. Anschließend wird mit Schwerpunkt auf dem DaF-Unterricht auf zentrale Aspekte der Phraseodidaktik eingegangen. Diese beziehen sich auf die fundierte Auswahl eines phraseologi‐ schen Grundwortschatzes, seine didaktische Aufbereitung und die Bestimmung einer angemessenen Lernprogression. 2 Zur Entwicklung der Phraseologieforschung Die Phraseologieforschung erfuhr seit den 1980er Jahren eine rasante Ent‐ wicklung im deutschsprachigen Raum und etablierte sich als eigenständige Disziplin innerhalb der Linguistik. „Dank der intensiven und auf immer brei‐ terer theoretischer Basis durchgeführten Forschung ist die Phraseologie“ laut Hessky (2007, 15) „aus einem marginalen zu einem zentralen Thema und zu einem international relevanten Anliegen der Sprachforschung geworden.“ Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Phrasemen führte zur Ausdifferenzie‐ rung der Forschungsfelder innerhalb der Phraseologie und zur Kristallisierung verschiedener Forschungsrichtungen, die aufgrund der Vielschichtigkeit des Untersuchungsgegenstands zunehmend interdisziplinär angelegt sind. Ein An‐ wendungsbezug der Phraseologie lässt sich vorwiegend in der Fremdsprachen‐ didaktik, der Lexikographie, der Computerlinguistik und der Übersetzungswis‐ senschaft belegen. 3 Zum Untersuchungsgegenstand der Phraseologie Ein Grund für die Vernachlässigung der Phraseologie in der linguistischen Forschung ist, dass sie im Unterschied zu den meisten Grammatikschulen nicht streng zwischen Lexik und Syntax unterscheidet. Hinzu kommt, dass sie keine paradigmatischen Muster behandelt, die das Ergebnis freier Selektion sind, sondern in erster Linie syntagmatische Muster in den Mittelpunkt stellt, die sich kaum modellieren lassen (Sinclair 2008, xvi). Sie übernimmt eine holistische Betrachtungsweise, die nach Sinclair (2008, xv) zu ihrer Ausgrenzung führt: „[…] there is a penalty for adopting a holistic strategy; there is no place for phraseology in the traditional apparatus of language analysis, so it is often just ignored.“ Insbesondere in der traditionellen generativen-Transforma‐ tionsgrammatik führte die Vernachlässigung der semantischen Komponente und die ausschließliche Konzentration auf grammatische Gesichtspunkte zur Ausgrenzung von Phrasemen und ihrer Charakterisierung als normwidrige sprachliche Erscheinung. In der modernen Linguistik gelten Phraseme als ein nicht wegzudenkender Bestandteil der geschriebenen und gesprochenen Kommunikation. Dies be‐ legen Studien, die vor dem Hintergrund technologischer Fortschritte und der Hinwendung der Linguistik zur gebrauchsorientierten Sprachbeschreibung umfangreiche Sprachkorpora für linguistische Forschungsfragen instrumentali‐ sieren. Jüngere korpusorientierte Untersuchungen im Bereich der Phraseologie zeigen die Dominanz der formelhaften bzw. wiederholten Rede gegenüber der freien regelgeleiteten Sprachproduktion auf (Sinclair 2004, 2008; Steyer 2018). Zudem machen datenorientierte Vorkommensanalysen statistisch signifi‐ kante Kookkurrenzen transparent, die nicht als phraseologisch wahrgenommen wurden (Granger / Paquot 2008, 38). Die korpusbasierte Betrachtungsweise führte zur Erweiterung des Untersuchungsgegenstands der Phraseologie auf syntagmatische Ausdruckseinheiten, deren Kombinationsverhalten sich als mehr oder weniger stabil herausstellt. Dementsprechend stellen Texte weniger das Ergebnis freier Selektion dar, sondern entstehen vielfach auf der Basis vorgefertigter lexikalischer Einheiten. Vor diesem Hintergrund handelt es sich bei zahlreichen Wortverbindungen um feste Ausdruckseinheiten, deren lexikali‐ sche Komponenten nicht frei gewählt, sondern als Ganzes reproduziert werden. Die Feststellung, „dass der Wortschatz einer Sprache zu einem beträchtlichen Teil aus Einheiten besteht, die über das Einzelwort hinausgehen“ ist nach 70 Marios Chrissou 1 Zum Konzept der Vorgeformtheit und zu den Ausprägungen sprachlicher Muster in der deutschen Gegenwartssprache siehe Steyer (2018) und Stein / Stumpf (2019). Bahns (2004, 202) „erst durch die Korpusanalysen zur belegbaren Gewissheit geworden.“ In diesem Sinne hat die freie Selektion den Status einer Ausnahme, während sich die Restriktion als herrschendes Prinzip im Sprachgebrauch herausstellt. 1 4 Terminologische Vielfalt Aufgrund des relativ jungen Alters der Phraseologieforschung, der verschie‐ denen Forschungstraditionen und der Mehrdimensionalität des Untersuchungs‐ gegenstands existieren zur Bezeichnung phraseologischer Erscheinungen meh‐ rere Termini nebeneinander. Die Termini „Phraseologismus“, „phraseologische Einheit“, „feste Wortverbindung“, „Phrasem“, „formelhafte Wendung“, „Mehr‐ wortlexem“, „Wortgruppenlexem“, „Phraseolexem“, „Idiom“, „Redewendung“, „fixiertes Wortgefüge“ und „sprachlicher Schematismus“ sind nur einige davon. Auch im Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen (Europarat 2001) lässt sich unreflektierte Übernahme von Termini feststellen: Bezeich‐ nungen wie „Satzformeln“, „idiomatische Wendungen“, „feststehende Muster“ bzw. „Phrasen“, „feste Kollokationen“, „Redewendungen“, „Aussprüche“, „Zi‐ tate“ und „sprichwörtliche Redensarten“ werden undifferenziert verwendet und suggerieren eine unnötige Komplexität, die der aktuellen Phraseologiefor‐ schung kaum gerecht wird. Burger et al. (2007, 3) schlagen die einheitliche Verwendung des Terminus „Phrasem“ für den engeren Bereich der Phraseologie in Analogie zu den Termini Phonem, Morphem, Lexem und Textem vor. Bei einer weiten Konzeption schlägt das Autorenteam vor, auf andere Termini als Ober‐ begriffe, wie z. B. „Phraseologismus“ oder „formelhafte Sprache“, auszuweichen. 5 Begriffsbestimmung Die Gegenstandsbestimmung der Phraseologie als linguistischer Disziplin ist von den zugrunde gelegten Kriterien abhängig. Bei aller Divergenz zwischen den einzelnen Definitionen besteht weitgehend Konsens über die Selektionskri‐ terien der Phraseme. Darunter werden in der Phraseologieforschung usuelle mehrgliedrige Wortverbindungen mit Lexemstatus und einer relativ großen lexikalisch-kombinatorischen Stabilität verstanden, die fakultativ einen idioma‐ tischen Charakter aufweisen. Im Folgenden werden die Kriterien, die Phraseme von freien Wortverbindungen abgrenzen, einzeln aufgegriffen und ausgeführt. 71 Phraseologie und Phraseodidaktik 2 Zum prototypischen Charakter von Unikalia und zum graduellen Charakter der phraseologischen Gebundenheit siehe Stumpf (2015, 98). 5.1 Polylexikalität Grundlegendes Kriterium zur Abgrenzung phraseologischer Wortverbindungen von Lexemen ist ihre Mehrgliedrigkeit, d. h. sie bestehen aus mehreren Kom‐ ponenten, die in der Regel außerhalb der phraseologischen Wortverbindung als primäre Nominationseinheiten vorkommen, und stellen insofern sekun‐ däre Nominationseinheiten dar. Eine Ausnahme bilden so genannte unikale Komponenten, d. h. formal mehr oder weniger gebundene phraseologische Komponenten, die wendungsextern nicht vorkommen, z. B. auf Hochtouren laufen, frank und frei.  2 Aufschlussreich für die Einordnung einer Wortverbin‐ dung als phraseologisch ist die Getrenntschreibung ihrer Komponenten auf graphematischer Ebene. Im Unterschied zu einfachen Lexemen und Wortbil‐ dungskonstruktionen bestehen Phraseme „aus zwei oder mehr graphematisch meist getrennten Wortformen, die […] ihrerseits freie Morpheme als Lexikon‐ einheiten sind“ (Gläser 1986, 17). Geht man von dieser Definition aus, leuchtet ein, dass die Rechtschreibreform und die damit einhergehende Möglichkeit der Getrenntschreibung von graphematisch zusammengehörenden Ausdrücken zur Erweiterung des Untersuchungsgegenstands der Phraseologie führten. Obwohl die Mehrwortstruktur als konstitutives Merkmal phraseologischer Erscheinungen genannt wird, wird der Wortbegriff seltener problematisiert. Zudem wird häufig nicht auf die Art der einzelnen Komponenten der Wortver‐ bindung eingegangen, aus denen sie bestehen soll, damit sie als phraseologisch qualifiziert wird. Selbst Definitionsversuche, die sich auf die Art der einzelnen Komponenten beziehen, weisen Unterschiede bezüglich der Minimalstruktur von Phrasemen auf: So zählt Matešić (1983, 11) zur Phraseologie nur Ausdrucks‐ einheiten, die über mindestens zwei Autosemantika verfügen, z. B. kalter Krieg, Fleischer (1997, 29) beschreibt als Minimalstruktur von Phrasemen die Fügung Autosemantikon plus Synsemantikon, z. B. auf Anhieb, während für Burger (2015, 15) bereits zwei Synsemantika reichen, z. B. an sich, damit eine Wortverbindung als phraseologisch ausgewiesen wird. Burgers Definition der Minimalstruktur erscheint angemessener, da sie dem Kriterium der Polylexika‐ lität konsequent folgt. Auch diskontinuierliche Phraseme wie entweder… oder, sowohl… als auch erfüllen dieses Kriterium und werden in diesem Sinne zur Phraseologie gezählt. Jedoch ist die Grenze der Phraseologie zur Komposition nicht eindeutig. Duhme (1991, 67) argumentiert für die Einbeziehung von Komposita („Ein‐ wortphraseologismen“) wie Papierkrieg und Himmelfahrtskommando in den 72 Marios Chrissou 3 Zur textuellen Formelhaftigkeit siehe Gülich (1997, 146sqq.) und Stein (2018, 26sqq.). Bereich der Phraseologie, „in denen mindestens ein kompositioneller Bestand‐ teil einen erkennbaren idiomatischen Charakter aufweisen muss“. Sie deno‐ tieren komplizierte Sachverhalte, die sich durch die einfache Kenntnis ihrer Konstituenten nicht erschließen lassen. Jedoch läuft die Bezeichnung dieser Wortbildungskonstruktionen als phraseologisch dem üblichen Verständnis des Bestandteils „Phrase“ im Begriff „Phraseologismus“ zuwider, der sich auf Satz bzw. Satzteil bezieht. Als oberste Grenze der Phraseologie gelten vorgeprägte formelhafte Texte (textwertige Phraseologismen), die pragmatisch fixierten Textsorten entsprechen und aufgrund ihrer Usualität einen hohen Grad an Festigkeit erreicht haben, z. B. Gebete, Todes- und Traueranzeigen und formelle Briefe. 3 5.2 Festigkeit und Lexikalisierung Als zentrales Kriterium zur Abgrenzung von freien Wortverbindungen wird in der Phraseologieforschung die Festigkeit, der formelhafte Charakter von Phrasemen herangezogen: Die Festigkeit, Stabilität, Festgeprägtheit oder Fi‐ xiertheit, die Phraseme in ihrer Struktur aufweisen, hat eine Begrenzung der Verbindungs- und Ersetzungsmöglichkeiten auf der Ausdrucksebene zu Folge. Mit der lexikalisch-semantischen Stabilität hängt es zusammen, dass phrase‐ ologische Komponenten nicht substituierbar sind. Neben der lexikalisch-seman‐ tischen Stabilität weisen Phraseme eine ausgeprägte syntaktisch-strukturelle Festigkeit auf, die sich an einer Reihe von Restriktionen in den Kombinations‐ möglichkeiten zeigt. So sind die Passiv-, Relativsatz-, Attribut-, Nominalisie‐ rungs-, Fragesatz und Singular-Plural-Transformation von Phrasemen nicht selten Einschränkungen unterworfen. Neben diesen Restriktionen lassen sich Irregularitäten in der wendungsinternen Struktur von Phrasemen feststellen. Dazu zählen Unregelmäßigkeiten in der Rektion, z. B. jemanden Lügen strafen, Bauklötze staunen, an jmdm. einen Narren gefressen haben, der unflektierte Gebrauch des attributiven Adjektivs, z. B. frei Haus, um gut Wetter bitten, auf gut Glück, der adverbiale Genitiv als Objekt, z. B. guter Dinge sein, guter Hoffnung sein, die Voranstellung des attributiven Genitivs, z. B. auf des Messers Schneide stehen, aus aller Herren Länder, der markierte Gebrauch des Nullartikels, z. B. vor Ort, auf Draht sein, aus heiterem Himmel oder der Gebrauch von Präpositionen, z. B. jmd. / etwas ist nicht (so ganz) ohne, und von Pronomina ohne Kontextbezug, z. B. es nicht leicht haben, jmdm. eins auswischen. Hierzu zählen nicht zuletzt auch grammatische Restriktionen, die z. B. mit der Verwendung eines bestimmten Tempus in den Phrasemen das Schießpulver nicht erfunden zu haben und die 73 Phraseologie und Phraseodidaktik Sache ist gelaufen zusammenhängen (Burger 2015, 20sqq.; Burger / Buhofer / Sialm 1982, 52sq.). Trotz dieser Einschränkungen sollte die Festigkeit nicht als absolute, sondern als relative Größe, als graduelles Phänomen verstanden werden. Denn neben der Festigkeit ist Phrasemen auch eine Variabilität zu eigen. Darunter wird der Spielraum verstanden, innerhalb dessen formale Veränderungen im phrase‐ ologischen Formativ möglich sind, ohne dass die phraseologische Bedeutung verloren geht (Burger 2015, 22sqq.). Insofern sind Festigkeit und Variabilität in der Phraseologie als komplementäre Kategorien zu betrachten. Mit der Festigkeit von Phrasemen hängt es zusammen, dass sie lexikali‐ siert sind und in Speicherung wie Produktion Ähnlichkeiten zu einfachen Lexemen aufweisen. Es ist das Ergebnis des wiederholten Gebrauchs in einer Sprachgemeinschaft und der damit zusammenhängenden Festigkeit anzusehen, dass Phraseme vorgeprägte Einheiten bilden und nach Donalies (2009, 11) „Wiederholungen“ darstellen. Während die Lexikalisierung auf der Wortebene der Regelfall ist, ist sie auf der Satzebene als eine zusätzliche Markierung anzusehen (Fleischer 1997, 62). Konkurrierende phraseologische Termini wie Wortgruppenlexem und Phraseolexem weisen auf die bestehende Ähnlichkeit zwischen Phrasem und Lexem hin und beziehen sich auf die kognitive Veran‐ kerung von Phrasemen im Gedächtnis als vorgeformte lexikalisierte Strukturen mit Einheitsstatus. Ähnlich wie Lexeme werden Phraseme nicht nach den Selektionsregeln produziert, sondern als vorgefertigte Einheiten reproduziert. 5.3 Idiomatizität Phraseme weisen häufig in Bezug auf ihre semantische Realisierung zwei Lesarten auf: eine denotativ-phraseologische und eine wörtliche. Idiomatizität bezeichnet die semantische Umdeutung vieler Phraseme, deren Bedeutung sich nicht additiv-kompositionell aus den lexikalischen Einzelbedeutungen der Komponenten, sondern synthetisch erschließen lässt. Insofern entspricht die Gesamtbedeutung nicht der Summe der Bedeutungen der einzelnen phrase‐ ologischen Komponenten. Sie ist übersummativ und lässt sich nicht in die Teilbedeutungen ihrer Komponenten aufgliedern. So besteht zwischen der Gesamtbedeutung des Phrasems die Hosen anhaben und der Bedeutungen seiner einzelnen Komponenten keine Symmetrie. Bei der Idiomatizität handelt es sich um ein fakultatives phraseologisches Merkmal. Vor diesem Hintergrund gilt Festigkeit als strukturelles Korrelat zur häufigen Verwendung (Usualität) und zur Idiomatizität. Die feste Form idiomatischer Phraseme im Ausdrucksplan entspricht ihrer ganzheitlichen Bedeutung im In‐ haltsplan (Burger / Buhofer / Sialm 1982, 64). So ist es als Folge der Idiomatizität 74 Marios Chrissou 4 Zur wissenschaftlichen Diskussion über die semantische Teilbarkeit vs. semantische Autonomie der Komponenten von Phrasemen siehe Dobrovol’skij (2016, 25), Fleischer (1997, 33sqq.), Burger (2015, 69sqq.), Stöckl (2004, 161sqq.) und Chrissou (2012, 30sqq.). anzusehen, dass der Erweiterung und Verkürzung auf syntagmatischer Ebene oder dem Austausch phraseologischer Komponenten auf paradigmatischer Ebene in Phrasemen oft engere Grenzen gesetzt sind als in freien Wortverbin‐ dungen. Aufgrund der Dominanz der phraseologischen gegenüber der wörtlichen Bedeutung büßen die Komponenten idiomatischer Phraseme (Idiome) ihre Au‐ tonomie weitgehend ein (Nicht-Kompositionalität). Es ist jedoch zu bemerken, dass die Komponenten von Idiomen eine gewisse Selbständigkeit beibehalten (Kompositionalität), die an den Möglichkeiten des kreativen Umgangs mit Phrasemen, etwa in Wortspielen, sichtbar werden, z. B. ein Wolf, vom Schafspelz gut gewärmt (Meinungsseite, Süddeutsche Zeitung 1998, 4). 4 Idiomatizität basiert vorwiegend auf Metaphorisierungsbzw. Metonymisie‐ rungsprozessen. Metaphorisch lässt sie sich auf eine Bezeichnungsübertragung zurückführen, z. B. gegen den Strom schwimmen, Nägel mit Köpfen machen, oder metonymisch auf das Ersetzen eines Ausdrucks durch einen anderen, der damit in einem kausalen, räumlichen oder zeitlichen Zusammenhang steht, z. B. die Hände in den Schoß legen, die Ärmel hochkrempeln. Als besonderer Fall der Me‐ tonymie gilt die Synekdoche, bei der ein Ausdruck durch einen anderen ersetzt wird, der mit dem ursprünglichen in einem direkten semantisch-begrifflichen Zusammenhang wie Hierarchie oder Teil-von-Beziehung (pars pro toto) steht, z. B. seine Haut retten, ein kluger Kopf sein. Ein weiterer Idiomatisierungsfaktor ist die Bedeutungsspezialisierung, die aufgrund einer arbiträren Auswahl von Sememen zu einer Verengung der phraseologischen Bedeutung führt, z. B. ein freudiges Ereignis, sich auf den Weg machen, es nicht mehr lange machen, nicht ohne sein. Je nach Idiomatizitätsgrad werden Phraseme in Vollidiome, Teilidiome und Kollokationen unterteilt (Burger 2015, 27, 32). Als Idiome werden Phraseme bezeichnet, bei denen kein Autosemantikon als phraseologische Komponente Eingang in die phraseologische Bedeutung findet, z. B. für jmdn. die Kastanien aus dem Feuer holen. Teilidiome stellen Phraseme dar, bei denen ein Teil der Komponenten seine wörtliche Bedeutung beibehält, z. B. einen Streit vom Zaun brechen. Kollokationen werden Phraseme genannt, die keinen oder nur einen geringen idiomatischen Charakter haben, z. B. werdende Mutter. In Abhängigkeit von der Beziehung zwischen phraseologischer und wörtli‐ cher Bedeutung werden Phraseme als motiviert bzw. motivierbar oder nicht motiviert bzw. nicht motivierbar bezeichnet (Burger 2015, 67sq.). Als motiviert 75 Phraseologie und Phraseodidaktik 5 Zum Motivationsbegriff aus kognitiver Perspektive und zu einem Überblick über Typologien von Motiviertheit siehe Sulikowska (2019, 194sqq.). gelten Phraseme, deren phraseologische Bedeutung in der Rezeption auf der Basis der wörtlichen Bedeutung synchronisch erschlossen werden kann. Dabei geht es eher um die Möglichkeit des Erkennens eines möglichen semantischen Zusammenhangs zwischen der wörtlichen und phraseologischen Lesart als um ein zwingendes Verhältnis. Denn es ist möglich, dass die wörtliche Bedeutung potenziell auf eine andere phraseologische Bedeutung hinweist, z. B. ins Wasser fallen (Burger 2015, 68). Als motiviert bzw. motivierbar gelten Phraseme, die entweder nicht idiomatisch oder semantisch transparent sind. Als unmotiviert werden Phraseme bezeichnet, bei denen aus synchroner Sicht ein arbiträres Verhältnis zwischen phraseologischer Bedeutung und phraseologischem For‐ mativ besteht. Der Motivationsgrad variiert in Abhängigkeit von der Möglich‐ keit des Erschließens der ganzheitlichen phraseologischen Bedeutung aus der wörtlichen Bedeutung. Nach diesem Prinzip unterscheidet Burger (2015, 68sq.) zwischen motivierten Phrasemen, die metaphorisch transparente und nicht idiomatische Wendungen umfassen, z. B. ein rotes Tuch für jmdn. sein, Dank sagen, teilmotivierten Phrasemen, z. B. sich die Lunge aus dem Hals / Leib schreien, blinder Passagier und unmotivierten Phrasemen, z. B. gang und gäbe sein, jmdm. einen Korb geben. 5 5.4 Zum Kollokationsbegriff Der Begriff „Kollokation“ wird in der Phraseologieforschung nicht einheitlich definiert und weist deshalb unscharfe Konturen auf. Dies hängt damit zu‐ sammen, dass sich nach der raschen Entwicklung der Phraseologie in den letzten vier Jahrzehnten zwei Forschungstendenzen herauskristallisieren: Die traditio‐ nell-linguistische und die datenbasierte, distributionelle Betrachtungsweise, die auf der Tradition des Kontextualismus begründet ist. Während die traditio‐ nell-linguistische Betrachtungsweise streng zwischen Phraseologie und Syntax unterscheidet, hebt die datenbasierte, distributionelle Betrachtungsweise die Schnittstelle zwischen Lexik und Syntax hervor (Granger / Paquot 2008, 34). Reder (2011, 137) dokumentiert in verschiedenen linguistischen Disziplinen bzw. Forschungstraditionen verschiedene Konzepte von Kollokationen. Demnach wird unter Kollokation in der Semantik „die Kompatibilität, die semantische Ver‐ träglichkeit der Wörter miteinander“ verstanden, während im Kontextualismus der Aspekt der Frequenz, die Kookkurrenz und die Signifikanz des gemeinsamen Auftretens zentral sind, und in der traditionellen Phraseologie die Konzepte der 76 Marios Chrissou Gebräuchlichkeit und der strukturellen Festigkeit im Vordergrund stehen (Reder 2011, 132sq., 136). Während Kollokationen im traditionell-linguistischen Verständnis als nicht bzw. schwach idiomatische Phraseme zur Peripherie der Phraseologie gehören, stehen sie in der neueren Phraseologieforschung im Rahmen des datenbasierten, distributionellen bzw. deskriptiven Ansatzes vermehrt im Zentrum der wissen‐ schaftlichen Diskussion und ziehen zunehmend das Forschungsinteresse auf sich. Dies hängt mit dem Aufschwung der Korpuslinguistik und der damit verbundenen Aufwertung der Korpusevidenz innerhalb der Sprachwissenschaft zusammen. Die Analyse umfangreicher Textkorpora offenbart mehr oder we‐ niger feste sprachliche Muster mit phraseologischem Charakter, die als solche nicht aufgefallen waren. Die Kollokationskonzepte unterscheiden sich vorwiegend im Grad der Festigkeit, den Kollokationen aufweisen. Diese Konzepte reichen von einer engen traditionell-linguistischen Auffassung von Kollokationen, nach der Kol‐ lokationen festgeprägte, präferierte Wortverbindungen sind, die sich durch die Begrenzung der Verbindungsmöglichkeiten auf syntagmatischer Ebene kennzeichnen, bis zum weiteren Verständnis, „gemäß welchem unter einer Kollokation jegliches Miteinandervorkommen von lexikalischen Einheiten in einem Korpus zu verstehen ist“ (Konecny 2010, 78). Nach diesem Verständnis werden auch Wortverbindungen zur Phraseologie gezählt, die Fleischer (1997, 61) aus ihrem Gegenstandsbereich ausgrenzt, da sie natürliche Zusammenhänge zwischen Gegenständen und Zuständen ausdrücken und „deren Stabilität durch die Stabilität der entsprechenden Beziehungen der außersprachlichen Realität bestimmt wird“, z. B. Tasse Tee oder Glas Wasser. In der weiten, datenorientierten Konzeption der Phraseologie wird auf den Einsatz semantischer Kriterien verzichtet; stattdessen wird der Sprachgebrauch als einziges Kriterium in den Vordergrund gestellt. Insbesondere wird die Häufigkeit des gemeinsamen Vorkommens von Ausdruckseinheiten einheitlich instrumentalisiert und es wird von statistisch signifikanten Kookkurrenzen einzelner Lexeme im Sprach‐ gebrauch ausgegangen. Somit wird das Forschungsfeld auf Ausdrücke erweitert, die in der traditionell-linguistischen Auffassung keine prototypischen Phraseme sind, deren Kombinationsverhalten sich aber als mehr oder weniger als stabil herausstellt. Insbesondere aus Sicht des Fremdsprachenlernens scheint diese breite Kollokationsauffassung von Vorteil zu sein, da sie die Schnittstelle zwischen Lexik und Syntax stärker akzentuiert und den Blick auf umfangreiche lexikalische Strukturen richtet. 77 Phraseologie und Phraseodidaktik 5.5 Expressivität, Komplexität, Vagheit Die Semantik phraseologischer Einheiten erschöpft sich nicht in der denota‐ tiven Bedeutung, sondern enthält häufig konnotativ-wertende Elemente, die Haltungen und Bewertungen der Sprachbenutzer einbeziehen. Die expressive Färbung von Phrasemen ist stärker ausgeprägt als im übrigen Wortschatz. Der Beschreibung dieser konnotativ-wertenden Bedeutungsanteile dienen lexikographische Angaben zur Erfassung der Stilschicht (normalsprachlich, gehoben, umgangssprachlich, scherzhaft, vulgär usw.). Palm (1997, 17sqq.) systematisiert verschiedene Aspekte der konnotativen Dimension von Phra‐ semen, indem sie auf folgende Kategorien zurückgreift: Emotional-affektive Bedingungen (scherzhaft, ironisch, abwertend/ negativ, wohlwollend/ anerken‐ nend), die kommunikative Ebene (umgangssprachlich, salopp, derb/ vulgär, offiziell, feierlich/ gehoben), Funktionsbereiche (administrativ, juristisch, Me‐ dizin, Militär, Sport), die soziale Geltung ( Jugendsprache, Familie, Bildungs‐ sprache), die regionale Bindung (z. B. Berlinerisch, Ruhrpott-Deutsch) und die Zeitgebundenheit von Phrasemen (Archaismen, Indiz-Funktion in Bezug auf das Alter, kontinuitätsschaffende Funktion zwischen verschiedenen Epochen). Diese semantisch-stilistischen Kategorien, die sich in der Wörterbuchpraxis etablierten, haben lediglich einen Orientierungswert und sollten am jeweiligen Kontext, in dem Phraseme ihre Bedeutung entfalten, unter Berücksichtigung situativer Faktoren überprüft werden. Mit der Expressivität hängen ferner die Bildhaftigkeit von Idiomen mit transparenter Semantik sowie stilistische Merkmale zusammen wie Alliteration, z. B. gang und gäbe oder klipp und klar, und Reim, z. B. was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß. Ferner weisen Phraseme in ihrer Bedeutung häufig eine hochgradige Kom‐ plexität auf, die nach Kühn (1994: 426) mit ihrem semantischen Mehrwert zusammenhängt. Dabei geht es um konkretisierende Seme, die im Gebrauchs‐ kontext nicht immer in vollem Umfang realisiert werden. So hat nach Lüger (1997, 86) das Phrasem keinen Mucks machen die Bedeutung ‚nichts sagen, obwohl man überrascht oder erschreckt ist; nicht widersprechen‘. Während der Bedeutungskern ‚nichts sagen, nicht widersprechen‘ im Gebrauch erkennbar wird, wird die Bedeutungskomponente ‚obwohl man überrascht oder erschreckt ist‘ nicht in allen Gebrauchskontexten aktualisiert. Schließlich weisen Phraseme im Kontext häufig eine Vagheit bzw. Ambiguität auf, die sich aus der fehlenden Angabe referentieller Bezugspunkte im Kon‐ text ergibt. Dies veranschaulicht Burger am Vorkommen von Phrasemen im folgenden Horoskoptext: 78 Marios Chrissou Zwillinge. Sie wollen mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen, konzentrieren Sie sich dabei auf die sichersten Opfer und nicht wieder auf das entfernteste Ziel, das spart viel Zeit. (gesprochenes Horoskop, SAT1, 13.9.96, ob.cit. Burger 2015, 75) Bei den hier verwendeten Phrasemen handelt es sich nach Burger (2015, 76) um „Leerformeln“, da die textlinguistische Einbettung weitgehend fehlt. Die intendierte Vagheit wird den kommunikativen und stilistischen Konventionen dieser Textsorte gerecht. 6 Phraseodidaktik Im Zusammenhang mit der Aufwertung der Phraseologie als linguistische Dis‐ ziplin lässt sich seit Anfang der 1990er Jahre ein zunehmendes Forschungsinte‐ resse an Fragen belegen, die die unterrichtliche Förderung der phraseologischen Kompetenz betreffen; unterdessen wird der Phraseodidaktik ein fester Platz innerhalb der aktuellen Phraseologieforschung zugewiesen. Sie lässt sich an der Schnittstelle zwischen Phraseologie und Fremdsprachendidaktik verorten und stellt eine junge Teildisziplin dar, die auf eine etwa 30jährige Tradition zurückblickt und eine bemerkenswerte Entwicklung aufweist. Zu ihrem Auf‐ schwung führte nicht zuletzt die auf Korpusevidenz basierende Feststellung, dass feste Wortverbindungen keine Randerscheinung, sondern einen wesentli‐ chen Bestandteil des Wortschatzes darstellen, ohne den laut Hallsteinsdóttir (2011a, 4) selbst eine begrenzte Kommunikation in der Fremdsprache nicht möglich ist. Die zentralen Forschungsanliegen der Phraseodidaktik lassen sich in den folgenden Fragen zusammenfassen: I. Wie kann die Auswahl eines phraseologischen Grundwortschatzes erfolgen? II. Wie kann phraseologischer Wortschatz didaktisch aufbereitet werden? III. In welcher Lernprogression kann er niveaugerecht im Unterricht ein‐ geführt werden? Von der Beantwortung dieser Fragen hängt nicht zuletzt die Erstellung geeig‐ neter Lernmaterialien zur Phraseologie ab. Die Integration der Forschungser‐ gebnisse der Phraseodidaktik in Lehrwerke und Lernmaterialien stellt ein zentrales Desiderat der phraseodidaktischen Forschung dar (Ettinger 2007, 144; Hallsteinsdóttir 2011a, 7). Trotz des Einvernehmens darüber, dass die Phraseo‐ logie eine große Relevanz in der schriftlichen und mündlichen Kommunikation hat und als Lerngegenstand einen festen Platz in der Fremdsprachendidaktik verdient (Hessky 1992; Kühn 1992; Jesenšek 2006, 2007), ist die Herstellung eines 79 Phraseologie und Phraseodidaktik Bezugs zwischen phraseodidaktischer Forschung und Fremdsprachenunterricht noch unbefriedigend. So ist die Auswahl von Phrasemen in Lernmaterialien empirisch nicht abgesichert und reflektiert nicht den kommunikativen Wert im mündlichen und schriftlichen Diskurs. Ferner zeigen Lehrwerkanalysen, dass die Ergebnisse der Phraseodidaktik nicht genügend in der Erstellung von Lernmaterialien beachtet werden (Hessky 2007, 12; Ďurčo 2007, 169, Ettinger 2007, 901; Chrissou 2012, 12). Analysen gängiger Lehrwerke für Deutsch als Fremdsprache in Jazbec / Enčeva (2012, 167), Strohschen (2016, 307sqq.) und Winzer-Kiontke (2016, 232sqq.) bestätigen die kaum systematische Behandlung phraseologischer Lexik in quantitativer und qualitativer Hinsicht. In diesem Zusammenhang sind folgende Defizite von Lehrwerken zu nennen: • Die Auswahl von Phrasemen ist nicht empirisch fundiert und spiegelt nicht ihren kommunikativen Wert wider. • Phraseme werden häufig isoliert, ohne Einbettung in den Gebrauchskon‐ text, eingeübt, so dass ihre pragmatischen Verwendungsbedingungen außer Acht gelassen werden. Nicht selten lässt sich eine didaktisch kaum sinnvolle, gekünstelte Häufung von Phrasemen in nicht authentischen Texten konstatieren. • Bezüglich des Beherrschungsmodus fehlt eine konsequente Differenzie‐ rung zwischen Rezeption und Produktion. • Es mangelt an einer begründeten Lernprogression: Phraseme werden häufig hohen Sprachbeherrschungsniveaus vorbehalten, ohne dass eine Differenzierung nach ihrer Lernschwierigkeit erfolgt. Eine Forschungslücke stellt zudem die fundierte Niveauzuordnung von Phra‐ semen dar. Voraussetzung dafür ist die Bestimmung von Kriterien, die auf die Lernschwierigkeit von Phrasemen Einfluss nehmen und als Grundlage für eine angemessene Lernprogression fungieren. Im Folgenden werden die zentralen Fragen der Phraseodidaktik aufgegriffen und diskutiert. Diese beziehen sich auf a. die begründete Auswahl eines phra‐ seologischen Grundwortschatzes, b. auf seine didaktische Aufbereitung und c. auf die Bestimmung einer angemessenen Lernprogression. 6.1 Was soll gelernt werden? Das phraseologische Optimum Die Bestimmung eines phraseologischen Grundwortschatzes, der den Kommuni‐ kationsbedürfnissen der Lernenden gerecht wird, bildet eine zentrale Aufgabe der Phraseodidaktik. Dieser Forderung kommen Dobrovol’skij (1997) und Šaján‐ ková (2005) nach, die durch Informantenbefragungen zu vergleichbaren Listen kommen. Baur / Chlosta / Grzybek (1996, 22) legen eine Liste erwerbsrelevanter 80 Marios Chrissou deutscher Sprichwörter ausgehend von ihrem Bekanntheitsgrad vor. Möhring (2011, 37) dokumentiert lexikographierte Belege, die in „Profile Deutsch“ (Glabo‐ niat et al. 2005) eine thematische Relevanz aufweisen und erarbeitet auf der Grund‐ lage ihrer Vorkommensfrequenz im DWDS-Kernkorpus (DWDS) eine Liste mit 59 frequenten Kollokationen. Sinnvoll für die fundierte Ermittlung eines Grundwort‐ schatzes ist die Instrumentalisierung eines quantitativen und eines qualitativen Kriteriums. Ersteres betrifft die Vorkommensfrequenz von Phrasemen im Sprach‐ gebrauch und insbesondere in repräsentativen Sprachkorpora des Deutschen. Da jedoch das quantitative Kriterium aufgrund der Einschränkungen, denen Korpora bezüglich ihrer Repräsentativität unterliegen, nicht ausreichend ist, ist zusätzlich das Heranziehen der Geläufigkeit als qualitatives intersubjektives Selektionskriterium erforderlich, wie sich dieses in Sprecherurteilen niederschlägt (Hessky 2007, 14; Bubenhofer / Ptashnyk 2010, 14). Die fundierte Auswahl phraseologischer Lexik mit hohem kommunikativem Wert ist Voraussetzung dafür, dass die Behandlung phraseologischer Lexik im Unterricht nicht „dem Zufall überlassen“ wird oder „abhängig vom persönlichen Interesse des Lehrers“ erfolgt (Hessky 2007, 12). Zudem kann Ettinger (2007, 902) zufolge ein phraseologisches Optimum „verhindern, dass nur sporadisch in der Sprachwirklichkeit auftretende Phraseme, die oftmals selbst von Mut‐ tersprachlern kaum verwendet werden, ausgiebig in Phrasemsammlungen eingeübt werden“. Ferner ist die Selektion eines phraseologischen Grundwort‐ schatzes nach dem Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen (Europarat 2001, 113, 148) Voraussetzung für die effiziente Gestaltung der Wortschatzarbeit und sollte deshalb auf der Grundlage „sprachstatistischer Prinzipien“ erfolgen. Die Hinwendung der Linguistik zur gebrauchsorientierten Sprachbeschrei‐ bung hängt mit dem Aufschwung der Korpuslinguistik in den achtziger Jahren und ihrer rasanten Entwicklung zusammen. Seitdem gelten empirische Kor‐ pusanalysen auch in der Phraseologieforschung zunehmend als unabdingbar. Digitale Textkorpora stellen eine empirische Grundlage dar und erlauben anhand computergestützter Zugriffs- und Analyseverfahren die Untersuchung umfangreicher Datenquellen und einen direkten Einblick in die Vorkommens‐ frequenz und das Verhalten von Phrasemen im Satz sowie Diskurs. Auf dieser empirischen Basis formulieren Hallsteinsdóttir / Šajánková / Quasthoff (2006) einen Vorschlag für einen Grundwortschatz (phraseologisches Optimum). Dafür dokumentieren sie vorwiegend Idiome und Teilidiome in gängigen DaF-Lerner‐ wörterbüchern, Lexika zur Phraseologie des Deutschen und Übungsbüchern und erfassen ihre Vorkommenshäufigkeit im Korpus „Deutscher Wortschatz“ der Universität Leipzig. Die gewonnenen quantitativen Korpusdaten untersu‐ 81 Phraseologie und Phraseodidaktik chen sie anschließend auf ihre Geläufigkeit anhand von Sprecherurteilen hin, indem sie 101 Muttersprachler des Deutschen zur Kenntnis und aktiven Verwen‐ dung der erfassten Phraseme befragen. Das Ergebnis ist eine nuancierte Liste von 1112 Phrasemen, die ausgehend von der Korrelation zwischen Frequenz und Geläufigkeit hierarchisiert werden und deren Kernbereich 624 Phraseme umfasst, von denen 142 Einheiten eine besonders hohe Vorkommenshäufigkeit und Geläufigkeit aufweisen. Beim Grundwortschatz von Hallsteinsdóttir / Šajánková / Quasthoff (2006, 128) handelt es sich, wie das Autorenteam bemerkt, nicht um ein abgeschlos‐ senes Optimum, sondern um einen kleinen Ausschnitt der deutschen Phraseo‐ logie, der in Lexika und Lernmaterialien erfasst ist. Insofern stellt es eine offene Liste dar, die durch umfangreichere Untersuchungen ergänzt werden sollte. Auch sei zu berücksichtigen, dass bei der Korpusabfrage zwischen dem Vorkommen der Suchform in ihrer freien und in ihrer phraseologischen Lesart nicht unterschieden wurde, d. h. die ermittelten Belege wurden nicht manuell bereinigt, und dass die Korpora nur geschriebene Sprache einbeziehen und den mündlichen Sprachgebrauch ausklammern. Trotz dieser Einschränkungen stellt das phraseologische Optimum ein empirisch abgesichertes Inventar von Phrasemen mit hoher Erwerbsrelevanz und eine geeignete phraseologische Materialgrundlage für den DaF-Unterricht dar. 6.2 Wie soll phraseologische Lexik gelernt werden? Zur Förderung der phraseologischen Kompetenz Wichtig für die didaktisch angemessene Erarbeitung von Phrasemen ist die Um‐ setzung der Text- und Handlungsorientierung, die methodische Grundpfeiler der Wortschatzarbeit darstellen, und ein systematisches didaktisches Vorgehen, das diese methodischen Grundpfeiler in der Unterrichtspraxis umsetzt. Im Folgenden werden diese Aspekte erläutert. 6.2.1 Text- und Handlungsorientierung Die Erarbeitung isolierter phraseologischer Lexik außerhalb vom Gebrauchs‐ kontext in Form von Listen gilt in der Wortschatzdidaktik als didaktisch kaum ergiebig, da das bloße Memorieren der Nennform von Phrasemen für adäquates Verstehen und Verwenden nicht ausreichend ist. Die bloße Kenntnis der Struktur von Phrasemen als abstrahierte Lexikoneinträge bildet nach Kühn (1996, 11) keine Garantie dafür, dass sie in ihrer kommunikativen Verwendung verstanden, geschweige denn adäquat gebraucht werden. Als didaktisch effizienter gilt die kontextuell eingebettete Wortschatzarbeit, die textorientierte Erarbeitung phraseologischer Einheiten. Für die angemessene 82 Marios Chrissou Rezeption und Produktion sind komplexe mentale Einträge notwendig, die die pragmatischen Verwendungsbedingungen von Phrasemen einbeziehen (wer gebraucht sie, in Kommunikation mit wem, bei welcher Gelegenheit, mit welchen Absichten). Vor diesem lernpsychologischen Hintergrund sollte ihre unterrichtliche Behandlung „nicht allein in einer abgeschlossenen, mehr oder weniger umfangreichen Sequenz“, sondern als integrierter Bestandteil der textorientierten Spracharbeit erfolgen (Lüger 1997, 97), indem sie systematisch in die Phasen der Textarbeit integriert wird (cf. Chrissou 2020a). Ferner ist der Einsatz isolierter, kontextfreier Übungen zur Form und Se‐ mantik von Phrasemen didaktisch wenig förderlich, wenn diese im Vorfeld nicht im Rahmen der Textarbeit eingeführt und angemessen behandelt wurden. Wichtiger als Übungen zu Teilaspekten von Phrasemen sind laut Kühn (2007, 888) „das Analysieren des Zusammenspiels zwischen wörtlicher und phraseo‐ logischer Bedeutung“ und die Erfassung der Verwendungsbedingungen im Text. Als konstruktivistisch begründetes didaktisches Leitprinzip für die selbst‐ ständige Wissenskonstruktion gilt zudem die Handlungsorientierung. Eine angemessene Möglichkeit, dieses Prinzip didaktisch umzusetzen, besteht im induktiven Lernen. Dabei geht es darum, durch generalisierend-abstrahierende Beobachtung einzelner Sprachbelege zu begründetem Wissen bzw. zum Er‐ kennen von Regelhaftigkeit zu gelangen. Lernpsychologisch weist die induktive Erarbeitung von Lerninhalten Lernvorteile gegenüber einer abstrakten Kogniti‐ vierung vor dem Hintergrund passiv rezipierter Regeln auf, da die hypothesen‐ geleitete, entdeckende Semantisierung phraseologischer Lexik im Gebrauchs‐ kontext zu nachhaltigen Lernergebnissen führt. In konstruktivistischer Hinsicht ist zu erwarten, dass sich auf diese Weise erarbeitete und überprüfte Hypothesen über sprachliche Regelmäßigkeiten positiv auf das Konstruktionsverhalten der Lernenden auswirken und stabile Wissenskonstruktionen ermöglichen (cf. Chrissou 2012, 60sqq.). 6.2.2 Didaktisch-methodische Aspekte Einen weiteren Schwerpunkt der Phraseodidaktik neben der Selektion eines phraseologischen Grundwortschatzes bildet die Erarbeitung fundierter Mög‐ lichkeiten zur Förderung der phraseologischen Kompetenz. Diese ist nach dem Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen (Europarat 2001, 120) Teil der lexikalischen, soziolinguistischen und pragmatischen Kompetenz. Aufgrund der Vielschichtigkeit phraseologischer Erscheinungen bezieht die phraseologische Kompetenz auch die grammatische, semantische und - mit Blick auf die Mündlichkeit - die prosodische Kompetenz sowie einen interkul‐ turellen Aspekt ein (Hallsteinsdóttir 2011b, 282; Gonzales Rey 2018, 139sq.). 83 Phraseologie und Phraseodidaktik Auch umfasst sie Hallsteinsdóttir (2011a, 13sq.) zufolge eine multimodale Kom‐ ponente, die bei motivierten Phrasemen durch die Interdependenz zwischen der sprachlichen und visuellen Modalität bedingt ist. Es liegt auf der Hand, dass das Modellieren der phraseologischen Kompetenz für ihre Förderung und Evaluation grundlegend ist. Zur unterrichtlichen Förderung der phraseologischen Kompetenz schlägt Lüger (1997) in Anlehnung an den modifizierten „phraseodidaktischen Drei‐ schritt“ von Kühn (1992) eine methodische Vorgehensweise vor, den „phra‐ seodidaktischen Vierschritt“, auf dessen Grundlage die Wortschatzarbeit im Bereich der Phraseologie systematisch gestaltet werden kann. Ziel ist dabei, das Sprachlernbewusstsein der Lernenden zu fördern und sie dazu zu befähigen, „auch ohne Anleitung eine phraseologische Bedeutung zu erschließen, spezielle Verwendungsbedingungen zu ermitteln und entsprechende Hilfsmittel (wie z. B. Wörterbücher) kritisch einzusetzen“ (Kühn 1994, 423) und somit die phraseolo‐ gische Kompetenz anhand geeigneter Verstehensstrategien auch außerhalb des Unterrichts zu erweitern und zu vertiefen. Der phraseodidaktische Vierschritt umfasst die Phasen a. erkennen, b. entschlüsseln, c. festigen und d. verwenden, die im Folgenden skizziert werden: Erkennen: Ziel dieser Phase ist das selbstständige Identifizieren von Phra‐ semen im Gebrauchskontext im Rahmen der Textarbeit. Hierfür steht die Sensibilisierung der Lernenden für semantische Irregularitäten, insbesondere für die idiomatisch bedingte Asymmetrie zwischen wörtlicher und phraseologi‐ scher Bedeutung, und für die Heterogenität phraseologischer Erscheinungen im Vordergrund. Wichtig ist zudem die Bewusstmachung der kulturellen Prägung von Phrasemen und der interlingualen Diskrepanzen anhand von Beispielen aus der Muttersprache und der ersten Fremdsprache der Lernenden sowie des semantischen Mehrwerts von Phrasemen, der für ihre situationsbedingte, pragmatisch angemessene Verwendung zu berücksichtigen ist (Ettinger 2019a, 99). Förderlich für das Erkennen von Phrasemen im Text ist das Schärfen des Bewusstseins für typische phraseologische Merkmale, die mit den formalen Besonderheiten (siehe hierzu Kap. 5.2) sowie mit Signalen der metakommuni‐ kativen Umrahmung phraseologischer Lexik zusammenhängen, z. B. wie man sagt, sozusagen. Entschlüsselung: In dieser Phase steht die Semantisierung der im Kontext erkannten Phraseme durch den angeleiteten, systematischen Einsatz von Ver‐ stehensstrategien im Vordergrund. Dabei geht es um die hypothesengeleitete Bedeutungserschließung durch 84 Marios Chrissou 6 Zu Übungen zu den verschiedenen Aspekten von Phrasemen siehe u. a. Ettinger (2019b) und EPHRAS (2006). I. den Vergleich des fremdsprachigen Phrasems mit entsprechender Lexik aus der Muttersprache und der ersten Fremdsprache und das Nutzen des positiven Transfers, II. das Vergegenwärtigen des Bildes anhand der wörtlichen Bedeutung bei semantisch transparenten Phrasemen, III. den Einsatz von Kontextinformationen und IV. das kritische Heranziehen lexikographischer Hilfsmittel. Festigen: Diese Phase, die Lüger (1997, 91) im Unterschied zu Kühn (1992, 182) als eigenständige Phase beschreibt, dient der Konsolidierung der dekodierten Phraseme. Insbesondere geht es durch den Einsatz geeigneter Übungen um die Festigung I. ihres Formativs, II. ihrer semantischen Dimension und III. ihrer komplexen pragmatischen Verwendungsbedingungen. 6 In diesem Zusammenhang ist auf die Relevanz von Korpusabfragen hinzu‐ weisen, die geeignete Kontexte aus dem realen Sprachgebrauch liefern und eine sinnvolle Gelegenheit für die induktive Auseinandersetzung mit authentischen Verwendungsbeispielen bieten. Der Einsatz von Korpora zur Entwicklung der phraseologischen Kompetenz ist gewinnbringend und kann dem phraseodidak‐ tischen Vierschritt einen didaktischen Mehrwert hinzufügen (Chrissou 2012, 30sqq.). Verwenden: Lernziel dieser Phase ist die formal, semantisch und pragmatisch anspruchsvolle Verwendung von Phrasemen im Rahmen mehr oder weniger gesteuerter Textproduktion. Voraussetzung dafür ist das Automatisieren aller Kenntnisdimensionen von Phrasemen, die - neben der formal korrekten - die semantisch-pragmatisch angemessene Einbettung in den Kontext umfassen. Wichtig für den Transfer in neue Kommunikationssituationen ist, dass die Phraseme in ihrem Gebrauch nachvollzogen und gefestigt werden. Lernpsycho‐ logisch sinnvoll ist es, wenn das Thema der Textproduktion einen affektiven Selbstbezug für die Lernenden aufweist und sie emotional betrifft. Als Modell für die Kontextualisierung können authentische Korpusbelege von Phrasemen dienen. Aufgrund der hohen Anforderungen, die an die Kontextualisierung von Phrasemen gebunden sind, stellt ihre aktive Verwendung laut Ettinger (2019a, 94) bisweilen ein unerreichbares Lernziel dar. 85 Phraseologie und Phraseodidaktik Zu den wenigen Lernangeboten, die den phraseodidaktischen Dreibzw. Vierschritt didaktisch umsetzen, gehören das mehrsprachige digitale Lernma‐ terial von Ettinger (2019b), die Lernmaterialien des Projekts EPHRAS (2006) und die Sprichwort-Plattform, die im Rahmen eines durch die Philosophische Fakultät der Universität Maribor-Slowenien koordinierten Projekts entstanden ist. Nützlich für den Erwerb von Kollokationen des Deutschen und ein gutes Nachschlagewerk mit didaktischen Arbeitsaufgaben stellt das Kollokationen- Wörterbuch von Häcki Buhofer et al. (2014). 6.2.3 Wann sollen Phraseme gelernt werden? Zur Lernprogression in der phraseologiebezogenen Wortschatzarbeit Ein phraseodidaktisches Desiderat stellt ferner die Bestimmung einer be‐ gründeten Lernprogression im Bereich der Phraseologie dar. Voraussetzung dafür ist die Festlegung von Kriterien zur Erfassung der Lernschwierigkeit von Phrasemen und zur angemessenen Niveauzuordnung. Diesbezüglich steckt die phraseodidaktische Forschung noch in den Anfängen. Hinzu kommt, dass die institutionellen Werkzeuge bestenfalls eine Orientierungs‐ hilfe bieten. So reflektieren die Kann-Beschreibungen im Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen (Europarat 2001) den Lernfort‐ schritt auf den einzelnen Niveaus rudimentär und ohne die erwartete Trennschärfe. Außerdem sind sie unsystematisch und fragmentarisch, da sie sich vorwiegend auf die Niveaus A1-B1 verteilen, während sie die Niveaus B2-C2 kaum berücksichtigen (Chrissou 2018a, 315). Ähnlich unreflektiert erfolgt die Niveauzuordnung einer Auswahl von Phrasemen im Wortregister von „Profile Deutsch“ (Glaboniat et al. 2005). Voraussetzung für eine fundierte Niveauzuordnung ist laut Konecny / Halls‐ teinsdóttir / Kacjan (2013, 163) die Klärung der Faktoren, die die Lernschwie‐ rigkeit von Phrasemen konstituieren. In diesem Zusammenhang werden in Chrissou (in Druck) die folgenden Faktoren diskutiert: • Die Altersstufe, da die Verarbeitung von Idiomen eng an die kognitiven Fähigkeiten der Lernenden gebunden ist. • Der Beherrschungsmodus, denn das rezeptive Verstehen von Phrasemen gestaltet sich weniger anspruchsvoll als das produktive Verwenden, das die Automatisierung aller Beherrschungsdimensionen erfordert. Dies legt eine konsequente Unterscheidung zwischen Rezeption und Produktion nahe. • Die pragmatische Gebundenheit von Phrasemen an kommunikative Sprachhandlungen, die in der lehrwerkbasierten Wortschatzarbeit einer gewissen Lernprogression unterliegen. 86 Marios Chrissou 7 Zur Klassifikation phraseologischer Einheiten siehe Burger (2015, 31sqq.). • Die phraseologische Klasse, da sich Lernschwierigkeit und Arbeitsauf‐ wand je nach Phrasemklasse unterschiedlich gestalten. 7 So ist zu er‐ warten, dass die Lernschwierigkeit von Kollokationen und vielen Rou‐ tineformeln, z. B. gute Reise, herzlichen Glückwunsch, aufgrund ihrer wörtlichen Plausibilität geringer ist als von unmotivierten Idiomen mit hoher semantisch-formaler Komplexität, deren Entschlüsselung einen höheren kognitiven Aufwand erfordert (dazu siehe Kap. 5.3). • Neben diesen intralingualen Faktoren der Lernprogression ist für die Bestimmung des Schwierigkeitsgrads von Phrasemen die Einbeziehung der interlingualen Perspektive zentral. Der Einfluss der Nähe zur mut‐ tersprachlichen Phraseologie auf das Erkennen und Verstehen von Phra‐ semen in der Fremdsprache gilt als fundamental (Hallsteinsdóttir 2001, 300; Hessky 1997, 142; Jesenšek 2007, 22). In dieser Hinsicht bilden sprachkontrastive Untersuchungen unentbehrliche Voraussetzung für eine begründete Lernprogression auf der Grundlage der interlingualen Konvergenz bzw. Divergenz ausgehend von bestimmten Sprachenpaaren. Anhand des phraseologischen Optimums von Hallsteinsdóttir / Šajánková / Quasthoff (2006) und am Beispiel des Sprachenpaars Deutsch-Griechisch wird in Chrissou (2018b, 123) eine interlingual begründete Niveauzuordnung vorge‐ schlagen. Für die differenzierte Erfassung der zwischensprachlichen Nähe wird das folgende Äquivalenzmodell nach Korhonen (2007, 581) instrumentalisiert: I. Volläquivalenz: Übereinstimmung aller Vergleichsparameter, z. B. sich die Hände reiben für τρίβω τα χέρια μου wörtl.: ,sich die Hände reiben‘, II. Teiläquivalenz: partielle Übereinstimmung der Vergleichspara‐ meter mit folgender Einteilung: a. ähnliche Bildmotivation, aber kleinere morphosyntaktische Unterschiede, z. B. auf den Beinen sein für είμαι στο πόδι wörtl.: ,auf dem Bein sein‘, b. ähnliche Bildmotivation, aber Unterschiede in der lexikali‐ schen Besetzung, z. B. jmdn. unter Druck setzen für ασκώ ψυχολογική πίεση σε κάποιον wörtl.: ,auf jmdn psychi‐ schen Druck ausüben‘, c. völlig unterschiedliche Bildmotivation, z. B. auf Anhieb für με την πρώτη wörtl.: ,beim ersten‘, 87 Phraseologie und Phraseodidaktik III. Nulläquivalenz: fehlende phraseologische Entsprechung in der Muttersprache, z. B. etwas unter Dach und Fach bringen für τακτοποιώ κάτι. Anhand dieser Äquivalenztypen wird die zu erwartende Lernschwierigkeit deutscher Phraseme eingeschätzt und eine Niveauzuordnung vorgenommen. Aus dem systematischen Sprachvergleich auf der Basis der interlingualen Nähe und unter Berücksichtigung des Beherrschungsmodus (Rezeption-Produktion) ergibt sich die folgende Skalierung nach Sprachniveau (Chrissou 2020b): Äquivalenztyp Ⅰ Rezeption: A2-Niveau Produktion: B1-Niveau Äquivalenztyp Ⅱa Rezeption: B1-Niveau Produktion: B2-Niveau Äquivalenztyp Ⅱb Rezeption: B2-Niveau Produktion: C1-Niveau Äquivalenztyp Ⅱc Rezeption: B2-Niveau Produktion: C1-Niveau Äquivalenztyp Ⅲ Rezeption: B2-Niveau Produktion: C1-Niveau So ist auf niedrigem Sprachbeherrschungsniveau Phrasemen der Vorzug zu geben, die eine Volläquivalenz zu muttersprachlichen Einheiten aufweisen und den Lernenden im Unterschied zu teil- oder nulläquivalenten Phrasemen geringfügige Lernschwierigkeiten bereiten. Die vorgeschlagene Niveauzuord‐ nung basiert auf Hypothesen über potenzielle transferbedingte Schwierigkeiten, mit denen Deutschlernende mit Griechisch als Muttersprache beim Entschlüs‐ seln und produktiven Verwenden von Phrasemen aus dem phraseologischen Grundwortschatz potenziell konfrontiert werden. Sie wurde anhand durchge‐ führter und ausgewerteter Unterrichtsproben mit jugendlichen DaF-Lernenden überprüft und mit leichten Modifikationen weitestgehend bestätigt (ebd.): Zur Überprüfung ihrer Plausibilität sind weitere Unterrichtsproben erforderlich. Nichtsdestotrotz kann das beschriebene kontrastive Vorgehen als Grundlage für eine Niveauzuordnung in weiteren Sprachenpaaren dienen. 88 Marios Chrissou 7 Ausblick Zur angemessenen Selektion, didaktischen Aufbereitung und Lernprogression besteht noch Forschungsbedarf. Angesichts der großen Anzahl von Phrasemen ist es fraglich, ob sie im Rahmen von Unterricht erlernt werden können. Insofern ist es sinnvoll, bei den Lernenden ein Bewusstsein für fortwährendes Lernen zu schaffen, da sie sich eine umfassende phraseologische Kompetenz „letztlich nur durch kontinuierliches autonomes Lernen aneignen“ können (Ettinger 2007, 896). In diesem Zusammenhang stellt die Autonomisierung der Lernenden durch die unterrichtliche Förderung ihres Sprachbewusstseins und Sprachlernbewusstseins eine wichtige didaktische Maßnahme dar. Von Bedeutung ist hierbei die Förderung der Fähigkeit, Phraseme auf ihre Relevanz für eigene Sprachproduktionsbedürfnisse, nach Ettinger (2019a, 95) auf ihre „persönliche Nützlichkeit“ hin zu beurteilen. Didaktisch sinnvoll ist zudem das beiläufige Erlernen von Phrasemen im Unterricht aus aktuellem Sprechanlass. Außerdem sollte die phraseologiebezogene Wortschatzarbeit laut Lüger (2004, 165) kein „einmaliges Unterrichtsgeschäft“, sondern eine Daueraufgabe darstellen. Für die Unterrichtsgestaltung bedeutet dies, die Förderung der phraseologischen Kompetenz nicht außerhalb der textorientierten Spracharbeit anzusiedeln, sondern sie in die Phasen der routinemäßigen Textarbeit zu inte‐ grieren und für eine angemessene Balance zwischen Inhaltsorientierung und Formfokussierung zu sorgen. Wichtig ist ferner eine angemessene Lehreraus‐ bildung, die auf die Entwicklung eines sprachwissenschaftlich fundierten Be‐ wusstseins für phraseologische Phänomene ausgerichtet ist und Kompetenzen für die systematische Wortschatzarbeit im Bereich der Phraseologie vermittelt (Chrissou / Makos 2018, 41). Ein weiteres Desiderat auf institutioneller bzw. bildungspolitischer Ebene besteht im umfassenden Modellieren der phraseolo‐ gischen Kompetenz und in der Erstellung von Richtlinien und Lehrplänen, die für Transparenz bezüglich der Selektion erwerbsrelevanter Phraseme und ihrer didaktischen Aufbereitung in einer angemessenen Lernprogression sorgen. 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Dabei wird hier lediglich skizziert, was die Inhalte des Seminares sind. Es handelt sich folglich nicht um eine Studie, sondern den Versuch, auch andere Lehrkräfte im Bereich DaF/ DaZ oder der Fremdsprachendidaktik für diese Herangehensweise zu motivieren. In einem ersten Kapitel erfolgt ein knapper Einblick in die moderne Sprachtypologie (Kapitel 1). In Kapitel 2 steht die moderne sprachtypologische Herangehens‐ weise in Anlehnung an Greenberg (1963/ 66) im Vordergrund, die derart auch mit den Studierenden bearbeitet wird. Das 3. Kapitel skizziert eine mögliche Sensibilisierung durch die Etablierung eines Kontinuums zwischen kühlen und heißen Sprachen in Anlehnung an Bisang (1992), welches die Studierenden in der Folge auch für eigene Sprachanalysen und schriftliche Ausarbeitungen nutzen. Es folgt ein kurzes Resümee, das den Nutzen dieser Herangehensweise für Fremdsprachenlehrende noch einmal hervorhebt und auch die Kurzevalua‐ tion des Seminars vorstellt. 1 Sprachtypologie im Überblick Auf der Welt werden rund 6500 bis 7000 (vgl. Velupillai 2012: 44) Sprachen ge‐ sprochen. Roelcke (2011: 23) skizziert, dass ein Vergleich zwischen Sprachen auf der Basis von Sprachverwandtschaft durchgeführt werden kann, also beispiels‐ weise der indogermanischen Sprachfamilie. Für den Bereich des Fremdspra‐ chenunterrichts erscheint es jedoch förderlicher, Sprachvergleiche zwischen Sprachen ohne Verwandtschaftsverhältnis vorzunehmen, also Sprachen, die oftmals weniger Gemeinsamkeiten aufweisen. Um Sprachen vergleichen zu können, bedarf es einer einheitlichen und systematischen Klassifizierung, also Kategorien, die den Vergleich ermöglichen. Croft (2009: 1) grenzt die beiden sprachtypologischen Ansätze, den traditionell morphologischen und den modernen funktionalen Ansatz voneinander ab. Der traditionelle Ansatz operiert mit einer typologischen Klassifikation nach strukturellen Typen (flek‐ tierend, agglutinierend, isolierend, polysynthetisch) und ist, obwohl weniger hilfreich für den Sprachvergleich, meist bekannter. Der moderne Ansatz, in An‐ lehnung an Greenberg (1963/ 66), operiert mit sprachübergreifenden „patterns“, die auf Sprachen anwendbar sind. Croft (2009: 1) spricht hierbei von einer typologischen Generalisierbarkeit. Die moderne „Sprachtypologie versucht, die Regelhaftigkeit der Variation hinter der Vielfalt der menschlichen Sprachen zu erkennen.“ (Roelcke 2011: 24). Whaley (1997: 7) spricht von “components of languages based on shared formal characteristics”, wobei es nicht ausschließ‐ lich um den Vergleich morphosyntaktischer Einheiten geht (vgl. ebd.). Die moderne Sprachtypologie hat es sich zur Aufgabe gemacht, sprachübergreifende Gesetzmäßigkeiten zu identifizieren, die hier auftretenden Korrelationen zu vergleichen und zu untersuchen (vgl. ebd.). Dabei beschränkt sich die Analyse nicht auf grammatische Phänomene, sondern berücksichtigt auch Sprechakte, non- und paraverbale Faktoren, Sprachkontaktphänomene und soziale Einflüsse (vgl. Whaley 1997: 14; Comrie 1981). Roelcke (2011: 25sq.) führt exemplarisch folgende Bereiche auf: • Strukturen und Prozesse innerhalb von Lautgruppen (Tonalität, Konso‐ nantismus und Vokalismus) sowie prosodische Erscheinungen (vor allem Akzent und Intonation); • Kennzeichnung grammatischer Kategorien und Relationen (z. B. Markie‐ rungsmöglichkeiten für Negation, Wortbildungsverfahren); • Systeme morphologischer oder morphosyntaktischer Kategorien (im verbalen Bereich sind dies unter anderem Tempus, Aspekt und Modus sowie die Diathese, im nominalen Bereich Genus, Numerus und Kasus); • Phänomenbereiche wie Deixis, Pronominalsysteme und Markierung von Adverbialität; • Lexikalisch-semantische Systeme (Farbsysteme, Größen- und Mengen‐ verhältnisse, räumliche Dimensionen, Verwandtschaftsbeziehungen). 96 Marion Grein 1 Hier liegt der große Unterschied zum formal ausgerichteten Universalienansatz von Chomsky. Chomsky sieht weder den Instrumentcharakter noch die Datenausrichtung als zentral für die Theoriebildung an. 2 Die Universität Konstanz bietet hier eine komplette und aktualisierte Auflistung aller Universalien: https: / / typo.uni-konstanz.de/ archive/ intro/ index.php. 2 Die moderne Sprachtypologie in Anlehnung an Greenberg Als Begründer der modernen Sprachtypologie gilt Joseph Greenberg (1957), der erstmals im Bereich der Sprachtypologie mit quantitativen Verfahren operierte. Dabei entwickelte er das erste Sprachensample mit insgesamt zunächst 30 Sprachen (unterschiedlicher Sprachfamilien). Die vorherige Forschungsfrage „Welche Arten von Sprachen gibt es? “ wurde zugunsten der Frage „Welche Strukturen gibt es in Sprachen? “ (Whaley 1997: 24) aufgegeben. Sein Ansatz (und die der Folgeschulen) ist im weiteren Sinne funktional, d. h. sie sind alle der Vorstellung verpflichtet, Sprache sei in erster Linie ein Instrument der Kommunikation und der sozialen Interaktion und dieser ihr Zweck bestimme auch ihre Form. Die Ausrichtung ist stark datenorientiert, also empirisch ausgerichtet. 1 Neben dem Aufdecken verschiedener Phänomene, die es in jeder Sprache gibt (sog. unbedingte Universalien), entwickelte er insgesamt 45 implizite Uni‐ versalien, die das Muster „given X in a language, Y is also found“ (Whaley 1997: 24) aufweisen. Diese impliziten Universalien bieten die eigentliche Hilfestellung für Sprachlehrkräfte. 2 Erstes Ziel der modernen Sprachtypologie ist es, Aussagen über die Eigen‐ schaften von Sprache zu machen, die universell für möglichst alle oder viele Sprachen gelten. Diese sog. patterns, die in allen oder vielen Sprachen erkennbar sind, werden Universalien genannt, da sie generalisierende Aussagen über die Sprache möglich machen. Cristofaro (2010: 1) definiert: Typological universals are empirically established generalizations that describe dis‐ tributional patterns for particular grammatical phenomena across languages. These distributional patterns are regarded as universals to the extent that they are found in all languages or in a statistically significant number of languages. In Anlehnung an Greenberg werden, wie oben bereits geschrieben, vier Typen von Universalien unterschieden (vgl. Whaley 1997: 32; Aikhenvald & Dixon 2017). 97 Die Rolle der Sprachtypologie bei der Ausbildung unserer DaF/ DaZ Studierenden unbedingte implizite absolute absolute unbedingte Universalien absolute implizite Universalien statistische (auch: nicht-absolute) statistische unbedingte Universalien statistische implizite Universalien 2.1 Absolute unbedingte Universalien Absolute Universalien gelten für alle Sprachen. Hierzu gehören u. a. die fol‐ genden drei (vgl. Whaley 1997: 32): 1. Alle Sprachen besitzen Konsonanten und Vokale. 2. Alle Sprachen unterscheiden zwischen Nomen und Verben. 3. Alle Sprachen haben die Möglichkeit, Fragen zu formulieren. 2.2 Statistische unbedingte Universalien Diese Merkmale finden sich in den meisten Sprachen. Greenberg (z. B. 1966: 79) spricht hier von Merkmalen, die mit „overwhelmingly greater than chance frequency” auftreten. Dazu zählen z. B. folgende Universalien (vgl. Whaley 1997: 32): • Die meisten Sprachen haben den Vokal [i] wie in dem englischen Wort feet. • Die meisten Sprachen haben Nasale (Ausnahme: z. B. Salish-Indianerspra‐ chen). • Die meisten Sprachen haben Adjektive. • Sprachen bedienen sich gewöhnlich ansteigender Intonation, um ja/ nein-Fragen zu signalisieren. • In unmarkierten Aussagesätzen mit nominalem Subjekt und Objekt ist die Anordnung vorwiegend so, dass das Subjekt vor dem Objekt steht. Tomlin (1986: 22) berücksichtigte in seiner sprachübergreifenden Analyse 402 Sprachen und zeigte, dass Subjekt vor Objekt in 95,77 % aller Sprachen vorkommt; lediglich in 4,23 % der Sprachen steht das Objekt vor dem Subjekt. SOV 44,78 % SVO 41,79 % VSO 9,2 % 98 Marion Grein VOS 2,99 % OVS 1,24 % OSV 0 % Der World Atlas of Language Structures (WALS) zeigt folgende Verteilung (vgl. (Dryer 2013b): SOV 41 % SVO 35,4 % VSO 6,9 % VOS 1,8 % OVS 0,8 % OSV 0,3 % keine dominante Anordnung 13,7 % Für die Sprachlehrendenausbildung jedoch sehr viel relevanter sind die bereits angesprochenen impliziten Universalien. Implizite Universalien treffen eine Vorhersage, welche in der Form „wenn X, dann Y“ wiedergegeben werden können (vgl. Whaley 1997: 33). Insgesamt 45 Universalien wurden bereits von Greenberg (1963/ 1966) formuliert. Aus den Anordnungsmöglichkeiten von S, O und V (oder auch OV, VO oder Postposition vs. Präpositionen) ergeben sich implizite Universalien. Auch implizite Universalien können entweder absolute oder statistische Universalien sein. 2.3 Absolute implizite Universalien • Wenn eine Sprache P hat, hat sie auch Q. • Keine Sprache hat P ohne Q. Beispiel: Greenbergs Universalie 3: Wenn eine Sprache die Wortfolge VSO aufweist, ist sie präpositional (und nicht postpositional). Greenberg (1963/ 66: 79): „Languages with dominant VSO order are always prepositional”. 2.4 Statistische implizite Universalien Statistische implizite Universalien gleichen den absoluten impliziten Universa‐ lien, allerdings ohne Absolutheitsanspruch. 99 Die Rolle der Sprachtypologie bei der Ausbildung unserer DaF/ DaZ Studierenden Beispiel: Greenbergs Universalie 4: Mit wesentlich mehr als Durchschnitts‐ wahrscheinlichkeit sind Sprachen mit SOV-Struktur postpositional. Sprachen wie Türkisch, Mongolisch, Japanisch folgen dieser Universalie. Persisch, als offensichtlich einzige Ausnahme, ist zwar eine SOV-Sprache, hat aber Präposi‐ tionen. Folgende Tendenzen oder statistische implizite Universalien hat die For‐ schung u. a. hervorgebracht. wenn (S)OV: wenn: V(S)O Postpositionen Präpositionen vorwiegend Suffixe vorwiegend Präfixe Verb - Hilfsverb (AUX) Hilfsverb (AUX) - Verb Satz - Fragepartikel Fragepartikel - Satz Genitiv - Bezugsnomen Bezugsnomen - Genitiv Relativsatz - Bezugsnomen (gap-type) Bezugsnomen - Relativsatz (Relativpronomen) Verb - Negation Negation - Verb Nebensatz - Hauptsatz Hauptsatz - Nebensatz Nebensatz - adverbialer Subordinator (Konverben) adverbialer Subordinator - Satz (Konjunktionen) Entscheidungsfrage = Aussagesatz + QU-Marker QU-Marker - Aussagesatz Adjektiv - Nomen Nomen - Adjektiv Demonstrativpronomen - Nomen Nomen - Demonstrativpronomen Numerale - Nomen Nomen - Numerale (vgl. Croft 2009: 72; Dryer / Haspelmath 2013; Plewnia 2003: 256; Payne 1990: 10sqq.) 100 Marion Grein 3 Dabei geht die Sprachtypologie bei der Klassifizierung nicht nach der Frequenz, sondern der unmarkierten Anordnung im Aussagesatz. Das Deutsche gilt hier demzufolge als eine SVO-Sprache. In dem Seminar zur Grammatik des Deutschen wird genauer auf die Klassifizierungsproblematik eingegangen. „The order used for a stylistically unmarked version of John saw Mary in German would be SVO, too, but to simply call German an SVO language would disguise the verb-second nature of its word order“ (Mallinson / Blake 1981: 129). 4 Die Vermutungen, dass Japanisch und Türkisch zum Altaischen gehören, sind zunehmend umstritten und auch für die Darstellung nicht relevant. Die europäischen Sprachen sind vorwiegend SVO und sind dabei keinem System eindeutig zuzuordnen. 3 Eine Sensibilisierung für die Unterschiede - und damit dann auch für Probleme beim Erlernen fremder Sprachen - kann man jedoch meines Erachtens auch alleine damit herbeiführen, dass man die o. a. Ergebnisse der Typologie- und Universalienforschung thematisiert. Ergänzend hilft die Sensibilisierung durch die Klassifikation in kühle und heiße Sprachen (siehe Kapitel 4). Konkret werden die Gemeinsamkeiten und Unterschiede anhand eines Vergleichs des Türkischen und Japanischen, beides Verbfinalsprachen, mit dem Deutschen durchgeführt. Im Wintersemester 2019/ 2020 wurde dies interaktiv mit den Studierenden durchgeführt. Im Seminar war ein L1 Usbeke, eine L1 Koreanerin sowie eine L1 Türkin. Die unten aufgeführten Beispielsätze wurden mit Interlinearversion in den drei Sprachen verglichen. Viele Lernende der deutschen Sprache haben als Herkunftssprache eine Verbfinalsprache, so dass viele der etwaigen Probleme beim Erlernen des Deutschen nachvollzogen werden können. Türkisch und Japanisch 4 werden dabei als strikte Verbfinalsprachen betrachtet. Einige Beispiele mögen die Ähnlichkeiten und damit Unterschiede zum Deutschen verdeutlichen. Japanisch und Türkisch zählen zu den prototypischen SOV-Sprachen (vgl. Grein 1998). In beiden Sprachen steht das nach Tempus-As‐ pekt-Modus-Kategorien markierte Verb stets in finaler Position. 1. D Der Hund biss Petra. 2. TÜRK köpek Petra‘-yı ısır-dı. Hund Petra-AKK beiß-PRÄT 3. JAP inu wa Petora o kami-mashita. Hund TOP Petra AKK beiß-HON: PRÄT Das Japanische hat, anders als das Türkische, einen Topik-Marker und wird nach Höflichkeit markiert. 101 Die Rolle der Sprachtypologie bei der Ausbildung unserer DaF/ DaZ Studierenden 5 Beispiel: hamá-tte-ten: „Ich werde gehen“ zu háma-ten: „werde ich gehen? “ Beide Sprachen arbeiten mit Postpositionen: 4. D auf dem Tisch 5. TÜRK masa-nιn üst-ü-n-de Tisch-GEN Oberseite-POSS: 3s-pronominales n-LOK 6. JAP têburu no ue de Tisch GEN Oberseite LOK Wie in den meisten Verbfinalsprachen werden Fragen im Türkischen und Japanischen mit einer Fragepartikel konstruiert. Dabei kommt es zu keiner Veränderung der Wortstellung. Betrachtet man die von Dryer (2013d) analy‐ sierten 955 Sprachen bezüglich der Markierung von Entscheidungsfragen, wird deutlich, dass die Verwendung von Fragepartikeln sehr prominent ist: Fragepartikel (initial: ca. 30 %; final ca. 70 %) 585 Sprachen Verbmorphologie (z. B. Russisch) 164 Sprachen Fragepartikel und Verbmorphologie (z. B. Pirah-, Mura; Brazil) 15 Sprachen Wortstellung/ Inversion (z. B. Deutsch; Austronesische Sprachen) 13 Sprachen Morpheme, die im Aussagesatz obligato‐ risch sind, werden getilgt (z. B. Zayse) 5 4 Sprachen ausschließlich durch Intonation markiert (umgangssprachliches Italienisch) 173 Sprachen keine Markierung (Chalcatongo Mixtec, Oto-Manguean; Mexico) 1 Sprache Die deutsche Inversion ist dabei wenig frequent. Orts- und Richtungsangaben, die im Deutschen durch zahlreiche Präposi‐ tionen markiert werden, weisen im Türkischen und Japanischen wiederum eine recht einheitliche Struktur auf. Es gibt einen direkten Form-Funktionszusam‐ menhang. Der Ort der Handlung wird mit einer einzigen Partikel markiert: 102 Marion Grein D JAP in der Stadt machi de auf dem Tisch têburu de an der Wand kabe de auf Mallorca mayoruka de im Schrank tansu de Auch die Richtungsangabe bedient sich einer festen Partikel. Betrachten wir Richtungsangabe und Fragemarkierung im Japanischen und Türkischen: 7. D Tobi fährt nach München. 8. TÜRK Tobi München‘-e gid-iyor. Tobi München-DAT geh-PRÄS 9. JAP Tobi wa München ni ikimasu. Tobi TOP München DIR geh: HON: PRÄS 10. D Fährt Tobi nach München? 11. TÜRK Tobi München‘-e gid-iyor mu? Tobi München-DAT geh-PRÄS QU 12. JAP Tobi wa München ni ikimasu ka. Tobi TOP München DIR geh: HON: PRÄS QU Auch in Bezug auf die Negationsmarkierung zeigt das Deutsche keine in den Sprachen der Welt sehr häufige Strategie. Nach Payne (1985) kann die Standard‐ negation durch Negationspartikeln (dt. nicht), negative Verben oder negative Verbmorphologie (morphologische Negation) markiert werden; daneben tritt die Negationsmarkierung mittels negativer Artikel/ Determinator (dt. kein) auf (vgl. Payne 1985: 199; Miestamo 2007, 2017). Negation mittels kein ist den meisten Lernenden unbekannt, aber auch die Negationspartikel nicht bereitet insofern Schwierigkeiten, da sie unterschiedliche Positionen im Satz einnehmen kann (vgl. Helbig / Buscha 2001: 548sq.). Hier Beispiele ohne weitere Erläuterungen: 103 Die Rolle der Sprachtypologie bei der Ausbildung unserer DaF/ DaZ Studierenden 13. (Er fährt heute nicht mit dem Auto. 14. Ich fahre wegen des schlechten Wetters nicht. 15. Er wird morgen nicht anreisen. 16. Er reist heute nicht an. Die japanische oder türkische Negationsmarkierung mittels Negationsmor‐ phem am Verb ist eine sehr häufige Strategie. 17. D Tobi fährt nicht nach München. 18. TÜRK Tobi München‘-e git-mi-iyor. Tobi München-DAT geh-NEG-PRÄS 19. JAP Tobi wa München ni ikimasen. Tobi TOP München DIR geh: HON: PRÄS: NEG Auch Possession wird in beiden Sprachen analog konstruiert: Während im Deutschen beide Anordnungen: Possessor - Possessum oder Possessum - Possessor möglich sind, muss bei Verbfinalsprachen der Possessor in initialer Position stehen. Im Deutschen ist folglich beides grammatisch, wenn auch „des Direktors Haus“ stark stilistisch markiert ist. 20. D ‚des Direktors Haus‘ oder ‚das Haus des Direktors‘. 21. TÜRK müdür-ün ev-i Direktor-GEN Haus-POSS: 3s 22. JAP kacho no uchi Direktor GEN Haus In beiden Sprachen stehen alle Modifikatoren vor ihrem Bezugswort oder Bezugssatz, d. h. sowohl im Japanischen als auch Türkischen stehen Adverbien vor dem Verb, subordinierte Sätze stehen immer in der Position vor dem superordinierten Satz und Adverbialsätze werden häufig konverbal konstruiert. Wie anhand der Beispiele bereits zu sehen ist, haben beide Sprachen keinen Artikel und keine Genusdistinktion. Die Einschränkungen bezüglich der Plural‐ markierung werden im folgenden Kapitel zu heißen und kühlen Sprachen noch einmal aufgegriffen. Die Beschäftigung mit impliziten Universalien ermöglicht 104 Marion Grein es den Lehrkräften Vermutungen über die Struktur der Erstsprachen ihrer Lernenden zu formulieren und sensibilisiert sie für die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Sprachen der Welt. Das Bewusstsein für sprachliche Diversität wird durch das Konzept der kühlen und heißen Sprachen weiter ausgeprägt. 3 Das Konzept der heißen und kühlen Sprachen Die Differenzierung in heiße und kühle Sprachen - in Form eines Kontinuums - ist zurückzuführen auf die Medien- und Kulturtheorie von Marshall McLuhan (1911-1980), erstmals publiziert 1964 in seinem Werk Understanding Media. Im ersten Teil dieses Werks stellte er die Hypothese auf, dass verschiedene Medien vom Konsumenten unterschiedlich hohe Teilnahmegrade verlangen. Bei einem sog. heißen Medium werden dem Konsumenten alle Informationen dargeboten, bei einem kühlen Medium muss der Konsument aktiv am Verstehensprozess mitarbeiten. Diese Klassifizierung aus der Medienwelt, die bereits erste Züge aus der Sprachwissenschaft in sich trägt, wurde von John R. Ross (1982) und C.-T. James Huang (1984) in die Sprachwissenschaft übertragen. Die Übertragung bezog sich dabei zunächst auf Referenz und die Weglassbarkeit von Pronomina (Pro-drop-Sprachen). Huang (1984: 531) schreibt: For example, English may be said to be a „hot“ language because pronouns cannot in general be omitted from grammatical sentences, and the information required to understand each sentence is largely obtainable from what is overtly seen and heard in it. On the other hand, Chinese may be said to be a very „cool“ language in that such pronouns are usually omissible (and are often more than naturally omitted) from grammatical sentences, and understanding a sentence requires some work on the reader’s or hearer’s part, which may involve inference, context, and knowledge of the world among other things. In sog. Pro-drop-Sprachen (kurz für pronoun dropping; auf Deutsch auch Null-Subjektsprachen) ist also das Setzen von Personalpronomina, vor allem zunächst für das Subjekt finiter Sätze, nicht obligatorisch. Das Weglassen (drop) des Pronomens (pro) stellt hier den üblichen Fall dar, d. h. die Realisierung des Null-Subjekts ist meist obligatorisch und lediglich bei Kontrastierung oder Fokussierung wird das Pronomen verwendet. Neben dem sog. Null-Subjekt ist auch ein Null-Objekt möglich. Um herauszufinden, ob die Positionen besetzt werden müssen, verwendet man den sog. Pro-drop-Test: 105 Die Rolle der Sprachtypologie bei der Ausbildung unserer DaF/ DaZ Studierenden 23. ENG Sprecher A: Did John see Bill yesterday? Sprecher B: a. Yes, he saw him. b. *Yes, e saw him. c. *Yes, e saw e. d. *Yes, I guess e saw e e. *Yes, John said e saw e e = empty/ Leerstelle, * = ungrammatisch Im Englischen müssen die Leerstellen jeweils mit Pronomina gefüllt werden, damit der Satz grammatisch ist. 24. CHIN Spre‐ cher A: Zhangsan kanjian Lisi le ma? Zhangsan seh Lisi ASP QU ‚Hat Zhangsan Lisi gesehen? ‘ Spre‐ cher B: a. ta kanjian ta le er seh er ASP ‚er hat ihn gesehen‘ b. e kanjian ta le [er] seh er ASP ‚[er] hat ihn gesehen‘ c. ta kanjian e le er seh [er] ASP ‚er hat [ihn] gesehen‘ d. e kanjian e le [er] seh [er] ASP ‚[er] hat [ihn] gesehen‘ 106 Marion Grein e. wo cai e kanjian e le ich glaub [er] seh [er] ASP ‚ich glaube, [er] hat [ihn] gesehen f. Zhangsan shuo e kanjian e le Zhangsan sag [er] seh [er] ASP ‚Zhangsan sag [er] hat [ihn] gesehen‘ Im Chinesischen kann dabei, wie der Pro-drop-Test zeigt, nicht nur das Pro‐ nomen für das Subjekt weggelassen werden, sondern auch für die weiteren Objekte. Dieses Phänomen finden wir in zahlreichen (auch nicht verwandten) asiatischen Sprachen (Thai, Japanisch, Koreanisch, Javanesisch, Balinesisch, etc.), aber tendenziell auch im Türkischen. Dabei ist hervorzuheben, dass die fehlenden Pronomina im Chinesischen auch nicht am Verb markiert sind. In der überwiegenden Mehrzahl der Sprachen (63,5 %) ist kein overtes Personal‐ pronomen notwendig, wenn die Person am Verb markiert ist (bspw. Italienisch, Spanisch); im Japanischen und Chinesischen wird die Person weder am Verb markiert, noch ist ein Pronomen zu setzen. Daher erklärt sich auch die Tendenz vieler Lernender die Personalpronomina im Deutschen wegzulassen. Im Italienischen findet sich die Markierung am Verb: 25. ITA (singen, Präsens) [io] canto [tu] canti [egli] canta [noi] cantiamo [voi] cantate [essi] cantano Die Markierung am Verb - wie im Italienischen - ist dabei die frequenteste Variante. Pronominale Subjekte Pronominales Subjekt/ Subjekt obligatorisch in Subjektposition 12 % 107 Die Rolle der Sprachtypologie bei der Ausbildung unserer DaF/ DaZ Studierenden 6 Das Setzen des Pronomens (oder auch der NP) können vom Rezipienten auch insofern missverstanden werden, als dass er/ sie daraus schließt, dass sein Gegenüber ihn/ sie als weniger „intelligent“ einschätzt, ihm/ ihr also das Inferieren nicht zutraut. Pronominales Subjekt am Verb markiert 63,5 % Pronominales Subjekt in Form eines Klitikons 5,1 % Pronominales Subjekt in variabler Position 9,9 % Pronominales Subjekt ist fakultativ und wird in der Regel weggelassen 9,5 % (Quelle: Dryer 2013c) Fassen wir die zwei Pole des Kontinuums zusammen, so zeigt sich folgendes Bild: heiße Sprachen kühle Sprachen alle vom Verb eröffneten Leerstellen müssen besetzt werden die vom Verb eröffneten Leerstellen können leer bleiben, wenn die „Mit‐ spieler/ innen“ aus dem Kontext inferiert werden können ein Satz muss mindestens aus NP + VP bestehen, wobei in der NP-Position min‐ destens ein Pronomen stehen muss das Setzen eines sich aus dem Kontext erschließbaren Arguments wird als „über‐ markiert“ verstanden (Kontrast) 6 keine große Mitarbeit des Rezipienten er‐ forderlich große Mitarbeit des Rezipienten erforder‐ lich Determiniertheit Indeterminiertheit „Überfluss“ an Informationen Ökonomie Dabei sind heiße und kühle Sprachen als die äußeren Pole eines Kontinuums zu betrachten, d. h. die Sprachen lassen sich auf diesem Kontinuum auf unter‐ schiedlichen Positionen ansetzen. Bisang (1992: 24) spricht ganz allgemein zunächst von der Indeterminiertheit des Verbs. Es drückt bei kühlen Sprachen lediglich eine Handlung oder einen Zustand aus. Aspekt, Tempus und Modus müssen oder können nicht markiert werden. Diese Indeterminiertheit kann nicht nur auf andere Wortarten (Nomen z. B.) übertragen werden, sondern betrifft auch den Aufbau von Texten. Betrachtet wird mit den Studierenden dann, was man in unterschiedlichen Sprachen markieren kann bzw. markieren muss. Dabei wird eine Zuordnung zu heiß („es wird möglichst viel markiert“ - Determiniertheit) und kalt („es wird sehr wenig markiert“ - Indeterminiertheit) 108 Marion Grein herangezogen, die linguistisch sehr viel stärker zu diskutieren wäre. Ziel innerhalb des Seminares ist es jedoch, die Studierenden für die Unterschiede zu sensibilisieren. Nomen Am Nomen kann markiert werden: Genus, Numerus, Kasus, [Belebtheit]. Be‐ trachten wir zunächst den Bereich Genus. Das Deutsche kennt drei Genera, die sich vor allem auch durch eine obligatorische Kongruenz bei Artikel, Adjektiv und Pronomina ausweisen. 26. D der klein-e Löffel, klein-er Löffel, er die klein-e Gabel; klein-e Gabel, sie Im Französischen gibt es nur noch zwei Genera: Bei belebten Wesen wird nach Sexus differenziert, ansonsten nach phonologischen Kriterien. Im Italienischen unterliegt auch das Demonstrativpronomen der Genuskon‐ gruenz. 27. D Dies ist eine ersthafte Angelegenheit. Dies ist ein ernsthaftes Problem. 28. ITA Questa è una faccenda seria. Questo è un problema serio. Artikel Ein Großteil der Studierenden, die als Erstsprache eine indoeuropäische Sprache erworben haben und später in der Schule Englisch/ Französisch/ Spanisch gelernt haben, gehen oftmals davon aus, dass Artikel eine universelle Kategorie sind. Werfen wir einen kurzen Blick auf die Statistik (Dryer 2013a): Definiter Artikel definiter Artikel vorhanden 34,8 % Demonstrativpronomen als Artikel-Ersatz 9,7 % definiter Artikel in Form eines Affixes 14,8 % kein definiter Artikel vorhanden 40,7 % (Quelle: Dryer 2013a) 109 Die Rolle der Sprachtypologie bei der Ausbildung unserer DaF/ DaZ Studierenden Zählt man die Sprachen, die meist fakultativ ein Demonstrativpronomen als Artikelersatz wählen können und solche, die keinen Artikel kennen, zusammen, so haben knapp über die Hälfte der Sprachen keinen definiten Artikel. Genus Die Mehrzahl der Sprachen der Erde (56,4 % nach Corbett 2013) ist bezüglich der Genuszuweisung kühl, sprich diese Sprachen kennen keine Genusunterscheidung. Genera keine Genusdistinktion 56,4 % zwei Genera 19,5 % drei Genera 10,2 % vier Genera 4,6 % fünf oder mehr Genera 9,3 % (Quelle: Corbett 2013) Die Kühlheit bei solchen Sprachen, die kein Genus aufweisen, ergibt sich meist durch das Fehlen von nach Genus markierten Pronomina, d. h. das sog. Referenztracking ist erschwert. Die zentrale Funktion von Genus ist also die Bereitstellung von Pronomina, mit denen auf Referenten Bezug genommen werden kann. 29. D Sabine fotografierte Hans vor dem Haus, als sie/ er/ es 18 Jahre alt war. 30. TÜRK Sabine Hansın evin: in önünde onsekiz Sabine Hans: GEN Haus: GEN vor: LOK 18 yaşında: yken resmini çek: mişti. Jahre: KOP Foto: AKK fotografier: PRÄT Es wird in der türkischen Variante nicht klar, ob Sabine, Hans oder das Haus 18 Jahre alt ist. 31. D Der Krug fiel in die Schale, aber er/ sie zerbrach nicht. 32. Der Krug fiel in die Schale und er/ sie zerbrach. 110 Marion Grein 33. ENG The jug fell into the bowl, but it did not break. 34. The jug fell into the bowl and it broke. Auch in der englischen Version ist nicht eindeutig, was nun nicht zerbrochen bzw. zerbrochen ist. Während vor allem in den uralischen, altaischen, sino-tibetischen, austrone‐ sischen, Tai, austro-asiatischen Sprachen sowie dem Japanischen und Koreani‐ schen kein Genus vorhanden ist, gibt es jedoch auch vereinzelt Sprachfamilien, die ein ebenso komplexes Genussystem wie das Deutsche haben. Wenn Spra‐ chen ein Genussystem haben, ist ein zweigliedriges Genussystem am häufigsten. Das größte Genussystem wird der Sprache Fula (Nigeria) zugesprochen (vgl. Corbett 2013, 24-26). Numerus Haspelmath (2013) differenziert die folgenden Numerusmarkierungen, die wie‐ derum unsere kühl-heiß-Dimension widerspiegeln. keine Pluralmarkierung vorhanden 9,7 % 54,3 % Pluralmarkierung lediglich bei Menschen, fakul‐ tativ 6,9 % Pluralmarkierung lediglich bei Menschen, obliga‐ torisch 13,7 % Pluralmorpheme für alle Nomina vorhanden, fa‐ kultativ 18,9 % Pluralmorpheme für alle Nomina vorhanden, fa‐ kultativ bei nicht-belebten Nomina (also obliga‐ torisch bei Mensch & Tier) 5,1 % Pluralmorphem bei jedem Nomen obligatorisch 45,7 % (Haspelmath 2013) Zu der letzten Gruppe, also der, bei der Pluralmorpheme obligatorisch zu setzen sind, finden wir wiederum eine große Anzahl von Sprachen - wie Türkisch -, bei der die Pluralmarkierung am Nomen entfallen muss, wenn ein Numeral gesetzt wird (sog. morphologische Ökonomie vgl. Johanson 1971: 33). 111 Die Rolle der Sprachtypologie bei der Ausbildung unserer DaF/ DaZ Studierenden 35 TÜRK adam adam-lar iki adam *iki adam-lar Mann Männer zwei Mann Das Deutsche besitzt zwar nur noch zwei Numeri: Singular und Plural; die ‚heiße‘ Tendenz zeigt sich wieder darin, dass Numerus sowohl am Nomen selbst, aber auch bei Adjektiv, Artikel und Verb markiert wird. Im Türkischen kongruiert das Verb mit dem Subjekt. Das Adjektiv kongruiert nicht mit dem Nomen. Im Japanischen fehlt jegliche Kongruenz. Das Nomen bezeichnet also in zahlreichen Sprachen lediglich ein Konzept, ist folglich als kühl bzw. indeterminiert zu bezeichnen. Bisang (1993: 7) fasst, mit Bezug auf das Chinesische, zusammen: A noun only represents a given object or concept. It remains neutral - i. e. indeter‐ mined - with respect to the following aspects: number (individualization), class, reference, relationality (possession), case. Thus an utterance like e. g. Chinese shu can mean 'tree, trees, a tree, the tree, etc' according to a given context. Die Sprachen werden heißer, wenn sie z. B. bei der Quantifizierung einen Numeral‐ klassifikator benötigen oder einer festen Nominalklasse zugeordnet werden müssen. Den meisten nicht-indoeuropäischen Fremdsprachenlernenden ist die „heiße“ Markierung am Nomen also gänzlich fremd. Weder Genus und Artikel noch Kongruenzerscheinungen kennen sie aus ihren Erstsprachen. Verb Gerade im Bereich des Verbs kommt es zu sehr großen Unterschieden bezüglich dessen, was am Verb markiert werden muss oder markiert werden kann. Dabei ist es für unsere Klassifizierung von kühlen und heißen Sprachen nicht von Relevanz, ob diese Markierung am Verb oder periphrastisch vorgenommen wird. Dahl & Velupillai (2013b) zeigen die große Variationsbreite. Im Deutschen markieren wir sowohl die Person (Personenkonjugation) und Numerus als auch Tempus, Modus und Genus verbi am Verb. Im klassischen Chinesisch hingegen fehlt jegliche Markierung am Verb. Die grammatische Kategorie Tempus gibt in systematischer Weise in Äuße‐ rungen eine Zeitreferenz, die entweder nur durch Zeitadverbien oder entspre‐ chende Syntagmen (kühle Sprachen: gestern, im nächsten Jahr) oder in der Verbalkonjugation oder durch beides (heiße Sprachen) realisiert wird. Traditio‐ nellerweise setzt man drei generelle Zeitabschnitte auf einer Zeitachse an: Vergangenheit - Gegenwart - Zukunft. In zahlreichen Sprachen differenziert man jedoch nur vergangen vs. nicht-vergangen oder auch Futur vs. Nicht-Futur. In sehr heißen Sprachen gibt es weitere Tempora. Das Deutsche differenziert in 112 Marion Grein Anlehnung an die lateinische Grammatik Plusquamperfekt, Perfekt, Präteritum, Präsens, Futur I und Futur II, also sechs Tempora. Im Indonesischen beispielsweise gibt es keine Tempora. Es existiert lediglich ein fakultatives Affix zur Markierung von Perfekt. Bei der Äußerung 36 INDO Air itu dingin. Wasser DEM kalt ‚Das Wasser ist/ war kalt‘ (Dahl / Velupillai 2013a) muss der Rezipient aus dem Kontext erschließen, ob es sich um die Gegenwart oder die Vergangenheit handelt. Diesbezüglich ist also Indonesisch als beson‐ ders kühl zu klassifizieren. Neben den Sprachen, die äußerst kühl bezüglich der Tempus-Markierung sind, gibt es durchaus auch Sprachen, die ein sehr viel komplexeres Tempus-Markierungs-System aufweisen als das Deutsche. So unterscheidet beispielsweise das Yagua (Payne / Payne 1990; cf. Dryer / Haspelmath 2013) fünf Vergangenheitsstufen: Vergangenheitstempora Yagua (Suffix am Verb) Proximate 1 ein paar Stunden vor dem Äußerungszeitpunkt -jásiy Proximate 2 ca. einen Tag vor dem Äußerungszeitpunkt -jay Vergangenheit 1 zwischen einer Woche und einem Monat vor dem Äußerungszeitpunkt -siy Vergangenheit 2 zwischen einem Monat und einem bis zwei Jahre vor dem Äußerungszeitpunkt -tíy Vergangenheit 3 lange vor dem Äußerungszeitpunkt -jada Dahl / Velupillai (2013a) kommen insgesamt zu folgender Verteilung: Tempusmarkierung mindestens 4 Tempora markiert 0,9 % mindestens 3 Tempora markiert 17,1 % einfache Vergangenheit - Nicht-Vergangenheit-Distinktion 42,3 % keine grammatische Tempusmarkierung 39,7 % 113 Die Rolle der Sprachtypologie bei der Ausbildung unserer DaF/ DaZ Studierenden Kurze Zusammenfassung Sprachen lassen sich also auf einem Kontinuum zwischen heißen und kühlen Sprachen anordnen. definite und indefinite Artikel + Demonst‐ rativpronomen kein Artikel 5 oder mehr Genera (obligatorische Nomi‐ nalklassen mit Kongruenz) kein Genus viele Numeri: Singular, Dual, Plural, Trial; inklusiv - exklusiv kein Numerus zahlreiche Kasus kein Kasus Kongruenz innerhalb der NP keine Kongruenz innerhalb der NP DEM, ADJ Kongruenz am Verb mit Agens und Pa‐ tiens keine Kongruenz mit dem Verb zahlreiche Tempora keine Tempora (Adverbien) Aspektmarkierung keine Aspektmarkierung Modusmarkierung am Verb keine Modusmarkierung Aktiv, Passiv, event. Anti-Passiv, Medial, Reflexiv, Reziprok keine Diathese (Genus verbi) Leerstellen des Verbs müssen obligato‐ risch besetzt werden Aktanten nicht obligatorisch markiert: Satz = finites Verb 4 Relevanz oder Nutzen für den Fremdsprachenlehrenden Welchen Nutzen haben nun diese Erkenntnisse für den Fremdsprachenunter‐ richt? Was hilft das Wissen dem Lehrenden? (vgl. auch Oomen-Welke 2008; Kniffka & Siebert-Ott 2009: 186 ff, Kapitel 5.4 Kontrastive Sprachbetrachtung; Grein 2010). Den (zukünftigen) Lehrkräften wird u. a. bewusst, dass Artikel, Genus und Numerus in den Sprachen zahlreicher Lernender nicht in der ausgeprägten Form vorkommen wie im Deutschen. Sie sehen, warum Inversion, Nebensatz‐ konstruktionen und Tempus oftmals schwer zu vermitteln sein werden. Ziel 114 Marion Grein der Veranstaltung ist es dabei nicht, sich mit der Typologie des Deutschen auseinanderzusetzen, sondern für die sprachliche Vielfalt zu sensibilisieren. Die Struktur des Deutschen wird in einem anderen Seminar ausführlich behandelt. Wie beurteilen die Studierenden den Bereich Sprachtypologie? Hierfür wurde eine kurze Online-Umfrage (s. Anhang) gestartet, bei der sowohl Studierende, die das Seminar im Wintersemester 2019/ 2020 besucht haben, als auch Ab‐ solventinnen aus früheren Semestern gebeten wurden, ein kurzes Feedback abzugeben. Insgesamt 56 Studierende füllten den Fragebogen aus, 55 Datensätze können gewertet werden. Bei den ersten drei Fragen wurde eine 8er Rating Skala verwendet. Frage 1: Wie nützlich empfanden Sie ganz allgemein den Bereich Sprachty‐ pologie für Ihre DaF/ DaZ-Qualifikation? 0 = wenig nützlich 8 = sehr nützlich 6,80 Frage 2: Wie sehr hat der Bereich der Sprachtypologie für die Vielfalt der sprachlichen Strukturen sensibilisiert? 0 = wenig sensibilisiert 8 = stark sensibilisiert 6,93 115 Die Rolle der Sprachtypologie bei der Ausbildung unserer DaF/ DaZ Studierenden Frage 3: Würden Sie anderen DaF/ DaZ-Studiengängen empfehlen, den Be‐ reich Sprachtypologie zu integrieren? 0 = nein 8 = unbedingt 7,05 Frage 4: Haben Sie sich in vorherigen Studiengängen mit den dargebotenen/ diskutierten Inhalten schon einmal beschäftigt? Frage 5: Würden Sie kurz mit eigenen Worten schreiben, wie Sie den Bereich Sprachtypologie / kühle & heiße Sprachen „fanden“? Hier werden alle (43) Kommentare aufgeführt: Das war ausgesprochen spannend und hat perfekt gezeigt, wo Lernende Probleme haben können, wenn sie Deutsch lernen. Ich fand es sehr interessant da man so einen Überblick über mehrere Sprachen gewonnen hat, ohne diese verstehen oder sprechen zu können. Als Deutsche sind wir es gewohnt, dass jedes Detail versprachlicht wird. Daher war es sehr spannend sich mit Sprachen wie Japanisch auseinander zu setzen, in denen man sich viel aus dem Kontext erschließen muss. Sehr gut 116 Marion Grein Ich fand den Bereich sehr lehrreich, da er für mich neu war. Obwohl ich eine Sprache studiert habe, haben wir dort nicht darüber geredet. Es macht sehr deutlich, warum Lehrer oft so unsensible im Sprachunterricht sind. Meine Lehrer in der Schule wussten nichts über z. B. fehlende Artikel oder so. Ich halte diesen Bereich für sehr nützlich. Beim Unterrichten hat mir dieses Wissen sehr geholfen, da ich dadurch viel besser verstehen kann, wie 'unverständlich' manche Aspekte der deutschen Sprache für Lernende sein können. Ich finde den Bereich Sprachtypologie nützlich, da man dadurch deutlich sehen kann, wie unterschiedlich die Strukturen der verschiedenen Sprachen sein können. Die morphologische Unmarkiertheit der Ausgangssprache kann dazu führen, dass die Lernende die Strukturierung der deutschen Sprache nicht verstehen können. Deswegen ist es wichtig, als Lehrkraft diesen Unterschied zwischen den Sprachen zu kennen. War eines der interessantesten Seminare Interessant und informativ, ich hatte vorher keine Vorstellung von diesem Konzept und finde es nützlich Zwingend erforderlich für die Arbeit mit multikulturellen Gruppen interessant sehr interessant und mega wichtig! ! ! ! ! ! : ) Interessant und vor allem nützlich, wenn man einen groben Eindruck von den Spra‐ chen hat, wie sie überhaupt funktionieren. Weil die KT unterschiedliche sprachliche Herkunft haben und die LK muss sich dessen bewusst sein, wann und warum ihre KT Schwierigkeiten bzw. Vorteile beim Lernen haben. Ich fand den Bereich praxisnah und sehr nützlich für die Sensibilisierung für die unterschiedlichen sprachlichen Strukturen. Die Differenzierung von kühlen und heißen Sprachen hat dabei geholfen, Strukturen verschiedener Sprachtypen besser nachzuvollziehen. Ich fand alles super. Es war sehr spannend und sinnvoll! Ich fand diesen Bereich allein unter linguistischen Gesichtspunkten sehr interessant. Es war spannend einen Einblick in die Funktionsweise anderer Sprachen zu erhalten, v. a. solche mit ganz anderen Wurzeln als die deutsche Sprache oder indogermanische Sprachen im Allgemeinen. Aus didaktischer Sicht finde ich es ebenfalls wichtig sich mit anderen Sprachen intensiver auseinanderzusetzen, um besser auf die sprachspezi‐ fischen Bedürfnisse der Lernenden eingehen zu können. Zudem können Kenntnisse der sprachlichen Strukturen der L1 der Lernenden nicht nur bei der Fehleranalyse helfen, sondern auch für mehrsprachigkeitsdidaktische Ansätze nützlich sein. Sehr Gut Sehr wichtig für Lehrer, in meinem Deutschstudium nie behandelt, sollte unbedingt auch da rein. 117 Die Rolle der Sprachtypologie bei der Ausbildung unserer DaF/ DaZ Studierenden Ich finde Sprachtypologie in dem Sinne interessant, dass man mal davon gehört und sich ein zwei Sprachen angeschaut hat. Informationen aus dem Kontext zu erschließen war für mich neu und daher recht „spannend“, aber eher im Hinblick auf interkulturelles Verhalten. Absolut erhellend! Tolles Seminar, tolle Erkenntnisse, tolle Dozentin. Der Bereich kühle und heiße Sprache war für mich neu und auch sehr interessant. Gerade im Deutschen wird alles sprachlich markiert und man kann sich gar nicht vorstellen, dass in anderen Sprachen die Kommunikation "einfacher" gestaltet wird. Auch hätte ich nicht gedacht, dass evtl. von mir erwartet werden könnte, einen gewissen Kontext zu erkennen und dass sprachliche Einheiten weggelassen werden können. Das ist sehr wichtig! Förderung von Sprachbewusstsein für meine Erstsprache und andere Sprachen, Per‐ spektivwechsel - erweiterung, Transfermöglichkeit, Verständnis für Schwierigkeiten der Lernenden! Ich fand es sehr interessant, aber auch anschaulich gestaltet. Frau Grein hat immer sehr gute Beispiele und Vergleiche parat, die bei mir auch nachhaltig vorhanden sind. Da mir vorher die Unterscheidung zwischen kühlen und heißen Sprachen vollkommen fremd war, fand ich den Bereich sehr interessant. Er hat nochmals für die unterschied‐ lichen Sprachen sensibilisiert und auch die Herleitung unter dem Titel kühle und heiße Sprachen war sehr schlüssig und für die Zukunft gut zu merken. interessant, praxisnah, sehr hilfreich für eigenes Unterrichten Praktisch und interessant Ich fand den Bereich Sprachtypologie sehr nützlich und interessant, weil er Bewusst‐ sein dafür schafft, wie Lernende die Zielsprache Deutsch aus dem Blickwinkel ihrer Erstsprache sehen. Ich fand ihn sehr spannend, sowohl im Hinblick auf Anwendbarkeit von sprachtypo‐ logischen Kenntnissen im Fremdsprachenunterricht (z. B. bessere Fehlerdiagnose bei kühlen Sprachen Sprechern) als auch im Hinblick auf interkulturelle Hintergründe (wichtigere Rolle vom Kontext, mehr Einbindung des Hörers für die korrekte Inter‐ pretation von Informationen) Sehr nützlich um für die Unterschiede zwischen den Sprachen zu sensibilisieren. Hilfreich um die Schwierigkeiten beim Erlernen einer neuen Sprache zu verstehen. Sehr innovativ und angemessen bei gleichzeitiger sinnvoller Vorbereitung auf das spätere Sprachlehrer-Dasein war bekannt, dennoch eines der interessantesten Themen! Hat nochmal einen guten Überblick gegeben sehr nützlich für Fehlerkorrektur (besonders beim Schreiben) und für Sensibilisieren der Lernenden für die Unterschiede im Sprachgebrauch Bereichernd, sensibilisierend, Erkenntnis erweiternd, hilfreich, spannend 118 Marion Grein interessant, lustig und informativ gelehrt worden Interessant zu wissen, wie und nach welchen Kriterien das unterteilt wird Interessant Es diente mir als erste Kategorisierungsmöglichkeit und zeigte Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Sprachen übersichtlich auf. Ich fand es vor allem interessant, wenn wir Fallbeispiele behandelten und diskutierten. Ich unterrichte jetzt seit 2 Jahren und muss sagen, dass dies eines der zentralen Bereiche des Studiums war! Danke! Jetzt aus Unterrichtserfahrung - unverzichtbar Sehr relevant! Ich unterrichte während des Studiums und kann jetzt viel besser verstehen, warum so viele Lerner Probleme mit Artikel und Präpositionen und auch der Inversion haben! Danke! Ich "fand" Sprachtypologien äußerst hilfreich, da grundlegendes Strukturwissen ver‐ mittelt wurde. Dieses Wissen hilft, sich außerhalb der universitären Welt zurecht zu finden und sich Phänomene selbst zu erklären, mit denen man zukünftig konfrontiert sein wird. Wie aus der kurzen Studie und vor allem den Kommentaren zu entnehmen ist, empfinden die Studierenden und auch die ehemaligen Studierenden, die jetzt in der Praxis sind, den Bereich der Sprachtypologie als ausgesprochen sinnvoll. Es wäre also durchaus zu überlegen, inwiefern der Bereich Sprachtypologie verpflichtend auch in weitere Studiengänge im Bereich der Fremdsprachendi‐ daktik zu implementieren wäre. Ziel ist es dabei nicht, sich mit der Struktur des Deutschen auseinanderzusetzen, sondern für die Vielfalt der Markierungs‐ möglichkeiten zu sensibilisieren. Literatur Aikhenvald, Alexandra / Dixon, Robert M.W. (eds.). 2017. The Cambridge Handbook of Linguistic Typology. Cambridge: Cambridge UP. Bisang, Walter. 1992. 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Abkürzungsverzeichnis ADJ Adjektiv AKK Akkusativ ASP Aspekt CHIN Chinesisch D Deutsch DAT Dativ DEM Demonstrativ DIR Direktional ENG Englisch GEN Genitiv HON Honorifik INDO Indonesisch ITA Italienisch JAP Japanisch KOP Kopula LOK Lokativ NEG Negation NP Nominalphrase PL Plural POSS Possession PRÄS Präsens PRÄT Präteritum QU Fragepartikel 122 Marion Grein TOP Topik TÜRK Türkisch Kopie Fragebogen 123 Die Rolle der Sprachtypologie bei der Ausbildung unserer DaF/ DaZ Studierenden 124 Marion Grein II. Empirie und Fallstudien Kontrastive Grammatik im Sprachunterricht in ladinischen Schulen Südtirols Ruth Videsott Einführung Im folgenden Beitrag werden Überlegungen zur Anwendung der kontrastiven Linguistik (im Folgenden: KL) im mehrsprachigen Unterricht erörtert, mit besonderem Fokus auf den Grammatikunterricht. Dies geschieht am Beispiel der mehrsprachigen Schulen in den ladinischen Tälern Südtirols, wo neben dem muttersprachlichen Ladinischunterricht auch Italienisch und Deutsch als gleichberechtigte Unterrichtssprachen fungieren. Um den soziolinguistischen Kontext besser nachvollziehen zu können, wird die Sprachsituation in den ladinischen Tälern ausführlich dargestellt. In einem kurzen einführenden Kapitel über den theoretischen Rahmen werden zunächst Grundsätze zum Sprachvergleich generell erläutert unter besonderer Berücksichtigung der typologischen Merkmale von Sprache(n). Darauf aufbauend wird anhand von Beispielen gezeigt, wie zum einen gram‐ matikalische Phänomene des Ladinischen im Kontrast zum Italienischen und Deutschen linguistisch fruchtbringend beschrieben werden können und welche didaktischen Folgen sich darüber hinaus ergeben, wenn mehrere Sprachen in einer Klasse gesprochen und unterrichtet werden. Die hier skizzierten Überle‐ gungen sollen Anregungen für die Entwicklung von didaktischen Materialien und Konzepten liefern. 1 Theoretischer Rahmen Die kontrastive Linguistik gilt zwar als eigenständige Wissenschaftsdisziplin, die aber innerhalb der Sprachwissenschaft fest verankert ist, und die Gemein‐ samkeiten und Unterschiede zwischen zwei Sprachen auf allen möglichen Ebenen, der morphologischen, syntaktischen, phonetischen, lexikalischen und pragmatischen zum Forschungsgegenstand hat. Es ging anfangs darum, die sprachstrukturellen Ähnlichkeiten zwischen Erst- und Fremdsprache festzu‐ 1 Cf. König / Nekula (2013). Es geht nicht lediglich um die Einbeziehung mehrerer Sprachen, sondern auch um die Ausweitung der KL auf den Vergleich zwischen nicht genetisch verwandten Sprachen. 2 Sprachbewusstheit soll Lernende dazu bewegen, die Regularität der Sprache bewusst anzuwenden und darüber auch zu urteilen (Eichler / Nold 2007). Dabei stehen vor allem Grammatik und sprachliches Handeln im Mittelpunkt. legen, um einmal die positiven Transfereigenschaften hervorzuheben und andererseits die Divergenzen zwischen zwei Sprachen festzuhalten, indem auch die negativen Transferleistungen von der Erstin die Fremdsprache gezeigt werden sollten (cf. Puato 2016; Ceruti 2009, 6). Heute wissen wir, dass die Merkmale, die ursprünglich die KL kennzeichneten, verbessert und dahingehend modifiziert worden sind (Puato 2016, 1; König / Nekula 2013). Koliopoulou / Leuschner (2014) erläutern, dass wir nun von einer „Renaissance der kontrastiven Linguistik“ im Rahmen theoretischer Neuansätze (so z. B. zum Deutschen und Englischen) sprechen können, wie sie etwa bereits König (2012a; 2012b) und Gast (2011) formulieren. Eine wichtige Erneuerung in dieser Disziplin war zweifelsohne die Einbeziehung mehrerer Sprachen 1 in die sprachvergleichende Analyse. Zudem wurde die ausschließliche Fokussierung auf rein theoretisch-grammatische Phänomene aufgegeben zugunsten eines erweiterten Blicks auf andere Bereiche, wie die Sprachpragmatik, die Lexik, die historische Linguistik und die interkulturelle Linguistik. Die Methode des Vergleichens mehrerer Sprachen - auch wenn anfangs auf den Fremdsprachenunterricht eingegrenzt - hat sich in der Sprachendidaktik generell als sehr nützlich erwiesen (cf. Fries 1945; Trager 1949; Lado 1957). Es handelt sich jedoch nicht um eine aktuelle Erkenntnis, so stellen Schöpp / Wenderoth (2010, 9sq.) fest: „Was heute oftmals als moderner Ansatz innerhalb der Sprachlehrforschung aufgefasst wird, erweist sich bei einem ersten Blick in die Geschichte der Fremdsprachenvermittlung vielmehr als Renaissance“. Hingegen erscheint der Sprachvergleich beim Erst- und Zweitsprachenunter‐ richt ein ebenso probates wie innovatives Mittel zu sein, um die jeweiligen Besonderheiten der Erstsprache sowie der Zweitsprache zu thematisieren. Wie bereits Gornik (2003, 815) und Rothstein (2013, 2) konstatieren, geht es dabei um eine Distanzgewinnung. Der und die Lernende geht im Erstspra‐ chenunterricht auf Distanz zu dem, was er und sie bereits in Bezug auf die eigene Sprache weiß, um das implizite Wissen explizit und bewusst für die Reflexion über Sprache(n) anwenden zu können 2 . Gerade im Grammatikunter‐ richt, aber nicht nur, erweist sich diese Methode als erfolgreich, weil der Erst‐ spracherwerbsprozess mitberücksichtigt und konkret in den Sprachunterricht integriert wird (cf. dazu Lo Duca 2018). Daraus ergeben sich zwei wichtige 128 Ruth Videsott 3 Das Ladinische ist seit 1989 die dritte Amtssprache in Südtirol. Das Fassanische wurde 1993 als zweite Amtssprache, neben dem Italienischen, in die Provinz Trient (Region Trentino-Südtirol) eingeführt. Die restlichen zwei ladinischen Idiome, sprich das Buchensteinische und Ampezzanische, sind hingegen keine offiziellen Amtssprachen und werden demnach auch nicht in der öffentlichen Verwaltung verwendet. 4 Das Gadertalische und Fassanische sind diatopisch betrachtet jeweils in drei Unterva‐ rietäten gegliedert: mareo (im Seitental Enneberg), ladin dla Val Badia zentrala (mittleres Gadertal), badiot (oberes Gadertal) für das Gadertal; cazet (oberes Fassatal), brach positive Effekte. Einerseits die Stärkung der Mehrsprachigkeit, da man auch für den Erstsprachenunterricht mehrere Sprachen zulässt. Andererseits, und das ist meiner Meinung nach der wichtigste Aspekt, ergibt sich eine Stärkung der Language Awareness, nicht nur im grammatikalischen Sinne, denn auch metasprachliche Fähigkeiten werden trainiert und Neugierde und Interesse an Sprache(n) gefördert (Luchtenberg 2006). 2 Soziolinguistischer Kontext Gerade in einem Gebiet, in dem Sprecherinnen und Sprecher mit unterschied‐ lichen Erstsprachen - diese gehören oftmals unterschiedlichen Sprachtypen an - täglich in engem Kontakt miteinander interagieren, dient der Sprachvergleich auch als didaktisch erfolgreiches Instrument im Sprachunterricht. Dies ist der Fall in Südtirol, einer Region in Norditalien, die nach dem Ersten Weltkrieg an Italien angegliedert wurde. Dadurch hat sich bis heute eine - insbesondere in den großen Zentren des Landes - prägende Zweisprachigkeit (Deutsch/ Tiroler Dialekt und Italienisch) und in den ladinischen Tälern eine Dreisprachigkeit (Ladinisch, Deutsch, Italienisch) herauskristallisiert. Im Ge‐ gensatz zu einer durch Migration hervorgerufenen Mehrsprachigkeit, handelt es sich hier um eine autochthone Mehrsprachigkeit, in der alle drei Sprachen (Ladinisch, Italienisch, Deutsch) Landes- und Amtssprachen sind 3 . In den ladinischen Tälern herrscht eine facettenreiche innere wie auch äußere Mehrsprachigkeit. Zur inneren Mehrsprachigkeit sei hier kurz die dialektale He‐ terogenität innerhalb der ladinischen Sprachgemeinschaft erwähnt. Mit seinen rund ca. 33.000 Sprechern (cf. Pan / Pfeil / Videsott 2016) ist das Ladinische in fünf normierte Hauptidiome aufgeteilt: das Gadertalische und Grödnerische in der Provinz Bozen/ Region Trentino-Südtirol, das Fassanische in der Provinz Trient/ Region Trentino-Südtirol und schließlich das Buchensteinische und Ampezzanische, beide in der Provinz Belluno in der Region Veneto. Jede dieser Hauptvarietäten, insbesondere das Gadertalische und das Fassanische, ist zudem von verschiedenen Untervarietäten gekennzeichnet 4 . Die administrative und 129 Kontrastive Grammatik im Sprachunterricht in ladinischen Schulen Südtirols (mittleres Fassatal), moenat (unteres Fassatal) für das Fassatal. Zu einem Überblick über die dialektalen Unterschiede zwischen den jeweiligen Idiomen cf. Casalicchio (2020). 5 Cf. dazu Videsott / Videsott / Casalicchio (2020). 6 Man denke in erster Linie an die vielen Italianismen und Germanismen, die im Laufe der Zeit im Ladinischen grammatikalisiert und lexikalisiert wurden (cf. dazu Craffonara 1995). 7 Zu einer ausführlichen Diskussion in Bezug auf die ladinische Schule cf. insbesondere Rifesser (1992, 2006); Vittur (1994); Verra (2000, 2011, 2020); Videsott G. (2008). geographische Aufsplitterung der ladinischen Täler herrscht seit 1927; bis vor dem ersten Weltkrieg gehörten diese Täler zu Tirol und bildeten demnach die historische Ladinia  5 . Durch die Dreiteilung des ladinischen Gebiets hat sich, bedingt durch die strenge Nähe zur deutschen (tirolerischen) Welt und zum italienischen Umfeld, in den Tälern Gröden und Gadertal eine Dreisprachigkeit weiterentwickelt, die bis heute andauert 6 . In vielen Bereichen des täglichen Lebens, wie den Medien oder im Schulwesen dominieren sogar die zwei großen Nachbarsprachen im Gegensatz zum Ladinischen. So ist zu erklären, dass die la‐ dinische Schule seit 1948 auf einem paritätischen Sprachmodell beruht, wonach die Fächer zu gleichen Teilen auf Deutsch und Italienisch unterrichtet werden 7 . Dazu kommen nur zwei Wochenstunden in der eigentlichen Muttersprache der Bevölkerung, dem „Ladinischen“ und ab der vierten Klasse Grundstufe zwei Wochenstunden Englischunterricht. Neben dieser Sprachsituation im Unterricht, ist auch der soziolinguistische Kontext der ladinischen Schülerinnen und Schüler und der Schule an sich mehrsprachig geprägt. Auch die beiden anderen Landes- und Unterrichtsspra‐ chen, das Deutsche - Standarddeutsch und Südtiroler Dialekt - sowie das Italienische sind als Erstbzw. Zweitsprache von großer Relevanz, da viele Kinder in gemischtsprachigen Familien aufwachsen. Zudem entscheiden sich manche ladinischsprachige Eltern bewusst dafür, in der Familie nicht (oder kaum) Ladinisch (cf. u. a. Dell’Aquila / Iannàccaro 2006; Verra 2007; Demez 2011/ 2012), sondern Deutsch oder Italienisch zu sprechen, da es sich um „prestigereichere“ Sprachen mit einem größeren Verwendungsradius handelt. Außerdem haben viele Kinder durch Fernsehen, Radio und Internet sowie durch den stark präsenten Tourismus in den ladinischen Tälern schon früh einen regelmäßigen Kontakt zur deutschen und/ oder italienischen Sprache, wodurch es zu einem frühkindlichen Zweitspracherwerb außerhalb des schulischen Kontextes kommt. So gibt es Kinder, die aktiv zwei- oder mehrsprachig sind, also einen simul‐ tanen bilingualen Erstspracherwerb bereits in der Familie durchlaufen. Andere Kinder hingegen wachsen monolingual mit Ladinisch als quasi ausschließlicher Erstsprache auf und kommen mit Mehrsprachigkeit erst im Kindergarten und 130 Ruth Videsott 8 Cf. dazu Intendënza ladina (2009, 2013). 9 Dafür wurde eigens für das ladinische Schulmodell eine besondere Anlauttabelle ausgear‐ beitet, die für jeden Buchstaben dasselbe Wort mit demselben Anlaut in allen vier Sprachen später in der Schule in Kontakt. Hinzu kommen all jene Kinder mit Migrations‐ hintergrund und mit anderen Herkunftssprachen als Deutsch, Italienisch und Ladinisch, die aber in der Schule die drei Landessprachen beherrschen müssen. Um diesem komplexen mehrsprachigen Kontext in den ladinischen Tälern Rechnung zu tragen, wird bereits in den Rahmenrichtlinien der ladinischen Kin‐ dergärten und Schulen auf diese institutionelle Mehrsprachigkeit hingewiesen und entsprechend werden die schulischen Aktivitäten in allen drei oder vier Sprachen angeboten 8 . Gänzlich anders ist die Situation an den deutschen und italienischen Schulen in Südtirol, die je nach Sprachgruppe nur monolinguale Schulen sind und jeweils nur fünf Stunden Sprachunterricht in der Zweitsprache Deutsch oder Italienisch anbieten. Englisch kommt in der vierten Klasse als Fremdsprache hinzu. Einzelne zweisprachige Klassen gibt es an manchen italienischsprachigen Schulen, ansonsten bleibt der zwei- oder mehrsprachige Ansatz eine Ausnahme, im Gegensatz zu den ladinischen Schulen, die historisch betrachtet schon immer den mehrsprachigen schulischen Kontext als Normalfall erlebt haben. 2.1 Zur praktischen Umsetzung des Sprachvergleichs an den ladinischen Schulen Die praktische Umsetzung des Sprachvergleichs wird an den ladinischen Schulen bereits seit mehr als zehn Jahren - insbesondere in der Grundstufe - praktiziert. Auf der Grundlage der integrierenden Sprachendidaktik (cf. zum Beispiel Le Pape-Racine 2007) wird im Sprachunterricht gezielt auf die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der verschiedenen Unterrichtssprachen hingewiesen. Zugleich werden dadurch auch die metalinguistischen Kompe‐ tenzen verstärkt und die Reflexionsfähigkeit in Bezug auf die Sprache(n) der Schüler und Schülerinnen weiterentwickelt (Cathomas 2006; Le Pape Racine 2007; Videsott R. 2020). In diesem Kontext wird der Muttersprache eine essentielle Rolle zugeschrieben, sodass erworbene kognitive Grundkompetenzen in der Muttersprache implizit auf die Zweitsprache transferiert werden. Gerade für das Ladinische stellte dies eine Erneuerung im Sprachbewusstsein des schulischen Alltags dar, zumal linguistische Diskussionen und Reflexionen zum Ladinischen in die Schulen einfließen konnten, was bis zu diesem Zeitpunkt eher unüblich war. So verläuft z. B. die Alphabetisierung an den ladinischen ersten Klassen der Grundstufe mehrsprachig 9 . Abgesehen 131 Kontrastive Grammatik im Sprachunterricht in ladinischen Schulen Südtirols Ladinisch, Italienisch, Deutsch und Englisch enthält. Cf. dazu www.pedagogich.it/ index_fr ame.html (letzter Zugang 31.01.21). 10 Die Subjekt-Verb-Inversion wird auch in den Fragesätzen realisiert: „Fajô Melampo propi insciö? “ â damané Pinocchio. [Und Melampo hat sich wirklich daran gehalten? ] (Collodi 2017, 87). vom sprachkontrastierenden Ansatz im Sprachunterricht generell wird an den ladinischen Grund- und Mittelstufen einmal in der Woche eine Unterrichtsstunde ausschließlich dem Sprachvergleich gewidmet. 3 KL zur Beschreibung von typologischen Merkmalen von Sprache(n) Neben lexikalischen Vergleichen kann man durch sprachkontrastierende Stu‐ dien auf einzelsprachliche Phänomene und Charakteristika der einzelnen Spra‐ chen eingehen, die man ansonsten nicht bemerken würde (cf. auch König / Nekula 2013, 21). So wird auch die jeweilige Sprachtypologie besser/ klarer erkennbar, wie König (2012b, 8) bemerkt: „A contrastive study revealing striking differences between two languages is often the starting point for a comprehen‐ sive typology and typology, in turn, provides a highly important basis for contrastive studies”. Ausgehend von einer kontrastiven Analyse untersucht man somit eine Sprache in der Perspektive der anderen Sprache und stößt auf typologische Unterschiede bzw. Charakteristika. In diesem Fall geht es nicht mehr ausschließlich um Transferleistungen der L1 auf die L2 oder L3, sondern auch der umgekehrte Prozess ist möglich: Phänomene der L2 oder L3 werden gerade für das Beschreiben von typologischen Besonderheiten der L1 als Ausgangsstruktur gebraucht. 3.1 Bestimmung einer typologischen Besonderheit im Ladinischen durch den Sprachvergleich und ihre theoretischen Folgen So lässt sich zum Beispiel die Besonderheit der Subjekt-Verb-Inversion im Dolomitenladinischen im Vergleich mit dem Deutschen und Italienischen rein sprachtypologisch sehr klar beschreiben. Bekanntlich ist das Ladinische in den nördlichen Tälern (Gadertalisch und Grödnerisch) eine Verbzweitsprache und verlangt die Subjekt-Verb-Inversion im deklarativen Satz 10 , wenn sich in der ersten Position des Satzes ein anderes Element (wie beispielsweise Adverbialen) als das Subjekt befindet (1 vs. 2), damit das finite Verb die zweite Position nicht verliert (cf. dazu beispielsweise Haiman / Benincà 1992; Siller-Runggaldier 132 Ruth Videsott 11 Die südlichen ladinischen Idiomen, Fassanisch, Buchensteinisch und Ampezzanisch, haben eine SVO-Wortabfolge wie das Italienische (cf. dazu u. a. Haiman / Benincà 1992; Siller-Runggaldier 1999). 12 Cf. dazu die Evaluierungen der Grund-, Mittel-, und Oberstufen an den ladinischen Schulen in Südtirol zwischen 2009 und 2012 (Comitê 2009, 2010, 2012), wobei in vielen Texten die Subjekt-Verb-Inversion nicht stattfindet, obwohl man sie syntaktisch gesehen erwarten würde. 13 Das Textbeispiel ist aus einem Schulaufsatz der fünften Klasse Grundstufe entnommen. 1999; Gallmann / Siller-Runggaldier / Sitta 2013) 11 . Analog dazu verhält sich das Deutsche, weil für das finite Verb eine fixe Stelle im Satz vorgesehen ist. Im Italienischen hingegen findet keine obligatorische Subjekt-Verb-Inversion im deklarativen Satz statt, da auf das Subjekt immer das Prädikat folgt (3) (cf. Gallmann / Siller-Runggaldier / Sitta 2013, 83sqq.). 1 deu: Pinocchio geht mit seinen Schulkameraden ans Meeresufer […] (Collodi 2014, 44) lad: Pinocchio vá cun sü compagns de scora söla spona dl mer […] (Collodi 2017, 108) 2 deu: Für ein Weilchen blieb Pinocchio ungerührt und ließ sich alles gefallen. (Collodi 2014, 44) lad: Por n pez savaiâ Pinocchio da ne s’un fá nia adinfora. (Collodi 2017, 108) 3 ita: Pinocchio va co’ suoi compagni di scuola in riva al mare […] (Collodi 1983, 55) ita: Per un poco Pinocchio usò disinvoltura e tirò via. (ib.) Im Ladinischunterricht dient der Vergleich mit dem Deutschen oft als Erklä‐ rungshilfe für die Besonderheit der Subjekt-Verb-Inversion für Schüler und Schülerinnen mit dem Ladinischen als Erstsprache wie für Ladinisch als Zweit- oder Fremdsprache. Besonders auffallend ist dieser Vergleich für den Erstsprachenunterricht, weil der Erwerb von struktur-typologischen Besonder‐ heiten des Ladinischen bereits abgeschlossen ist. Bei vielen Schülern und Schülerinnen beobachtet man jedoch oft eine Abweichung von der normierten Inversionsregel 12 (4), in vielen Fällen ist dies auch dem Einfluss des Italienischen geschuldet, vor allem bei Sprecherinnen und Sprechern, die simultan Ladinisch und Italienisch als Erstsprachen erworben haben. 4 N dé, la mama y Marc esi jüć a cumpré jeans por Marc. […] 13 ‘Ein Tag, die Mutter und Marc sind gegangen einkaufen Jeans für Marc.’ [Eines Tages gingen Mama und Mark eine Jeans für Mark kaufen.] 133 Kontrastive Grammatik im Sprachunterricht in ladinischen Schulen Südtirols 14 Die fettmarkierte Endung ist die enklitische Form des pronominalen Subjekts, die im Ladinischen bei der Subjekt-Verb-Inversion an das Verb angehängt wird. […] Marc salta sura la sì ia, spo Matias vëiga n’büsc ti jeans. ‘Marc springt über die Zaun rüber, dann Matias sieht ein Loch in-den Jeans.’ [Mark springt über das Zaun, dann sieht Matthias ein Loch in der Jeans.] (Comitê 2009, 34) Bei den zwei unterstrichenen Satzgliedern handelt es sich im ersten Fall um eine temporale Angabe (n de ‘eines Tages’), im zweiten um eine Konjunktion (spo ‘dann’). Beide Elemente nehmen die erste Position im Satz ein, sodass das Subjekt und das Verb invertiert werden müssen, was jedoch in (4) nicht realisiert wird. Viele Lehrkräfte weisen deshalb auf die deutsche Syntax hin, um dieses besondere Phänomen im Ladinischen hervorzuheben und einer Interferenz mit dem Italienischen vorzubeugen. Indem man aber die ladinische Syntax mit der deutschen so vergleicht, dass strukturell-typologisch eine Analogie zustande kommt, kann die Gefahr entstehen, dass der Vergleich falsch verstanden wird. Es ist de facto verfehlt, eine generelle Aussage aufzustellen, Ladinisch und Deutsch beruhten auf der gleichen syntaktischen Grundstruktur und die italienische Satzstruktur sei lediglich eine Interferenz und somit eine Fehlerquelle. Wenn man nämlich eine periphrastische Verbform verwendet, erkennt man durch den Vergleich, dass sowohl in der nicht invertierten Wortabfolge (5) wie auch in der invertierten (6) das Ladinische keine Klammerbildung in Bezug auf das Prädikat kennt wie das Deutsche, sondern analog zum Italienischen kann das Prädikat nicht auseinandergerissen werden (5 und 6) (Gallmann / Siller-Runggaldier / Sitta 2013, 84; Salvi 2016, 245). Im Ladinischen rückt das Subjekt zwischen die finite und infinite Verbform. 5 deu: Dieser Junge [ist von einigen Fischern hier in die Hütte getragen worden], und jetzt… (Collodi 2014, 52) lad: Le möt é gnü porté da n valgügn pëiapësc te chësta ütia y sëgn… (Collodi 2017, 125) ita: Il ragazzo è stato portato da alcuni pescatori in questa capanna, e ora… (Collodi 1983, 63) 6 deu: Das hat sie wirklich gesagt? (Collodi 2014, 76) lad: Àra dit propi insciö? …  14 (Collodi 2017, 174) ita: Ha detto proprio così? (Collodi 1983, 90) 134 Ruth Videsott 15 Wie Siller-Runggaldier (1999, 117sq.) mit Recht betont, ist die Subjekt-Verb-Inversion auch eine altromanische Besonderheit. Im Laufe der Jahre haben sich viele romanische Sprachen (so das Französische und Italienische) zur SVO Wortabfolge geändert. Das Dolomitenladinische in den nördlichen Tälern hat durch den engen Kontakt zum Deutschen die Inversion beibehalten. 16 Im Gegensatz zu den bisherigen Beispielen aus Schulbuchsätzen, sind Beispiele 7-14 aus einem persönlich erstellten Korpus zum Ladinischen als Zweitsprache entnommen. Zum Ladinischen als Zweitsprache gibt es zum aktuellen Zeitpunkt (Stand Februar 2020) wenig dokumentiertes schriftliches Material. Daher werden hier Auszüge aus gesprochenen Dis‐ kursen hinzugezogen. Das Korpus besteht aus 20 Interviews mit erwachsenen Sprecherinnen und Sprechern, die das Ladinische als Zweit- oder Drittsprache im Erwachsenenalter in einem natürlichen Umfeld erworben haben. Lediglich durch einen Vergleich zwischen den drei Sprachen werden diese sprachtypologischen Eigenschaften des Ladinischen - im Spannungsfeld zwi‐ schen dem Deutschen und dem Italienischen - konkret wahrgenommen und können somit auch korrekt in den Sprachunterricht integriert werden. Das Ladinische hat demnach keine analoge syntaktische Grundstruktur zum Deut‐ schen, sondern zeigt nur bestimmte Phänomene auf, die mit dem Deutschen gut vergleichbar sind. Gerade durch die Beispiele (5, 6) erkennen wir, dass das Ladinische typologisch betrachtet eine romanische Sprache ist 15 . Somit kann das Deutsche nur beschränkt beim Erwerb von syntaktischen Struk‐ turen des Ladinischen helfen. Es kann ihn aber im Kontext ähnlicher Strukturen unterstützen, wie auch die Beispiele (7) 16 und (8) deutlich zeigen. Es handelt sich hierbei um zwei Sprecher mit Deutsch als Erstsprache, Südtiroler-Dialekt in (7) und einen österreichischen Dialekt in (8). In beiden Fällen kommt es zur normgerechten Realisierung der Subjekt-Verb-Inversion im Ladinischen, wo sie auch im Deutschen stattfinden würde (zum Beispiel lad: dan chinesc agn savôi vs. deu vor fünfzehn Jahren wusste ich; lad: dailó áiuns mefo ince baié d’ lingac de mendranzes vs. deu: da habe ichhaben wir auch über Minderheitensprachen gesprochen). 7 dan da gní ca propi nia # dan chinesc agn savôi propi nia # mo spo canch’ i sun gnü sö pur set ot agn ái bëgn n pü capí y á consciü n pü d’ jënt # anzi i á consciü inc mia fomna dailó [vor dem Umzug gar nicht # vor fünfzehn Jahren konnte ich wirklich nichts # aber dann, als ich herkam vor sieben acht Jahren verstand ich schon ein wenig und kannte ein paar Leute # ich habe übrigens auch meine Frau dort kennengelernt] 8 ähm# io l pröm impat é sté tl’uni bel a Dsproch ciudich’ i á studié Translationswissenschaft y ähm dailó áiuns mefo inc baié d’ lingac de mendranzes y inc dl ladin, mo io # cal é sté ma insciö theoretisch, y spo dedô n iade sunsi inc jüda ähm sö pur munt cun mia so tles Dolomites dailó uns mefo- # ái l pröm iade insciö odü tofles scrit por ladin 135 Kontrastive Grammatik im Sprachunterricht in ladinischen Schulen Südtirols [ähm, ja die erste Immersion war bereits an der Uni in Innsbruck, weil ich Translationswissenschaft studiert habe und ähm da habe ichhaben wir auch über Minderheitensprachen gesprochen und auch über das Ladinische, aber ja # das war nur so theoretisch, und dann danach war ich einmal mit meiner Schwester in den Dolomiten wandern, da sahen wir halt- # sah ich zum ersten Mal Beschilderungen auf Ladinisch] Der Einfluss der Muttersprache auf das Erlernen einer Zweit- oder Fremd‐ sprache ist bestens belegt, aber auch auf den Transfer (positiver wie auch negativer Transfer) von der Zweitsprache in die Dritt- oder Fremdsprache wird bereits in Reinfried (1998) hingewiesen. Der Erwerb von syntaktischen Strukturen des Deutschen als Zweitsprache kann zum Beispiel sehr wohl einen positiven Transfer ins Ladinische als Drittsprache hervorrufen in Bezug auf die Subjekt-Verb-Inversion, wie in (9) gezeigt wird. In diesem Fall handelt es sich um einen ungarischen Sprecher mit Ladinisch als Drittsprache und Deutsch als Zweitsprache. In diesem kurzen Interview‐ auszug kann man deutlich erkennen, dass die Subjekt-Verb-Inversion im Ladi‐ nischen dann realisiert wird, wenn sie auch im Deutschen obligatorisch ist (lad: spo baiâi ben vs. deu: da konnte ich). 9 spo baiâi ben n pü de todesch # capîa ben n pü de todeschna ciudí ch’ mia mama ê na doanuschwäbin te Ungarn i- # spo- ## i â belo dagnora da fá cun todesch # i spo ál dit mio nochbor vá mader ciudí ch’ dailò todesch bastel ben # por talian messte mefo sei fina ciont cuntéda cumpdé y basta # y dal ladin n’ái mai aldí nia # i ne sâ gnanca ch’ al ejist überhaupt cösc lingaz. [Da konnte ich schon ein wenig Deutsch # verstand ich ein wenig Deutschnein, weil meine Mutter eine Donauschwäbin in Ungarn war und- # dann- ## ich hatte schon immer Kontakt zum Deutschen # und dann hat er gesagt, mein Nachbar, geh ruhig, weil dort reicht das Deutsche schon # auf Italienisch brauchst du nur bis hundert zählen können und das war’s # und vom Ladinischen hatte ich noch nie etwas gehört # ich wusste überhaupt nicht, dass diese Sprache existiert] Die Setzung des finiten Verbs nach dem Mittelfeld wird jedoch vom Deutschen ins Ladinische richtigerweise nicht übertragen (lad: ciudí ch’ mia mama ê na donauschwäbin vs. deu: weil meine Mutter eine Donauschwäbin war). Im simultanen bilingualen Erstspracherwerb (Ladinisch und Deutsch) hingegen, beobachtet man in den meisten Fällen, dass bis zum Alter von 4 Jahren die Klammerbildung auch noch im Ladinischen übernommen wird (10): 136 Ruth Videsott 17 Statt: l papi á fat döt rot. 10 l papi á döt röt fat  17 (3; 9) ‘Der Papa hat alles kaputt gemacht’ Dass die Muttersprache oder die Zweitsprache aber auch eine proaktive inter‐ linguale Interferenz im Sinne einer negativen Transferleistung auf den Erwerb einer Dritt- oder Fremdsprache sein kann, zeigen die Beispiele (11) bis (12). Die Sprecherin in (11) und (12) hat in diesem Fall Katalanisch als Erstsprache, Spanisch als Zweitsprache und jeweils Italienisch und Ladinisch als Dritt- und Viertsprache gelernt. In den Beispielen (13) und (14) hingegen handelt es sich um eine italienischsprachige Sprecherin mit Ladinisch als Zweitsprache. Wie deutlich erkennbar ist, bieten weder die Herkunftssprache Katalanisch noch Italienisch zum Erwerb des Phänomens der Subjekt-Verb-Inversion im Ladinischen eine Ausgangsstruktur, zumal beide Sprachen keine Verbzweitsprachen sind. 11 i á damané mi cumpagns da baié ladin cun me # purchël i á imparé bel plan ‘deswegen ich habe gelernt sehr langsam’ [Ich habe meine Freunde gefragt, ob sie mit mir Ladinisch sprechen # deswegen habe ich sehr langsam gelernt] 12 i á aldí # che tl Norditalia al é chisc minoranze ‘dass in Norditalien es gibt diese Minderheiten’ [Ich habe gehört, dass es in Norditalien diese Minderheiten gibt.] 13 canche sun gnüda chiló spo i á metü man a a conësc plü jënt. ‘dann ich habe gefangen an’ [Als ich hierher kam, dann fing ich an mehr Leute kennenzulernen.] 14 y do i á tut ince val leziun privata pur ciudí ch’ i orô fá l plurilinguismo. ‘und danach ich habe genommen’ [Und danach nahm ich auch Privatunterricht, weil ich die Dreisprachigkeitsprü‐ fung machen wollte.] Dies bedeutet, dass beim Erwerb einer Zweit- oder Drittsprache unbewusst über Analogien und Unterschiede zwischen den Sprachen reflektiert wird, was im Sprachunterricht - zumal mit erwachsenen Lernerinnen und Lernern - daher bewusst und explizit thematisiert werden sollte. 137 Kontrastive Grammatik im Sprachunterricht in ladinischen Schulen Südtirols 3.2 Bestimmung einer typologischen Besonderheit im Ladinischen durch den Sprachvergleich und ihre didaktischen Folgen für den mehrsprachigen Unterricht Beschäftigt man sich sprachvergleichend mit grammatikalischen Phänomenen aus didaktischer Sicht, so reichen einfache theoretische Vergleiche nicht aus. Voraussetzung für einen gelungenen Sprachvergleich im Unterricht ist vor allem die Sprachreflexion und die Einbettung dieser Phänomene in kommunikative Situationen. Mit Sprachreflexion meinen wir die Fähigkeit, bewusst über eine verwendete Sprache nachzudenken, indem das Sprachsystem dieser Sprache verstanden wird (Sordella / Andorno 2017, 174). Dabei kann die Reflexion über die Sprache einerseits implizit geschehen (cf. 4.1), andererseits entsteht sie auch systematisch und dadurch sehr bewusst (ib.). Letzteres ist gerade für didaktische Zwecke von großer Bedeutung, geht es doch um die Aneignung von explizitem Wissen über eine Sprache, was zugleich ein konkretes Sprachbewusstsein erwecken und fördern soll. Gerade in einem mehrsprachigen Kontext erweist sich eine solche Methode als sehr nützlich, wie Sordella / Andorno (2017, 175) unterstreichen: Se le attività di confronto tra le lingue possono aiutare a riflettere sui meccanismi che regolano i fenomeni linguistici, esse si possono concretizzare semplicemente nell’individuare analogie e differenze tra le varie espressioni linguistiche. Si tratta certamente di un’attività naturale, e spesso inconsapevole, che tutti gli individui compiono quando si trovano di fronte a differenti manifestazioni della lingua che divergono, sotto determinati aspetti. Unterschiedliches miteinander zu vergleichen ist demnach ein natürliches Vorgehen des Sprachlernens, das man in einem schulischen Kontext in einen expliziten Sprachbewusstseinsprozess umwandeln kann, um die verschiedenen Sprachmechanismen zu verstehen. Wenn man sich auf grammatikalische Aspekte der Sprache stützt, auf denen der vorliegende Beitrag beruht, dann verstehen wir im schulischen Kontext Grammatik im Sinne von Whittle / Nuzzo (2015, 60sqq.): die Beschreibung des Sprachsystems selbst, die bewusste Reflexion über das Sprachsystem und schließlich, auf der Basis der ersten beiden Aspekte, die Fähigkeit, grammatika‐ lisch korrekte Konstrukte in einer Sprache zu bilden. Um diese drei Meilensteine des Sprachbewusstseins zu erreichen, gilt es in erster Linie grammatikalische In‐ halte nicht deskriptiv und dekontextualisiert zu vermitteln, sondern gemeinsam mit ihrer Funktion in einem kommunikativen Kontext zu erwerben. In Zusammenhang mit der Subjekt-Verb-Inversion erweist sich im Ladini‐ schen besonderes das Phänomen der Personalpronomen als interessant - vor 138 Ruth Videsott 18 Cf. dazu Videsott R. (2018; 2020); Ghilardi / Videsott R. (2020). 19 Die Unterscheidung zwischen starken und klitischen Subjektpronomen folgt hier der Definition nach Cardinaletti / Starke (1999). Für einen Überblick zu den Perso‐ nalpronomen im Dolomitenladinischen cf. insbesondere Vanelli (1984, 1998), Thiele (2000-2001; 2001), Rasom (2003); Siller-Runggaldier (2012) und Salvi (2016). 20 Siehe Fußnote 4. 21 G E R = Gerundium. allem für eine didaktische Umsetzung. Das Erlernen der Personalpronomen ist gerade im Ladinischen ein pragmatisch betrachtet schwieriges Thema, umso aufwendiger wird es, wenn es im Grammatikunterricht behandelt wird 18 . Das Ladinische hat zwei Serien von Subjektpronomen, starke und klitische Pronomen 19 . Die klitischen Pronomen können zudem je nach Wortabfolge in proklitischer oder enklitischer Position erscheinen. Die enklitische Position kommt bei der Subjekt-Verb-Inversion zustande: 15 iŋsë́ra ẹst žü (ALD-II, 127; Gadertalisch) ‘gestern abend bist-du E N K gegangen’ [Gestern Abend bist du gegangen] Von den fünf ladinischen Varietäten hat lediglich das Gadertalische (so zumin‐ dest die Standardvariante, sprich das Schriftgadertalische) beide Serien voll‐ ständig erhalten. Im gesprochenen Gadertalischen (insbesondere im Badiot  20 ) fehlen tendenzmäßig die erste Person Singular und Plural (16) und die zweite Person Plural. So auch in den anderen Varietäten, im Geschriebenen wie auch im Gesprochenen. Die enklitische Form ist im Gadertalischen in allen Personen erhalten, im Grödnerischen fehlt lediglich die zweite Person Singular und Plural, während im Fassanischen, Buchensteinischen und Ampezzanischen die enklitische Form nur in den direkten Fragensätzen vorkommt (cf. dazu Salvi 2016, 228). 16 s udúŋ manǵáŋ (ALD-II, 109; Badiot) ‘ø euch sehen essen. G E R21 ’ [Wir sehen euch essen.] Die Divergenz zwischen gesprochener und geschriebener Sprache ist gerade für die didaktische Umsetzung im Sprachunterricht nicht leicht zu behandeln, insbesondere weil der Gebrauch oder Schwund des Pronomens nicht nur vom diatopischen Parameter der Sprachvarietät sondern auch vom diamesischen beeinflusst wird. So würde Beispiel (16) im Schriftgadertalischen wie folgt lauten: 139 Kontrastive Grammatik im Sprachunterricht in ladinischen Schulen Südtirols (16a) I s’odun mangian ‘Wir. K L I T euch sehen essen. G E R ’ [Wir sehen euch essen.] Hinzu kommt, dass oft das Wissen über die komplizierte pragmatische Funktion der starken und klitischen Pronomen seitens der Lehrkräfte selbst zu gering ist. Haiman / Benincà (1992, 179) erklären die Handhabung diesbezüglich wie folgt: „Where there is only stressed series, these pronouns are obligatory; where there are two, the atonic pronouns are obligatory“. Somit sind Subjektpronomen im Gadertalischen obligatorisch, für das Grödnerische hingegen wird das Subjekt nur für diejenigen Personen realisiert, die beide Serien besitzen, demnach für die dritten Personen und die zweite Person Singular. Nullsubjekte sind daher bei nicht vollständigem Paradigma der klitischen Pronomen erlaubt. Laut aktuellen Studien wird daher das Grödnerische - und folglich das Ladi‐ nische generell - als partiell-pro-drop-Sprache eingestuft (cf. Casalicchio 2016, 2017; Ghilardi / Videsott R. 2020). Analog zum Italienischen setzt auch das Ladinische nur dann starke Pronomen ein, wenn man pragmatisch betrachtet auf ein bestimmtes Element im Text hinweisen will, einen Kontrast zwischen zwei Satzgliedern hervorheben will oder wenn es zu einem Sprecherwechsel kommt. Subjektpronomen stellen somit im Ladinischen als Erst-und Zweitsprache sehr oft eine Fehlerquelle im schriftlichen Gebrauch dar, weil keine Symmetrie für das gesamte Paradigma zwischen geschriebener und gesprochener Sprache zustande kommt. Dies führt grundsätzlich zu zwei Konfliktsituationen im Gebrauch der Pronomen beruhend auf folgenden dichotomischen Verhältnissen: i) starke vs. klitische Pronomen; ii) Realisation des Subjekts durch ein Pronomen vs. Nullsubjekt. Für den unterschiedlichen Gebrauch zwischen starken und klitischen Pro‐ nomen erweist sich ein mehrsprachiger Ansatz als nützlich, nicht nur für den Ladinischunterricht, sondern für den Sprachunterricht generell. In erster Linie soll ein Bewusstsein für die verschiedenen Sprachsysteme geweckt werden, ausgehend von der individuellen und institutionellen Mehrspra‐ chigkeit in der Klasse. Im ersten Fall geht es um die jeweiligen Sprachenportraits der Schüler und Schülerinnen, die individuelle Spracherfahrungen je nach der eigenen Sprachbiographie gesammelt haben. Zweitens muss die Präsenz der drei Unterrichtssprachen Deutsch, Italienisch und Ladinisch in der Schule berück‐ sichtigt werden. Die Spracherfahrungen der Kinder in Bezug auf diese beiden Arten von Mehrsprachigkeit kann konkret durch Sprachenportraits verdeutlicht werden, wodurch über die Sprache(n) reflektiert werden kann. So wird beispiels‐ weise in Bild 1 ein Sprachenportrait von einem Schüler der 2. Klasse Mittelstufe mit Ladinisch als Erstsprache abgebildet. Die Verteilung der drei Unterrichtssprachen 140 Ruth Videsott 22 Zu den Abkürzungen: S= Schüler; I= Interviewerin. ist - abgesehen vom Englischen - sehr homogen. Die Erklärung des Sprachen‐ portraits seitens des Jungen entfaltet ein wichtiges Diskussionsthema: 17 S 22 : l tudësch y l talian tolitoli plü da scrí#, ähm#, l ladin baii [Deutsch und Italienisch brauche ich mehr zum Schreiben; Ladinisch spreche ich] I: y l’inglesc pa? [Und Englisch? ] S: chël é bel [Das ist schön.] Abb. 1: Sprachenportrait 141 Kontrastive Grammatik im Sprachunterricht in ladinischen Schulen Südtirols 23 Die Textausschnitte wurden minimal geändert, um den didaktischen und linguistischen Bedürfnissen der Übung gerecht zu werden. Das Verhältnis zu den jeweiligen Sprachen im Sprachenportrait ist fest an die institutionelle Mehrsprachigkeit gebunden. Der schriftliche Gebrauch der Sprache orientiert sich grundsätzlich an den „großen“ Sprachen Deutsch und Italienisch, die als Unterrichtssprachen generell fungieren, während die Erst‐ sprache Ladinisch auf den gesprochenen Gebrauch beschränkt ist. Gerade ein sprachvergleichender Ansatz kann somit die Einsicht verstärken, dass alle im Sprachenportrait abgebildeten Sprachen sowohl im Schriftlichen als auch im Gesprochenen auf bestimmten Sprechhandlungen beruhen und daher eigene sprachstrukturelle spezifische Merkmale haben. Die Reflexion über das eigene Sprachrepertoire stärkt das Bewusstsein und die Kenntnis darüber, dass das Ladinische genau wie das Italienische und Deutsche, im Schriftlichen einem gewissen Sprachsystem unterliegt. Das verläuft bei bestimmten grammatika‐ lischen Phänomenen anders als in mündlichen Zusammenhängen. So kann das abstrakte Thema der Subjektpronomen ausgehend vom Deutschen und Italienischen schriftlich kontextualisiert werden und auf die proaktiven wie auch auf die retroaktiven interlingualen Interferenzen zwischen den Sprachen hingewiesen werden, auf der Grundlage der jeweiligen Spracherfahrungen der Lernenden. Es geht vor allem darum, den Lernenden die pragmatischen Kontexte zu erläutern, innerhalb derer die starken Pronomen im Gegensatz zu den klitischen gebraucht werden. Die pragmatischen und semantischen Funktionen der unter‐ schiedlichen Subjektpronomen können nur in einer kommunikativen Situation, sprich eingebettet in einen Kontext bzw. in einen Diskurs, erklärt werden. Unter Diskurs verstehen wir in Anlehnung an Wehr (1984) ein Gespräch sowie einen „schriftlich fixierten Text“ (ib. IX). Unser Vorschlag stützt sich auf einen Textausschnitt 23 aus Pinocchio in den Sprachen Ladinisch (Gadertalisch), Italienisch und Deutsch, worin durch die Dialogform zwischen der Fee und Pinocchio mehrere Situationen zum Pronominalgebrauch realisiert werden (im ladinischen Text sind die klitischen Pronomen unterstrichen, die straken sind fett markiert). Um die Kategorie der Pronomen auf ihre funktionalen Aspekte hin zu untersuchen, ist es sinnvoll in einem zweiten Moment den Text als Rollenspiel vorzuspielen: Ladinisch, aus Collodi (2017, 105sq.): A P: „Co ëise pa fat da crësce tan debota? “ F: „Al é n socrët.“ 142 Ruth Videsott P: „Insignedemal: i oress ince iö crësce n püch. Ne l’odëise nia? I sun resté dötaurela tan gran co n zigher.“ F: „Mo tö ne sciafies nia da crësce.“ P: „Ciodí pa nia? “ F: „Ciodich’ al n’é degügn buratins che crësc. Ai nasc buratins, ai vir da buratins y ai mör da buratins.“ P: „Oh! I sun stüf da ester tres n buratin! „Al foss ora ch’i deventass ince iö gran sciöche düc i atri.“ F: „Y te le deventaras, sce te savaras da t’al mirité...“ P: „Bëgn chël? Y ci pói pa fá da m’al mirité? “ A F: „Val’ dër de saurí: t’ausé da ester n pice möt sciöch’al alda.“ B P: „Ne le sunsi nia forsc? “ F: „Daldötnenia! I mituns sciöch’al alda stima, y tö deperpo...“ P: „Y iö ne stimi mai.“ F: „I mituns sciöch’al alda á ligrëza da imparé y da lauré y tö...“ P: „Y iö, deperpo, feji dötalann le slondernun y le bondernun.“ F: „I mituns sciöch’al alda dij dagnora la verité...“ P: „Y iö dagnora baujies.“ F: „I mituns sciöch’al alda vá ion a scora...“ P: „Da jí a scora ciafi me indlunch. Mo da incö inant ói mudé vita.“ F: „M’al impormëteste? “ P: „I t’al impormëti. I ó deventé n pice möt sciöch’al alda y i ó ester la consolaziun de mi pere. (...) P: „Iö studiará, iö laurará, iö fajará döt chël che te me dijaras, ciodiche cun la vita da buratin mëti man da me stufé. I ó deventé n möt a düc i cosć. Te m’al as impormetü, catö? “ B F: „I t’al á impormetü, y sëgn stál döt a te.“ Deutsch, aus Collodi (2014, 43sq.): A P: „Wie habt Ihr es gemacht, so schnell zu wachsen? “ F: „Das ist ein Geheimnis.“ P: „So verratet es mir: ich würde auch gern ein wenig wachsen. Seht Ihr nicht? Ich bin noch immer so groß wie ein Dreikäsehoch“ F: „Aber du kannst ja auch gar nicht wachsen.“ P: „Warum? “ F: Weil Puppenjungen niemals wachsen. Sie werden als Puppen geboren, leben als Puppen und sterben als Puppen.“ P: „Oh! ich bin es leid, immer noch ein Puppenjunge zu sein! Es wäre an der Zeit, dass auch ich ein Mensch würde“ 143 Kontrastive Grammatik im Sprachunterricht in ladinischen Schulen Südtirols F: „Und das wirst du auch werden, sobald du begreifst, wie man sich dieses Verdienst erwirbt“ P: „Wirklich? Und was kann ich tun, um es mir zu erwerben? “ A F: „Das ist ganz leicht: gewöhne dir an, ein anständiger kleiner Junge zu sein.“ B P: „Bin ich das denn nicht? “ F: „Von wegen! Die anständigen Kinder gehorchen, und du …“ P: „Und ich gehorche nie“ F: „Die anständigen Kinder finden Geschmack am Lernen und an der Arbeit, und du …“ P: „Und ich bin das ganze Jahr über ein Faulpelz und Vagabund.“ F: „Die anständigen Kinder sagen immer die Wahrheit …“ P: „Und ich immer wieder Lügen.“ F: „Die anständigen Kinder gehen gern zur Schule …“ P: „Und mir macht die Schule Bauchschmerzen. Aber von heute an will ich mein Leben ändern.“ F: „Versprichst du mir das? P: „Ich verspreche es. Ich will ein anständiger kleiner Junge werden und der Trost meines Papas sein.“ (…) P: „Ich werde lernen, ich werde arbeiten, ich werde alles tun, was du mir sagst, denn alles in allem verdrießt mich das Leben als Puppenjunge, und ich will endlich ein Junge werden, um jeden Preis. Du hast es mir versprochen, nicht wahr? “ B F: „Ich habe es dir versprochen, und nun hängt es von dir ab.“ Italienisch, aus Collodi (1983, 53sq.): A P: „Ma come avete fatto a crescere così presto? “ F: „È un segreto.“ P: „Insegnatemelo: anch’io vorrei crescere un poco. Non lo vedete? Sono sempre rimasto alto come un soldo di cacio.“ F: „Ma tu non puoi crescere“. P: „Perché? “ F: „Perché i burattini non crescono mai. Nascono burattini, vivono burattini e muoiono burattini.“ P: „Oh! sono stufo di far sempre il burattino! Sarebbe ora che diventassi anch’io un uomo…“ F: „E lo diventerai, se saprai meritarlo…“ P: „Davvero? E che posso fare per meritarmelo? “ A F: „Una cosa facilissima: avvezzarti a essere un ragazzino perbene.“ 144 Ruth Videsott B P: „O che forse non sono? “ F: „Tutt’altro! I ragazzi perbene sono ubbidienti, e tu invece…“ P: „E io non ubbidisco mai.“ F: „I ragazzi perbene prendono amore allo studio e al lavoro, e tu…“ P: „E io, invece, faccio il bighellone e il vagabondo tutto l’anno.“ F: „I ragazzi perbene dicono sempre la verità…“ P: „E io sempre le bugie.” F: „I ragazzi perbene vanno volentieri alla scuola…“ P: „E a me la scuola mi fa venire i dolori di corpo. Ma da oggi in poi voglio mutar vita.“ F: „Me lo prometti? “ P: „Lo prometto. Voglio diventare un ragazzino perbene, e voglio essere la consolazione del mio babbo.“ (…) P: „Io studierò, io lavorerò, io farò tutto quello che mi dirai, perché, insomma, la vita del burattino mi è venuta a noia, e voglio diventare un ragazzo a tutti i costi. Me l’hai promesso, non è vero? “ B F: „Te l’ho promesso, e ora dipende da te.“ Funktional-pragmatisch kann der Textausschnitt ausgehend von den Subjekt‐ pronomen in einen A-Teil und einen B-Teil gegliedert werden. Der A-Teil soll dazu dienen, sprachvergleichend auf typologische Analogien und Unterschiede zwischen den drei Sprachen hinzuweisen: Das Subjektpronomen hat im Ladi‐ nischen zwei Serien, während es in den restlichen Sprachen nur eine hat; im Ladinischen wie im Deutschen ist die Setzung der Pronomen obligatorisch, im Gegensatz zum Italienischen, hier sind Subjektpronomen nicht notwendig (lad: „Y te le deventaras, sce te savaras da t’al mirité…“; deu: „Und das wirst du auch werden, sobald du begreifst, wie man sich dieses Verdienst erwirbt; ita: „E lo diventerai, se saprai meritarlo…“; ). Bei der Subjekt-Verb-Inversion in Fragesätzen wird im Ladinischen das klitische Pronomen direkt an das Verb angehängt, im Deutschen hingegen wird es hinter das Verb gesetzt (lad: „Co ëise pa fat da crësce tan debota? “; deu: „Wie habt Ihr es gemacht, so schnell zu wachsen? “). Im B-Teil hingegen, werden die pragmatisch-semantischen Aspekte der Subjektpronomen in den jeweiligen Sprachen verdeutlicht: starke Pronomen haben eine deutliche pragmatische Funktion im Ladinischen; genauso verhalten sich die Subjektpronomen im Italienischen, um beispielsweise das Subjekt in ein kontrastierendes Verhältnis zu einem anderen Element zu setzen und es somit hervorzuheben (lad: „I mituns sciöch’al alda á ligrëza da imparé y da lauré y tö…“ „Y iö, deperpo, feji dötalann le slondernun y le bondernun.“; ita: „I ragazzi perbene prendono amore allo studio e al lavoro, e tu…“ „E io, invece, faccio il bighellone e 145 Kontrastive Grammatik im Sprachunterricht in ladinischen Schulen Südtirols il vagabondo tutto l’anno.“; deu: „Die anständigen Kinder finden Geschmack am Lernen und an der Arbeit, und du …“ „Und ich bin das ganze Jahr über ein Faulpelz und Vagabund.“). Die klitischen Subjektpronomen hingegen übernehmen eine rein grammatikalische Funktion, indem sie das Subjekt realisieren. Das Vorspielen des Dialogs in den jeweiligen Sprachen unterstreicht die pragmatische Funktion der straken Pronomen im Text durch ihre prosodi‐ sche Hervorhebung. Da das Deutsche keinen syntaktisch-grammatikalischen Unterschied im Pronominalgebrauch vorsieht, wird gerade die prosodische Realisierung zu einer wichtigen Hervorhebungsstrategie in Hinblick auf das Textverständnis. Im Ladinischen und Italienischen wird die prosodische Her‐ vorhebung durch den Gebrauch des starken Subjektpronomens verstärkt. Der Vergleich der drei Texte kann durch gezielt gestellte Fragen seitens der Lehrkraft die Sprachreflexion so steuern, dass den Schülerinnen und Schülern der unterschiedliche Gebrauch (grammatikalisch-syntaktisch und pragmatisch) der starken und klitischen Subjektpronomen klar wird. Dieses sprachoperatio‐ nale Denken sollte jedoch durch „richtige Fragen“ begleitet werden, d. h. die Lehrkraft muss ein fundiertes Wissen über das diskutierte Phänomen in den jeweiligen Sprachen haben, damit die Sprachreflexion richtig angeregt werden kann (Schwenk 2015, 230): • Wie unterscheiden sich die Pronomen im Ladinischen im Vergleich zum Italienischen? • Gibt es Fälle, bei denen im Ladinischen wie im Italienischen Pronomen gebraucht werden? • An welcher syntaktischen Stelle finden sich die Pronomen im Ladinischen und im Deutschen? Immer nur vor dem Verb? Welchen Unterschied erkennen wir diesbezüglich zwischen den beiden Sprachen? • Warum und wann werden im italienischen Text Pronomen gebraucht? • Wie viele Arten von Personalpronomen kann man im deutschen Text erkennen? • Gibt es Gemeinsamkeiten zwischen dem ladinischen und italienischen Text? • Gibt es Pronomen im Text, die durch eine besondere prosodische Akzen‐ tuierung wiedergegeben werden? Wenn ja, warum? Diese Methode der Fragen (cf. Lo Duca 2018) erweist sich insofern als didak‐ tisch nützlich, weil auf das bereits durch den Erstspracherwerb erworbene grammatikalische Wissen zurückgegriffen werden kann und somit induktiv daraus grammatikalische Zusammenhänge erschlossen werden. Zudem wird der muttersprachliche Unterricht bereichert, weil die Lernenden ihre eigene 146 Ruth Videsott Sprache objektiv betrachten, indem sie sie aus der Perspektive einer anderen Sprache (oder anderer Sprachen) untersuchen (cf. Schwenk 2015, 226). Durch diesen Sprachvergleich kann man auf Charakteristika des Pronomi‐ nalsystems des Ladinischen hinweisen, aber zugleich auch die Besonderheiten des Italienischen und des Deutschen mitdiskutieren. Dies erweist sich insofern als sinnvoll, als für alle sprachlichen Kontexte in der Klasse (Kinder mit Ladinisch als Erst- oder Zweitsprache, Kinder mit Deutsch als Erst-oder Zweitsprache, Kinder mit Italienisch als Erst- oder Zweitsprache, Kinder mit Mehrspracherwerb) zu einem grammatikalischen Phänomen Zugänge zur eigenen Sprache oder zu der Sprache, die am besten beherrscht wird, geschaffen werden können. 4 Schlussbemerkungen Die KL ist in Kontexten von Mehrsprachigkeit nützlich, sobald sie gezielt dann eingesetzt wird, wenn das soziolinguistische Umfeld einen mehrsprachigen Sprachunterricht erfordert. Es muss jedoch darauf geachtet werden, dass durch den Sprachvergleich keine Generalisierungen und Stereotypisierungen verschiedener Sprachen vorgenommen werden, sondern positive Transfermög‐ lichkeiten herausgearbeitet und negative Transferfälle erkannt werden. Dies kann zu einer didaktischen Verbesserung im Sprachunterricht führen, insbesondere bei sprachlich heterogenen Klassen. Es werden in erster Linie Dop‐ pelarbeiten verhindert: d. h. ein grammatikalischer wie lexikalischer Schwer‐ punkt muss nur einmal ausführlich unter Einbeziehung aller Sprachen the‐ matisiert werden. Dies ermöglicht die explizite Analyse von typologischen Charakteristika aller Unterrichtssprachen und erhöht die Sprachbewusstheit in der Muttersprache. Abgesehen vom generellen Interesse der KL, zwei oder mehrere Sprachen miteinander zu vergleichen und zu untersuchen, auch um sprachdidaktisch eine Verbesserung zu erreichen, kann auch die Mikrovaration im Ladinischen für einen sprachvergleichenden Ansatz fruchtbar gemacht werden. Es ist also sehr wertvoll, einerseits dialektale Unterschiede zwischen den einzelnen Talschafts‐ idiomen und andererseits intralinguale Variation bezogen auf das Ladinische insgesamt zu untersuchen. Oft kann gerade die dialektale Variation ein realis‐ tischeres Sprachbild bieten als die Beschränkung auf die reine Standard- oder Schriftsprache (König / Nekula 2013, 18sq.). 147 Kontrastive Grammatik im Sprachunterricht in ladinischen Schulen Südtirols Literatur Cardinaletti, Anna / Starke, Michal. 1999. “The Typology of Structural Deficiency On Three Grammatical Classes”, in: Working Papers in Linguistics, 4/ 2, 41-109. Casalicchio, Jan. 2020. „Il ladino e i suoi idiomi“, in: Videsott, Paul / Videsott, Ruth / Casalicchio, Jan (eds.): Manuale di linguistica ladina. Berlin/ Boston: de Gruyter, 144-201. Casalicchio, Jan. 2016. “Subjects pronouns and pro-drop in a Rhaeto-Romance variety”, Poster am Going Romance, Frankfurt 8-10 Dezember 2016 (www.academia.edu/ 30497 489/ Subject_pronouns_and_pro-drop_in_a_Rhaeto-romance_variety, 31.01.2021). Casalicchio, Jan. „Unstressed subject pronouns in Gardenese. 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In diesem Kontext wurde eine umfassende Reform des Fremdsprachenunterrichts verabschiedet. Die Fremdsprachenstrategie der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungs‐ direktoren (EDK 2004) verfolgt das ambitiöse Ziel, dass sich alle Schüler/ innen am Ende der obligatorischen Volksschule neben der lokalen Schulsprache in einer zweiten Landessprache und Englisch verständigen können. Es wird somit die Erziehung zur funktionalen Mehrsprachigkeit und die Demokratisierung des Fremdsprachenunterrichts angestrebt (Manno 2011, Manno / Egli Cuenat 2018). Im Rahmen dieser Reform wurde in der Ostschweiz der Beginn des Englischunterrichts von der 7. in die 3. Klasse vorverlegt, während der Französischunterricht weiterhin, jetzt neu als 2. Fremdsprache, in der 5. Klasse beginnt. Im vom Schweizerischen Nationalfonds geförderten Forschungsprojekt Schuli‐ scher Mehrsprachenerwerb am Übergang zwischen Primarstufe und Sekundarstufe I wurden die schulisch geförderten Fremdsprachen und die Schulsprache Deutsch longitudinal im Kanton St. Gallen am Übergang von der Primarzur Sekundar‐ stufe I aus der Perspektive der Mehrsprachigkeits- und Tertiärsprachenerwerbsfor‐ schung untersucht. Im Zentrum des Projekts standen die parallele Entwicklung der drei Sprachen hinsichtlich der schriftlichen Rezeption sowie der schriftlichen und mündlichen Produktion, die individuellen Lernvoraussetzungen (Motivation, Überzeugungen, Unterrichtsgestaltung) und die Auswirkungen der verlängerten Lerndauer des Fachs Englisch mit der Umkehrung der Sprachenreihenfolge (Manno et al. 2016, 2020). Der vorliegende Beitrag untersucht die Lesekompetenz am Ende der 6. und der 7. Klasse (12 bis 14-jährige Lernende) in der Fremdsprache Französisch unter Berücksichtigung der Schulsprache Deutsch. Dank der Erfassung von Klassen im neuen (3/ 5) sowie im alten Modell (5/ 7) wurde ein Systemvergleich angestellt. Daraus ergab sich ein quasi-experimentelles Forschungsdesign mit einer Untersuchungsgruppe (= UG: Modell 3/ 5) und einer Vergleichsgruppe (= VG: Modell 5/ 7). Beide Gruppen hatten zum Zeitpunkt der Erhebungen im Kanton St. Gallen vergleichbare schulische Bedingungen (cf. Kap. 4). Ausgangspunkt des Forschungsprojekts bildet eine Konzeption des mehr‐ sprachigen Repertoires, in welchem die Sprachen in dynamischen Beziehungen zueinanderstehen (z. B. Coste / Moore / Zarate 2009, Jessner 2013, Lüdi / Py 2009). Im vorliegenden Beitrag steht einerseits die Frage im Fokus, ob Schüler/ innen mit Französisch als zweite Fremdsprache über eine bessere Lesekompe‐ tenz verfügen als jene mit Französisch als erste Fremdsprache; andererseits inwiefern die Lesekompetenz in Französisch mit der Schulsprache Deutsch zusammenhängt. Ein besonderes Augenmerk wird dabei auf den sprachlichen Familienhintergrund der Schüler/ innen gerichtet, da die Schweiz zunehmend heterogene Klassen aufweist (BFS Volkszählung 1970-2017). Der vorliegende Artikel stellt eine kritische Synthese von zwei Aufsätzen dar, die bereits publiziert wurden. Der erste Aufsatz untersuchte die Lesekom‐ petenz im Systemvergleich in der 6. Klasse (Manno 2017). Der zweite Artikel befasste sich mit dem Systemvergleich in der 7. Klasse (Manno 2020). Die Be‐ rücksichtigung der Erkenntnisse aus beiden Untersuchungen sollte zusätzliche Anhaltspunkte über die Entwicklung am Stufenübergang der Lesekompetenz im Französisch als zweite Fremdsprache liefern. Im Folgenden werden der theo‐ retische Hintergrund sowie der Forschungsstand referiert (2). Anschliessend werden die Forschungsfragen (3) und das methodische Vorgehen (4) präsentiert und die Resultate im Systemvergleich berichtet (5). Im Schlusswort werden die Resultate kommentiert und kritisch reflektiert (6). 154 Giuseppe Manno 2 Theoretische Grundlagen Lesen in einer mehrsprachigen Perspektive Die vorliegende Studie situiert sich im Kontext der Fremdsprachenreform (EDK 2004), bei welcher im Kanton St. Gallen durch die Vorverlegung des Englischun‐ terrichts von der 7. in die 3. Klasse und Französisch neu als zweite Fremdsprache ab der 5. Klasse unterrichtet wird. Damit wurde einerseits der Unterricht von zwei Fremdsprachen auf der Primarstufe eingeführt; andererseits kam es zu einem Systemwechsel: Das bisherige Modell 5/ 7 (erste Fremdsprache ab der 5., zweite ab der 7. Klasse) wurde vom Modell 3/ 5 abgelöst. Es fand gleichzeitig eine Umkehrung der bisherigen Sprachreihenfolge im Kanton St. Gallen statt: Fran‐ zösisch wurde neu zur Tertiärsprache (für eine detaillierte Darstellung dieser Fremdsprachenreform, s. Egli Cuenat / Manno / Le Pape Racine 2010, Manno / Egli Cuenat 2018). Es steht die Frage im Vordergrund, wie die Sprachen des mehrsprachigen Repertoires zusammenwirken (Lüdi / Py 2009). Es wird dabei angenommen, dass sich die Umkehrung der Sprachreihenfolge bei vergleich‐ baren Bedingungen positiv auf die Lesekompetenz in Französisch auswirken sollte. Lernende von Französisch als Tertiärsprache sollten von der Vorarbeit in Englisch und in der Schulsprache Deutsch profitieren (Hufeisen / Neuner 2 2005). Manno (2009, 135sq.), Manno / Greminger Schibli (2015, 53sq.) heben mögliche Synergien zwischen dem Englisch- und Französischunterricht und die Lernvorteile von deutschsprachigen Lernenden in der neuen Reihenfolge hervor. 2.1 Tertiär- und Mehrsprachenerwerbsforschung Im Rahmen der Tertiär- und Mehrsprachenerwerbsforschung stand in den letzten Jahrzehnten bei der Untersuchung der wechselseitigen interlingualen Einflüsse zunehmend die Erforschung der Nutzung von Gemeinsamkeiten (z. B. Kognaten) und von Sprach- und Lernerfahrungen im Fokus (Marx / Hufeisen 2004). Die Psycho- und Neurolinguistik zeigen in der Tat, dass Lernen durch die Bildung von Netzwerken mit vorhandenen Wissensbeständen erfolgt (Neuner 2 2005, Müller-Lancé 2017). Die positiven Transfers sind zahlreicher als in der Regel vermutet und überwiegen klar gegenüber den Interferenzen (Escudé / Janin 2010, 18sq.; Klein 2007, 8). Dieser Paradigmenwechsel spiegelt sich auch im neutralen Begriff crosslinguistic influence wider (Ringbom 2007, Odlin 2012). In ihrem Faktorenmodell postuliert Hufeisen ( 2 2005, 8) einen qualitativen Unterschied zwischen dem Lernen der ersten und der zweiten Fremdsprache, da man im Tertiärsprachenerwerb über Sprachlernerfahrungen sowie über ein Repertoire an Sprachlernstrategien verfüge, die sich Lernende der ersten 155 Die Lesekompetenz im Französisch als erste und als zweite Fremdsprache Fremdsprache erst aneignen müssen. Lernende einer Tertiärsprache (L3, L4, …) sollten demnach - bei vergleichbaren Lernbedingungen - Lernvorteile gegen‐ über Lernenden einer L2 haben (Cenoz 2003, 82). Einige empirische Studien v. a. im Bereich der Rezeption stützen diese An‐ nahme (z. B. Cenoz / Hufeisen / Jessner 2001, Dentler / Hufeisen / Lindemann 2000, Bono 2008, Haenni Hoti et al. 2001). In der Produktion werden gegen‐ sätzliche Thesen vertreten. Einerseits erreiche die L2 in der Regel, vor allem beim Produktionstransfer, nicht die Einwirkungsstärke der dominierenden L1 (Hammarberg 2006). Andererseits wird von De Angelis / Selinker (2001) das Prinzip foreign language mode postuliert, welches den bevorzugten Zugriff auf Fremdsprachen, zumindest am Anfang, des Tertiärsprachenerwerbs erklären würde. Cenoz (2013, 80sq.) gelangte in ihrer Synthese der Tertiärsprachenerwerbs‐ forschung zum Schluss, dass Tertiärsprachenlernende nicht automatisch von vorhergehenden Sprachen profitieren. Dies hänge einerseits von den Sprach‐ kompetenzen in den zuvor gelernten Sprachen, andererseits vom Sprachkom‐ petenzniveau in der Tertiärsprache ab (Hulstijn 2015, 117). Hufeisen (2010, 204) revidierte anhand neuerer Forschungsergebnisse ihre These in der Darstellung ihres Faktorenmodells 2.0: Damit das Lernen der folgenden Fremdsprachen er‐ leichtert werden könne, müssen bestimmte Bedingungen mit dem vorgängigen Fremdsprachenlernen erfüllt sein, z. B. positive Erfahrungen und Erfolgserleb‐ nisse im vorgängigen Fremdsprachenlernen. Schliesslich kann die Nutzung interlingualer Ressourcen auch durch die Unterrichtsgestaltung beeinflusst werden (Bono 2008, Müller-Lancé 2003, 456), was für die vorliegende Studie im Rahmen des gesteuerten Fremdsprachener‐ werbs von grosser Bedeutung ist. Die Mehrsprachigkeitsdidaktik richtet den Fokus nicht auf einzelne Sprachfächer: Der bisher meist getrennte Sprachun‐ terricht soll miteinander vernetzt werden, um beim Sprachenlernen Synergien zu nutzen (D-EDK 2016, Lehrplan 21). Selbst Lehrpersonen, welche die Prin‐ zipien der Mehrsprachigkeitsdidaktik grundsätzlich befürworten, werden in der Umsetzung dieser sprachenübergreifenden Didaktik mit grossen Heraus‐ forderungen konfrontiert (Haukås 2019, Schedel / Bonvin 2017). Sie nennen zeitliche Beschränkungen, die kognitive Überforderung (Neveling 2013) oder die ungenügenden Sprachkompetenzen der Lernenden (Barras / Peyer / Lüthi 2019), die fehlenden Unterrichtsmaterialien usw. (Bredthauer / Engfer 2018). Gemäss der Forschung schöpfen viele Lernende ihr sprachliches Potential nicht aus (Müller-Lancé 2003, Ender 2007, Ringbom 2007, Manno / Egli Cuenat 2018). 156 Giuseppe Manno 2 Die Access-Theorie (Walter 2007) spricht im Zusammenhang mit den Lesefertigkeiten nicht von Transfers sondern von Zugriff (access), da angenommen wird, dass diese spra‐ chenübergreifenden Wissensbestände im Sinne der common underlying proficiency (Cummins 2009) potentiell von mehreren Sprachen gespeist werden. 2.2 Lese- und Bilingualismusforschung Im Zusammenhang mit der Entwicklung der Lesekompetenz in einer ersten oder zweiten Fremdsprache stellt sich die Frage, inwiefern die Lernenden von den vorgängig entwickelten Lesefertigkeiten profitieren. In der Forschung wurde vielfach festgestellt, dass Lesestrategien der L1, selbst bei einer genügenden Lesekompetenz in der Schulsprache, erst ab einer gewissen Sprachbeherrschung im fremdsprachlichen Lesen abgerufen werden. Das Textverständnis erfolgt durch das Zusammenspiel von Top-down und Bottom-up-Prozessen. Im Anfän‐ gerstadium kann die Verlangsamung beim fremdsprachlichen Lesen nicht kom‐ pensiert werden, da die Automatisierung der Bottom-up-Prozesse wegen der begrenzten Sprachkenntnisse im Aufbau begriffen ist. Das Arbeitsgedächtnis wird wegen der Dominanz der Bottom-up-Prozesse zu stark belastet, so dass die Verarbeitungskapazität für das Herstellen des Textzusammenhangs und der Bedeutungsentnahme (Top-down) nicht ausreicht (Gaonac’h 2000, 7; Lutjeharms 2010, 15sq.). 2 Zur Erklärung der Resultate im Leseverstehen im Englisch wurde in der DESI-Studie (2008) die nicht unumstrittene Schwellenhypothese (threshold hypo‐ thesis) von Cummins (1979, 222) herangezogen. Sie bezieht sich auf die Schwelle, die in der L1 von Kindern mit Migrationshintergrund erreicht werden müsse, um von den potentiellen Vorteilen der Zweisprachigkeit in der kognitiv-aka‐ demischen Kompetenz zu profitieren: Einerseits werden Lesestrategien der Erstsprache im fremdsprachlichen Lesen aktiviert nur wenn „ein bestimmtes sprachliches Schwellenniveau in der L1 erreicht“ (Nold / Rossa / Chatzivassi‐ liadou 2008, 137) werde. Andererseits sei auch in der L2 zur Bewältigung von Sprache in kontextreduzierter Kommunikation (CALP) ein „ausgeprägtes sprachliches Niveau“ notwendig (op. cit., 137; cf. auch Hulstijn 2015, 117). Die Studie von Peyer / Kayser / Berthele (2010) im Rahmen des gesteuerten Erwerbs von Deutsch als Fremdsprache durch italienisch- und französischspra‐ chige Studierende zeigte einerseits, dass bessere Leseleistungen in Deutsch als L3/ L4 dank Englisch als L2 erzielt wurden; andererseits dass Lernende mit schwachen Deutsch-Kompetenzen weniger von ihren Englisch-Lesekom‐ petenzen als jene im mittleren Bereich profitierten (Peyer et al. 2010, 232sq.). Diese Studie lieferte Anhaltspunkte über die Schwelle beim Leseverständnis in Tertiärsprachen, wobei es hier eigentlich eher um das Verstehen von gram‐ matikalischen Strukturen auf Satzebene ging. Lechner / Siemund (2014, 6sq.) 157 Die Lesekompetenz im Französisch als erste und als zweite Fremdsprache 3 Aufgrund der zahlreichen Gemeinsamkeiten zwischen Englisch und den romanischen Sprachen haben Klein / Reissner (2006) ein Lehrbuch im Rahmen der Methode EuroCom konzipiert, um den Nutzen der Englischkenntnisse für das Lese- und Hörverstehen in der romanischen Sprachenfamilie zu verdeutlichen. gelangten zu einem ähnlichen Ergebnis hinsichtlich der Schwelle in ihrer Studie über Hamburger Schüler/ innen in der englischen bildungssprachlichen Kompetenz: Die positiven Einflüsse auf Tertiärsprachen hängen vom Typ von Mehrsprachigkeit und von der Sprachkombination ab. Wegen der fehlenden sprachlichen Spezifizierung der Schwellenhypothese werden aktuell mehrsprachige Modelle bevorzugt (Berthele / Lambelet 2017, 12), welche die Entwicklung der Sprachen in einem Kontinuum einordnen (Cummins 2000). Zumindest in der Rezeption ist die Schwelle bei verwandten Sprachen tiefer anzusetzen als in einer beliebigen Sprachkombination. Im Rahmen der Interkomprehensionsdidaktik wird beispielsweise das Lesen in einer noch unbekannten Tertiärsprache innerhalb der gleichen Sprachfamilie angestrebt (Escudé / Janin 2010). Allerdings bedingt es einer gefestigten Kom‐ petenz in einer Brückensprache, damit diese zu einer verwandten Fremdsprache aktiviert werden kann (Hammarberg 2006, Meißner / Burk 2001). Transfer funktioniert in der Regel umso besser, je ähnlicher sich Ziel- und Brückensprache sind (Hammarberg 2001, 22sq.). Der Faktor typologische Nähe ist relevant für die hier untersuchte Sprachkombination: Englisch als germani‐ sche Sprache weist zahlreiche romanische Züge (Lexikon und Morphosyntax) auf. 3 Eine Analyse der Lehrmittel in den beiden Fremdsprachen ergab, dass rund 50 % des Gesamtwortschatzes im Französischlehrmittel envol 5 eine englische Entsprechung kennen (Manno 2009, 136). Um den tatsächlichen Kenntnissen am Anfang des Französischunterrichts Rechnung zu tragen, wurde ein Vergleich der Lehrmittel der Primarschule durchgeführt. Die Entsprechungen des Lern‐ wortschatzes von envol 5, 6 mit jenem von Young World 3, 4 betragen 12.5 % (Manno / Klee 2009, 32). Auch Deutsch teilt mit beiden Fremdsprachen zahl‐ reiche Internationalismen (z. B. february, football, minute, music, salad, tourist). Aus der Perspektive des Französischen als zweite Fremdsprache ist jedoch jene Kategorie der englischen Wörter im Grundwortschatz besonders interessant, die eine Brücke zwischen Deutsch und Französisch schlägt (z. B. cinema, colour, example, flower, lake, village, forest). Die Gemeinsamkeiten zwischen Englisch und Französisch betreffen auch die Syntax. Die Syntax des Englischen ist in vieler Hinsicht romanisch. Weder im Englischen noch im Französischen findet beispielsweise eine Umstellung von Subjekt und Prädikat statt, wenn die erste Stelle im Satz durch ein anderes Satzglied besetzt ist (Today I go to Zurich). In morphologischer Hinsicht kann der romanische Komparativ (I am more elegant 158 Giuseppe Manno than you.) erwähnt werden. Diese gemeinsamen Elemente können beim Lesen französischer Texte entlastend wirken (Manno 2009, 135sq.). Die Bereitschaft einzelner Lernertypen, andere Sprachen als Hilfe anzu‐ nehmen, hängt schliesslich auch von der wahrgenommenen bzw. subjektiven Distanz (Psychotypologie) zwischen den Sprachen ab (Ó Laoire / Singleton 2009; Ringbom 2007). In der Leseforschung spielt auch die Interdepenzhypothese (Cummins 1981) eine wichtige Rolle, obwohl sie allgemein als schwer nachweisbar gilt: Da die Sprachkompetenz eines Individuums alle Sprachen aufgrund einer gemeinsamen allgemeinen Sprachkompetenz (common underlying proficiency) umfasst, werden Leseleistungen in der L1 ähnlich in der L2 abgebildet; die L2-Entwicklung sei abhängig vom Stand der L1 zum Zeitpunkt der Auseinandersetzung mit der L2 in den ersten Schuljahren. In der DESI-Studie wurden in der 9. Klasse starke interlinguale Zusammenhänge zwischen Deutsch und Englisch (r = .94) im reflektiv-rezeptiven Bereich gemessen ( Jude et al. 2008, Kap. 18.4). Die Lesekompetenz in der Fremdsprache Französisch sollte mit der Schulsprache Deutsch zusammenhängen, denn Deutsch ist für die meisten Lernenden die Sprache, in welcher sie über die stärksten kognitiv-akademischen Kompetenzen verfügen. Die in der Schulsprache entwickelten Lesefertigkeiten sollten mit zunehmender Kompetenz leichter für die zweite Fremdsprache verfügbar sein. 2.3 Studien zur Lesekompetenz in Französisch als zweite Fremdsprache im Rahmen der Fremdsprachenreform In der Deutschschweiz wurden in den letzten Jahren zahlreiche Untersuchungen zur Evaluation des reformierten Fremdsprachenunterrichts durchgeführt (cf. Überblick in Wiedenkeller 2013, Manno / Egli Cuenat 2018). Diese Untersu‐ chungen in der Tradition des Bildungsmonitorings überprüfen die Sprachkom‐ petenzen anhand von Bildungsstandards mit Bezug auf die Kompetenzniveaus des GER (Europarat 2001). Diese Studien, in welchen die einzelnen Fremd‐ sprachen im Vordergrund stehen, betreffen mehrheitlich Englisch als erste Fremdsprache (z. B. Heinzman / Schallhart / Wicki 2015; Kreis / Williner / Ma‐ eder 2014; Krieg / Engeli 2016; Steidinger / Marques Pereira 2016). Die gross angelegte Schweizer Studie zur Überprüfung der nationalen Bildungsstandards (ÜGK) am Ende der Primarstufe (6. Klasse bzw. 8. Klasse Zählung HarmoS) betraf die Schulsprache und die erste Fremdsprache (Konsortium ÜGK, 2019). Hingegen ist der Forschungsstand zu Französisch als zweite Fremdsprache fragmentarisch. Erstens liegen ausgehend von den Ergebnissen in der 8. Klasse lediglich Annahmen über die Sprachkompetenzen am Ende der obligatorischen Schulzeit (9. Klasse) vor. Zweitens gibt es erste widersprüchliche Erkenntnisse 159 Die Lesekompetenz im Französisch als erste und als zweite Fremdsprache hinsichtlich der Lesekompetenz. Peyer et al. (2016) haben in den Kantonen der Zentralschweiz eine Leistungsmessung im Fach Französisch als zweite Fremdsprache am Ende der Primarstufe und in der 8. Klasse durchgeführt. Im Leseverstehen erreicht oder übertrifft durchschnittlich 53.5 % aller Lernenden der 6. Klasse das Lehrplanziel (Niveau A1.2). In der 8. Klasse erreicht nur 30.7 % die Lehrplanziele für die 9. Klasse (Niveau A2.2). Gemäss Peyer et al. (2016) lassen die Testergebnisse in der 8. Klasse erwarten, „dass auch am Ende der obligatorischen Schulzeit eine Mehrheit der Lernenden die Lehrplanziele für Französisch nicht erreichen wird“ (Peyer et al. 2016, 53). Diese ernüchternden Resultate widersprechen einer früheren Longitudinal‐ studie in der gleichen Region. Haenni Hoti et al. (2009) hatten sich anlässlich des Systemwechsels in einer sprachenübergreifenden Perspektive mit dem Tertiärsprachenerwerb bei Primarschulkindern befasst. Sie stellten fest, dass die Lesekompetenzen im Deutsch in der 4. Klasse und im Englisch in der 3./ 4. Klasse einen positiven Einfluss auf die Lesekompetenz in Französisch am Ende der 5. Klasse hatten (op. cit., 21). Die Autor/ Innen nahmen auch einen Systemvergleich vor, denn es wurden Klassen im alten (3/ 7) und im neuen Modell (5/ 7) erfasst: Die Französischlernenden mit vorangehendem Englischunterricht (3/ 5) schnitten am Ende der 5. Klasse im Hören und Lesen besser als diejenigen ohne Englisch (3/ 7) ab (op. cit., 28). Heinzmann et al. (2010) zeigten in der Nachfolgestudie, dass Schüler/ innen im Modell 3/ 5 am Ende der 6. Klasse in der mündlichen Interaktion höhere Kompetenzen auswiesen als die andere Gruppe, jedoch gleich gute Französisch‐ kompetenzen im Hören und Lesen. Im Lesen war also am Ende der 6. Klasse im Französisch kein Vorteil mehr zugunsten der Lernenden mit parallelem Englischunterricht erkennbar. Dies könnte gemäss Heinzmann et al. (2010, 61) darauf zurückzuführen sein, dass im Französischunterricht zu wenig auf das Vorwissen aufgebaut wurde. 3 Forschungsfragen zum Systemvergleich Ausgehend von den geschilderten Annahmen und mit Bezug auf die aktuelle Forschungslage (cf. Kap. 2), zielt der vorliegende Aufsatz auf die Analyse der Lesekompetenz in Französisch unter Berücksichtigung von Deutsch am Ende des 6. und des 7. Schuljahrs. Dabei werden folgende Forschungsfragen überprüft: 3.1. Verfügen am Ende der 6. Klasse und 7. Klasse Schüler/ innen mit Fran‐ zösisch als zweite Fremdsprache über eine bessere Lesekompetenz als Schüler/ innen mit Französisch als erste Fremdsprache? 160 Giuseppe Manno 4 Der Index des ökonomischen, sozialen und kulturellen Status/ Index of Economic, Social and Cultural Status (ESCS) wurde über den elterlichen Beruf, die Anzahl der Bücher zu Hause sowie den höchsten Bildungsabschluss der Eltern erfasst (OECD 2016). 3.2. Lassen sich Unterschiede in der Lesekompetenz in der Schulsprache Deutsch am Ende der 6. Klasse und 7. Klasse feststellen, die mit der Fremdspra‐ chenreform (eine oder zwei Fremdsprachen) zusammenhängen? 3.3. Fragestellung: Inwiefern hängt die Lesekompetenz in Französisch am Ende der 6. Klasse und 7. Klasse in beiden Modellen mit der Schulsprache zusammen? 4 Methodisches Vorgehen 4.1 Datenerhebung und Stichprobenumfang Im vorliegenden Artikel werden die Ergebnisse der 6. und der 7. Klasse in beiden Modellen miteinander verglichen, um Auswirkungen der Umkehrung der Sprachreihenfolge auf die Lesekompetenzen zu untersuchen. Für die Über‐ prüfung der Hypothesen liegt somit ein quasi-experimentelles Design vor, bei dem die beiden Gruppen zeitverschoben gemessen wurden. Die Lernenden, die miteinander verglichen wurden, hatten vergleichbare Be‐ dingungen mit der gleichen Stundendotation (3 Wochenlektionen Französisch in der 5. Klasse, 2 in der 6. Klasse, 3 Stunden in der 7. Klasse, cf. EDK 2016). Es wurde mit dem gleichen Lehrmittel (envol 5-9) gearbeitet. Schliesslich gab es zum Zeitpunkt der Erhebungen in der Ostschweiz keine grundlegende Reform des Französischunterrichts, z. B. kein verbindliches Fortbildungsangebot zum Ausbau der methodisch-didaktischen Kompetenzen (Egli Cuenat et al. 2010, 120). Um empirisch belastbare Erkenntnisse zu garantieren, wurde eine mög‐ lichst hohe interne Validität angestrebt. Einerseits wurde darauf geachtet, dass die Klassen für die UG aus denselben Schulgemeinden des Kantons St. Gallen stammten und nach dem identischen Verfahren ausgewählt wurden wie in der VG. Andererseits wurden bei Gruppenvergleichen mögliche alternative Erklärungsgrössen (z. B. soziale Herkunft bzw. ESCS-Index) 4 sta‐ tistisch kontrolliert. Die Analysen beruhten auf Daten, die im Frühjahr 2011/ 2012 bzw. 2014/ 2015 erhoben wurden. Tab. 1 fasst die Stichprobenum‐ fänge zusammen: 161 Die Lesekompetenz im Französisch als erste und als zweite Fremdsprache 5 Es werden hier die gesamten Stichprobenumfänge angegeben, d. h. alle Schüler/ innen, von denen mindestens ein Teil der Daten vorliegt. Die Analysen für die einzelnen Berechnungen erfolgten teilweise mit etwas reduzierten Stichprobenumfängen, weil beispielsweise bei gewissen Testteilen bzw. Items fehlende Werte vorlagen. 6 Schüler/ innen im Kanton St. Gallen können nach einer Abklärung beim Schulpsycho‐ logischen Dienst von einzelnen Fächern dispensiert werden. Die Massnahme wird durch die Schulbehörde verfügt (Kantonsrat St. Gallen 2016, 13sq.). Hauptstudie: Englisch ab 3. / Französisch ab 5. Schuljahr (Modell 3/ 5) 6. Schuljahr (Mai 2014) 7. Schuljahr (Mai 2015) Längsschnitt Klassen Lehrpers. SuS Klassen Lehrpers. SuS SuS 32 56 609 38 72 721 316 Vergleichsstudie: Französisch ab 5. / Englisch ab 7. Schuljahr (Modell 5/ 7) 6. Schuljahr (Mai 2011) 7. Schuljahr (Mai 2012) Längsschnitt 11 11 216 12 24 259 74 Anmerkung: In der Vergleichsstudie liegen für das 6. Schuljahr nur Daten für Deutsch und Französisch vor, weil Englisch erst ab dem 7. Schuljahr unterrichtet wurde; SuS = Schüler/ innen. Tab. 1: Untersuchungsanlage mit Angaben zu den Stichprobenumfängen der UG, VG. 5 Der gesamte Stichprobenumfang in der schriftlichen Rezeption betrug in der UG 6 609 bzw. VG 6 216 Proband/ innen. In der VG 6 fehlte bei 4 Schüler/ innen die Angabe des Geschlechts; bei 1 Schüler/ in die Angabe zu den Familienspra‐ chen. In der 7. Klasse betrug die gesamte Stichprobe 721 (UG 7) bzw. 259 Proband/ innen (VG 7). Bei 4 (UG 7) bzw. 6 Schüler/ innen (VG 7) fehlte die Angabe des Geschlechts; bei 1 Schüler/ in (UG 7) bzw. 12 Schüler/ in (VG 7) fehlten die Angabe zur Erfassung der Familiensprache. Die vom Französischunterricht dispensierten Schüler/ innen (UG 7: N = 24, VG 7: N = 5) wurden von den Berechnungen, die Französisch betrafen, ausgeschlossen. 6 Die diesem Beitrag zugrundeliegenden Stichproben hinsichtlich des sprach‐ lichen Familienhintergrunds in der UG 6 enthielten mehr Mehrsprachige, d. h. Deutsch und mindestens eine weitere Familiensprache: UG 6: 38.5 %; VG 6: 25.9 %. Auch die UG 7 enthielt proportional mehr Proband/ innen als VG 7, deren Familiensprache Deutsch und eine weitere Sprache war (UG 7: 34.3 % - VG: 7: 29.7 %). Schliesslich besuchen Schweizer Schüler/ innen auf der Sekundarstufe I unterschiedliche Schultypen bzw. Anforderungsniveaus: Realschule (Grundan‐ 162 Giuseppe Manno 7 In der Vergleichsstudie wurden keine Schüler/ innen des Untergymnasiums erfasst. forderungen), Sekundarschule (erweiterte), Untergymnasium (hohen Anforde‐ rungen). VG 7 und UG 7 unterschieden sich diesbezüglich in ihrer Zusammen‐ setzung. Während die Stichprobe der UG 7 die Verteilung nach Schultyp gemäss kantonalen Statistiken anteilmässig abbildete, waren bei der Stichprobe der VG 7 die Sekundarschüler/ innen übervertreten. 7 Deshalb wurde für beide Kohorten eine Gewichtungsvariable (VG 7 Realschule: 1.6359, Sekundarschule: 0.8041; UG 7 Realschule: 0.9953, Sekundarschule: 1.1063, Untergymnasium: 0.0598) gebildet, die beim Systemvergleich angewendet wurde, um Verzerrungen aufgrund der unterschiedlichen Zusammensetzung der Stichproben zu vermeiden. 4.2 Erhebungsinstrumente in der schriftlichen Rezeption Die Testaufgaben im Leseverstehen Französisch lehnten sich an HarmoS Fremdsprachen (EDK 2011b) unter Berücksichtigung des Testinstrumentariums von lingualevel (Lenz et al. 2007). Es wurden weitere Testinstrumente be‐ rücksichtigt, die an die kognitiven Voraussetzungen unserer Proband/ Innen adaptiert wurden (z. B. Heinzmann et al. 2010). Das Testinstrument umfasste Fragen zum Global- und Detailverständnis (Leseverständnis als Durchschnitt). Die Fragen zum Leseverständnis betrafen Aussagen zum Text (Multiple Choice); es wurden auch offene Fragen gestellt (Wer hat ein Haustier? ). Für die Fragen und für die Antworten wurde die Schulsprache verwendet. Das Testinstrument enthielt stufenspezifische Testaufgaben für die zweite Fremdsprache. Zwei Le‐ setexte deckten in der 6. Klasse das Niveau A1.1 - A1.2 gemäss GER (Europarat 2001), in der 7. Klasse das Niveau A1.2 - A2.2 ab. Jede Stufe enthielt je einen ge‐ meinsamen und einen stufenspezifischen Lesetext, um die stufenübergreifende Vergleichbarkeit zu garantieren und den Wiederholungseffekt möglichst zu neutralisieren (Manno 2018, 158). Es erfolgte eine Optimierung des Testinstruments durch eine Pilotierung. Die Ergebnisse der Vorstudie mit der VG ergaben ausserdem, dass einzelne Aufgaben leicht waren. Deshalb wurden im Französisch bei der Aufgabe 2 (Niveau A1.2) in der UG 6 2 von 10 Items der VG durch schwierigere ersetzt. Um trotz teilweise unterschiedlicher Aufgaben für beide Gruppen Testwerte auf derselben Metrik zu erzeugen, wurden die Daten Rasch-skaliert (Rasch 1960). Die Rasch-Skalierung wurde auf die zusammengeführten Testdaten von allen 4 Erhebungszeitpunkten: VG 6, 7; UG 6, 7 gemeinsam angewendet. Auf diese Weise sind die Testwerte zwischen den beiden Gruppen vergleichbar. Für die weiteren Analysen wurde ein Parameter in Form eines WLE-Schätzers 163 Die Lesekompetenz im Französisch als erste und als zweite Fremdsprache (weighted likelihood estimates) verwendet, welcher die Leistung bezüglich der Lesekompetenz abbildet (Bühner 2006, 362). In der Schulsprache Deutsch wurden ebenfalls stufengerechte Testaufgaben in Anlehnung an HarmoS Schulsprache (EDK 2011a) eingesetzt, welche das Leseverständnis der Proband/ innen erfassten. Dieser Anhaltspunkt sollte dazu dienen, die fremdsprachliche Lesekompetenz besser einzuordnen. Auch im Deutsch wurden Aufgaben zum Global- und zum Detailverständnis eingesetzt. Nach der Vorstudie wurden 4 von 10 Items ersetzt. Da keine hinreichende An‐ zahl an Anker-Items vorlag, konnte für die Schulsprache keine Rasch-Skalierung über beide Gruppen hinweg durchgeführt werden. Im Resultatteil wird deshalb nur über den relativen Anteil an richtigen Lösungen jener Aufgaben berichtet. 5 Resultate 5.1 Verfügen am Ende der 6. Klasse und 7. Klasse Schüler/ innen mit Französisch als zweite Fremdsprache über eine bessere Lesekompetenz als Schüler/ innen mit Französisch als 1. Fremdsprache? Am Ende der 6. Klasse bzw. nach 2 Jahren Französischunterricht waren die Leistungen in der Lesekompetenz der Schüler/ innen mit Französisch als erste Fremdsprache (VG 6) signifikant besser als jene mit Französisch als 2. Fremd‐ sprache UG 6 (p < .05, Tab. 2). Die Effektstärke war mit d = 0.16 jedoch gering. Variabel N M SD P Lesekompetenz Französisch VG 6 Lesekompetenz Französisch UG 6 214 607 -.05 -.22 1.03 1.07 .041* Anmerkung: Prozentualer Anteil richtiger Lösungen, *p < .05; T-Test der WLE-Schätzer (cf. Manno 2017). Tab. 2: Mittelwertsvergleich zwischen der Lesekompetenz Französisch VG 6 und UG 6. Am Ende der 7. Klasse fielen die gewichteten Mittelwerte im Leseverständnis Französisch der VG 7 höher aus als jene der UG 7. Der T-Test zeigte, dass die Schüler/ innen mit Französisch als erste Fremdsprache (VG 7) eine signifikant höhere Lesekompetenz in Französisch aufwiesen als jene von Schüler/ innen mit Französisch als zweite Fremdsprache (UG 7) (p < .01, cf. Tab. 3). Die Effektstärke des Unterschieds zwischen beiden Modellen war mit d = 0.21 klein. 164 Giuseppe Manno 8 In der VG 6 bezieht man sich auf die Längsschnittpopulation (N = 72), da in der VG 6 kein ESCS gebildet werden konnte. Es wurde für jene Kinder, die auch in der VG 7 vertreten sind, der ESCS dazu berechnet (cf. Manno 2017). Variabel N M SD P Lesekompetenz Französisch VG 7 Lesekompetenz Französisch UG 7 251 696 .28 .09 .95 .87 .004* Anmerkung: Prozentualer Anteil richtiger Lösungen, **p < .01; T-Test der WLE-Schätzer unter Berücksichtigung der Gewichtung nach Schultypen; ohne dispensierte Schüler/ innen (cf. Manno 2020). Tab. 3: Mittelwertsvergleich Lesekompetenz Französisch VG 7 und UG 7. Die beiden Leseaufgaben Detailverständnis der 7. Klasse wurden separat be‐ trachtet: bei der Aufgabe auf Niveau A1.2 lagen keine Unterschiede zwischen beiden Modellen vor (VG 59.7 - UG 59.7). Bei der anspruchsvolleren Aufgabe auf Niveau A1.2 - A2.2 schnitt die VG 7 signifikant besser ab (p < .001, VG 7: 66.23 - UG 7: 58.05; T-Test). Der signifikante Unterschied wurde auch bei Zusammenlegung beider Aufgaben zum Detail- und Globalverständnis auf dem Niveau A1.2 - A2.2 bestätigt (p < .001, VG: 64.7 - UG: 55.8, T-Test). Das schlechtere Abschneiden von UG 7 hing also eher mit den anspruchsvolleren Aufgaben zusammen. Es wurde auch nach möglichen Unterschieden zwischen den Schultypen bzw. Anforderungsniveaus gesucht. Der Vergleich der beiden Modelle hinsichtlich der Lesekompetenz in der Realschule (Grundanforderungen) ergab keinen signifikanten Unterschied. Hingegen erwiesen sich die Unterschiede in der Sekundarschule und im Untergymnasium (erweiterte und hohe Anforderungen) als signifikant (p < .01, VG 7: .50 - UG 7: .28, T-Test). Der Systemunterschied war vor allem durch das bessere Abschneiden der Schüler/ innen in den anspruchs‐ volleren Anforderungsniveaus im Modell 5/ 7 bedingt. Hinsichtlich des sprachlichen Familienhintergrunds wiesen in der 6. Klasse Mehrsprachige in beiden Modellen tendenziell tiefere Mittelwerte als die aus‐ schliesslich deutschsprachigen Lernenden vor. Die Unterschiede waren jedoch weder in der UG 6 noch in der VG 6 signifikant (UG 6: n.s.; VG 6: n.s., T-Test). In der anschliessenden Kovarianzanalyse unterschieden sich die Leistungen im Französischlesen in der VG 6 nicht mehr signifikant von jenen in UG 6 (p = .079). Die soziale Herkunft (ESCS) 8 (p < .001) und das Geschlecht (p < .05) wiesen signi‐ fikante Effekte auf die Leseleistung auf. Die Familiensprache hatte nach Kontrolle von sozialer Herkunft und Geschlecht keinen signifikanten Zusammenhang mit der Leseleistung (n.s.). Dieses Resultat lässt sich durch eine Konfundierung von Familiensprache und ESCS erklären: Es bestand in der Stichprobe ein mittlerer 165 Die Lesekompetenz im Französisch als erste und als zweite Fremdsprache Zusammenhang (r = .34, p < .01) zwischen Mehrsprachigkeit und tiefem sozio‐ ökonomischen Status des Elternhauses (Manno 2017, 145). Auch in der 7. Klasse hatten Lernende mit familiärer Mehrsprachigkeit in beiden Modellen tendenziell tiefere Mittelwerte als rein Deutschsprachige. Der Unterschied zwischen beiden Gruppen war in der UG 7 und in der VG 7 signifikant (T-Test, UG 7: p < .05; VG 7: p < .05). Die multiplen Regressionsanal‐ ysen (4 schrittweise eingeführte Kontrollvariablen, s. Wirtz/ Nachtigall 2008) zur Vorhersage der Lesekompetenz in Französisch (916 ≤ N ≤ 947) ergaben, dass die soziale Herkunft (β = 0.26; t = 7.57; p < .001), das Geschlecht (β = 0.14; t = 4.50; p < .001) und die Systemzugehörigkeit (β = -0.10; t = -3.14; p < .01) signifikante Prädiktoren waren, die lediglich etwa 9 % der Gesamtvarianz ausmachten. Der sprachliche Familienhintergrund war hingegen nach Kontrolle der sozialen Herkunft kein signifikanter Prädiktor. Auch in der 7. Klasse lag eine Konfundierung von familiärer Mehrsprachigkeit und tiefer sozialer Herkunft vor (r = .35, p < .01). In anderen Worten wirkten sich ein hoher ESCS-Index, „weiblich sein“ und die Zugehörigkeit zum Modell 5/ 7 positiv auf die Lesekompetenz im Französisch aus. 5.2 Lassen sich Unterschiede in der Lesekompetenz in der Schulsprache Deutsch am Ende der Primarstufe feststellen, die mit der Fremdsprachenreform (eine oder zwei Fremdsprachen) zusammenhängen? Die Leseleistungen in der Schulsprache fielen in der VG 6 signifikant besser aus als in der UG 6 (VG 6: 80.49 - UG 6: 76.33, p < .01). Zugleich schnitten Schüler/ innen, deren Familiensprache ausschliesslich Deutsch war, besser als Mehrsprachige ab. In beiden Modellen war dieser Unterschied signifikant (VG 6: p < .05; UG 6: p < .01, Tab. 4): Variabel N M SD P Mittelwert Deutsch VG 6 Nein 55 77.77 16.34 .012* Ja 158 83.97 15.38 Mittelwert Deutsch UG 6 Nein 232 74.77 16.24 .002** Ja 371 79.17 16.83 Anmerkung: prozentualer Anteil richtiger Lösungen, Ja = ausschliesslich Deutsch; Nein = nicht ausschliesslich Deutsch, *p < .05, **p < .01; T-Test (Manno 2017). Tab. 4 Mittelwertsvergleich Familiensprache Eltern-Kind ausschliesslich Deutsch, VG 6 und UG 6, Leseverständnis Schulsprache Deutsch. 166 Giuseppe Manno Die durchgeführte Kovarianzanalyse zeigte, dass ESCS (p < .001) und Geschlecht (p < .01) signifikante Prädiktoren waren; der familiäre Sprachhintergrund war hingegen nicht signifikant aufgrund der Konfundierung von Familiensprache und ESCS. Kontrolliert um diese Variablen war der Unterschied zwischen beiden Kohorten signifikant (p < .05): Die Leseleistungen in der UG 6 lagen demnach tiefer als in der VG 6. In der 7. Klasse fielen die Mittelwerte im Deutsch bei den Lernenden der VG 7 leicht höher aus als jene der UG 7 (LV 80.7 vs 78.5). Diese Unterschiede waren jedoch nicht signifikant (n.s.). Bei der Betrachtung der unterschiedlichen Schultypen waren die leichten Vorteile der VG 7 weder in der Realschule (M 74.28 - 71.94, n.s.) noch in der Sekundarschule/ im Untergymnasium signifikant (M 84.72 - 82.73, n.s.). In beiden Modellen schnitten ausserdem Schüler/ innen mit Deutsch als einzige Familiensprache signifikant besser ab als Lernende mit familiärer Mehrsprachigkeit (VG 7: p < .01; UG 7: p < .001). Variabel N M SD P Mittelwert Deutsch VG 7 Nein 73 74.22 20.37 .001** Ja 173 82.85 15.10 Mittelwert Deutsch UG 7 Nein 247 74.58 18.37 .000*** Ja 473 80.51 17.86 Anmerkung: prozentualer Anteil richtiger Lösungen, Ja = ausschliesslich Deutsch; Nein = nicht ausschliesslich Deutsch, **p < .01; ***p < .001; T-Test; unter Berücksichtigung der Gewichtung nach Schultypen (Manno 2020). Tab. 5 Mittelwertsvergleich Familiensprache Eltern-Kind ausschliesslich Deutsch, VG 7 und UG 7, Leseverständnis Schulsprache Deutsch. Die multiplen Regressionsanalysen (4 schrittweise eingeführte Kontrollvari‐ ablen, 947 ≤ N ≤ 980) zur Vorhersage des Leseverständnisses im Deutsch im 7. Schuljahr ergaben folgendes Bild: Die stärksten Prädiktoren waren der ESCS-Index (β = .18; t = 5.31; p < .001) und der sprachliche Familienhintergrund (β = .12; t = 3.67; p < .001). Das Geschlecht (β = .10; t = 3.16; p < .01) und die Systemzugehörigkeit (β = -.06; t = -2.00; p < .05) waren zwar signifikante aber schwächere Prädiktoren. Es waren demnach vor allem ein hoher ESCS-Index und Deutsch als einzige Familiensprache, die sich positiv auf das Lesever‐ ständnis im Deutsch auswirkten. Die vier Prädiktoren machten lediglich 7 % der Gesamtvarianz aus. 167 Die Lesekompetenz im Französisch als erste und als zweite Fremdsprache 5.3 Inwiefern hängt die Lesekompetenz in Französisch am Ende der 6. Klasse in beiden Modellen mit der Schulsprache zusammen? Die positiven schwachen Korrelationen Deutsch - Französisch im Lesever‐ ständnis waren sowohl in der UG 6 als auch in der VG 6 statistisch signifikant (UG 6, r = .29, p < .001; VG 6 : r = .26, p < .001). Trotz unterschiedlicher Effektstärke in beiden Systemen waren die geringen Differenzen zwischen den Korrelationskoeffizienten in der UG 6 und in der VG 6 nicht signifikant (z: 0.297, n.s.). Das Verhältnis zwischen der Schulsprache Deutsch und Französisch wich demnach am Ende der 6. Klasse nicht wesentlich vom alten System mit Französisch als erste Fremdsprache ab. In der 7. Klasse ergab der Vergleich zwischen den Korrelationen Deutsch - Französisch in den beiden Modellen folgendes Bild: Die positiven schwachen Korrelationen zwischen Deutsch und Französisch waren in der UG 7 sowie in der VG 7 statistisch signifikant (UG 7, r = .28 p < .001 ; VG 6 : r = .26 p < .001). In der VG 7 und UG 7 lagen vergleichbare Korrelationen vor. Unabhängig von der unterschiedlichen Effektstärke der Korrelationen in beiden Modellen waren die geringen Differenzen zwischen den Korrelationskoeffizienten statistisch nicht signifikant (z: -0.39, n.s.). Das Verhältnis im Lesen zwischen Deutsch und Französisch als zweite Fremdsprache glich also am Ende der 7. Klasse dem Modell mit Französisch als erste Fremdsprache ab. 6 Schlusswort 6.1 Zusammenfassung und Diskussion der Ergebnisse In Beantwortung der Forschungsfrage 1 zeigt der Systemvergleich, dass die Lesekompetenz im Französisch im Modell 3/ 5 am Ende der 6. Klasse im Ver‐ gleich zum alten Modell 5/ 7 zwar etwas niedriger liegt. Der Unterschied zwischen beiden Modellen fällt aber nach Kontrolle der sozialen Herkunft, des sprachlichen Familienhintergrunds und des Geschlechts nicht signifikant aus. Nichtsdestotrotz handelt es sich um ein unerwartetes Resultat. Als mögliche Erklärung dafür kann angenommen werden, dass am Ende der 6. Klasse ein Teil der Lernenden das entsprechende Sprachniveau im Französischlesen noch nicht erreicht hat (cf. Peyer et al. 2016), um von den weiteren Sprachen ihres Repertoires zu profitieren. Mit zunehmender Kompetenz sollten Lernende eher von ihrem Sprachrepertoire profitieren. Es wurden deshalb die Leistungen am Ende der 7. Klasse in beiden Modellen herangezogen, um zu prüfen, wie sich die Lesekompetenz am Stufenübergang weiterentwickelt. Auch in der 7. Klasse schneiden die Lernenden im Modell 5/ 7 signifikant besser ab als jene im Modell 3/ 5. Dieses Ergebnis könnte u.A. daran liegen, dass die Lernenden im Modell 168 Giuseppe Manno 3/ 5, die schon in der 6. Klasse tendenziell schlechtere Resultate erzielten, eine ungünstigere Ausgangslage hatten (Manno 2020, 148). Diese Erklärung darf aber nicht kausal interpretiert werden, da diese Resultate die Gesamtpopulation der jeweiligen Stufen betrafen bzw. keine längsschnittlichen Analysen darstellten. Bei der Einschätzung dieser Ergebnisse muss erstens bedacht werden, dass trotz des schlechteren Abschneidens der Stichprobe im neuen Modell 3/ 5 eine zusätzliche Fremdsprache (Englisch) bereits ab der 3. Klasse der Primarschule erfolgreich aufgebaut wird (Konsortium ÜGK 2019). Zweitens wurde im vorlie‐ genden Projekt in der Untersuchungsgruppe festgestellt, dass hohe Lesekom‐ petenz in Englisch und Französisch in der 6. Klasse zu einem signifikanten Leistungszuwachs in Französisch in der 7. Klasse führen (Manno 2018, 160). Dieser Umstand stützt die Annahme, wonach Tertiärsprachlernende von den weiteren Sprachen in ihrem Repertoire profitieren können (Hufeisen 2010, 204). Drittens ergab die Analyse der Lesekompetenz anhand der längsschnittlichen Stichprobe einen signifikanten Zuwachs im Französisch und im Englisch von der 6. in die 7. Klasse (Manno 2018, 158). Dieser Zuwachs fiel allerdings im Vergleich mit anderen Studien auf der Sekundarstufe I im Kanton Aargau (Bayer / Moser 2016, 47) und in der Zentralschweiz (Peyer et al. 2016, 51) eher bescheiden aus. Schliesslich ergab der Systemvergleich in der 6. Klasse in der schriftlichen und mündlichen Produktion, dass die (geringen) Unterschiede in Französisch zugunsten der Lernenden im Modell 3/ 5 signifikant waren (Egli Cuenat / Bleichenbacher 2020, 125sq.). In der 7. Klasse wurden hingegen keine Vorteile des Modells 3/ 5 beim Schreiben festgestellt; diese Unterschiede wurden am Stufenübergang nivelliert (Egli Cuenat 2017, 162sq.). Die Leseleistungen im Französisch von Lernenden mit familiärer Mehrspra‐ chigkeit fallen in der 6. Klasse tendenziell schwächer aus als jene mit Deutsch als einzige Familiensprache. Auch in der 7. Klasse sind in beiden Systemen Un‐ terschiede hinsichtlich des zwischen familiären Sprachintergrunds zugunsten der Deutschsprachigen signifikant. Da in der 6. Klasse diese Unterschiede nach Kontrolle der individuellen Variablen weder im neuen noch im alten System signifikant waren (Manno 2017, 145) würde dies auf eine negative Tendenz am Stufenübergang bei den mehrsprachigen Lernenden in beiden Systemen hindeuten. Es zeigt sich jedoch, dass aufgrund einer Konfundierung von familiärer Mehrsprachigkeit und tiefer sozialer Herkunft nur die soziale Herkunft, das Geschlecht und die Systemzugehörigkeit signifikante Prädiktoren für die Lesekompetenz im Französisch sind. Obwohl die Forschungslage nicht eindeutig ist (Wilden / Porsch 2016), schneiden mehrsprachige Schüler/ innen mit Deutsch im fremdsprachlichen Lesen in der Regel besser ab als Mehrspra‐ chige ohne Deutsch (Hesse / Göbel / Hartig 2008; Heinzmann et al. 2015), und 169 Die Lesekompetenz im Französisch als erste und als zweite Fremdsprache unter gewissen Bedingungen, sogar besser als einsprachige Deutschsprachige. Die fehlenden Vorteile der mehrsprachigen Schüler/ innen können auch darauf zurückgeführt werden, dass die romanischen Sprachen als Brückensprachen für die Zielsprache Französisch in der vorliegenden Stichprobe lediglich etwa 10 % aller Familiensprachen darstellten (Manno 2020, 147). Die häufigsten Familien‐ sprachen waren Albanisch, slawische, süddrawidische, semitische Sprachen und Turksprachen. In der Schulsprache Deutsch (Forschungsfrage 2) fallen in der 6. Klasse die Leistungen im Modell 3/ 5 schlechter aus als im Modell 5/ 7, wobei das schwächere Abschneiden des Modells 3/ 5 wiederum damit zusammenhängt, dass die zahlreichen mehrsprachigen Lernenden mit Migrationshintergrund mehrheitlich mit einem geringeren ESCS ausgestattet sind. Die Kombination von Mehrsprachigkeit und Bildungsferne wirkt sich bekanntlich nachteilig auf das Lesen in der Schulsprache aus (Abt Gürber / Buccheri / Brühwiler 2011). In der 7. Klasse werden hingegen im Fach Deutsch keine signifikanten Unter‐ schiede zwischen beiden Systemen gefunden, was auf eine positive Entwicklung am Stufenübergang hinweist: Die Nachteile der Lernenden im Modell 3/ 5 in der 6. Klasse werden in der 7. Klasse eingeebnet. In Bezug auf den familiären Sprachhintergrund erzielen Deutschsprachige beider Modelle in der 7. Klasse signifikant bessere Ergebnisse im Deutsch als Ler‐ nende mit familiärer Mehrsprachigkeit. Diesbezüglich erweisen sich vor allem die soziale Herkunft und der familiäre Sprachhintergrund als starke Prädiktoren. Das Geschlecht und die Systemzugehörigkeit spielen eine untergeordnete Rolle. Schliesslich wird im Zusammenhang mit der Forschungsfrage 3 festgestellt, dass das Leseverständnis (Durchschnitt von Global- und Detailverständnis) im Französisch in beiden Modellen mit der Schulsprache Deutsch signifikant zusammenhängt. Dabei sind weder in der 6. noch in der 7. Klasse die Unter‐ schiede zwischen den Korrelationskoeffizienten beider Modelle signifikant, was darauf schliessen lässt, dass diese Korrelationen am Stufenübergang konstant bleiben. Betrachtet man nur das Detailverständnis, so sind die interlingualen Zusammenhänge stärker als im Leseverständnis (Manno 2020, 146). Aber auch die mittleren Korrelationen auf beiden Stufen fallen beispielsweise deutlich schwächer aus als jene zwischen Deutsch und Englisch in der 9. Klasse in der DESI-Studie ( Jude et al. 2008, Kap. 18.4), was auf ein nicht ausgeschöpftes Potential schliessen lässt. 6.2 Kritische Reflexion und Ausblick Die vorgestellten Ergebnisse könnten u.A. an den unterrichtlichen Rahmenbe‐ dingungen unmittelbar nach der Implementierung der Fremdsprachenreform 170 Giuseppe Manno liegen, die zum Zeitpunkt der Untersuchung (2011-2015) im Französisch keine wesentlichen Veränderungen in der Aus- und Fortbildung der Lehrpersonen erfahren hatten. Einerseits lag der Schwerpunkt in einem ersten Schritt in der Umsetzung der Vorverlegung des Englischunterrichts von der 7. in die 3. Klasse; andererseits wurde für Französisch - weiterhin ab der 5. Klasse - kein dringender Handlungsbedarf gesehen (Egli Cuenat et al. 2010, 117). Aufgrund einer kantonalen Umfrage schien bis 2016 die angestrebte Neuausrichtung des Fremdsprachenunterrichts im Sinne der Mehrsprachigkeitsdidaktik in den Schulen des Kantons St. Gallen nicht zu greifen (Kantonsrat St. Gallen 2016, 46, Manno et al. 2020). Es wurden deshalb ab dem Schuljahr 2017/ 18 Massnahmen zur Qualitätssteigerung des Französischunterrichts eingeleitet: z. B. Einführung des Lehrmittels dis donc! (Egli Cuenat et al. 2017), das Brücken zwischen den schulischen Sprachen bauen soll (z. B. Language Awareness; sprachenüber‐ greifende Betrachtung einzelner Grammatikthemen: „Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Mengenangaben in verschiedenen Sprachen“, 6, Unité 4); ein obligatorisches Fortbildungsangebot zur Mehrsprachigkeitsdidaktik für dieje‐ nigen Lehrpersonen, „die diesbezüglich Nachholbedarf aufweisen“ (Kantonsrat St. Gallen 2016, 18). Schliesslich ist die Mehrsprachigkeitsdidaktik inzwischen ein fester Bestandteil der Ausbildung von Fremdsprachenlehrpersonen an den Pädagogischen Hochschulen, nicht zuletzt dank der Einführung des Lehrplans 21 für die 21 deutsch- und mehrsprachigen Schweizer Kantone (D-EDK 2016). Die Umkehrung der Reihenfolge der Fremdsprachen wird Vorteile für Fran‐ zösischlernende zur Folge haben, sofern die Vorarbeit der ersten Fremdsprache (Englisch) genutzt werden kann (Manno 2009, 132sq.). Offenbar vermögen nicht alle Lernenden, den Bezug zwischen den Sprachen ihres Repertoires selbstinitiiert herzustellen (Hufeisen 2010, Neveling 2013). Es wurde in anderen Kontexten nachgewiesen, dass dies neben sprachlichen und kognitiven Hürden auch von der wahrgenommenen Distanz zwischen den Sprachen des Repertoires abhängt (Ó Laoire / Singleton 2009, s. Kap. 2.2). Französisch und Englisch sollten deshalb im Unterricht gezielt miteinander in Beziehung gesetzt werden (Manno / Greminger Schibli 2015, 46sq.), auch um die Sprachbewusstheit der Lernenden zu fördern (Neuner 2005, 25sq.). Zur Effizienzsteigerung des Lesens sollte überdies die sprachenübergreifende Natur der Lesestrategien aufgezeigt werden, die bereits in der ersten Fremd‐ sprache eingeführt worden sind (cf. D-EDK 2016, 85: Lehrplan 21). Damit der Lernprozess in der zweiten Fremdsprache nicht wieder bei Null beginnen muss, sollten die Lernenden allgemein zu ökonomischen Lernformen angeleitet werden. Es existieren bereits konkrete didaktische Hilfestellungen zu deren Umsetzung (Brücken, Klee / Egli Cuenat 2011; Beispiele guter Praxis für den 171 Die Lesekompetenz im Französisch als erste und als zweite Fremdsprache Sprachenunterricht, EDK 2017). Erste internationale Studien legen den Schluss nahe, dass die Sensibilisierung von Lernenden auf interlinguale Gemeinsam‐ keiten positive Effekte auf ihre Leistungen hat (Marx 2005, White / Horst 2012, Neveling 2013). Obwohl die allgemeine Stossrichtung der Fremdsprachenreform, vor allem für Englisch als erste Fremdsprache, stimmt (Konsortium ÜGK, 2019; Peyer et al. 2016, s. Kap. 2.2), sind einige Optimierungen angebracht, da sich die vermuteten Vorteile für viele Tertiärsprachenlernende nicht automatisch bzw. auf Anhieb eingestellt haben. Viele Aspekte sind im Französischunterricht trotz der grundlegenden Reform unverändert geblieben (s. Egli Cuenat et al. 2010, Manno et al. 2020). Sowohl unsere Studie, die unmittelbar nach der Umsetzung der Fremdspra‐ chenreform durchgeführt wurde, als auch die Untersuchungen in anderen Kantonen müssten wiederholt werden, um den Fortschritt gegenüber der ersten Kohorte zu erfassen. Dabei sind auch Langzeit- und Interventionsstudien not‐ wendig, um die Wirksamkeit von sprachenübergreifenden Ansätzen zu messen. Wie alle curricularen Neuerungen braucht auch diese Fremdsprachenreform noch Zeit, um richtig zu greifen (Manno / Egli Cuenat 2018, 239). Trotz dieser Startschwierigkeiten sollte man nicht vergessen, dass Rom nicht in einer Nacht erbaut wurde. Literaturverzeichnis Abt Gürber, Nadja / Buccheri, Grazia / Brühwiler, Christian. 2011. „Engagement im Lesen und Lernstrategien“, in: Konsortium PISA.ch (ed.): PISA 2009: Regionale und kantonale Ergebnisse. Bern: BBT/ EDK und Konsortium PISA.ch, 25-36. Achermann, Brigitte / Bawidamann, Michel / Tchang-George, Martine C. / Weinmann, Hanna. 2001. envol 6. 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Cf. www.dezim-institut.de/ das-dezim-institut/ abtei lung-integration/ projekt-die-dritte-generation-ggf-monitoring/ . 3 Cf. Nationaler Integrationsplan (2008, 194). Herkunftsbedingte Mehrsprachigkeit als begünstigender Faktor sprachvergleichender Arbeit im Deutschunterricht? Ergebnisse einer Befragung von Lehramtsstudierenden Anastasia Moraitis, Katja F. Cantone, Patrick Wolf-Farré 1 Einleitung In den meisten Klassenzimmern deutscher Schulen spiegelt sich eine gesell‐ schaftliche Realität wider, die durch transnationale Migrationsbewegungen geprägt ist. Dem Bildungsbericht aus dem Jahre 2020 zufolge verfügt etwa ein Viertel der Gesamtbevölkerung über einen Migrationshintergrund, was einen Anteil von etwa 26 % ausmacht. Ein höherer prozentueller Anteil ergibt sich aus der Einteilung der Kinder nach Alter, der sich zwischen 30 % und 38 % bewegt (Bildungasbericht 2020, 27). 1 32 % der potentiell mehrsprachig aufwachsenden Kinder und Jugendliche verfügen über keine eigene Migrationserfahrung, da sie in Deutschland geboren wurden und zu der 2. Generation zählen. 2 Angesichts dieser demographischen Entwicklung stellte sich aus bildungspo‐ litischer und erziehungswissenschaftlicher Perspektive die Frage nach dem pro‐ zentuellen Anteil von Lehrkräften mit Migrationshintergrund in den Schulen. Das festgestellte zahlenmäßige Missverhältnis zwischen den Lehrkräften und den Lernenden führte zu der Konsequenz, Handlungskonzepte zum Anwerben von Lehrkräften mit Zuwanderungsgeschichte im Rahmen des Nationalen Integrationsplans (2008) der Bundesregierung zu entwickeln. 3 4 Rotter (2014, 14) weist auf den unbefriedigenden Umstand hin, dass die Mehrheit der Studien sich auf die ‚minority teachers‘ (Lehrkräfte mit Migrationshintergrund) konzentrieren, ohne aber die weiteren Akteurinnen und Akteure im schulinternen Kontext zu berücksichtigen. In dieser Schulstrukturdebatte stellen sich - mit dezidiertem Blick auf die Lehrkräfte - aus der spracherwerbstheoretischen- und sprachdidaktischen Per‐ spektive nicht unerhebliche Fragen. Bezugnehmend auf die Generationenfrage und der Tatsache, dass viele Kinder keine eigene Migrationserfahrung haben, drängt sich die Frage nach den tatsächlich vorhandenen Kompetenzen in einer im Minderheitenkontext erworbenen Sprache auf. Daran schließt sich auch die Frage danach an, ob mehrsprachige Lehrkräfte die sprachliche und kulturelle Heterogenität im Klassenzimmer bewusst in unterrichtlichen Kontexten, mit dem Ziel mehrsprachigkeitssensiblen Unterricht zu gestalten, aufgreifen oder nur die eine Sprache, die sie eventuell beherrschen, zu berücksichtigen bereit sind, und ausschließlich auf eigene biografische und kulturelle Erfahrungen rekurrieren. Und daran anknüpfend die Frage danach, ob die Herkunftssprache an die zweite oder gar dritte Generation weitergegeben wird. Der Beitrag möchte mit Hilfe einer qualitativ angelegten Studie, in der Studierende des Seminars „Sprachvergleich“ an der Universität Duisburg-Essen befragt wurden, eruieren, inwieweit Studierende mit Migrationshintergrund tatsächlich aktiv mehrsprachig sind, und inwiefern sie Mehrsprachigkeit im Deutschunterricht thematisieren und didaktisch nutzbar machen bzw. machen können. Darüber hinaus wurden auch die monolingual sozialisierten Studie‐ renden in diese Befragung einbezogen, deren Antworten in die Gesamtauswer‐ tung eingeflossen sind. 4 Sprachvergleichende Arbeit wird hier mitgedacht, da sie zum einen für den Kompetenzbereich des Faches Deutsch curricular (bspw. KLP 2004a, 19) verankert ist, aber auch weil sie als Auslöser für mehrsprachigkeitsdidaktische Konzepte daran gekoppelt (s. Rothstein in diesem Band) ist. Zur Einbettung der Thematik wird zunächst in das Forschungsfeld „Lehr‐ kräfte mit Migrationshintergrund“ (Abschnitt 2) unter Berücksichtigung der bisherigen Forschung u. a. aus der Bildungspolitik eingeführt, um im Anschluss daran den Blick auf das Merkmal „Mehrsprachigkeit“ (Abschnitt 3) zu richten. Im vierten Abschnitt folgt die qualitative Auswertung einer Fragebogenerhebung, die 2017 an der Universität Duisburg-Essen durchgeführt wurde. In Abschnitt 5 werden die erhobenen Daten vorgestellt und im Anschluss (Abschnitt 6) besprochen. 182 Anastasia Moraitis, Katja F. Cantone, Patrick Wolf-Farré 5 Zur Einordnung des Begriffs bspw. Chlosta / Ostermann 2007, 17-33; Rotter 2014, 78-84. 2 Lehrkräfte mit Migrationshintergrund 5 : Erwartungen und Hoffnungen der Bildungspolitik - eine Zusammenführung Wie bereits in der Einleitung angedeutet, bestand aufgrund des hohen Anteils an Schülerinnen und Schülern (im Folgenden: SuS) mit Migrationshintergrund aus bildungspolitischer und erziehungswissenschaftlicher Perspektive das Be‐ dürfnis die Quote von Lehrkräften mit Migrationshintergrund an den Schulen zu erhöhen. Die ambitionierten Anstrengungen, Handlungskonzepte zum An‐ werben von Lehrkräften mit Zuwanderungsgeschichte im Rahmen des Natio‐ nalen Integrationsplans umzusetzen, forderten offensiv „[…] mehr Jugendliche mit Migrationshintergrund zu höheren Bildungsabschlüssen zu führen und sie zu motivieren, sich für den öffentlichen Dienst, insbesondere als Lehrkräfte zu bewerben. […]“ (BAMF 2010, 13). Der Gedanke dabei ist ein doppelter: Zum einen geht es um die Bemühung integrationsadäquate Maßnahmen für Migrantinnen und Migranten zu entwickeln, zum anderen um die Anerkennung von Mehrsprachigkeit und die für die Gesellschaft gewinnbringende Ressource ihrer sprachlichen Kompetenzen. Eine „Mittlerfunktion in der Schule“ (BAMF 2010, 72) ist ihnen somit garantiert, die Erwartungen im Gegenzug hoch. So erhofft man sich u. a. nicht nur die Eröffnung neuer und interkulturell geprägter Perspektiven auf Schule und Unterricht, sondern in besonderem Maße auch die Entwicklung von Schule hinsichtlich der administrativen Aufgabe. Aufgrund ihrer Mittlerfunktion dienen sie den Schülerinnen und Schülern (im Folgenden: SuS) als identitätsstiftendes Vorbild und können ein besonderes Vertrauensverhältnis zu Eltern mit Migrationshintergrund aufbauen (BAMF 2010, 19). Knappik und Dirim ergänzen: „Lehrkräfte mit Migrationshintergrund verfügen scheinbar von Natur aus über eine besondere Sensibilität im Umgang mit Heterogenität, über Sprachkompetenzen in mindestens zwei Sprachen auf Hochschulniveau, über besonderes Geschick in der Elternarbeit“ (2012, 90). Lehrpersonen mit Migrationshintergrund wird aufgrund ihres „konjunktiven Erfahrungsraums“ (Mannheim 1980, 220) Habitus-sensibles Vorgehen beschei‐ nigt, das ihnen einen exklusiven Zugang zur mehrsprachigen Schülerschaft ermöglicht (Fabel-Lamla / Klomfaß, 2014, 217). Ein „gemeinsames oder gleich‐ artiges Schicksal bzw. […] gemeinsame oder strukturidentische Erfahrungen“ (Amling / Hoffmann 2013, 181) aller Beteiligten sind für einen konjunktiven Erfahrungsraum ursächlich. Ein weiterer Ankerpunkt ist das Attribut der Mehrsprachigkeit, da diese angesprochene Gruppe über „[…] wichtige Sprachlernerfahrungen und über 183 Herkunftsbedingte Mehrsprachigkeit als Faktor sprachvergleichender Arbeit? 6 Um der Unterrepräsentanz dieser Lehrkräfte an Schulen entgegenzusteuern, wirbt bspw. das Schulministerium des Landes Nordrhein-Westfalen mit einer im Jahr 2020 gestarteten Qualifizierungsmaßnahme zur Ausbildung von Koordinatorinnen und Koordinatoren zur Unterstützung von Schulentwicklungsprozesse zur interkulturellen Öffnung (cf. Schulministerium NRW, o. J.). differenzierte Einblicke in mindestens eine Migrantenkultur“ (BAMF 2010, 69) verfügt. Diese Annahme impliziert neben der Möglichkeit in mindestens zwei Kulturen zu Hause sein zu können, das Beherrschen der Herkunftssprache wie der deutschen Sprache, sodass ihnen die Rolle eines ‚Botschafters‘ und ‚Übersetzers‘ zugeschrieben wird (Akbaba / Bräu / Zimmer 2013, 46). 6 2.1 Der Einbezug von herkunftsbedingter Mehrsprachigkeit im schulischen Unterricht Wie bereits angedeutet werden in bildungspolitischen Kontexten mit dem Merkmal „Migrationshintergrund“ Fähigkeiten assoziiert, an die - mit Blick auf mehrsprachige Lehrkräfte - hohe Erwartungen geknüpft sind. Das biographi‐ sche Merkmal „Migrationshintergrund“ hebt diese Gruppe nicht nur von den Kolleginnen und Kollegen ohne Migrationshintergrund ab, sondern rückt sie als Akteurinnen und Akteure mit hohem Expertentum in ein besonderes Licht. Dieses Expertentum - so wird angenommen - besteht aufgrund der sprachli‐ chen und kulturellen Nähe zu den mehrsprachigen Lernenden, woraus sich eine einzigartige Vertrauensbasis ergibt, die wiederum dazu beiträgt, deren Lernmo‐ tivation zu steigern. Sie verfügen über die Fähigkeit, in unterschiedlichen Kom‐ munikationssituationen mehrsprachig agieren zu können. Ein kurzer Exkurs in die Psycholinguistik macht deutlich, dass in Anlehnung an das Konzept „Holistic multicompetence“ (Cook 1992, 566, Herdina / Jessner 2002) Mehrsprachige über die Fähigkeit verfügen, ihr vorhandenes Sprachenrepertoire situations- und kommunikationsgebunden zu aktivieren und sich so in den „monolingual mode“ zu begeben, oder multilingual zu agieren (Grosjean 2013). Dass die jeweilige Passung „zusätzliche kognitive Leistungen im Hinblick auf Sprachtrennung und -inhibition sowie auf die adäquate Sprachwahl und Integration der vorhandenen Sprachen“ bedeutet, hat Kropp (2017, 110) unter Berücksichtigung der Studien von Bialystok (2011, 229sqq.) und Athanasopoulos (2016, 360sqq.) deutlich herausgearbeitet. Sie konstatiert ferner, dass der Spracherwerb aufgrund seines iterativen Verlaufs kognitive Zusatzeffekte hervorbringe. Diese würden sich auf den Sprachgebrauch und -erwerb positiv auswirken (Kropp 2018, 110). Neben der zusätzlich aktivierten kognitiven Leistung verfügen Mehrsprachige über ein multilinguales Bewusstsein („crosslinguistic awareness“), „das aus dem Zusammenspiel der Sprachsysteme entsteht […] und auch die Fähigkeiten zur 184 Anastasia Moraitis, Katja F. Cantone, Patrick Wolf-Farré 7 Ausführlich bspw. Müller et al. 3 2011, 187sqq.; Anstatt / Rubcov 2012, 74sqq. 8 Ausführlich: Kropp, 2017, 116sqq. Sprachwechsel und -mischung“ (Kropp 2018, 110) befördert. In Anbetracht dessen, dass Sprachmischungen 7 im kommunikativen Handeln von mehrspra‐ chigen Lernerinnen und Lernern im schulischen Kontext die Realität darstellen, ist es nur konsequent, diese lernerabhängige und sprachentwicklungsbedingte Aktivität in den didaktisch motivierten Dienst eines Fremdsprachunterrichts 8 oder herkunftssprachlichen Unterrichts zu stellen. Eine durch Rotter (2014) durchgeführte Befragung bestätigt, dass ein großer Teil der interviewten mehr‐ sprachigen Lehrkräfte sich selbst spezifische Kompetenzen zuweisen. Diese bestehen „zum einen aus der Mehrsprachigkeit und zum anderen aus einer besonderen Empathiefähigkeit, die sie aus ihren biographischen Erfahrungen ableiten. Eine Sprachkompetenz in mindestens zwei Sprachen wird von den Befragten selbst als ihr besonderes „Steckenpferd“ […] bezeichnet, das sie von Kollegen ohne Migrationshintergrund unterscheide“ (2014, 252sqq.). Diese sprachliche Flexibilität nutzen viele der Befragten auch im fremdsprachlichen Unterricht, um das Verstehen und Erlernen von neuen Wörtern zu unterstützen (ibid. 253). 2.2 Lehrkräfte mit Migrationshintergrund - eine multilinguale und multikulturelle Wundertüte? - Forschungsergebnisse Inzwischen liegt eine Reihe von empirischen Studien vor (z. B. Strasser / Steber 2010, Rotter 2010, 2012, 2014, Karakaşoğlu, 2010, Akbaba 2010, Georgi 2011, Lengyel / Rosen 2012), die u. a. der Frage nachgegangen sind, inwieweit die hohen Erwartungen an diese Lehrpersonen (z. B. Vorbildfunktion, Sprachprofi und Übersetzer, interkulturelle Kompetenz), die die Bildungspolitik formuliert hat, tatsächlich erfüllt werden können. Die Ergebnisse, hier knapp zusammengefasst, sind ernüchternd, denn es werden bspw. Stereotypisierungen aufgedeckt und Menschen mit Migrationshintergrund undifferenziert als eine homogene Gruppe mit identischen Vorzügen identifiziert (ausführlich dazu: Rotter 2014, 80). Zu den großen Erwartungen und Hoffnungen zählte auch die Teilhabe mehrsprachiger Lehrkräfte an Bildungsprozessen. Darunter fällt die Frage nach dem Umgang mit migrationsbedingter Heterogenität in der Schule. For‐ schungsergebnissen einer quantitativen wie qualitativen Untersuchung durch Georgi zufolge steht herkunftsbedingte Mehrsprachigkeit bei allen befragten Lehrkräften „[…] für gelebte sprachliche Vielfalt in der Schule“ (2011, 267). Trotz dieser großen Wertschätzung von Sprecherinnen und Sprechern unterschiedli‐ cher Sprachen im Klassenverband fehlt es an didaktischem und methodischem 185 Herkunftsbedingte Mehrsprachigkeit als Faktor sprachvergleichender Arbeit? 9 Weiterführende Literatur zum Begriff „Othering“ bspw. Mecheril et al. 2010, 42. Expertentum zur Gestaltung eines sprachbewussten Unterrichts, so wie die Kernlehrpläne es für das Fach Deutsch fordern. Allenfalls wird die (eine) Herkunftssprache zur Disziplinierung von Schülerinnen und Schülern gleicher Sprache herangezogen, oder zu näheren Erklärungen des Unterrichtsstoffes genutzt. Es geht bei den Befragten dabei weniger um […] grundsätzliche strukturelle Veränderungen und die schulische Integration der von den Lernenden gesprochenen Sprachen im Sinne eines Aufbrechens des monolingu‐ alen Habitus, sondern eher um pragmatische Regelungen schulischer Alltagsangele‐ genheiten […]. (ibid., 267) Weiteren Studien zufolge (Georgi 2011) decken teilweise enorme Widersprüche auf, die aus diesen Ergebnissen und den Selbsteinschätzungen (cf. Abschnitt 2) resultieren: Insgesamt lässt sich ein bewusster, aber nicht notwendigerweise reflektierter Umgang mit Heterogenität feststellen. So wird die lebensgeschichtliche Auseinandersetzung der Lehrkräfte mit Multikulturalität zwar häufig im Unterricht wirksam - wie etwa durch die Schaffung von Vertrauen, Konfliktlösungskompetenz, oder Themenwahl im Unterricht -, die Ergebnisse der Studie zeigen aber, dass der Umgang mit diversity bei den Befragten eher intuitiv inspiriert ist. (ibid. 266, im Original hervorgehoben) Was Lehrende intuitiv gestalten, nämlich den Aufbau von Brücken auf per‐ sönlicher, sozialer und sprachlicher Ebene, ist in einer multilingualen und multikulturellen Gesellschaft besonders wertvoll, aber in einer Debatte um Diversität, Inklusion und Chancengleichheit nicht breit genug gedacht (cf. Rotter 2014, 16). Aus dem Blickwinkel eines demokratisch orientierten Umgangs mit allen Mitgliedern einer Gesellschaft soll noch angemerkt werden, dass zahlreiche Studien für einen Verzicht auf dichotomisch gedachte Strukturen plädieren. Es wird argumentiert, dass die Differenzbildung „Lehrkräfte mit Migrationshinter‐ grund“ vs. „Lehrkräfte ohne Migrationshintergrund“ Ungleichheit hervorbringe und durch die Konstruktion „des Anderen, das Othering“ (Akbaba et al. 2013, 52) ein weiterer Diskurs um neue Herrschaftsverhältnisse entstehe. 9 Entgegen der von außen, also durch Fremdzuschreibung aufgesetzten Etikettierung, argumentieren auch Lehrkräfte mit Migrationshintergrund selbst damit, dass sie als selbstverständliche Mitglieder des Kollegiums „[…] und nicht auf eine Experten- oder Botschafterrolle für Integration und Verständigung reduziert werden“ (Bandorski / Karakaşoğlu 2013, 134) wollen. Somit stellen sie sich 186 Anastasia Moraitis, Katja F. Cantone, Patrick Wolf-Farré eindeutig und zu Recht gegen eine „Homogenisierung und Entsubjektivierung bzw. Depersonalisierung“ (Rotter 2014, 80). Und auch aus professionstheoretischer Perspektive (Bonnet / Hericks 2014, 3sqq.) ist der Migrationshintergrund kein Merkmal für Qualifikation (Knappik / Dirim 2012, 90), auch kein Merkmal für Kompetenz. Hingegen: Die Qualität einer guten Schule und die Wirksamkeit eines guten Unterrichts werden entscheidend durch die professionellen und die menschlichen Fähigkeiten von Lehre‐ rinnen und Lehrern geprägt. Für die berufliche Arbeit sind umfassende fachwissen‐ schaftliche wie auch pädagogisch-didaktische und soziologisch-psychologische Kom‐ petenzen sowie kommunikative und soziale Fähigkeiten erforderlich. (KMK 2000, 2sq.) Im Ergebnis zeigt sich, dass die alleinige Fokussierung auf den Migrationshin‐ tergrund weder der sprachlichen Heterogenität von SuS gerecht wird, noch den Lehrenden selbst. Schließlich sind sie als Teil des schulischen Systems zu verstehen, deren pädagogische und fachwissenschaftliche Expertise in einer von herkunftsbedingter Mehrsprachigkeit geprägten Schulkultur gefragt ist. Um nicht Gefahr zu laufen, Lehrkräften mit Migrationshintergrund her‐ kunftssprachliche Fähigkeiten zuzuschreiben, die kaum oder gar nicht vor‐ handen sind, wird im nächsten Abschnitt die spracherwerbstheoretische Per‐ spektive fokussiert und danach gefragt, ob der mehrsprachige Erwerb immer gegeben ist, und ob die Herkunftssprache an die zweite oder gar dritte Genera‐ tion weitergegeben wird. 3 Mehrsprachiger Erwerb: immer gegeben? Während in den ersten beiden Abschnitten bildungspolitische, erziehungswis‐ senschaftliche und professionstheoretische Perspektiven das Thema flankiert haben, beleuchten die weiteren Ausführungen die spracherwerbstheoretisch- und sprachdidaktische Perspektive. International ist der simultane Erwerb von mehr als einer Sprache von Geburt an ein gut untersuchtes und dokumentiertes Phänomen (cf. u. a. De Houwer 2009; Nicoladis / Montanari 2016). Die Analyse des Verlaufs ergab, dass diese Form des Erwerbs dem einsprachigen Erwerb ähnelt. Wenn eine zweite Sprache versetzt ab einem Alter von ca. 6 Jahren erlernt wird, verläuft der Zweitspracherwerb hingegen in der Regel anders und ist weniger erfolgreich (cf. u. a. Cantone 2 2016, 226sqq.; Müller et al. 2011, 14sqq.; Rothweiler 2008, 106sqq.; Rothweiler 2015; Tracy 2014: 187sqq.; Tracy 2015: 300sqq.). In Deutschland werden neben der Amtssprache Deutsch viele weitere Spra‐ chen gesprochen und erlernt. Dies liegt zum einen am schulischen Fremdsprach‐ 187 Herkunftsbedingte Mehrsprachigkeit als Faktor sprachvergleichender Arbeit? 10 Leider liegen nur punktuelle Spracherhebungen zur Anzahl Mehrsprachiger vor. 11 Von großer Relevanz für den Erhalt und den Ausbau einer Herkunftssprache ist die regelmäßige und langanhaltende Beschulung darin, worauf im weiteren Verlauf eingegangen wird. An dieser Stelle ging es lediglich um den Erwerb. angebot, zum anderen wächst eine große Anzahl an Kindern und Jugendlichen zwei- oder mehrsprachig auf. Aktuelle Erhebungen wie bspw. in Hamburg, Freiburg und Erfurt (cf. den Vergleich verschiedener Studien in Olfert 2019, 46) haben ergeben, dass zwischen 14 und 40 % der dort schulpflichtigen Kinder und Jugendlichen mehrsprachig sind. Die Anzahl der erhobenen Sprachen liegt dabei zwischen 36 und 100. 10 Lange ist der Migrationshintergrund als Kriterium für Mehrsprachigkeit genutzt worden, wobei die Tatsache, dass ein Elternteil nicht per Geburt die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, nicht zwingend voraussagt, dass in der Familie eine andere Sprache gesprochen wird (cf. Chlosta / Ostermann 2007, 2017; Cantone 2011; Cantone / Di Venanzio 2015, 38). Angesichts der Tatsache, dass die Zuweisung eines Migrationshintergrundes über Generationen hinweg beibehalten wird (cf. Statistisches Bundesamt), kommen zusätzliche Zweifel auf, ob Sprachen selbstredend nach Jahrzehnten der Einwanderung in den Familien weitergebenen werden. Nach jahrelanger Konzentration auf die Aneignung der Mehrheitssprache im Kontext von Migration - wobei diese in der Regel ungefährdet ist (cf. Cantone 2 2016) - wird nun vermehrt der Erwerb der Minderheitensprache in den Fokus gerückt. Die englischsprachige Forschung hat den Begriff heritage language etabliert (cf. Montrul 2008, 2016; Rothman 2009; Cabo / Rothman 2012) und meint eine Erb- oder Herkunftssprache, die im familiären Rahmen erworben wird. Im Kontext von Migration erfolgt der Erwerb nahezu ausschließlich zuhause und ungesteuert (cf. i.a. Montrul 2016, 6sq.; Rothman 2009, 156). 11 Die Forschung beschäftigte sich u. a. mit der Frage, ob der Spracherwerb immer erfolgreich ist oder auf welcher Vergleichsbasis der Sprachstand verglichen werden kann. Es ist davon auszugehen, dass sich die Erwerbsbedingungen im Kontext von Migration von Generation zu Generation verändern. Aus der internationalen Forschung ist bekannt, dass extralinguistische Faktoren wie eben die Generati‐ onenzugehörigkeit, aber auch der Sprachgebrauch, die Medienverwendung, die Beschulung und die Spracheinstellungen eine relevante Rolle bei Spracherhalt und -weitergabe spielen (cf. die Übersichten in Cantone / Olfert 2015, 27sq. sowie Olfert 2019, 103sqq.). Wie ist der Sprachstand im Kontext von Migration einzuschätzen? In einer Untersuchung zum Zusammenhang zwischen Sprachgebrauch und Sprach‐ kenntnissen in einer Minderheitensprache wurden Daten aus einer qualitativen 188 Anastasia Moraitis, Katja F. Cantone, Patrick Wolf-Farré 12 Bspw. wurde in den USA umfassend zum Spanischen geforscht, vgl. den Überblick in Reimann (2020). Studie mit deutsch-italienischsprachigen Jugendlichen untersucht (cf. Cantone 2020b). Dabei stellte sich heraus, dass (a) sichere Sprachkenntnisse nicht vor‐ hersagen, ob Italienisch im Sprachgebrauch der Jugendlichen allgegenwärtig ist; und (b) eine positive Einstellung gegenüber dem Italienischen nicht mit einer zielsprachlichen Sprachproduktion oder mit einem häufigen Sprachgebrauch einhergehen muss. Werden die Minderheitensprachen überhaupt an folgende Generationen weitergegeben (cf. Fishman 1991, 2001)? Erste Untersuchungen zu bilingualen Eltern im deutschsprachigen Raum deuten darauf hin, dass die zweite Gene‐ ration nicht zwingend die Minderheitensprache an ihre Kinder weitergibt (Cantone 2019, 2020a). Dieses Verhalten könnte eine Bestätigung der These von Garcia / Diaz (1992) sein, in der angenommen wird, dass die dritte Generation im Kontext von Migration nur noch einsprachig aufwächst. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Spracherwerbsforschung bisher international 12 aber auch national ihr Augenmerk kaum auf den Erhalt von heritage languages gerichtet hat. Selbstverständlich wird angenommen, dass auch in der 3. Generation im Kontext von Migration Kinder und Ju‐ gendliche mehrsprachig aufwachsen und dass die Minderheitssprache(n), die sie aus der Familie kennen, beherrscht werden. Welche Konsequenzen haben diese Annahmen für die zukünftige Generation von Lehrkräften? Ist es gerechtfertigt, eine mehrsprachigkeitsorientierte Perspektive insbesondere von angeblich bilingual aufgewachsenen Lehrkräften zu erwarten? Dabei sei noch einmal an die Erwartungen und Hoffnungen der Bildungspolitik erinnert (Abschnitt 2). Und inwiefern wird die Methode des Sprachvergleichs im unterrichtlichen Kontext zur Sensibilisierung von Mehrsprachigkeit wahr‐ genommen? Diese Fragen werden insbesondere vor dem Hintergrund einer Debatte um eine Didaktik der Mehrsprachigkeit (cf. u. a. Reimann, 2018; Bredthauer 2018; 2019) virulent. Auf diese Fragen versucht die Studie im folgenden Abschnitt Antworten zu geben. 4 Die Studie Die Ausführungen in den bisherigen Abschnitten (2 und 3) machen deutlich, dass allein der Migrationshintergrund (wie schon mehrfach in der Literatur angemerkt) keine Auskunft über die wirklich vorhandenen sprachlichen Fähig‐ keiten gibt, ebenso wenig darüber, ob über ein breites kulturelles Wissen verfügt 189 Herkunftsbedingte Mehrsprachigkeit als Faktor sprachvergleichender Arbeit? 13 Vgl. Definition Deskriptive Statistik (Statista, o. J.). 14 Bspw. zu finden im Modulhandbuch für Haupt-, Real-, Sekundar- und Gesamtschule (MHB 2018, 23). 15 Weiterführend sind Studien zum Sprachvergleich in der Tertiärsprachenforschung, bspw. Schedel / Bonvin 2017, 116sqq. wird; vielmehr wird durch die Kategorisierung „mit Migrationshintergrund“ und „ohne Migrationshintergrund“ ein „Othering“ situiert (Abschnitt 2). Ausgehend von dieser Überlegung entstand das Forschungsinteresse, die Akteurinnen und Akteure (also die monolingual und mehrsprachig aufgewach‐ senen Studierenden) selbst zu befragen. Dabei war von Anfang an klar, dass keine großangelegte quantitative Untersuchung möglich sein würde. Gleich‐ wohl sollte der Versuch gestartet werden, mit einem Fragebogen Daten zu erheben, die sowohl quantitativ als auch qualitativ untersucht werden könnten. Im vorliegenden Beitrag beschränken wir uns auf eine deskriptive und qualita‐ tive Analyse 13 . 4.1 Entstehung der Umfrage An der Universität Duisburg-Essen wird - im Rahmen des Lehramtsstudiums für das Fach Deutsch in den Sekundarstufen I und II - ein Pflichtseminar zum Thema „Sprachkontrastive Beschreibungen“ im Modul „Ling. III“ (5./ 6. Semester) angeboten. Als Inhalte werden im Modulhandbuch beschrieben: Ausgehend von den Teilbereichen der deutschen Sprache sollen verschiedene Her‐ kunftssprachen kontrastiv betrachtet werden. Die Studierenden erhalten dabei einen Überblick über verschiedene Sprachen und deren Relation zur deutschen Sprache. Anhand der vom Studierenden gelernten Herkunftssprache wird die kontrastive Arbeitsweise vertieft. 14 Im Rahmen der Auseinandersetzung mit sog. Kontrastsprachen sollen Studie‐ rende sich einer ihnen unbekannten Sprache widmen. Bei wiederholter Durch‐ führung dieses Seminars stellte sich bald heraus, dass manche mehrsprachige Studierende besonderes Interesse an sprachkontrastivem Arbeiten in didakti‐ schen Kontexten zeigten. Mitunter wurde aber auch deutlich, dass gerade einsprachig aufgewachsene Studierende in diesem Seminar die Erfahrung machten, dass ihre aktiven Fremdsprachkenntnisse einen wichtigen Beitrag für das sprachkontrastive Arbeiten leisten könnten und sie daher keineswegs so „einsprachig“ waren, wie sie selbst zunächst dachten. So stellte sich die Frage, ob es angemessen sei, einsprachig aufgewachsenen Lehrkräften, die aber eine Fremdsprache studieren, die Fähigkeit zur Nutzung von Mehrsprachigkeit als Ressource abzuerkennen? 15 190 Anastasia Moraitis, Katja F. Cantone, Patrick Wolf-Farré Diese Beobachtungen, die auf die Alltagswahrnehmung aus der Praxis der Lehre zurückgehen, zusammen mit den Annahmen aus Bildungspolitik und Forschung (Abschnitte 2 und 3), gaben den Anlass, die Studierenden im Rahmen einer Studie zu befragen. 4.2 Forschungsfragen Ausgehend von den Hoffnungen der Bildungspolitik, Lehrende mit Migrati‐ onshintergrund hätten eine „Mittlerfunktion“, und von der Annahme, dass mehrsprachig Aufgewachsene nicht automatisch im Erwachsenenalter aktiv mehrsprachig sind (siehe oben) - wohingegen einsprachig aufgewachsene Studierende, die eine oder mehrere Sprachen schulisch erlernt haben und im Studium weiter vertiefen, durchaus als aktiv mehrsprachig betrachtet werden können -, wurden vorab folgende Hypothesen formuliert: H1: Mehrsprachige Studierende und einsprachig aufgewachsene Studierende haben unterschiedliche Meinungen zum Thema „Berücksichtigung der Mehrsprachigkeit im Unterricht“. H2: Fremdsprachenstudierende sind interessierter an Sprachvergleichen als Studierende anderer Fächer aufgrund des intrinsischen Interesses an Sprachen. H3: Studierende mit Migrationshintergrund, in deren Familien andere Spra‐ chen gesprochen worden sind, sind nicht grundsätzlich aktive Mehrspra‐ chige. Es soll also überprüft werden, ob es Unterschiede in den Einstellungen zur Mehrsprachigkeit zwischen den Studierenden aufgrund ihrer Biografie (H1) gibt; ob die Entscheidung eine Fremdsprache zu studieren Auswirkungen auf die Anwendung sprachkontrastiver Vergleiche im Deutschunterricht haben wird (H2); und ob alle Studierenden mit Migrationshintergrund tatsächlich als Mehrsprachige zu betrachten sind (H3). 4.3 Das Datenset Die erhobenen Daten basieren auf einer anonymen Befragung von Studierenden mittels eines Fragebogens, die im Wintersemester 2017/ 2018 an der Universität Duisburg-Essen in drei Seminaren zum Sprachkontrastiven Arbeiten jeweils zu Beginn des Seminars durchgeführt wurde. Teilgenommen haben 117 Studie‐ rende. Alle Teilnehmenden besuchten zum Zeitpunkt der Umfrage ein Seminar der Germanistik, studierten also Deutsch auf Lehramt im Bachelor oder waren Gastbzw. Erasmusstudierende. Letztere (3 Studierende) wurden für die Erhe‐ bung nicht berücksichtigt. Somit ergab sich n = 114 (90 weiblich, 23 männlich, einmal keine Angabe). Die Angaben der Studierenden wurden deskriptiv sta‐ 191 Herkunftsbedingte Mehrsprachigkeit als Faktor sprachvergleichender Arbeit? tistisch ausgewertet, die Datenauswertung wurde mit dem Analyseprogramm SPSS vorgenommen (Version 25). Das Datenset bestand aus 28 Fragen und einer Skala, davon waren 11 offene Fragen. Im ersten Teil des Fragebogens (sieben Fragen) wurden die Studierenden um grundlegende biographische und studien‐ bezogene Angaben gebeten, die im Anschluss im Überblick gezeigt werden. Der zweite Teil (acht Fragen) bezog sich auf den schulischen und außerschulischen Spracherwerb. Im dritten Teil (vier Fragen) ging es um Sprachgebrauch und Selbsteinschätzung (in den vier Teilfertigkeiten per Schulnoten) in allen jeweils gesprochenen Sprachen. Der vierte Teil (neun Fragen) bezog sich auf den Sprachvergleich (Kenntnisse, didaktische Zugänge, Bedeutsamkeit; s. u.). Im fünften und letzten Teil sollten die Studierenden anhand einer Likert-skala Aussagen zum sprachkontrastiven Arbeiten bewerten. Die Studierenden sind zum Zeitpunkt der Befragung zwischen 20 und 31 Jahre alt, wobei 60,5 % der Studierenden zwischen 21 und 24 Jahren alt sind. Sie befinden sich zwischen dem 3. und 11. Semester, mehrheitlich aber (69,3 %) zwi‐ schen dem 5. und 7. Semester. 49 Studierende geben an, dass sie mehrsprachig aufgewachsen sind, Türkisch ist dabei mit 30 Nennungen die häufigste Sprache. Die zweithäufigste ist Albanisch mit 4 Nennungen. Darauf folgen Polnisch (3); Arabisch, Griechisch, Russisch und Englisch (jeweils 2), sowie Berberisch, Serbisch, Romanes und Farsi (jeweils 1). Diagramm 1: Herkunftssprachen der mehrsprachig aufgewachsenen Studierenden (n = 49) 192 Anastasia Moraitis, Katja F. Cantone, Patrick Wolf-Farré 16 Die vorgegebenen Antwortmöglichkeiten waren induktiv aus Seminarevaluationen und auf im Seminar geäußerten Meinungen gewonnen worden. 17 Hier gab es drei Nennungen: „…fehlendes Verständnis“, „…fehlendes Methodenwissen“ und „…Ausnahmefälle in der Syntax, die einen Vergleich nicht zulassen“. 77,2 % der Befragten, die sich als „mehrsprachig aufgewachsen“ kategorisieren, geben an, als Kind die Sprache mit Eltern (24,5 %), Großeltern (19,7 %), Geschwis‐ tern (16 %) oder anderen Familienangehörigen (17 %) gesprochen zu haben. Danach folgen „Freunde“ (12,8 %), „TV“ (9 %), KiTa und Sprachschule (jeweils 0,5 %). 5 Die Datenanalyse Anhand der Daten werden im Folgenden die Forschungsfragen überprüft. Dazu wurden die Daten in unterschiedlichen Kombinationen analysiert. 5.1 Meinungen einsprachig und mehrsprachig aufgewachsener Studierender zur Mehrsprachigkeit im Unterricht Die erste Hypothese (H1) lautet: Mehrsprachig aufgewachsene Studierende und einsprachig aufgewachsene Studierende haben unterschiedliche Meinungen zum Thema „Berücksichtigung der Mehrsprachigkeit im Unterricht“. Um sie zu überprüfen, wurden die Antworten der einsprachig und mehrsprachig aufge‐ wachsenen Studierenden auf die Fragebogenfragen 17 („Welche Grenzen kann sprachkontrastives Arbeiten haben? “) und 19 („Wie bedeutsam erachten Sie sprachkontrastive Arbeit im Deutschunterricht? “) ausgewertet und verglichen. 5.1.1 Grenzen sprachkontrastiven Arbeitens bei ein- und mehrsprachig aufgewachsenen Studierenden im Vergleich Zur Beantwortung von Frage 17 wurden mehrere Antwortmöglichkeiten 16 vorgegeben, Mehrfachnennungen waren möglich. Die Studierenden hatten darüber hinaus die Möglichkeit weitere Aspekte frei zu benennen 17 . 193 Herkunftsbedingte Mehrsprachigkeit als Faktor sprachvergleichender Arbeit? 18 Vgl. Statista (o. J., Def. Likert-Skala). Zur Veranschaulichung wurden die Antworten zu „sehr bedeutsam“ und „bedeutsam“, sowie „wenig bedeutsam“ und „nicht bedeutsam“ jeweils zusammengefasst. Diagramm 2: Grenzen sprachkontrastiven Arbeitens: Einvs. Mehrsprachige (n = 111) Bei c), der häufigsten Antwort, sowie e) liegen die Angaben einsprachig und mehrsprachig aufgewachsener Studierender nahezu gleichauf. Letztere räumen dem Sprachvergleich im Unterricht b) mit mehr als 50 % nur bedingt Chancen ein. Mit beinahe 40 % nehmen beide Gruppen für einsprachig aufgewachsene SuS eine fehlende Motivation in der Auseinandersetzung mit Mehrsprachigkeit an. 5.1.2 Bedeutsamkeit sprachkontrastiver Arbeit bei ein- und mehrsprachig aufgewachsenen Studierenden Als nächstes werden dieselben Gruppen anhand ihrer Antworten auf Frage 19 verglichen: „Wie bedeutsam erachten Sie sprachkontrastive Arbeit im Deutsch‐ unterricht? “ Die Antwortmöglichkeiten zeigten sich auf einer Likert-Skala und gingen von „sehr bedeutsam“ bis zu „nicht bedeutsam“. 18 194 Anastasia Moraitis, Katja F. Cantone, Patrick Wolf-Farré 19 Zur Begründung der gewählten Kategorie „teils/ teils“ s. Menold / Bogner (2015), 5sq. Diagramm 3: Bedeutsamkeit sprachkontrastiver Arbeit im Deutschunterricht Die in Diagramm 3 erfassten Ergebnisse machen den Unterschied in den Antworten zwischen mehrsprachig und einsprachig Aufgewachsenen transpa‐ rent: Erstere tendieren mit immerhin 81 % zu einer höheren Einschätzung der Bedeutsamkeit von sprachkontrastiver Arbeit, auch wenn im Vergleich zu Diagramm 2 bald 80 % der mehrsprachig Aufgewachsenen deutlich ihre Grenzen erkennen wollen. Etwas zurückhaltender fällt die Befragung monolingual Auf‐ gewachsener aus. Von den 68 Probanden sind es lediglich 36 der Probanden (45 %), die den Sprachvergleich als bedeutsam einschätzen. Mit Blick auf die Hypothese 1 und bezogen auf Frage 17 lässt sich feststellen: Die Befragten sind der Meinung, dass die Methode im Unterricht nicht oder bedingt umsetzbar ist (cf. Diagramm 2 b, c). Dabei sind es eher die Mehrspra‐ chigen, die davon überzeugt sind, dass der Fokus nur auf wenige Sprachen gelenkt werden und die Lehrkraft nicht alle Sprachen berücksichtigen kann. Mehrsprachig wie monolingual aufgewachsene Studierende erachten Sprach‐ vergleich als bedeutsam, wobei der prozentuale Anteil der Antworten bei den Mehrsprachigen höher liegt als bei der Vergleichsgruppe (cf. Diagramm 3). Nicht unbeachtet bleiben darf aber die hohe Zahl (41 %), die mit teils/ teils geantwortet hat. 19 195 Herkunftsbedingte Mehrsprachigkeit als Faktor sprachvergleichender Arbeit? 20 Die Bezeichnungen beziehen sich hier und im Folgenden jeweils auf die Fächer, die mit Germanistik kombiniert werden. 5.2 Fremdsprachenstudierende und sprachkontrastive Arbeit Die Hypothese (H2) lautet: Fremdsprachenstudierende weisen ein höheres In‐ teresse an sprachkontrastiver Arbeit auf als Studierende anderer Fächer. Für die Überprüfung werden die Studierenden anhand ihrer Fächerkombination unterschieden: Eine Gruppe besteht aus Studierenden der Germanistik in Kombination mit einem oder zwei nichtsprachlichen Fächern, die andere aus Studierenden der Germanistik in Kombination mit einer oder zwei weiteren Philologien. Diese Einteilung resultiert aus der Annahme, dass Studierende mindestens einer Fremdsprache sprachvergleichender Arbeit größeren Wert beimessen als die andere Gruppe. Überprüft werden ihre Antworten auf die‐ selben Fragen wie für Hypothese 1. 5.2.1 Grenzen sprachkontrastiven Arbeitens bei Studierenden philologischer und anderer Fächer 20 im Vergleich Diagramm 4: Grenzen sprachkontrastiven Arbeitens: Fächerkombinationen (n = 111) 196 Anastasia Moraitis, Katja F. Cantone, Patrick Wolf-Farré Besonders augenfällig ist, dass etwas mehr als 60 % derjenigen, die Deutsch und eine weitere Sprache studieren, der Meinung sind, dass der Fokus nur auf wenige Sprachen gelenkt werden kann (b). Dass die Lehrkraft nicht alle Sprachen be‐ herrschen kann, darüber sind sich die Studierenden aller Fächerkombinationen einig (c). Die Sprachenstudierenden überwiegen in ihren Aussagen in b), c), e) und f), während die Studierenden anderer Fächer in a) und d) überwiegen. Hier fällt auf, dass diejenigen, die Deutsch und eine weitere Sprache studieren, deutliche Grenzen sehen. Etwa 50 % sind der Meinung, dass es den einsprachig aufwachsenden Kindern an Lernmotivation fehlen könnte. 5.2.2 Zur Bedeutsamkeit sprachkontrastiver Arbeit Als nächstes werden dieselben Gruppen anhand ihrer Antworten auf Frage 19 („Wie bedeutsam erachten Sie sprachkontrastive Arbeit um Deutschunter‐ richt? “) verglichen. Die Antworten verteilen sich wie folgt: Studierende der Fächerkombination Germanistik und nichtsprachliches Fach antworteten zu 15,4 % mit „sehr bedeutsam“, zu 47,4 % mit „bedeutsam“, zu 33,3 % mit „teils/ teils“, und jeweils 1,3 % kreuzten „wenig bedeutsam“ und „nicht bedeutsam“ an bzw. gaben keine Antwort. Die Studierenden der Fächerkombination Germanistik und sprachliches Fach gaben zu 14,3 % „sehr bedeutsam“ und zu 53,6 % „bedeutsam“ an. 28,6 % kreuzten „teils/ teils“ an und 3.6 % machten keine Angabe. Die übrigen Antwortmöglichkeiten („wenig bedeutsam“ und „nicht bedeutsam“) wurden von dieser Gruppe nicht genutzt. Wenn man die Antwortmöglichkeiten „sehr bedeutsam“ und „bedeutsam“ als zustimmende Antworten zusammen‐ rechnet, so halten 64 % der Studierenden nichtsprachlicher Fächer und 67 % der Fremdsprachenstudierenden den Sprachkontrast für bedeutsam. 5.2.3 Mehrsprachigkeit und Studienfächer Schließlich sollen die untersuchten Aspekte „mehrsprachig aufgewachsen“ vs. „einsprachig aufgewachsen“ und „studiert Deutsch und x (keine weitere Sprache)“ vs. „studiert Deutsch und eine andere Sprache“ im direkten Abgleich mit Hinblick auf die Fragen 17 und 19 miteinander betrachtet werden. Dia‐ gramme 5 und 6 zeigen die Antworten auf Frage 17. 197 Herkunftsbedingte Mehrsprachigkeit als Faktor sprachvergleichender Arbeit? Diagramm 5: Grenzen sprachkontrastiven Arbeiten: Mehrsprachige geordnet nach Studienfächern (n=46) Diagramm 5 zeigt, dass unter den mehrsprachig aufgewachsenen, die neben Deutsch auch (eine) andere Sprache(n) studieren, der Sprachvergleich im Un‐ terricht aufgrund der vielen Sprachen (b) als kaum möglich angesehen wird. Über 80 % der Befragten sind der Meinung, dass die Lehrkraft nicht alle Sprachen kennen kann (c). Obwohl ihnen die Bedeutsamkeit von sprachvergleichender Arbeit bewusst ist (cf. Diagramm 3), sehen sie geringe Umsetzungsmöglich‐ keiten im Unterricht. Von diesen Befragten sind 50 % der Meinung, dass einspra‐ chig deutsch aufwachsenden Kindern die Motivation fehle, sich mit Sprachen auseinanderzusetzen. 198 Anastasia Moraitis, Katja F. Cantone, Patrick Wolf-Farré 21 Zum Einbezug des Sprachkontrasts in den Regeldeutschunterricht (Moraitis / Wolf-Farré / Cantone im Druck). Diagramm 6: Grenzen sprachkontrastiven Arbeiten: Einsprachig Aufgewachsene ge‐ ordnet nach Studienfächern (n=65) Diagramm 6 zeigt, dass diejenigen, die Deutsch und Fremdsprache(n) studieren, vor allem in b) eine klare Meinung haben. Weniger als 10 % sind der Meinung, dass der Sprachvergleich von den eigentlichen Unterrichtsinhalten ablenkt (f). Im direkten Vergleich (cf. Diagramm 5) sagen mehr als 15 % der mehrsprachig Aufgewachsenen, dass der Sprachvergleich vom Unterricht ablenke 21 . Und laut ihren Aussagen sehen 81 % der Befragten letzterer Gruppe den Sprachvergleich als „bedeutsam“ an (cf. Diagramm 3). Zurück zu der Gruppe in Diagramm 6: Im direkten Vergleich zwischen den Diagramme 5 und 6 sind sich einsprachig wie mehrsprachig Aufgewachsene darin einig, dass die Lehrkraft nicht alle Sprachen kennen kann c). Der Wert liegt bei 70 % und 80 %, sodass sie sich darin geringfügig voneinander abheben. Dafür sprechen sich etwa 50 % der Mehrsprachigen dafür aus, dass den einsprachig deutschen SuS es an Motivation fehlen könne, sich mit Sprachvergleichen zu beschäftigen. Bei den einsprachig aufgewachsenen Probandinnen und Probanden liegt der Wert unter 40 %. 199 Herkunftsbedingte Mehrsprachigkeit als Faktor sprachvergleichender Arbeit? Diagramm 7: Bedeutsamkeit sprachkontrastiven Arbeitens (geordnet nach Fächerkom‐ bination und mehrsprachig/ einsprachig aufgewachsenen Studierenden) Auf die Frage nach der Bedeutsamkeit von sprachkontrastiver Arbeit weisen ausnahmslos alle Philologen großes Verständnis auf. Dabei sind die Mehr‐ sprachigen von der Bedeutsamkeit („sehr bedeutsam“ bis „bedeutsam“) sehr überzeugt (cf. auch Diagramm 3). Bei den einsprachig Aufgewachsenen liegt der Wert bei etwa 40 %. Das Feld „sehr bedeutsam“ ist bei dieser Gruppe nicht belegt. Wenn auch ein geringer prozentualer Anteil, so sagen einige, dass der Sprachvergleich gar nicht bedeutsam ist. Hier kann kritisch angemerkt werden, dass der Grund für die Bedeutsamkeit des Sprachvergleichs bei beiden Gruppen nicht eruiert wurde. 5.3 Migrationshintergrund = aktive Mehrsprachigkeit? Wie oben schon festgehalten (cf. Diagramm 1), geben 49 Teilnehmende im Fra‐ gebogen an, mehrsprachig aufgewachsen zu sein. Im Folgenden wird deskriptiv und qualitativ versucht, zuerst zu überprüfen, ob die sprachbiografischen Angaben bestätigen, dass die zuhause erlernten Sprachen erhalten wurden und im Erwachsenenalter aktiv beherrscht werden. Dies geschieht vor dem Hintergrund der von uns aufgestellten Hypothese 3 (H3): Studierende mit Migrationshintergrund, in deren Familien andere Sprachen gesprochen worden sind, sind nicht grundsätzlich aktive Mehrsprachige. Aufgrund der geringen 200 Anastasia Moraitis, Katja F. Cantone, Patrick Wolf-Farré Teilgruppenzahl muss diese Hypothese qualitativ untersucht werden. Am Beispiel ausgewählter Teilnehmender soll auch überprüft werden, welchen Einfluss der Besuch des herkunftssprachlichen Unterrichts (HSU) und somit eines gesteuerten Spracherwerbs auf die aktive Mehrsprachigkeit hat. 5.3.1 Nutzen der Herkunftssprache für den Sprachvergleich in dieser und auch in anderen Sprachen Auf Frage 21 („Wenn Sie mehrsprachig aufgewachsen sind: Nützt Ihnen die Kenntnis in der Sprache auf Frage 3. für den Sprachvergleich in dieser und auch in anderen Sprachen? Wenn nein, warum? Wenn ja, inwiefern? “) gab es einige freie Antworten, die darauf hindeuten, dass die aus der Grundschule erwor‐ benen Kenntnisse in der Herkunftssprache nach Meinung der Teilnehmenden nicht dafür ausreichen, im späteren Beruf im Unterricht genutzt zu werden: TN2 [weiblich, 24 Jahre alt, Herkunftssprache Türkisch]: Da ich Türkisch nur in der Grundschule gelernt habe, ist Vieles schon verlernt. Wenn ich auch gramm. Kenntnisse erworben hätte, würde mir das etwas bringen. TN93 [weiblich, 22 Jahre alt, Herkunftssprache Türkisch]: Nur sehr wenig, da ich zu wenige Kenntnisse in meiner Muttersprache habe. Bei Alltagssituationen höchstens anwendbar. TN95 [weiblich, 22 Jahre alt, Herkunftssprache Türkisch]: Sie nützt mir im Vergleich zum Sprachgebrauch, jedoch nicht im Vergleich der Grammatik, da ich mich mit der türkischen Grammatik nicht auskenne. Ein Teilnehmer, der gar keinen HSU hatte, beantwortete die Frage wie folgt: TN21 [männlich, 28 Jahre alt, Herkunftssprache Griechisch]: Nein, denn ich spreche es nicht mehr gut! 5.3.2 Sprachkompetenz Das nächste relevante Kriterium ist die Selbsteinschätzung. Dabei sollten An‐ gaben zum Deutschen, zur Herkunftssprache und zur Fremdsprache, die man am längsten spricht, gemacht werden. (Frage 10: „Bitte bewerten Sie Ihre Kompetenzen in Ihren Sprachen“). Tabelle 1 beschreibt die Angaben der o. g. Teilnehmenden (1=sehr gut, 6=sehr schlecht): Teilnehmende Sprechen Verstehen Lesen Schreiben TN2 3 6 6 1 TN93 4 4 5 6 201 Herkunftsbedingte Mehrsprachigkeit als Faktor sprachvergleichender Arbeit? TN95 2 2 1 4 TN21 5 4 6 6 Tabelle 1: Selbsteinschätzung in der Herkunftssprache Die Aufstellung in der Tabelle 1 macht deutlich, dass die TN 2, 93 und 21 sich in den Teilfertigkeiten schlecht einschätzen, außer TN2, die sich trotz vieler Mängel in der Teilfertigkeit „Schreiben“ ein ‚sehr gut‘ gibt. Diese Probandinnen und Probanden sind auch von einem geringen Nutzen der Herkunftssprache ausgegangen (Frage 21). TN95, die lediglich ihre Grammatikkenntnisse schlecht eingestuft hatte, bewertet sich relativ gut und nur im Schreiben schlecht. TN21 bestätigt, dass die fehlende Teilnahme am HSU als Hinweis für schlechte Sprach‐ kenntnisse gelten könnte. TN95 adressierte bereits ein weiteres, wesentliches Kriterium für den Spracherhalt, nämlich den Sprachgebrauch. 5.3.3 Sprachgebrauch Frage 9 („Wie oft tun Sie folgendes in Ihrer Sprache? “) dokumentiert die Antworten der Studierenden auf die Frage u. a. nach den Gelegenheiten zum Sprachgebrauch. Tabelle 2 fasst die Angaben zusammen: TN Bücher lesen Zeit‐ schriften/ Zei‐ tungen lesen Filme/ TV schauen Im In‐ ternet surfen Mails schreiben Musik hören TN2 ung. 1xp. Woche ung. 1xp. Woche ung. 1xp. Woche täglich täglich ung. 1xp. Woche TN93 epmi. Jahr nie epmi. Jahr epmi. Jahr nie ung. 1xp. Woche TN95 epmi. Jahr epmi. Jahr ung. 1xp. Monat nie nie ung. 1xp. Monat TN21 nie nie nie nie nie epmi. Jahr Tabelle 2: Sprachgebrauch in der Herkunftssprache (Legende: ung. 1xp. Woche = ungefähr ein Mal pro Woche; ung. 1xp. Monat = ungefähr ein Mal pro Woche; epmi. Jahr = ein paar Mal im Jahr) Während TN93 und TN21 ein klares Bild des geringen bzw. nicht täglichen Gebrauchs abgeben, benutzt TN95 weniger Türkisch, als ihre Kenntnisse das 202 Anastasia Moraitis, Katja F. Cantone, Patrick Wolf-Farré vermuten ließen. Bei TN2 zeichnet sich ab, dass sie regelmäßig die türkische Sprache gebraucht, obwohl sie ihre Kenntnisse als nicht stark eingeschätzt hatte. Besonders widersprüchlich dürfte hier die Angabe zum wöchentlichen Lesen sein, da sie sich fürs Lesen im Türkischen die Note 6 gegeben hatte. Um deutlich zu machen, wie unterschiedlich die Profile der Sprachbiografien mehrsprachiger Personen sowie ihre Selbsteinschätzung sein können, möchten wir hier drei weitere Teilnehmende der Studie aufzeigen, die zur Gruppe derer gehören, die länger den HSU besucht haben. Zunächst ist bei der folgenden Teilnehmerin interessant, dass sie nicht explizit reflektiert, woher ihre Fähig‐ keiten zum Sprachvergleich noch zusätzlich herkommen könnten (Studium des Türkischen): TN12 [weiblich, 22 Jahre alt, Herkunftssprache Türkisch, studiert Deutsch und Türkisch]: Ja. Der Vergleich zwischen Türkisch und Deutsch gelingt mir viel besser. TN51 [weiblich, 21 Jahre alt, Herkunftssprachen Berberisch und Arabisch] reflektiert die Ziele der sprachkontrastiven Arbeit und antwortet auf Frage 21 wie folgt: - es lassen sich viele Unterschiede erkennen z. B. Alphabet, Verbstellung, Schreibrichtung - Gemeinsamkeiten eher weniger TN64 [weiblich, 26 Jahre alt, Herkunftssprache Polnisch, studiert außer Ger‐ manistik keine weitere Sprache] schätzt sich insgesamt sehr schlecht ein. Die nächste Tabelle vergleicht die Selbsteinschätzung dieser TN: Teilneh‐ mende HSU Sprechen Verstehen Lesen Schreiben TN12 10 Jahre 1 1 1 1 TN51 Nein für Berberisch 1 1 6 6 5 Jahre Arabisch 3 1 3 4 TN64 6 Jahre 6 6 5 5 Tabelle 3: Selbsteinschätzung in der Herkunftssprache TN12 sticht durch eine durchweg positive Selbsteinschätzung heraus. Als ein‐ zige ist ihre Herkunftssprache ihr Studienfach. TN51 benotet sich im Mittelfeld 203 Herkunftsbedingte Mehrsprachigkeit als Faktor sprachvergleichender Arbeit? für ihr Arabisch, aber sehr schlecht im Lesen und Schreiben im Berberischen (kein HSU besucht, cf. TN21). TN64 schätzt sich ebenfalls schlecht in allen vier Teilfertigkeiten. Bezüglich des Sprachgebrauchs zeigt TN12 eine aktive und regelmäßige Verwendung ihrer Herkunftssprache, die sie auch studiert. TN51 schaut täglich TV und hört täglich Musik auf Arabisch, TN64 benutzt Polnisch selten, obwohl sie immerhin sechs Jahre unterrichtet wurde. Teilneh‐ mende Bücher lesen Zeit‐ schriften/ Zei‐ tungen lesen Filme/ TV schauen Im In‐ ternet surfen Mails schreiben Musik hören TN12 epmi. Jahr k.A. täglich k.A. ung. 1xp. Woche täglich TN51 nie nie täglich nie nie täglich TN64 epmi. Jahr epmi. Jahr epmi. Jahr ung. 1xp. Monat epmi. Jahr ung. 1xp. Monat Tabelle 4: Sprachgebrauch der Probanden Zusammenfassend zeigt sich, dass Studierende mit Migrationshintergrund, in deren Familien andere Sprachen gesprochen worden sind, nicht grundsätzlich aktive Mehrsprachige sind. Im Fall von TN21 kann sogar angenommen werden, dass die Herkunftssprache in der Familie nicht weitergegeben wurde. 6 Ergebnisse und offene Fragen Ausgehend von der Frage, ob der Migrationshintergrund von Lehrkräften als begünstigender Faktor für einen mehrsprachigkeitssensiblen Unterricht angenommen werden kann, lässt sich festhalten, dass er es nicht ist. Wie einige bereits bestehende Studien gezeigt haben (cf. Abschnitte 1-2), können die innerhalb der bildungspolitischen Diskussionen angeknüpften Annahmen und Hoffnungen hinsichtlich des vielfältigen Potenzials von (angehendem) Lehrper‐ sonal mit Migrationshintergrund nur bedingt erfüllt werden. Die vorliegende Studie bestätigt diese Ergebnisse und ergänzt das Bild der bisherigen Forschung um den Aspekt einer spracherwerbstheoretischen- und sprachgebrauchsorien‐ tierten Perspektive. Um ein differenziertes Bild zu erhalten, war es besonders wichtig, alle Studierende in die Befragung einzubeziehen. Die Aufteilung der Studierenden in zwei Gruppen innerhalb der Studie - mehrsprachig und nicht 204 Anastasia Moraitis, Katja F. Cantone, Patrick Wolf-Farré mehrsprachig aufgewachsene - diente dem Zweck herauszufinden, inwiefern der Migrationshintergrund bei der Umsetzung von sprachvergleichender Arbeit Vorteile verschafft bzw. ob die Sensibilisierung für das Thema gerade bei Mehr‐ sprachigen gegeben ist und auf unterrichtliche Kontexte transferiert werden kann. Zur Auswertung von Hypothese 1 (H1): Die Ergebnisse der ersten Hypothese (Mehrsprachige Studierende und einsprachig aufgewachsene Studierende haben unterschiedliche Meinungen zum Thema „Berücksichtigung der Mehrsprachigkeit im Unterricht“) zeigen folgendes Bild. Die Befragung ergab, dass sich mehr‐ sprachig aufgewachsene Studierende nur geringfügig von der Gruppe der monolingual Aufgewachsenen in c) und e) (Diagramm 2) unterscheidet. Auf die Frage nach den Grenzen sprachkontrastiver Arbeit im Unterricht (Frage 17) liegen prozentual gesehen beide Gruppen fast gleichauf. Sie stimmen auch darin überein, dass es einsprachig aufgewachsenen Schülerinnen und Schülern an Motivation e) fehlen könnte, Sprachvergleiche durchzuführen. Bezüglich der möglicherweise fehlenden Motivation kann hier nur gemutmaßt werden, dass die Studierenden aus eigener subjektiver Erfahrung heraus argumentieren. Möglicherweise haben sie in der Schule keine sprachvergleichende Arbeit ken‐ nengelernt und wissen wenig über entsprechende didaktische Zugänge. Dass aber sprachvergleichende Arbeit in den Kernlehrplänen verankert sind, darauf wurde in Abschnit 1 Bezug genommen. Davon, dass weder mehrsprachige noch einsprachig sozialisierte Probandinnen und Probanden der sprachlichen Heterogenität der Schülerschaft gerecht werden können, sind etwa 80 % über‐ zeugt c). Hingegen sind es mehrheitlich die Mehrsprachigen, die der Meinung sind, dass der Fokus nur auf wenige Sprachen gelegt werden könne b). Das Ergebnis bestätigt die Studien, die in Abschnitt 2.2 vorgestellt wurden; nämlich, dass die Mehrsprachigen sich lediglich auf die Sprache(n) zurückziehen, die sie selbst in der familiären Umgebung ungesteuert gelernt haben. Die Sprache dient dabei der Disziplinierung von Schülerinnen und Schülern der gleichen Sprache, oder diese erfahren im Unterricht eine zusätzliche Unterstützung. Das kann allerdings im Klassenverband Folgen haben: In ihrer Studie bezüglich der Selbstkonzepte von Lehrkräften mit Migrationshintergrund nimmt Rotter (2014) eine „sinngenetische Typenbildung“ (ibid. 259) vor. Unter dem Typus der kom‐ petente ‚Migrationsandere‘ (ibid. 266) wird durch die Befragten die Relevanz des eigenen Migrationshintergrunds hervorgehoben, da es „zur Konstruktion des beruflichen Selbstkonzepts und damit auch zur Selbstpositionierung im schulischen Kontext“ (ibid. 267) erheblich beiträgt. Dabei begibt sich die Lehr‐ kraft aufgrund ihres konjunktiven Erfahrungsraumes (hier Abschnitt 2), den sie mit den SuS gleicher Sprache teilt, in eine „diffuse Rollenbeziehung“ und hebt 205 Herkunftsbedingte Mehrsprachigkeit als Faktor sprachvergleichender Arbeit? 22 Die Schüler-Lehrer-Beziehung wird neu diskutiert in: Maier 2014, 135sqq. die Nähe-Distanz-Antinomie als Grundelement pädagogischer Arbeit auf (ibid. 268sqq.). 22 Ein Gefälle zwischen den beiden Gruppen ergibt sich allerdings deutlich aufgrund der Ergebnisse von f). Im Vergleich sind nur wenige mehrsprachige Studierende der Meinung, dass der Sprachvergleich im Unterricht ablenke. Bezogen auf die Frage 19 („Wie bedeutsam erachten Sie sprachkontrastive Arbeit im Deutschunterricht? “) zeigt sich ein Ergebnis, das zunächst widersprüchlich erscheint. Wenngleich die mehrsprachige Gruppe im Vergleich zu der anderen Gruppe den Sprachvergleich mehrheitlich (81 %) als bedeutsam einstuft (cf. Diagramm 3), schätzt sie eine Umsetzung in einer sprachlich heterogenen Gruppe als wenig realisierbar ein (cf. Diagramm 2, b, c). Ähnlich, wenn auch mit einer leicht geringeren Prozentzahl vertreten, schließt sich auch die Gruppe der monolingual Aufgewachsenen dieser Einschätzung an. Aufgrund der Ergebnisse aus der Befragung hinsichtlich der Sprachkom‐ petenz und des Sprachgebrauchs können die vermeintlichen Widersprüche aufgelöst werden. Die Bedeutsamkeit des Sprachvergleichs ist den Beteiligten durchaus bewusst. Allerdings machen nicht vorhandene oder unzureichende Sprachkompetenzen, wie sie von den Mehrsprachigen selbst (Abschnitt 5.3.) benannt wurden, einen didaktisch wertvollen Sprachvergleich im unterrichtli‐ chen Setting kaum möglich. Somit ist davon auszugehen, dass ungesteuerter Spracherwerb und vernachlässigter Sprachgebrauch in unterrichtlichen Kon‐ texten der Lehrkraft Grenzen setzen. (s. die Auswertung w.u.) Dieses Ergebnis deckt sich mit den Erkenntnissen einer Studie mit Blick auf den Sprachvergleich aus der Perspektive von Lehrkräften im Fremdsprachenunterricht von Schedel / Bonvin (2017, 124). Sie führen die „Problematik der transferbasierten, sprachen‐ übergreifenden und vergleichenden Didaktik“ auf die fehlenden sprachlichen Ressourcen der Lehrenden zurück und benennen die Problematik, die sich für den Unterricht daraus ergibt. „Zum einen sind die betreffenden Lehrpersonen nicht fähig, die Lernenden zu bestimmten Vergleichen anzuleiten oder diese zu erklären (welche nicht selten sogar von den Lehrmitteln vorgesehen sind), zum anderen können sie aber auch die von den SuS initiierten Vergleiche nicht auf ihre Richtigkeit überprüfen“ (ibid. 124). Die Aufmerksamkeit soll kurz auf den letzten Aspekt des Zitats gelenkt und mit Studien von Kropp unterstrichen werden. Wenn „das lehrerseitige Sprachwissen, etwa in den unterschiedlichen im Klassenzimmer vorhandenen Herkunftssprachen, unzureichend oder weniger umfangreich ist als das lerner‐ seitige […]“ (2018, 120) entsteht eine Asymmetrie im Klassenraum, die laut 206 Anastasia Moraitis, Katja F. Cantone, Patrick Wolf-Farré Kropp zur „Überforderung und Unsicherheit der Lehrkraft hinsichtlich ihrer Ex‐ pertenrolle“ (ibid. 121) führen kann. Somit ist eine weitere mögliche Problematik benannt, die hier nicht unberücksichtigt bleiben kann und im Unterrichtsge‐ schehen zu Verwerfungen führen könnte. So muss Abstand genommen werden von der Idee, dass ein intuitiver Zugang aufgrund vermeintlicher Mehrsprachig‐ keit einen professionell initiierten und auf Mehrsprachigkeit konzentrierten Unterricht ersetzen könne (s. auch Abschnitt 2). Die Qualität menschlichen Handelns von Seiten des Lehrkörpers ist einerseits gefragt, andererseits aber die Qualität professionellen Umgangs mit herkunftsbedingter Mehrsprachigkeit im Klassenraum. Zu den einsprachig aufgewachsenen sei noch ergänzt, dass sie zum einen den Zeitfaktor als sehr problematisch ansehen (Diagramm 2, a) ebenso nehmen sie mehrheitlich an, dass es den Schülerinnen und Schülern an sprachliche Kompe‐ tenzen in der deutschen Sprache mangeln könnte d), sodass ein Sprachvergleich wenig realisierbar sei. Das geben auch die Mehrsprachigen an. Vermutlich fehlt es den Probandinnen und Probanden nicht nur an methodischer Kompe‐ tenz, sondern auch an der Erkenntnis, dass Sprachvergleiche durchaus das sprachliche Lernen fördern, wie auch dazu anregen können über Sprache nach‐ zudenken. Sprachvergleich gilt als wichtigster Baustein mehrsprachigkeitsdi‐ daktischer Konzepte wie der Interkomprehension (Hufeisen / Marx 2014), oder der language awareness (Luchtenberg 2014). Die didaktischen Ansätze fördern nicht nur die Sprachkompetenzen sowie die Sprachlernkompetenz, sondern stärken die Sprachbewusstheit und motivieren SuS Sprachen kennenzulernen (cf. Bredthauer 2019). Dies zu vermitteln, gilt es allen Studierenden im Zuge ihrer Professionalisierung. Hypothese 2 (H2) (Fremdsprachenstudierende sind interessierter an Sprachver‐ gleichen als Studierende anderer Fächer aufgrund des intrinsischen Interesses an Sprachen) konnte bestätigt werden. Bezogen auf die Bedeutsamkeit von sprach‐ kontrastiver Arbeit im Deutschunterricht (Frage 19) ergab die Auswertung, dass diejenigen, die philologische Fächer studieren nicht zwingend motivierter sind sprachkontrastiv zu arbeiten als die Parallelgruppe (Diagramm 4, b) und c). Etwa 64 % der Studierenden nichtsprachlicher Fächer und 67 % der Fremd‐ sprachenstudierenden erachten den Sprachkontrast für bedeutsam (cf. 5.2.2), was sich allerdings nicht zwingend allein aus ihrem Sprachstudium heraus erklären lässt. Es muss hier mitgedacht werden, dass sich die Befragung an alle Beteiligten (mehrsprachige und nicht-mehrsprachige Studierende) gerichtet hat. Der hohe Anteil derjenigen, die keine Philologien studieren und dennoch den Sprachvergleich als sehr bedeutsam ansehen, kann dadurch erklärt werden, dass Mehrsprachige wie weiter oben schon gesehen, den Sprachvergleich sehr 207 Herkunftsbedingte Mehrsprachigkeit als Faktor sprachvergleichender Arbeit? 23 Mit weiteren Verweisen und Beispielen s. Binazer / Jessen 2020, 227. wohl als bedeutsam ansehen. Somit ist das Interesse an Sprachvergleichen nicht nur auf die intrinsische Motivation der Studierenden zurückzuführen, die ausschließlich Philologien studieren. Bezogen auf die Frage 17 ergab die getrennte Befragung (cf. Diagramme 5 und 6) mit Blick auf c), dass mehr als 80 % der mehrsprachigen Probanden (studieren Deutsch und eine weitere Philologie), obwohl sie den Sprachvergleich als sehr bedeutsam einschätzen, hervorheben, dass sie nicht alle Sprachen berücksichtigen können, was sich mit den Ergebnissen, die weiter oben bespro‐ chen wurden, korrelieren. Der Wert bei der einsprachigen Gruppe (cf. Diagramm 6) ist bei c) weit geringer als bei der anderen Gruppe, aber es überwiegen die Antworten derjenigen, die keine weitere Philologie studieren. Bemerkenswert sind die Aussagen zu e). Es fällt auf, dass es mehrheitlich die Mehrsprachigen, die Sprachen studieren, sind, die den einsprachigen Schülerinnen und Schü‐ lern die Motivation absprechen, sich mit mehr Sprachen zu beschäftigen (cf. Diagramm 5). Diese Haltung könnte durch persönliche negative Erfahrungen begründet sein. In einer Umfrage von Wojnesitz (2009) bspw. wurde deutlich, dass Lehrkräfte wenig Interesse an den Sprachen mehrsprachiger SuS zeigten. 23 In einer weiteren Studie von Plewnia / Rothe (2011, 227) zu Spracheinstellungen favorisierten monolingual deutschsprachig aufgewachsene SuS der 9. und 10. Jahrgangsstufe eines Gymnasiums bzw. einer Realschule auf die Frage, welche Sprache sie gerne perfekt lernen wollen, die sog. prestigeträchtigen Sprachen wie Englisch, Spanisch, Französisch und Italienisch. Die sog. Migran‐ tensprachen wie Türkisch, Arabisch, Russisch und Polnisch bspw. fanden kaum Interesse. Andererseits gibt es aber auch Studien, die ein anderes Bild zeigen: Bei einer Befragung von etwa 320 Schülerinnen und Schülern im Alter von 15 bis 20 Jahren an vier verschiedenen Schulen im Ruhrgebiet (Gymnasien und Gesamtschulen) wurde eine Gegenposition eingenommen. Binanzer und Jessen (2020, 244) konnten nach Auswertung der Befragung nachweisen, dass sowohl die einsprachigen wie auch die mehrsprachigen Probandinnen und Probanden eine „punktuellen Integration von Herkunftssprachen als Lerngegenstand“ nicht ablehnend gegenüberstehen. Vielmehr wird der Mehrwert von sprachver‐ gleichender Arbeit für den Fremdspracherwerb auch unter Berücksichtigung der sog. Migrantensprachen deutlich hervorgehoben. Trotz einiger Unterschiede zeigte die Analyse insgesamt, dass die beiden Hypothesen nicht bestätigt werden konnten. Die oftmals selbstverständlich an‐ gedachte Dichotomie Einvs. Mehrsprachigkeit ist, und das ist eindeutig, nicht haltbar. Personen, die im familiären Kontext mehrsprachig aufgewachsen sind, 208 Anastasia Moraitis, Katja F. Cantone, Patrick Wolf-Farré müssen nicht als Erwachsene aktive Mehrsprachige sein, die ihre Herkunfts‐ sprache in ihren Lehrberuf zum Zwecke didaktischer Unterrichtsszenarien einbringen wollen/ können (cf. 5.3). Zugleich ist die Gruppe der einsprachig aufgewachsen nicht per se im Nachteil. Im Gegenteil: Gerade die, die sich für das Studium einer Fremdsprache entscheiden, können mitunter großes Interesse an sprachdidaktischen Fragestellungen im Unterricht einbringen, da sie ihre Sprachlernerfahrung und ihr Sprachbewusstsein für ihren Sprachunterricht nutzen können (Schedel / Bonvin 2017, 124). Es könnte also ratsam sein, beide Gruppen in ihrer Heterogenität wahrzunehmen und große individuelle Unterschiede hinzunehmen. Am besten für die angedachte Vorbildfunktion (cf. Abschnitt 2) sind im Übrigen nur die wenigen, die die Möglichkeit erhalten haben, ihre Herkunftssprache als Fach fürs Lehramt zu studieren. Hypothese 3 (H3): (Studierende mit Migrationshintergrund, in deren Familien andere Sprachen gesprochen worden sind, sind nicht grundsätzlich aktive Mehr‐ sprachige) konnte hingegen eindeutig bestätigt werden. Die Sprachbiografien, hier exemplarisch aufgezeigt, lassen den Schluss zu, dass Bildungsinländer der 2. Generation, die in ihrer Familie mit mehreren Sprachen in Kontakt gekommen sind, nicht per se ein aktives mehrsprachiges Potenzial mitbringen, das in einen mehrsprachigkeitssensiblen Unterricht eingebracht werden kann. Bildungspolitik und Lehramtsausbildung täten entsprechend gut daran, dieses Potenzial nicht a priori zu unterstellen und anzunehmen, dass in dieser Gruppe (die, wie hoffentlich gezeigt werden konnte, heterogen ist) die „Retter“ der Förderung der Mehrsprachigkeit zu finden seien. Im Übrigen gelten diese Überlegungen für angehende Lehrkräfte und Schülerschaft gleichermaßen: Cantone (2020b) konnte in einer qualitativen Folgestudie zu einer Erhebung der Sprachkenntnisse in der Herkunftssprache bei Jugendlichen zeigen, dass sichere Sprachkenntnisse (getestet und selbst eingeschätzt) keine Garantie für regelmä‐ ßigen Sprachgebrauch sind, ebenso wenig wie eine positive Einstellung zu einer Herkunftssprache auch deren Beherrschung vorhersagt (vgl. auch Cantone / Olfert 2015). Im Versuch, Sprachkenntnisse und -gebrauch in verschiedenen Sprecherinnen- und Sprechertypen zu bündeln, fasst sie die Erkenntnisse der Studie zum Italienischen als Herkunftssprache so zusammen: Der informelle, familiäre Raum, der den Alltag wiedergibt und zeigt, dass Italienisch in der Familie weitergegeben und -gepflegt wurde/ wird, steht einem formellen Raum gegenüber, der vermutlich durch unzureichende Beschulung und fehlenden institutionellen Umgang mit der Minderheitensprache Italienisch dazu geführt hat, dass die Jugendlichen keine altersgerechte Entwicklung im Italienischen aufweisen. (Cantone 2020b, 154) 209 Herkunftsbedingte Mehrsprachigkeit als Faktor sprachvergleichender Arbeit? Der vorliegende Beitrag hatte zum Ziel, die bisherigen Studien um weitere Frage‐ stellungen aus spracherwerbstheoretischer Perspektive zu erweitern und zu reflek‐ tieren. Im Ergebnis zeigt sich, dass Studierende mit Migrationshintergrund nicht grundsätzlich aktive Mehrsprachige sind, und dass mehrsprachig aufgewachsene Studierende nicht per se der Mehrsprachigkeit im Unterricht mehr Aufmerksamkeit schenken. Auch zeigen Fremdsprachenstudierende nicht mehr Interesse für sprach‐ vergleichender Arbeit als andere. Es ist somit deutlich geworden, dass […] allein die Erhöhung des Anteils von Lehrkräften mit Zuwanderungsgeschichte kein Allheilmittel [darstellt], denn es gilt die diversitätsbewusste Kompetenz aller (an‐ gehenden) Lehrkräfte unabhängig ihrer ethnisch-kulturellen Herkunft auszubilden und zu fördern. (Massumi 2014, 92) Die Unterweisung in sprachvergleichender Arbeit (vgl. Moraitis in diesem Band) ist der gemeinsame Nenner für eine mehrsprachigkeitsdidaktische Unterrichts‐ entwicklung. Literaturverzeichnis Akbaba, Yaliz. 2010. Erfahrungen und Handeln von LehrerInnen mit Migrationshintergrund- theoretische Grundlegung und erste Erkundungen. 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Es geht hier also hauptsächlich darum, mögliche Lernerleichterungen und Lernprobleme bulgarischsprachiger Schüler und Studenten beim Erlernen des spanischen Tempusgebrauchs im deutschen Kontext aufzuzeigen. Es wird dabei von einem migrationsbedingten Tertiärsprachenkonzept ausgegangen, das sich nicht auf die vorherigen Lernerfahrungen einer Fremd‐ sprache stützt, wie es bei den meisten Studien zur Tertiärsprachendidaktik bis dato der Fall war (siehe beispielsweise Hufeisen 1993, Neuner 2003 oder Berschin 2014). Eine Tertiärsprachendidaktik, die sich nur „erwebstypischer L2-L3 Interferenzphä‐ nomene annimmt und sie kontrastiv kognitiviert“ (Michler 2014, 226sqq.), ist bei Migranten zum Scheitern verurteilt, denn die Muttersprache erklärt größtenteils die Schwierigkeiten, mit denen Zweit- (und auch Dritt-)sprachlerner konfrontiert sind (Riehl 2018, 237). Der vorliegende Beitrag ist im Bereich der Migrationslinguistik anzusiedeln und schenkt den Herkunftssprachen der Migranten (also L1) beim Erlernen einer Drittsprache besondere Aufmerksamkeit. Die kontrastive Grammatik bietet einen hervorragenden Ausgangspunkt, um Sprachinterferenzen und Sprachtransfer zwischen Herkunftssprachen, Zweit‐ sprachen und Drittsprachen aufzudecken. Der grammatische Sprachkontrast als Basisarbeit im Dienste der Fremdsprachendidaktik kann und muss eine außer‐ ordentlich wichtige Rolle bei der Erforschung der grammatisch-pragmatischen Problemfelder spielen, die Fremdsprachenlerner mit Migrationshintergrund beim Erlernen einer Drittsprache haben. Diesbezüglich geht es hier um eine der sieben sprachlichen Basisqualifikationen, die Ehlich (2007, 12) bei der sprachli‐ chen Sozialisation unterscheidet und die auch für den Erwerb des Deutschen als Zweitsprache und anderer Sprachen als Drittsprachen relevant sind, und zwar um die morphologisch-syntaktische Fähigkeit, „komplexere sprachliche Formen zu verstehen und solche selbst herstellen zu können“. Über die Sprachkonstellation Bulgarisch als Muttersprache, Deutsch als Zweit‐ sprache und Spanisch als Fremdsprache sind keine kontrastiv angelegten Studien bekannt. Das ist sicherlich hauptsächlich darauf zurückzuführen, dass diese Sprach‐ konstellation im deutschen Bildungssystem bis vor einigen Jahren sehr selten vorkam. So kommt das Bulgarische beim Projekt Spracherhebung Essener Grund‐ schulen kaum vor (Chlosta et al. 2003). Studien zur Tertiärsprachendidaktik und kontrastiven Grammatik, die osteuropäische Migrantensprachen und romanische Schulsprachen berücksichtigen, sind ohnehin eine Seltenheit, weil es Grammatikern (und auch Didaktikern) an vertieften Kenntnissen der grammatischen Strukturen romanischer, germanischer und (in der Regel) slawischer Sprachen fehlen dürfte. Reimanns Erkenntnis „Fremdsprachen-Lehrkräfte können Schwierigkeiten und Vorteile einzelner Gruppen von Herkunftssprecher*innen teilweise recht genau benennen“ mag also für die Sprachkonstellationen Türkisch oder Italienisch als Muttersprache - Deutsch als Zweitsprache und Englisch oder eine romanische Sprache als Drittsprache stimmen (Reimann 2016, 66). Im Falle neu zugewanderter Schüler, wie etwa der bulgarischsprachigen Kinder und Jugendlichen, ist das nicht der Fall. Dieser Beitrag setzt hier an. Hier wird der Versuch unternommen, die Bedeutungsvarianten der indikativischen Vergangenheitstempora im Bulgarischen, Deutschen und Spanischen kontrastiv darzustellen, um den Sprachtransfer und die Sprachinterferenzen zwischen diesen drei Sprachen aufzuzeigen. Dazu ist es zunächst nötig, die Sprachkonstellationen in Deutschland le‐ bender bulgarischer Staatsangehöriger zu erörtern. Im Anschluss daran werden die indikativischen Tempora und ihre Gebrauchsvarianten im Bulgarischen, Deutschen und Spanischen umrissen. In einem dritten Arbeitsschritt wird dann auf die Problemfelder beim Sprachtransfer eingegangen. 2 Mehrsprachigkeit bulgarischer Migranten in Deutschland: Sprachkonstellationen Wer über den Übergang neu zugewanderter bulgarischer Kinder und Jugendli‐ cher in das deutsche Bildungssystem und über die Kontakteinwirkung ihrer Muttersprache (oder besser gesagt, Muttersprachen) mehr erfahren möchte, 218 Raúl Sánchez Prieto muss sich unbedingt mit der im Alltag praktizierten Mehrsprachigkeit bulga‐ rischer Migranten in Deutschland auseinandersetzen. Laut Statistischem Bun‐ desamt lebten im Jahre 2018 mehr als 80.000 unter zwanzigjährige bulgarische Staatsangehörige in Deutschland. Damit bilden sie die siebtgrößte Gruppe nach den Syrern, Afghanen, Irakern, Türken, Polen und Rumänen. Sowohl zugezogene als auch in Deutschland geborene bulgarischstämmige Kinder und Jugendliche erlernen das Deutsche als Zweitsprache konsekutiv nach dem Bulgarischen. Die Sprachkonstellation Bulgarisch als Muttersprache, Deutsch als Zweitsprache und eine Schulsprache als Fremdsprache (wie z. B. das Englische oder das Spanische) ist aber nicht die einzige unter den bulgarischen Schülern. Die vorhandenen statistischen Angaben reichen leider nicht aus, um bundesweit den Anteil der nichtbulgarischsprachigen Menschen unter den Migranten bulgarischer Herkunft erschließen zu können: Das Statistische Bun‐ desamt erfasst die in den Haushalten mit Migrationshintergrund gesprochenen Sprachen sehr unvollständig und die ethnisch-kulturelle Zugehörigkeit der zugezogenen Bulgaren gar nicht. Schätzungsweise dürfte bei nicht weniger als 50 % bis 70 % der in Deutschland lebenden bulgarischen Familien eine andere Sprache als das slawische Bulgarisch Herkunftssprache sein. Was die sprachlichen Generationen anbelangt, dürften die meisten in Deutschland lebenden Bulgaren sicherlich zur ersten Generation gehören. Viele schulpflichtige Kinder und die meisten Jugendlichen können noch nicht zu einer zweiten Generation gezählt werden: Sie bilden die sogenannte „one-and-a-half generation“ (Rumbaut 1988, 1), also „persons who immigrate during the primary school years of ages 6 to 11“ (Scheidegger 2007, 20). Bei beiden Generationen der heutzutage in Deutschland lebenden bulgarischen Migranten ergeben sich mindestens drei unterschiedliche Sprachkonstellationen: 1. Bulgarischmuttersprachler, meistens slawische Bulgaren, die in der Regel über eine gute bis sehr Sprachkompetenz im Hochbulgarischen verfügen und die generationsbedingt Englisch oder Russisch als Fremdsprache in Bulgarien (seltener auch Deutsch) und üblicherweise Deutsch als Zweitsprache in Deutschland gelernt haben. 2. Türkischmuttersprachler, fast ausschließlich türkische Bulgaren, die zu Hause donautürkische oder rumelientürkische Dialekte sprechen (also kein Hochtürkisch) und die Bulgarisch als erste Zweitsprache sprechen. Angehörige der türkischen Minderheit in Bulgarien haben auch meist Englisch oder Russisch im Herkunftsland als Schulsprache gelernt. Deutsch ist für sie meistens zweite Zweitsprache. 3. Bulgarische Roma haben im Regelfall einen nicht kodifizierten dachlosen Erli-Romani-Dialekt als Muttersprache und Donau- oder Rumelientürkisch 219 Bulgarisch L1, Deutsch L2 und Spanisch L3: Die Vergangenheitstempora als gesprochene Zweitsprache. Bulgarisch wird meistens als zweite gespro‐ chene Zweitsprache gesprochen. Hinzu kommt das Deutsche nach ihrem Zuzug nach Deutschland und, gegebenenfalls, andere Fremdsprachen. Da bulgarische Roma klassische Transmigranten sind, also nach Blommaert (2011, 30) „dus niet per definitie mensen die ergens blijven, ze zijn per definitie mobiel“, können sie auch andere Fremdsprachen teilweise erlernt haben, wie etwa das Spanische oder das Italienische. Das ist der Falls bei einer relativ zahlreichen Gruppe bulgarischer Roma, die anfänglich nach Spanien oder Italien eingewandert waren, wo sie Spanisch bzw. Italienisch als gesprochene Zweitsprache gelernt haben und sich dann in der Wirtschaftskrise in Deutschland angesiedelt haben. Für diese Menschen ist das Deutsche dritte oder vierte Zweitsprache nach dem Bulgarischen, dem Türkischen und dem Spanischen oder Italienischen. Die bulgarische Gemeinde in Deutschland ist also keineswegs eine einheitliche Gruppe, weder was die ethnische noch die sprachlich-kulturelle Zugehörigkeit betrifft. Es wäre sicherlich nicht gewagt, zu behaupten, dass mindestens die Hälfte der bulgarischen Familien eine andere Herkunftssprache zu Hause spre‐ chen als das Bulgarische. Das Bulgarische genießt für bulgarische Türken und Roma ein höheres Sprachprestige als die von ihnen gesprochenen türkischen und Romani-Dialekte, denn nur Bulgarisch ist Schulsprache in Bulgarien. Kinder und Jugendliche beider Bevölkerungsgruppen (insbesondere bulgarische Roma) verfügen jedoch nicht über genügende Bulgarischkenntnisse, um gute Schulleistungen zu erzielen (Tankova 2014, 12). Neben dem Bulgarischen und dem Deutschen stehen also bulgarischstäm‐ migen Migranten andere Sprachen für eine kontrastive Tertiärsprachendidaktik zur Verfügung. In diesem Beitrag wird aus praktischen Gründen nur auf den Sprachkontrast Bulgarisch-Deutsch-Spanisch eingegangen. 3 Die Tempora des Indikativs im Bulgarischen, Deutschen und Spanischen: Ein kurzer Umriss Sowohl im Bulgarischen als auch im Deutschen und im Spanischen bildet das Verb das strukturelle Zentrum des Satzes. Der Indikativ ist in den drei Sprachen der zur Darstellung der Wirklichkeit vorgesehene und damit der bei weitem am häufigsten verwendete Modus. Das Tempus ist vielleicht die salienteste unter den grammatischen Kategorien des Verbs. Das ist sicherlich der Fall für das Deutsche und das Spanische. In der verbalen Morphologie des Bulgarischen spielt der Verbalaspekt, also die zeitliche Struktur der verbalen Handlungen, eine genauso herausragende Rolle wie das Tempus (Nicolova 2008, 262). 220 Raúl Sánchez Prieto 3.1 Das bulgarische Tempussytem im Indikativ Die bulgarischen Grammatiker unterscheiden für gewöhnlich neun Tempora (Levin-Steinmann 2003, 175). Neben diesen neun indikativischen Tempora sind im Bulgarischen auch noch eine Konditionalform und acht Tempora des Renarrativs anzutreffen, die hier nicht berücksichtigt werden. Das bulgarische Tempussystem des Indikativs könnte über drei Beschreibungsachsen grob strukturiert werden, und zwar über die Temporalität, die Resultativität und den Verbalaspekt: • Die temporale Beschreibungsachse. Sie unterscheidet die drei Zeitstufen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. • Die resultative Beschreibungsachse. Die Grammatik der Bulgarischen Akademie der Wissenschaften (Andrejčin 1998, 101) und nach ihr nahezu alle erschienenen Grammatiken (wie beispielsweise Nicolova 2008, 269 oder Pašova 2014, 71) unterteilen die neun bulgarischen Tempora in zwei Gruppen aufgrund der Resultativität. Das Tempussystem wird so mit Hilfe von resultativen und nicht-resultativen Paaren dargestellt: Präsens-Perfekt, Imperfekt-Plusquamperfekt, Futur-Futur Perfekt und Futurum praeteriti-Futurum exactum praeteriti. Der Aorist hat kein Paar. Die Kategorie der Resultativität ist mit der der Relativität in der spanischen und deutschen Grammatik gleichzusetzen (Garibova / Kitova 1996, 61). Der Begriff „Resultativität“ wird in den meisten Werken zur bulgarischen Grammatik und zum bulgarischen Verb aus dem Grund verwendet, weil es erforderlich ist für die Differenzierung zwischen Perfekt (das auch resultatives Präsens genannt wird) und Aorist. • Die aspektuelle Beschreibungsachse. Tempus und Aspekt sind im Bulgari‐ schen, genauso wie in allen anderen slawischen Sprachen, besonders eng verbunden. Rein formal können alle Tempora perfektive und imperfektive Aspektformen vorweisen (Banova 2005, 37). Die Temporalität mancher Zeitformen verhindert aber in einigen Fällen die doppelte aspektuelle Unterscheidung. Der Verbalaspekt bildet trotzdem eine eigene verbale Kategorie, die im Unterschied zum Spanischen Auswirkungen auf nahezu alle Tempusformen hat und die die bulgarische Grammatik außerhalb der verbalen Temporalität ansiedelt (Nicolova 2008, 247). Bei der Beschrei‐ bung des Tempussystems ist es aber nur relevant im Falle der Vergan‐ genheitstempora, bei denen der Verbalaspekt sich nicht nur als eigene grammatische Kategorie manifestiert sondern auch zwei verschiedene Tempusformen aufweist, Aorist und Imperfekt. 221 Bulgarisch L1, Deutsch L2 und Spanisch L3: Die Vergangenheitstempora Einen der gravierendsten Unterschiede zum Deutschen und zum Spanischen bilden die zwei Futurformen der Vergangenheit, die „auf bevorstehende Hand‐ lungen nach einem Bezugsmoment in der Vergangenheit“ hinweisen“ (Gut‐ schmidt 2002, 227). Das Futurum praeteriti (also „щях да чета“) und das Futurum exactum praeteriti („щях да съм чел“) enthalten eine starke modale Komponente, weswegen sie auch als hypothetische Konditionalformen inter‐ pretiert werden könnten. Für die meisten bulgarischen Grammatiker sind sie aber indikativische Formen (Levin-Steinmann 2003, 175). Somit werden die Zukunftstempora in zwei temporal-modale Unterkategorien unterteilt: Das Futur und das Futurum exactum (oder Futur Perfekt) sind zukünftig-reale Tempora, das Futurum praeteriti und das Futurum exactum praeteriti sind präterital-konditionale Zukunftsformen. Modalität → unmarkiert: Indikativ Resultativität → unmarkiert (nicht-re‐ sultativ) markiert (resultativ) Temporalität: • Gegenwart Präsens Perfekt • Vergangenheit • Perfektiv Aorist Plusquamperfekt • Imperfektiv Imperfekt • Zukunft • zukünftig-real Futur Futurum exactum • präterital-kondi‐ tional Futurum praeteriti Futurum exactum praete‐ riti Tab. 1: Das bulgarische Tempussystem im Indikativ nach Radeva (2003, 64sqq.), Nicolova (2008, 261sqq.) und Sánchez Prieto (2014: 48sq.). 3.2 Das deutsche Tempussystem im Indikativ Die deutsche Grammatik geht für gewöhnlich von sechs indikativischen Tem‐ pusformen aus. Das ist der Fall beispielsweise bei Helbig / Buscha (2001, 127), Eisenberg (2006, 106) und sogar - wenn auch implizit - beim Duden (2005, 474) 222 Raúl Sánchez Prieto und - mit Abstrichen - bei Vater (1991). Bei der Erforschung des deutschen Tempussystems sind ebenfalls drei Beschreibungsachsen zu berücksichtigen: • Die temporale Beschreibungsachse. Wie das Bulgarische und das Spa‐ nische, unterteilt das Deutsche die Zeit in die Zeitstufen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. • Die relative Beschreibungsachse. Vier der sechs Tempora, und zwar das Präsens, das Präteritum, das Perfekt und das Futur I, drücken ein zeitliches Verhältnis unmittelbar zur Sprechzeit aus. Es sind also absolute Tempora. Die durch das Plusquamperfekt und das Futur II bestimmte Aktzeit bezieht sich auf die Aktzeit eines anderen Geschehens. Beide Tempora werden also relativ gebraucht. Diese nicht-morphologische und auf die Temporalsemantik Reichenbachs (1947) zurückgehende Unterscheidung ist in vielen Referenzgrammatiken des Deutschen übernommen worden, wie beispielsweise in Klein (2000, 363), Helbig / Buscha (2001, 128), Zifonun et al. (1997, 1712) oder Eisenberg (2006, 111). • Die Beschreibungsachse Narrativität: „Besprochene Welt“ vs. „erzählte Welt“. In Anlehnung an Weinrich (1994, 31) werden hier zwei Tempus‐ gruppen unterschieden. Die eine Tempusgruppe umfasst die Zeitformen Präsens, Perfekt, Futur I und Futur II. Diese Tempora beziehen sich vor allem auf das Dialogische und kommen vorwiegend in der gesprochenen Sprache vor. Zur zweiten Tempusgruppe gehören das Präteritum und das Plusquamperfekt. Beide Tempora dienen dazu, Vergangenes aus einem neutralen Blickpunkt zu erzählen. Aus diesem Grund überwiegt deren Gebrauch in der geschriebenen Sprache. Die Unterscheidung zwischen besprochenen und erzählten Tempora ist bei vielen Grammatikern (wie im Duden 2007, 509) und vor allem in sprachver‐ gleichenden Arbeiten zum Deutschen anzutreffen (wie z. B. Petkov 2000 mit dem Bulgarischen, Sánchez Prieto 2004 mit dem Spanischen oder Rexhepi 2012 mit dem Albanischen), denn sie erlaubt eine für den Sprachkontrast und auch für die Didaktik des Deutschen als Fremdsprache wichtige Unterscheidung im Falle der Zeitformen der Vergangenheit: Anders als im Spanischen und in anderen Sprachen weisen Perfekt und Präteritum im Deutschen keine zeitlichen Unterschiede auf, man kann sie aber durch ihre Zugehörigkeit zur besprochenen oder erzählten Welt voneinander trennen. Diese Trennung widerspiegelt eine kommunikativ-pragmatische Sprechhaltung des Sprechers: Das Perfekt ist eine eher umgangssprachliche Tempusform, das Präteritum dagegen eine hochsprachliche (Helbig / Buscha 2001, 129sq.). 223 Bulgarisch L1, Deutsch L2 und Spanisch L3: Die Vergangenheitstempora Die deutschen Zukunftsformen haben ferner eine starke modale Kompo‐ nente, die bei jeder Gegenüberstellung von Formen berücksichtigt werden muss. Das Tempussystem der deutschen Sprache ist ärmer an Zeitformen als das des Bulgarischen und des Spanischen, was man vor allem an den Vergan‐ genheitstempora beobachten kann. Aus diesem Grund wäre es didaktisch angebracht, bulgarischsprachige Spanischlerner auf die bulgarische Grammatik hinzuweisen. Modalität → unmarkiert: Indikativ Relativität → unmarkiert (absolut) markiert (relativ) Temporalität: • Gegenwart Präsens • Vergangenheit • erzählt Präteritum Plusquamperfekt • besprochen Perfekt • Zukunft Futur I Futur II Tab. 2: Das deutsche Tempussystem (nach Sánchez Prieto 2010, 118sqq.) 3.3 Das spanische Tempussystem im Indikativ Das spanische Tempussystem ist formenreicher als das deutsche aber formen‐ ärmer als das bulgarische. In der traditionellen Grammatik werden acht Tem‐ pora unterschieden, wobei das achte Tempus, das „pretérito anterior“ (also ein Perfectum praeteriti) nicht mehr verwendet wird (Rojo / Veiga 1999, 2900). Das „pretérito anterior“ wird hier nicht berücksichtigt. Die anderen sieben Tempora ergeben sich aus der Verflechtung dreier Beschreibungsachsen: • Die temporale Beschreibungsachse. Die temporale Deixis bildet die Hauptbeschreibungsachse des spanischen Tempussystems (Rojo 1988, 20; Porto Dapena 1989, 17sqq.; Bustos Gisbert 1995, 163sq.; Reumuth-Win‐ kelmann 2011, 152sqq.). Diese Zeitachse hat eine dem Bulgarischen und dem Deutschen unbekannte Besonderheit: Bei den Tempusformen der Vergangenheit ist eine weitere zeitliche Differenzierung nötig, um nahe und ferne Vergangenheitstempora voneinander zu unterscheiden. Das Perfekt bildet die nahe Vergangenheit, das Präteritum (also das „indefi‐ 224 Raúl Sánchez Prieto nido“) und das Imperfekt die ferne Vergangenheit. Dieser Unterschied ist rein zeitlicher Natur und nicht resultativ, wie im Bulgarischen. • Die relative Beschreibungsachse. Genauso wie im Deutschen und ähnlich wie im Bulgarischen kann man die spanischen Tempora in absolute und relative Zeitformen untergliedern: Der Gebrauch der absoluten Tempusformen hängt allein von der objektiven Zeit ab, wohingehen die relativen Tempora die von der Verbform ausgedrückte Handlung nur über eine absolute Form interpretieren können. • Die aspektuelle Beschreibungsachse. Die Aspektopposition perfektiv-im‐ perfektiv im Spanischen wird nur am „indefinido“ (Präteritum) und Imperfekt sichtbar. Sie wird bei einigen sehr einflussreichen Grammati‐ kern wie Bull (1971, 70), Alarcos Llorach (1996, 160sqq.), Hernández Alonso (1996, 414) sowie in der Grammatik der Real Academia de la Lengua (2009, 1676) auch bei der Beschreibung der verbalen Temporalität berücksichtigt. Rojo liefert eine sehr zutreffende Definition des Zusam‐ menspiels zwischen Temporalität und Aspekt im Spanischen: „Así pues, temporalidad y aspecto son dos categorías lingüísticas distintas pero estrechamente relacionadas entre sí, ya que ambas están vinculadas al fenómeno del tiempo“ (Rojo 1991, 33). Der Verbalaspekt wird im Spani‐ schen nur bei den Tempora der fernen Vergangenheit grammatikalisiert: Er ist also, anders als im Bulgarischen, eine dem Tempussystem inhärente Erscheinung. Das spanische Tempusystem im Indikativ teilt also zwei beschreibende Merk‐ male mit dem Deutschen (die Temporalität und die Relativität) und zweieinhalb mit dem Bulgarischen (die Temporalität, die Relativität, solange sie nicht rein resultativ ist, und den Verbalaspekt). Kurzum: Dem spanischen Tempussystem steht das bulgarische Tempussystem näher als das deutsche. Modalität → unmarkiert: Indikativ Relativität → unmarkiert (absolut) markiert (relativ) Temporalität: • Gegenwart Präsens • Vergangenheit - Ferne Vergangen‐ heit Plusquamperfekt 225 Bulgarisch L1, Deutsch L2 und Spanisch L3: Die Vergangenheitstempora perfektiv Präteritum imperfektiv Imperfekt - Nahe Vergangen‐ heit Perfekt • Zukunft Futur I Futur II Tab. 3: Das spanische Tempussystem (nach Sánchez Prieto 2011, 147) 4 Sprachtransfer und Interferenzen Im Folgenden wird der konkrete Gebrauch der spanischen Vergangenheitstem‐ pora im Sprachkontrast zum Bulgarischen und Deutschen dargestellt. Der Sprachvergleich ist didaktisch bedingt unidirektional und geht immer von der Zielsprache Spanisch aus: Es sollen mögliche Sprachtransfer- und auch Interferenzphänomene bei bulgarischsprachigen Lernern erörtert werden, die kompetente Sprecher des Bulgarischen als Muttersprache (oder als erste Zweit‐ sprache) und des Deutschen als Zweitsprache sind. Den folgenden kontrastiven Ausführungen liegt das Konzept der „Bedeutungsvariante“ (Helbig / Buscha 2001, 130; Welke 2005, 121) zugrunde, die auch „Tempusbedeutung“ (Eisenberg 2006, 11) genannt wird. Jedes Tempus verfügt demnach über verschiedene Tempusbedeutungen: Verbaltempora sind per definitionem mehrdeutig. Die Po‐ lysemie der spanischen Tempora hinsichtlich zeitreferentieller und aspektueller Werte bildet eine der Hauptschwierigkeiten beim Erlernen des Spanischen als Fremdsprache. Für die kontrastive Untersuchung der Verwendungsvarianten werden fünf funktionale Beschreibungskriterien herangezogen (Sánchez Prieto 2004, 55): • Das erste Beschreibungskriterium ist die verbale Temporalität, die an‐ hand der von Reichenbach (1947) eingeführten Parameter der Zeitbestim‐ mung die temporalen Koordinaten der Bedeutungsvarianten definiert. Die „temporal points“ werden hier in Anlehnung an Helbig / Buscha (2001, 128) Aktzeit, Sprechzeit und Betrachtzeit genannt. Die meisten Tempusgrammatiker greifen weiterhin auf Reichenbachs Zeitparameter zurück (Meisnitzer 2016, 50). • Das zweite Beschreibungskriteritum ist der Verbalaspekt, der hier bereits kurz skizziert wurde und die hier dichotomisch aufgefasst wird (also perfektiv-imperfektiv). 226 Raúl Sánchez Prieto • Das dritte Beschreibungskriteritum ist die Narrativität, die - wie bereits erläutert - als Sprechhaltung des Sprechers insbesondere für das Deut‐ sche von Bedeutung ist. • Die Aktionsart kann auch eine wichtige Rolle bei der Beschreibung der Bedeutungsvarianten spielen, denn sie kann Beschränkungen beim Gebrauch der Tempusbedeutungen erklären. • Manche Bedeutungsvarianten implizieren modale Lesarten (Kotin 2010, 29), weswegen die Modalität auch berücksichtigt wird (wie auch in vielen Grammatiken und Studien zum Tempus). 4.1 Das spanische Präsens im Kontrast zum Deutschen und zum Bulgarischen 4.1.1 Gegenwartsbezogenes Präsens Beim gegenwartsbezogenen Präsens (also Aktzeit = Sprechzeit = Betrachtzeit) sind kaum Gebrauchsunterschiede in den drei Sprachen zu beobachten. Hier sind keine Interferenzen zu erwarten. Das dürfte der Fall bei allen gegenwarts‐ bezogenen präsentischen Verwendungsweisen sein, wie etwa das punktuelle, das durative, das performative oder das identifizierende Präsens. Das heißt aber nicht, dass bulgarische Spanischlerner überhaupt keine Übertragungsschwie‐ rigkeiten hätten. Diese Schwierigkeiten betreffen eine periphrastische und halb grammatikalisierte spanische Form, nämlich die Verlaufsform. Das bulgarische und das deutsche aktuelle Präsens entsprechen dem spanischen progressiven Präsens: (1) ¿Qué haces/ estás haciendo? Estoy escribiendo una carta (Verlaufsform) Какво правиш? Пиша писмо (Präsens) Was machst du? Ich schreibe (gerade) einen Brief (Präsens) 4.1.2 Vergangenheitsbezogenes Präsens Die Unterschiede sind auch minimal im Falle des vergangenheitsbezogenen Präsens (Aktzeit=Betrachtzeit, beide vor Sprechzeit). Abgesehen, davon dass das historische Präsens, so wie es von Paškov (2002, 142) und anderen Gram‐ matikern wie Nicolova (2008, 275) verstanden wird, auch Bedeutungsvarianten umfasst, die für die spanische und die deutsche Grammatik „szenisch“ wären, sind kaum Divergenzen im Gebrauch festzustellen. 4.1.3 Zukunftsbezogenes Präsens Beim zukunftsbezogenen Präsens (Aktzeit=Betrachtzeit, beide nach Sprechzeit) lässt sich dagegen ein bedeutender Unterschied feststellen. Sowohl Spanischals 227 Bulgarisch L1, Deutsch L2 und Spanisch L3: Die Vergangenheitstempora auch Deutschsprachige benutzen das punktuelle und das durative Zukunftsprä‐ sens sehr häufig, um auf zukünftige Sachverhalte hinzuweisen. Der Gebrauch des sogenannten „сегашно време за близко бьдеще“ (Nicolova 2008, 273), also des „Präsens der nahen Zukunft“, ist in der geschriebenen Hochsprache bei im‐ perfektiv-präfigierten Verben zwar möglich und kann theoretisch die Futurform ersetzen (Andrejčin et al. 1998, 115), aber es wird selten verwendet (Paškov 2002, 144), vor allem in der gesprochenen Sprache. Bei imperfektiv-präfigierten Be‐ wegungsverben und als „Sprechhaltung eines unmittelbaren Erlebens“ (Radeva et al. 2003, 114) ist das bulgarische Zukunftspräsens auch in der gesprochenen Sprache üblich: (2) El miércoles te escribo un email / / Hoy me voy a Burgas (Präsens) Ще ти напиша имейл в сряда (*пиша/ написвам имейл) / / Днес заминавам за Бургас (Futur/ Präsens) Am Mittwoch schreibe ich dir eine Email / / Heute fahre ich nach Burgas (Präsens) Da der prospektive Präsensgebrauch im Bulgarischen kaum vorkommt, sollte der Didaktisierung dieser Bedeutungsvariante besondere Aufmerksamkeit ge‐ schenkt werden. 4.1.4 Modales Präsens Das im Spanischen ebenfalls relativ oft verwendete modale Präsens stellt für bul‐ garische Spanischlerner keine unüberwindbare Hürde dar. Für Bulgaren besteht hier die Schwierigkeit im richtigen Gebrauch des imperativischen Präsens und des Bedingungspräsens. Das imperativische Präsens ist im Bulgarischen auch möglich, wenn auch nicht so üblich (Nicolova 2008, 280). Das imperativische Futur ist die am häufigsten verwendete Alternativform zum Imperativ: (3) Si quieres darle de comer al niño, te lavas las manos (Präsens) Ако искаш да храниш детето, ще си измиеш ръцете (Futur) Wenn du das Kind füttern möchtest, wäschst du dir die Hände (Präsens) Das imperativische Präsens wird im Spanischen auch oft dazu verwendet, eine Bitte vorzutragen. In diesem Fall wird im Bulgarischen ebenfalls das Futur bevorzugt. Im Deutschen ist sowohl eine präsentische als auch eine würde-Form möglich: (4) ¿Me espera un momento? (Präsens) Ще ме изчакате ли един момент? (Futur) Warten Sie bitte einen Moment? / Würden Sie bitte einen Moment warten? (Präsens/ würde-Form) 228 Raúl Sánchez Prieto Hier ist also mit einer pragmatischen Gebrauchsdivergenz zu rechnen. Das Deutsche könnte in solchen Fällen als Hilfe für einen positiven Transfer herangezogen werden. Anders verhält es sich mit dem spanischen Präsens de conatu, das im Deutschen einem Konjunktiv II entspricht (Sánchez Prieto 2010, 109) und im Bulgarischen durch das sogenannte „Präsens in Nebensätzen“ wiedergegeben (Garibova / Kitova 1996, 74) wird, wie wir hier im Beispiel Nummer 5 beobachten können: (5) (Se tropieza y dice: ) Por poco me caigo (Präsens) (Той се спъна и каза: ) Замалко да падна (Präsens) (Er stolpert und sagt: ) Ich wäre beinahe gefallen (Konjunktiv II) Hier, genauso wie beim „presente de aprobación y permiso“ (Gili Gaya 2002, 156), deckt sich der Gebrauch der spanischen Verwendungsweise mit der des Bulgarischen. Das Deutsche erfordert in diesen Fällen ein Modalverb: (6) Le dije: ¿nos vamos? / / Le dije: ¿me voy? (Präsens) Аз й казах: Да тръгваме ли? / / Аз й казах: Да тръгвам ли? (Präsens) Ich sagte zu ihr: Wollen wir gehen? / / Ich sagte zu ihr: Soll ich gehen? (Modalverben) Das ebenfalls modale Bedingungspräsens des Spanischen entspricht einem Conditionalis im Bulgarischen und im Deutschen. Hier ist also kein Transfer möglich: (7) Si lo sé no vengo (Präsens) Ако бях знал това, нямаше да дойда / не бих дошъл (Plusquamperfekt, Conditionalis) Wenn ich das gewusst hätte, wäre ich nicht gekommen (Konjunktiv II) 4.1.5 Das bulgarische relative Präsens Das atemporale Präsens des Bulgarischen, das Andrejčin et al. (1998, 107) „сегашно абсолютно време“ nennen, ist vergleichbar mit dem des Spanischen und Deutschen. Besondere Aufmerksamkeit sollte aber einer anderen bulgari‐ schen, den meisten europäischen Sprachen unbekannten, Tempusbedeutung gezollt werden (Paškov 2002, 143), dem relativen Präsens. Das relative Präsens, das wir bereits als Präsens in Nebensätzen (Radeva et al. 2003: 114) kennenge‐ lernt haben, wird infolge der Consecutio Temporum in Nebensätzen verwendet, deren Temporalität von der im Hauptsatz vorkommenden Verbform bestimmt wird (Andrejčin et al. 1998, 109sqq.): 229 Bulgarisch L1, Deutsch L2 und Spanisch L3: Die Vergangenheitstempora (8) Pienso que no me entiendes / / Pensaba que no me entendías / / Pensaré que no me entiendes (Präsens/ Imperfekt/ Zukunftspräsens) Мисля, че не ме разбираш / / Мислех, че не ме разбираш / Ще мисля, че не ме разбираш (Präsens in den drei Fällen) Ich glaube, dass du mich nicht verstehst / / Ich habe geglaubt, dass du mich nicht verstanden hast / / Ich werde glauben, dass du mich nicht verstehst/ verstehen wirst (Präsens/ Perfekt/ Präsens oder Futur I) Diese Verwendungsweise ist also ein temporal unmarkiertes Präsens, das eine Interferenz für den Bulgarischsprecher darstellen kann. 4.2 Die spanischen Tempusformen Präteritum und Perfekt im Kontrast zum Deutschen und zum Bulgarischen 4.2.1 Vergangenheitsbezogene Bedeutungsvarianten des Präteritums und Perfekts Aufgrund des Präteritumschwunds in der gesprochenen Sprache kann das Deut‐ sche bei der temporalen Unterscheidung des „indefinido“ und des „perfecto“ im Spanischen nicht zu Hilfe gezogen werden. Die vergangenheitsbezogenen Perfekt und Präteritum zeigen dieselben Zeitparameter (Aktzeit vor Sprechzeit, Aktzeit=Betrachtzeit) und sind im Deutschen in der Regel austauschbar, „wenn man eine Veränderung der Stilebene in Kauf nimmt“ (Hentschel / Weydt 2013, 94). Der Gebrauch beider Tempora hängt von der Narrativität und damit vom Sprachregister ab: Das Präteritum ist das Leittempus der erzählten Welt und wird vorwiegend in der geschriebenen Sprache verwendet. In der gesprochenen Sprache überwiegt dagegen das Perfekt. Der Hauptunterschied zwischen „indefinido“ und „perfecto“ ist rein tem‐ poraler Natur (Sánchez Prieto 2004, 73sq.): Das „indefinido“ bezeichnet ein Geschehen, „das in der Vergangenheit eingetreten (und abgeschlossen) ist, und zwar zu einem Zeitpunkt oder in einem Zeitraum, der die Gegenwart ausschließt“ (Vera-Morales 2004, 340). Das „perfecto“ wird dagegen zum Aus‐ druck eines vergangenen aber gegenwartsnahen Ereignisses verwendet. Die Ähnlichkeit zwischen dem spanischen „indefinido“ und dem bulgarischen Aorist („минало свършено време“) einerseits und zwischen dem „perfecto“ und dem bulgarischen Perfekt („минало неопределено време“) andererseits ist größtenteils nur formal, was zu Lernschwierigkeiten führen kann. Im Unterschied zum spanischen „perfecto“ ist das bulgarische Perfekt ein besonders ausgeprägtes resultatives Tempus, also ein Resultatsperfekt. Auch wenn die Resultativität bei imperfektiven Verben schwächer ausgeprägt ist als bei perfektiven (Andrejčin et al. 1998, 141), so wäre vielleicht Paškovs Bezeichnung „сегашно ресултативно време“ zutreffender (Paškov 2002, 153). 230 Raúl Sánchez Prieto Das hat zur Folge, dass das bulgarische Perfekt nur dann einem spanischen „perfecto“ entspricht, wenn die Folge der verbalen Handlung für die Gegenwart von Bedeutung ist, wie in (9): (9) Me he comprado un abrigo nuevo / / Hoy no he visto a mi hermana (Perfekt) Купил съм си ново палто / / Днес не съм виждал сестра си (Perfekt) Ich habe mir einen neuen Mantel gekauft / / Ich habe heute meine Schwester nicht gesehen (Perfekt) Drückt aber das spanische Perfekt ein vergangenheitsnahes Geschehen, das kein offensichtliches Resultat impliziert, so wird im Bulgarischen der Aorist benutzt: (10) Hoy he visto a mi hermana / / Esta semana he ido a un restaurante chino (Perfekt) Днес не видях сестра си / / Тази седмица ходих на китайски ресторант (Aorist) Ich habe heute meine Schwester gesehen / / Diese Woche war ich beim Chinesen (Perfekt/ Präteritum) Nicht selten sind auch Fälle, wo im Spanischen ein „indefinido“, also ein Präte‐ ritum, gebraucht werden muss, weil die verbale Handlung als abgeschlossen gilt und somit zur fernen Vergangenheit gehört, im Bulgarischen aber ein Perfekt, weil die im Prinzip abgeschlossene Handlung die Gegenwart beeinflusst oder als wichtig für den Sprechzeitpunkt erachtet wird: (11) Ayer no vi a mi hermana (Präteritum) Вчера не съм виждал сестра си (Perfekt) Gestern habe ich meine Schwester nicht gesehen (Perfekt) 4.2.2 Gegenwartsbezogene Bedeutungsvarianten des Präteritums und des Perfekts Die selten verwendeten, aber dennoch vorhandenen gegenwartsbezogenen „in‐ definido“ und „perfecto“ signalisieren ein bevorstehendes Geschehen, vor dem vorweggreifend gewarnt wird (Gili Gaya 2002, 157). Diese Verwendungsweise ist im Deutschen nicht möglich (Sánchez Prieto 2004, 97). Das Hochbulgarische könnte diesbezüglich Gebrauch vom Präteritum machen (Nicolova 2008, 292). (12) ¡Dios mío, ya me morí! - gimió la vieja (Präteritum) Божичко, отидох си!  - изпъшка старата (Präteritum) Mein Gott, ich sterbe!  - stöhnte die Alte (Präsens) 231 Bulgarisch L1, Deutsch L2 und Spanisch L3: Die Vergangenheitstempora Hier könnte der Bulgarischsprachige also an das bulgarische Gegenwartsprä‐ teritum anknüpfen, das allerdings sehr selten vorkommt und altmodisch wirkt. 4.2.3 Zukunftsbezogenes Perfekt Das im Spanischen und im Deutschen oft verwendete Zukunftsperfekt (Be‐ trachtzeit=Sprechzeit, beide nach Aktzeit) ist im Bulgarischen auch möglich, und zwar wenn der ausgedruckte Zukunftsbezug resultativ ist und unmittelbar bevorsteht, wie in (13), sowie in Nebensätzen (Beispiel 14): (13) Cuando pasemos la montaña, más o menos hemos llegado (Perfekt) Като прехвърлим онзи баир, кажи-речи сме стигнали (Perfekt) Wenn wir über den Berg kommen, dann sind wir (sozusagen) angekommen (sind wir da) (Perfekt) (14) Si dentro de dos años no me he sacado el carnet de conducir, no podré trabajar de taxista (Perfekt) Ако до две години не съм изкарал шофьорска книжка, няма да мога да работя като шофьор на такси (Perfekt) Wenn ich in zwei Jahren den Führerschein nicht gemacht habe, werde ich nicht als Taxifahrer arbeiten können (Perfekt) Ansonsten ist der Gebrauch des bulgarischen Zukunftsperfekts als Alternativ‐ form zum Futur Perfekt sehr selten anzutreffen (Nicolova 2008, 296sq.). Das spanische und das deutsche Zukunftsperfekt, das gerne als Alternativ zum um‐ ständlicheren Futur Perfekt gebraucht wird, entspricht also dem Futurperfekt im Bulgarischen: (15) El lunes ya ha leído el libro (Perfekt) До понеделник ще е прочела книгата (Futur Perfekt) Bis Montag hat sie das Buch gelesen (Perfekt) Bulgarischsprachige Spanischlerner im deutschen Kontext können also in diesem Fall auf ihre ihre Zweitsprache zurückgreifen. 4.2.4 Modale Bedeutungsvarianten des Perfekts und des Präteritums Das kaum untersuchte modale Perfekt des Spanischen (Sánchez Prieto 2004, 133) hat imperativischen Charakter und kann die Befehlsform ersetzen. Das Bulgarische und das Deutsche können nur Gebrauch des Imperativs machen: 232 Raúl Sánchez Prieto (16) ¡Ya te has callado! (Perfekt) Млъкни! (Imperativ) Sei gefälligst still! (Imperativ) Das modale Präteritum wird im Spanischen in Analogie zum Präsens de conatu dazu verwendet, eine beinahe eingetretene Tatsache auszudrucken. Hierfür kann man drei verschiedene Lösungen in den drei Sprachen finden, denn das Bulgarische bevorzugt das modale Präsens und das Deutsche das Konjunktiv II. Das modal-temporale Zusammenspiel des Spanischen geht im Bulgarischen teilweise und im Deutschen ganz verloren. (17) Por poco no lo mató el toro (Präteritum) Бикът замалко да го убие (Präsens) Der Stier hätte ihn beinahe getötet (Konjunktiv II) 4.3 Das spanische Imperfekt im Kontrast zum Deutschen und zum Bulgarischen Das aspektuell motivierte Imperfekt kommt nicht im Deutschen vor. Da -wie wir sehen werden- Spanisch- und Bulgarischsprecher das vergangenheitsbezogene Imperfekt in nahezu identischer Art und Weise verwenden, haben bulgarische Spanischlerner weitaus weniger Probleme mit dem richtigen Gebrauch des „imperfecto“ als etwa Deutschsprachige. Vorausgesetzt, natürlich, dass der deutsche Spanischlehrer sie diesbezüglich auf die Gemeinsamkeiten zwischen beiden Sprachen Aufmerksam macht. 4.3.1 Vergangenheitsbezogenes Imperfekt Beim vergangenheitsbezogenen Imperfekt (Aktzeit=Betrachtzeit, beide vor Sprechzeit) sind kaum Unterschiede zwischen dem Spanischen und dem Bulga‐ rischen festzustellen. Das „imperfecto“ und das „минало несвършено време“ werden sowohl bei länger andauernden, gewohnheitsmäßigen Handlungen als auch bei einem iterativen und/ oder gleichzeitigen Geschehen in der Vergangen‐ heit verwendet: (18) Todas las mañanas María se levantaba pronto y desayunaba antes de ir a trabajar (Imperfekt) Всяка сутрин Мария ставаше рано и закусваше, преди да отиде на работа (Imperfekt) Maria stand jeden Morgen früh auf und frühstückte, bevor sie zur Arbeit ging (Präteritum) 233 Bulgarisch L1, Deutsch L2 und Spanisch L3: Die Vergangenheitstempora Eins der wenigen Lernhindernisse, das beim spanischen Imperfekt überwunden werden müsste, ist der progressive Aspekt, also die imperfektive Verlaufsform der Vergangenheit, die dem Bulgarischen unbekannt ist und hauptsächlich dann gebraucht wird, wenn die imperfektive verbale Handlung durch ein anderes vergangenes Geschehen unterbrochen wird, wie in (19): (19) Estaba durmiendo tranquilamente cuando la despertaron unos gritos (progressives Imperfekt) Тя спеше спокойно, когато я събудиха викове (Imperfekt) Sie hat friedlich geschlafen, als sie von Geschrei geweckt wurde (Perfekt, Präteritum auch möglich) 4.3.2 Gegenwartsbezogenes Imperfekt Dem ludischen Imperfekt des Spanischen, einer gegenwartsbezogenen Bedeu‐ tungsvariante des Imperfekts, entspricht im Deutschen das Präsens (Cartagena / Gauger 1989, 376) und im Bulgarischen einer Futurform. (20) Vamos a jugar a príncipes y princesas. Tú eras el príncipe y yo la princesa (Imperfekt) Нека да играем на принцеси! Ти ще бъдеш принцът, а аз - принцесата (Futur) Lass uns Prinz und Prinzessin spielen! Du bist der Prinz und ich die Prinzessin (Präsens) 4.3.3 Zukunftsbezogenes Imperfekt Das spanische und das bulgarische Imperfekt sowie das deutsche Präteritum können auch eine futurische Bedeutung implizieren. Lernprobleme sind hier nicht zu erwarten: (21) ¿Cuándo y dónde era mañana la reunión? (Imperfekt) Кога и къде беше утре събирането? (Imperfekt) Wann und wo war morgen die Versammlung? (Präteritum) (Ich kann mich nicht mehr erinnern) 4.3.4 Modales Imperfekt Das modale Imperfekt des Spanischen, dem in der Forschung besondere Auf‐ merksamkeit geschenkt wurde (Sánchez Prieto 2004, 169sq.), kann nur über das Bulgarische erschlossen werden. Das Imperfekt de conatu entspricht den temporal-modalen Koordinaten des Futurum praeteriti im Bulgarischen. Diese Bedeutungsvariante wird im Deutschen mithilfe eines Modalverbs im Präte‐ ritum übertragen: 234 Raúl Sánchez Prieto (22) Ya me iba cuando llegó (Imperfekt) Тъкмо щях да тръгвам, когато дойде (Futurum praeteriti) Ich wollte schon gehen, als sie ankam (Modalverb im Präteritum) Das ist auch der Fall in irrealen Bedingungssätzen: Anstelle des umgangs‐ sprachlich anmutenden konditionalen Imperfekts des Spanischen wird im Bulgarischen ebenfalls das Futurum praeteriti gebraucht, das ebenfalls zur gesprochenen Sprache gehört und, wie im Spanischen, als Ersatzform zum Conditionalis dient: (23) Si tuviera dinero, me compraba/ compraría un deportivo (Imper‐ fekt Subjunktiv - Imperfekt/ Conditionalis) Ако имах пари, щях да купя/ бих купил спортна кола (Imper‐ fekt-Futurum praeteriti/ Conditionalis) Wenn ich Geld hätte, würde ich ein Sportauto kaufen (Konjunktiv/ würde-Form) In der Protasis wird im Bulgarischen auch ein Imperfekt gebraucht. Im Spani‐ schen (und im Deutschen) ist hier nur eine Konjunktivform möglich. Das Höflichkeitsimperfekt ist sowohl im Spanischen als auch im Bulgarischen möglich. In beiden Sprachen ist es eine Alternativform zum noch höflicheren Conditionalis (und im Spanischen auch noch zum sehr höflichen Imperfekt Subjunktiv): (24) Quería/ querría/ quisiera pedirte un favor (Imperfekt/ Conditio‐ nalis/ Imperfekt Subjunktiv) Исках/ бих искал да те помоля за една услуга (Imperfekt/ Con‐ ditionalis) Ich möchte dich um einen Gefallen bitten (Konjunktiv II) Es ist also festzustellen, dass bulgarischsprachige Spanischlerner einen besseren Zugang zu den spanischen Tempusbedeutungen über die eigene Muttersprache als über ihre Zweitsprache haben. 4.4 Das spanische Plusquamperfekt im Kontrast zum Deutschen und zum Bulgarischen Die Verwendung des vergangenheitsbezogenen Plusquamperfekts unter‐ scheidet sich kaum in den drei Sprachen: Die drei Zeitparameter stimmen vollständig überein. Im Falle des modalen Plusquamperfekts können divergie‐ rende Verwendungsweisen festgestellt werden. So ist das Plusquamperfekt in Konditionalsätzen: Das Plusquamperfekt ist im Spanischen in der Apodosis möglich, im Bulgarischen dagegen nur in der Protasis. 235 Bulgarisch L1, Deutsch L2 und Spanisch L3: Die Vergangenheitstempora (25) Si me hubieran visto me habían/ habría pegado (Plusquamperfekt Subjuntiv - Plusquamperfekt Indikativ/ Conditionalis) Ако ме бяха видяли, щяха да ме пребият (Plusquamperfekt-Fu‐ turum praeteriti) Wenn sie mich gesehen hätten, hätten sie mich geschlagen (Kon‐ junktiv II) 5 Zusammenfassung und Ausblick Kontrastive Arbeiten zum verbalen Tempusgebrauch romanischer, germani‐ scher und slawischer Sprachen sind in der europäischen Forschungslandschaft, auch in der Tertiärsprachendidaktik, leider eine Seltenheit. In diesem Beitrag wurde der Versuch unternommen, die Tempusbedeutungen des Deutschen, des Bulgarischen und des Spanischen kontrastiv darzustellen. Ziel der Arbeit war es, Sprachtransfer und Interferenzen aufzuzeigen, die bulgarischsprachige Schüler beim Erlernen des Spanischen als Schulsprache in Deutschland an‐ treffen können. Der grammatische Sprachkontrast stand damit als Basisarbeit im Dienste einer migrationsbedingten Fremdsprachendidaktik. Wie im Beitrag festgestellt werden konnte, kann und muss die kontrastive Grammatik eine Schlüsselrolle in der Tertiärsprachendidaktik spielen. Wer sich als Spanischlehrer in Deutschland beispielsweise mit der bulgarischen Grammatik beschäftigt, der wird erstaunt feststellen, dass bulgarischsprachige Spanischlerner einen besseren Zugang zu den spanischen Tempusbedeutungen über die eigene Muttersprache als über das Deutsche haben. Diese Gemeinsam‐ keiten, die zu einem positiven Transfer führen können (z. B. im Bereich des Imperfekts), sollten im Unterricht genutzt werden. Die gewonnenen Erkentnisse können aber leider nur begrenzt auf die kontrastive Grammatik und Tertiärspra‐ chendidaktik der drei Sprachfamilien übertragen werden, denn das bulgarische Verbalsystem nimmt eine Sonderstellung innerhalb des Slawischen ein. Wir brauchen aber auf jeden Fall eine mehrsprachlich orientierte kontrastive Grammatik und eine für die kontrastive Grammatik offenere Fremdsprachen‐ didaktik. Literatur Alarcos Llorach, Emilio. 1996. Gramática de la lengua española. Madrid: Espasa-Calpe. Andrejčin, Ljubomir at al. 1998. Gramatika na săvremenija bălgarski knižoven ezik. Sofia: Abagar. Banova, Savelina. 2005. Bălgarskijat glagol. Sofia: S.U. Kliment Ohridski. 236 Raúl Sánchez Prieto Berschin, Benno. 2014. „Romanische Mehrsprachigkeit: Spanische nur Brücke? Oder auch Relais? “, in: Robles i Sabater / Reimann / Sánchez Prieto 2014, 127-138. Blommaert, Jan. 2011. „Superdiversiteit“, in: Samenleving & Politiek, 18 (9), 24-35. Bull, William. 1971. 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Entlang der Analyse einer Stand-Up-Comedy-Sequenz fokussiert der vorliegende Beitrag zweierlei: 1) die Mehrsprachigkeit, Sprachkontrastierung und Sprachinterferenzkomik im Kontext des DaZ-Erwerbs von Arabischsprech‐ enden und 2) situativ-interaktive Produktion von kulturellen Mehrfachzugehö‐ rigkeiten. Hierzu werden kultursoziologische Analysen mit denen der interakti‐ onalen Soziolinguistik und der Sprachkontrastierung verbunden. Abschließend wird diskutiert, wie die interkulturelle sprachkontrastive Komik in Lehr- und Lernkontexten angewendet werden kann. Thematisch eingebunden ist der Beitrag in das DFG-Forschungsprojekt „Migration und Komik. Soziale Funktionen und konversationelle Potentiale von Komik und Satire in den interethnischen Beziehungen Deutschlands“, das von der Autorin zwischen 2012 und 2016 am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen durchgeführt wurde. 2 Komik als analytisches Instrument Ausgang der Komikanalyse bilden Theorien des Komischen (aber auch zu verwandten Begriffen wie Witz, Lachen, Komisches und Humor) in der Sozio‐ 1 Mehr zu Theorien der Komik siehe Bachmaier 2005, Müller-Kampel 2012, Leontiy 2013a, 2013b, 2014, 2017. logie (Dupreel 1928, Zijderveld 1976, Peter L. Berger 1998), Psychologie (Freud 1940/ 1963), Anthropologie (Plessner 1941/ 1982), der Linguistik (Kotthoff 1998, Günthner 1996, Thielemann 2008 und viele andere) und der Literaturwissen‐ schaft (Preisendanz 1970, Müller-Kampel 2010, Wirth 2017) 1 . Viele Theorien beziehen sich auf Funktionen der Komik und belegen, dass sich Komik zur Diagnose der Gesellschaft, zur Normierung und in-/ out-group-Bildung, Akkul‐ turation und Wissensvermittlung, und nicht zuletzt zur psychischen Entlastung eignet. Den Kern der Komik bilden sog. Inkongruenz- und Kontrasttheorien, die seit dem 17. Jh. bekannt sind. Eine plötzliche Wahrnehmung der Inkongruenz zwischen einem Begriff und dem dadurch bezeichneten Gegenstand erzeugt nach Schopenhauer das Lächerliche. Von der soziologischen Komikforschung, die sich primär mit sozialen Funk‐ tionen der Komik und mit schriftlichen Witzen (wie Zijderfeld 1976 und Peter L. Berger 1998) befasst, ist die interaktionale Komikforschung zu unterscheiden. Es ist ein relativ junges Forschungsgebiet, das Aktivitätstypen des konversation‐ ellen Humors und ihre Funktionen im Gespräch zum Fokus hat. Eine prominente Vertreterin auf diesem Gebiet im deutschsprachigen Raum ist Helga Kotthoff, die sich seit den 1990er Jahren mit dem mündlichen Humor und Aktivitätstypen in der Scherzrede wie Anekdoten, ironischen Aktivitäten, konversationellen Karikaturen, narrativen Witzen u. a. befasst (cf. Kotthoff 1998). Es konnte gezeigt werden, dass Scherze auf ein in hohem Maße geteiltes Hintergrundwissen der Beteiligten angewiesen sind, um verstanden zu werden. Sowohl die verfügbare Geschichte sozialer Beziehungen der Anwesenden als auch die lokal entste‐ hende Interaktionsgeschichte werden für die Produktion von Scherzen genutzt. Zu unterscheiden ist die mündliche Scherzkommunikation vom schriftlichen Witz durch ihre performative Ausgestaltung, so dass Komikeffekte auch ohne oder noch vor der Pointe hervorgerufen werden können. Somit eignet sich die Analyse kulturspezifisch geprägter, pragmatisch im Alltag oder auf der Bühne eingesetzter Formen der Komik im besonderen Maße dafür, soziale Ordnungen und Beziehungen, selbst- oder fremderzeugte Zuge‐ hörigkeitskonstruktionen zu untersuchen und so im Rahmen der empirischen Sozialforschung, in diesem Fall der Interaktionsforschung, eingesetzt zu werden. Im Vorfeld der Analyse der ausgewählten Komiksequenz sollen Begrifflich‐ keiten sowie Wahrnehmungsaspekte im Umgang der Komik geklärt werden, um mögliche Missverständnisse zu vermeiden. 242 Halyna Leontiy 2.1 Enger vs. weiter Komik-Begriff Unter zahlreichen Komik-Definitionen sind die von Zijderveld und von Kot‐ thoff hervorzuheben: Zijderveld setzt Humor als Oberbegriff und versteht darunter „das Spielen mit bestehenden und institutionalisierten Sinninhalten in der Gesellschaft“ (Zijderveld 1976, 23), während Kotthoff Humor und Scherz‐ kommunikation „als Formen von Rede [definiert], die mit Inkongruenz und Sinnkonstitution spielen und Gelächter nach sich ziehen“ (Kotthoff 1996a, 19). Im vorliegenden Beitrag wird Komik als Oberbegriff gewählt. Humor (in seiner ursprünglichen Bedeutung) wird dagegen kognitiv definiert über die Perzeption des Komischen als Fähigkeit des Menschen, auf schwierige Lebenssituationen mit Humor in einer heiter-gelassenen Art zu reagieren. Das Lachen ist dabei eine Reaktion auf die Fähigkeit zur Komik-Perzeption, die v. a. im mündlichen Humor auch zur Initiierung einer komischen Situation eingesetzt wird. Des Weiteren wird zwischen einem engen und einem weiten Komikbegriff unterschieden. Komik im engeren Sinne heißt ein ambivalentes Spiel mit Inkongruenz und Sinnkonstitution. Dem steht der weite Komik-Begriff entgegen, der, um in der Rhetorik von Helmut Plessner der „künstlichen Natürlichkeit“ bzw. „natürlichen Künstlichkeit“ der menschlichen Natur (Plessner 1982, 15sqq.) zu bleiben, das „ernst Unernste“ und „unernst Ernste“ meint. Damit wird auf die Ambivalenz der Komik hingewiesen, die in ihrer pragmatischen Auffassung je nach sozialer Situation, soziokulturellem und politischem Kontext, je nach Beziehungsstatus und Motiven der Interagierenden unterschiedlich gedeutet wird. „Komik erweist sich - wie sie intendiert ist, um- und aufgesetzt wird und wie sie wirkt - als kulturelle Praxis, so gruppen-, milieu- und klassenspezifisch wie alle kulturellen Praxen und auch so durchdrungen von Machtbeziehungen, Hierarchien und der Autorität wie sie“ (Müller-Kampel 2012, 36). Diesem Beitrag wird somit Komik als ein pragmatisch-situatives, analytisches Modell zugrunde gelegt. 2.2 Wahrnehmung der Komik Dies hat nun einen Einfluss auf die Wahrnehmung der Komik: Ein Komik‐ stück muss nicht von jedem Publikum als lustig empfunden werden. Nicht selten bietet Komik Anlass für Irritationen oder sogar Empörung. Auch jeder mündlich stilisierte Witz ist situativ: In einer Situation wird er als komisch empfunden, in einer anderen überhaupt nicht. Im Unterschied zu einem Witz, der sich durch eine bestimmte Struktur, kryptische Form, Typisierung und Stilisierung auszeichnet, hat eine komische Geschichte oder eine Anekdote einen lebensweltlichen Bezug und ist auf die performativen, künstlerischen und rhetorischen Fähigkeiten der erzählenden Person angewiesen. Die Wahrneh‐ mung einer komischen Geschichte hängt aber auch von der sozialen Beziehung 243 Sprachinterferenzkomik, Sprachkontrastierung und kulturelle Mehrfachzugehörigkeit der beteiligten Personen ab. Deswegen funktioniert Scherzkommunikation im Freundeskreis, in Peer Groups oder in Familien vom Wiedererkennungseffekt der Charaktereigenschaften von Personen, auf die angespielt wird. Und nicht zuletzt: Es ist auch nicht zwingend notwendig, Komik zu emp‐ finden, wenn man Komikanalyse betreibt. Komik lebt vom Wiedererkennungs‐ effekt. Hier spielen Unterschiede in Erfahrungen, soziokultureller Herkunft und Zugehörigkeit, Kenntnis der Künstler/ innen und vieles mehr eine große Rolle. Es ist somit zwischen Komikproduktion, Komikwahrnehmung und Komikana‐ lyse zu unterscheiden. 3 Interkulturelle Komik, RebellComedy und Benaissa Lamroubal Comedy und Kabarett allochthoner Künstler/ innen wurde in den letzten 20 Jahren seitens verschiedenster Wissenschaften in den Blick genommen (z. B. von Terkessidis 2000, Kotthoff 2004a, El Hissy 2012, Kotthoff / Shpresa / Klingenberg 2013, Leontiy 2017, Saucedo-Anez 2017, Spielhaus 2017, um nur einige wenige zu nennen). In ihrem Aufsatz über Kaya Yanar zeigt Kotthoff, wie der Komiker mit Ethnizität (ethnischen Stereotypen, Habituswissen etc.) arbeitet und damit zur Bildung einer selbstbewussten, nicht mehr im Fokus der sozialen Diskriminie‐ rung stehenden, Minderheit beiträgt (Kotthoff 2004a, 184sq.). Die EthnoComedy von Kaya Yanar wurde v. a. beim jungen Migranten-Publikum gefeiert, so dass Kotthoff „die Konstitution einer mehrkulturellen Ingroup“ feststellt, „die ethnisches Scherzen austestet“ (ibid., 197) und Yanar somit eine „thematische Neuausrichtung der massenmedialen Komik“ gelingt (ebd.). Jedoch sah die Situation bereits zehn Jahre später vollkommen anders aus. Die gesamte „Ethno“-Komik-Szene hat sich stark ausdifferenziert. Deutsch-türkisches Kaba‐ rett von Fatih Cevikkollu, Django Asül u. a., ComedyKabarett von Aydin Isik, CartoonComedy von Muhsin Omurca oder stark politisch orientierte Komik von Idil Baydar (Rassismus im Fokus) grenzten sich von der bisherigen EthnoCo‐ medy von Kaya Yanar und Bülent Ceylan explizit ab. In diese Abgrenzungslinie reiht sich auch die RebellComedy ein. Es handelt sich um eine Stand-Up-Comedy-Gruppe junger Männer, ge‐ gründet von Babak Ghassim und Usama Elyas, wobei zum Kern der Gruppe weitere Personen gehören wie Benaissa Lamroubal und bis 2018 auch Puyan Yavari. Was sie verbindet, sind ihre Hobbies Hip-Hop- und Rap-Musik, Basket‐ ball sowie die Zugehörigkeit zu islamischen Traditionen. Sie sind Nachkommen einstiger Migrant/ innen aus Nordafrika und dem Mittleren Osten (Iran, Paläs‐ 244 Halyna Leontiy 2 Aus dem Interview der Autorin mit RC am 06.02.2011 nach der 9. Show in Köln im Rahmen des Forschungsprojekts „Migration und Komik“. 3 Aus dem Interview der Autorin mit RC am 08.03.2013 nach ihrer Show in Aachen im Rahmen des Forschungsprojekts „Migration und Komik“. 4 Aus dem Interview der Autorin mit RC am 06.02.2011 nach der 9. Show in Köln im Rahmen des Forschungsprojekts „Migration und Komik“. 5 Ausdrücklicher Dank für die Kontaktvermittlung zu RC gehört Saliha Kubilay. tina), wobei einige in Deutschland geboren sind und andere im Kindesalter nach Deutschland kamen. Entsprechend ihrer Herkunft, Ausbildung und Lebensführung können Re‐ bellComedy-Mitglieder der bürgerlichen Mittelschicht zugeordnet werden: Sie kommen aus Ärztefamilien oder aus politisch aktiven Familien. Alle Crewmit‐ glieder weisen einen (Fach-)Hochschulabschluss nach oder streben ihn an. Mindestens zwei von ihnen (Benaissa und Khalid) haben ein Lehramtsstudium absolviert. Einige sind verheiratet und haben Kinder, so dass sie ihre Vaterrolle in der Comedy thematisieren. Viele von ihnen sind künstlerisch begabt und standen bereits früh mit Musik, Tanz und Poesie auf der Bühne. Sie reprä‐ sentieren somit nicht die den Migranten gern zugeschriebene bildungsferne Schicht, sondern können als soziale Aufsteiger bezeichnet werden. RebellComedy wurde 2009 in Abgrenzung zur deutschen Mainstream-Komik gegründet; die Abgrenzung äußert sich bereits im Namen „Rebell“. Als Grund für die Abgrenzung wird die Nicht-Identifikation mit der deutschen Main‐ stream-Fernseh-Komik aufgrund marginalisierter Darstellungen genannt: „und die Ausländer, die waren Witzfiguren, oder wir waren Klischee, und das hat uns gestört“ 2 . Die jungen Comedianten erheben einen Authentizitätsanspruch: „Es geht einfach um die Authentizität. Dass man das Gefühl hat, man kann sich mit dem Zeug, was sie da reden, identifizieren. Was wir hier sehr wenig hatten. (…) Hier haben wir das kaum, weil hier ist es wirklich ähm meistens sehr aufgesetzt ähm oder jemand kommt mit einer Perücke, ist nicht er selbst, erzählt nicht aus seinem Leben, sondern erzählt wirklich nur also beinah Klamauk oder etwas über ein Leben, was wir so nicht kennen, wo es nicht so viele Schnittmengen gibt.“ 3 Inspiriert durch die „schwarze“ Comedy aus den USA beschlossen die jungen Männer, ihre eigene, in ihren Lebenswelten des Alltags begründete, Bühnenkomik zu produzieren. Dabei schöpften sie Ideen für die Comedy aus ihrem Alltag: „aus unseren Situationen, auf jeden Fall. Die sind oft so lustig, so anders (…) das Leben als Schwarzkopf ist oft traurig, man fängt an das mit Humor zu sehen.“ 4 Im Jahre 2011, als die Autorin RebellComedy kennenlernte 5 , gehörten zu der Crew neun Personen, die sich international verorten. Visualisiert wurde 245 Sprachinterferenzkomik, Sprachkontrastierung und kulturelle Mehrfachzugehörigkeit 6 Eine ähnliche Story ist in einem Youtube-Video zu sehen, cf. Benaissa über Elternsprech‐ tage und über seinen Vater. das dadurch, dass hinter den Namen auf dem Flyer (Vornamen, aber auch Nicknames) stets zwei Herkunftsländer bzw. -orte notiert wurden: Gondebak (Aachen/ Tehran), Ususmango (Aachen/ Mekkah), Choukri (Düsseldorf/ Nador), Benaissa (Neuss/ Marokko), Pu (Münster/ Teheran), Havva (Essen/ Türkei), Cem (Neuss/ Düsseldorf), Murad (Aachen/ Palästina), Leyla (Deutschland/ Türkei). Auch Gäste ihrer Shows werden nach diesem Muster verortet: Abdelkarim (Bielefeld/ Jerada), Costa aka Illmatic (Frankfurt/ Griechenland), Robster (Ham‐ burg/ Ungarn) usw. Bereits hier lässt sich eine erste Mehrfachkategorisierung beobachten. Während RebellComedy 2010/ 11 noch weitgehend unbekannt war, ist sie inzwischen mit einer eigenen Webseite präsent (cf. RebellComedy) und bei WDR unter Vertrag. Ihre Mitglieder sind oft in deutschen Comedy-Sendungen wie Nightwash, TV Total, Mitternachtsspitzen, Cindy aus Marzahn, 1Live oder Generation Gag zu sehen. Auch die Zusammensetzung des Teams hat sich inzwischen verändert: Während die beiden Gründer, gefolgt von Benaissa Lamroubal, geblieben sind, fehlen die Frauen komplett. Enissa Amani, früheres Crewmitglied, moderierte 2016 eine eigene Late-Night-Show auf ProSieben und tritt nun, wie auch einige RebellComedy-Mitglieder, mit ihrer eigenen Solo-Show auf (cf. Enisa Amani). Zu den neuen „Rebells“ gehören Khalid Bounouar und Hani Siam. Im Folgenden wird eine Komiksequenz aus dem StandUp von Benaissa Lam‐ roubal analysiert. Diese Sequenz stammt aus einer von WDR aufgenommenen RebellComedy-Show aus dem Jahr 2017 und war auf der Facebookseite von RebellComedy zu finden. 6 4 Sprachinterferenzkomik, Sprachkontrastierung und kulturelle Mehrfachzugehörigkeit Die Komiksequenz weist einen mehrstufigen Aufbau auf, wobei dieser dem eines Witzes - Einleitung und sequenzieller Aufbau der Pointe - äh‐ nelt. Zunächst wird die Komik gerahmt und kontextualisiert. Anschließend bringt der Komiker mehrere kurze Beispiele sprachkontrastiver Komik „Ara‐ bisch-Deutsch“. Zum Schluss wird eine explikative Episode anhand der kom‐ munikativen Gattung „Elternsprechtag“ vorgestellt, die wiederum mehrstufig aufgebaut ist: Nach einem ausführlichen Kontextaufbau erfolgt die Darstellung einer konkreten Episode in Funktion einer Pointe. 246 Halyna Leontiy 4.1 Deutsch Lernen für Marokkaner (Min. 00: 00-03: 40) BL = Benaissa Lamroubal, P = Publikum 1 BL: Say oho!  - oho!  - Say yehe!  - Yehe! - Say 2 [[spricht eine unverständliche Sprache, ähnlich dem Arabischen]] 3 hahahaha einige haben es echt gekonnt! 4 P: [[Publikum applaudiert und jubelt]] 5 BL: Haaaa! schöne Stimmung, schöne Stimmung hier. So. Ihr habt 6 ma davon gehört, wir widmen diese Show unseren Großeltern, 7 aber nicht nur unseren Großeltern, sondern auch unseren 8 Eltern. Für mich ist auch der witzigste Mensch, den ich 9 kenne, ist mein Vater. Mein Vater. Allerwitzigste Mensch. 10 Auf Marokkanisch absichtlich witzig, auf Deutsch weiß er gar 11 nicht, wie witzig der ist. 12 P: hahahaha 13 BL: Er weiß es gar nicht. Deutsch ist eigentlich für Marokkaner 14 oder generell für Leute aus dem Orient sehr schwer zu 15 lernen. die meisten Deutschen wissen das gar nicht. Aber es 16 ist SEHR SEHR SCHWER! Ganz anderes Sprachsystem, anderes 17 Schriftsystem. Ich merk es an meinem Vater, wie viel 18 Probleme der mit Deutsch hat. Erstmal die Konjugation, so. 19 Im Deutschen ist erst die Person, dann das Verb. Ich habe. 20 Du hast. Im Arabischen genau andersrum. Hast du. Hab isch. 21 P: hahahaha 22 BL: Mein Vater weiß das, und um sicher zu gehen, benutzt er 23 immer beides. Isch habe isch. 24 hahahaha 25 BL: Du hast du 26 P: hahahaha [[Applaus]] 27 BL: Sehr problematisch. 28 P: [[Applaus]] 29 BL: Andere Sache die ihm auch viele Probleme macht, ist die 30 höfliche Anrede, Sie. So was gibts bei uns nicht. Es gibt 31 keine Sie, und Du. Unterschied davon. Alles ist Du. 32 Mein Vater wenn er Sie benutzt, benutzt er das immer falsch. 33 Wir gehen z. B. zu meinem Neffen, so, 34 »Möchten Sie spielen? « ((verstellt)) 35 P: hahahaha 36 BL: »Möchten Sie mit mir spielen? « ((verstellt)) und Du: hu benutzt 37 er auch falsch. In letzter Zeit benutzt er nur noch Du. 247 Sprachinterferenzkomik, Sprachkontrastierung und kulturelle Mehrfachzugehörigkeit 38 Egal wer vor ihm steht. Vor ihm konnte Merkel stehen, 39 er würde sagen „Du hast du gut geredet, isch hab isch 40 disch gesehen.“ ((verstellt)) 41 P: hahahaha 42 BL: „Hab isch disch Fernsehen gesehen“ ((verstellt)). 43 Ist schwierig. ist sehr schwierig. Was noch den meisten 44 Arabern Probleme macht an der deutschen Sprache ist, 45 guckt mal, ihr Deutschen habt erstmal viel zu viele Vokale. 46 Was ist los mit euch? Was das für Buchstaben so? A: : e: : : 47 i: : o: : u: : dann noch Umlaute, ä: : ö: : : ü: : : was für ä ü? 48 Was ist los mit euch? Seid ihr Türken oder seid ihr Deutsche 49 hehe? 50 P: hahahaha 51 BL: ä: : : i: : : : 52 P: [[Applaus]] 53 BL: Ja! Dann macht ihr noch Witze über die Türken, so, 54 ich kauf ein ü, hahaha, ja, kauf eins für dich selber, 55 hohohoho 56 P: hahahaha 57 BL: Hast du doch auch ? ? ? Ist doch so! wenn überhaupt jemand 58 Witze machen darf über Vokale, und über Umlaute, dann sind 59 es die Araber. Weil die armen Araber haben wirklich nur drei 60 Vokale. a, i, o. Das wars. Kein Unterschied zwischen i und 61 e. Mein Vater versteht den Unterschied zwischen liegen und 62 legen, versteht er nicht. Ich sag immer Papa, das sind zwei 63 verschiedene Wörter, und er dann, „Wo hörst du? 64 Liegen=legen, gleische! “ ((verstellt)) 65 P: hahahaha 66 BL: „Isch hör nisch. Legen-legen, ist gleisch! “ ((verstellt)) 67 P: hahahaha 68 BL: o und u. Auch kein Unterschied. Kochen und Kuchen, 69 Ding der Unmöglichkeit. 70 P: hahahaha 71 BL: Ey, „versteht er nicht! “ ((lachend)) „Kokhen=kokhen, 72 kokhen=kokhen, gleische Wort! “ ((verstellt)) 73 P: hahahaha 74 BL: „Warum eine so, eine so? “ ((verstellt)) 75 P: [[Applaus]] 76 BL: Versteht er den Unterschied nicht. Und noch eine Sache wo 77 es keinen Unterschied gibt, p und b! Keine Unterschiede. 78 In Marokko wenn du jemanden Pepsi bestellen hörst, 248 Halyna Leontiy 79 du schmeißt dich weg. Ein Bibsi 80 P: hahahaha 81 BL: „Eschuldige, ich möschte ein Bibsi bitte“ ((affektiert)) 82 P: hahahaha 83 BL: Pommesbude/ Bumesbude 84 P: hahahaha 85 BL: was ist da los? 86 P: [[Applaus]] 87 BL: Was ist bitte da los? „Eschuldigen Sie bitte, isch hab 88 Hunger, wo ist hier ein Bumsbude? “ ((verstellt)) 89 P: hahahaha 90 BL: Du suchst tatsächlich ne Bumsbude, Alter? Das ist doch 91 nicht dein Ernst! Kein Unterschied zwischen ch und sch. 92 Teppich/ Tippisch\ 93 P: hahahaha 94 BL: Dreckich/ drikisch\ Und das Allerschlimmste (-) 95 Aschenbecher/ Eschembeschem\ 96 P: hahahaha 97 BL: „A hole mir ein Eschembeschem“ ((verstellt)) 98 P: hahahaha 99 BL: Für mich war auch immer sehr witzig so. Ich musste nie 100 in eine ComedyShow gehen, ich hatte immer meinen Vater 101 auf Deutsch angesprochen, war immer sehr witzig für mich. 4.1.1 Rahmung und Kontextualisierung der Komik In den ersten 17 Zeilen gestaltet BL eine Rahmung/ Kontextualisierung der darauffolgenden Komikperformanz, was für die stilisierte, mündliche Komik üblich ist (cf. Kotthoff 1998). Die Komik von RebellComedy entstammt ihrem Alltag, den sie zum autochthon deutschen Alltag kontrastierend positionieren. Dazu gehören auch die intergenerationellen Beziehungen zwischen der Gene‐ ration der in Deutschland geborenen und/ oder sozialisierten Kinder und der Generation der im Erwachsenenalter migrierten (Groß-)Eltern. Später werden unkonkrete Bezugspersonen auf die Figur des Vaters fokussiert. Ihm wird besondere Witzigkeit zugeschrieben („allerwitzigste Mensch“, Z.9), womit die Figur des Vaters von der Autoritätsperson zum Komik- oder besser gesagt Frotzelobjekt herabgestuft wird. Diese Witzigkeit stellt er in zwei Sprachen unter Beweis, und zwar in „Marokkanisch“ (intendiert) und in Deutsch (nicht intendiert). Die Bezeichnung „Marokkanisch“ steht für eine Sprachvarietät des Arabischen. Dabei ist Marokko ein mehrsprachiges Land, dessen Bewohnern ebenso ein hoher Grad an Mehrsprachigkeit zugeschrieben werden kann: 249 Sprachinterferenzkomik, Sprachkontrastierung und kulturelle Mehrfachzugehörigkeit 7 Es handelt sich um eine Sprach- und Dialektgruppe der afroasiatischen Gruppe in Nordafrika, auch Tamazight genannt. Zurzeit wird vom königlichen Institut IRCAM ein standardisiertes Hochberberisch geprägt und soll zunehmend in den Schulen eingeführt werden. Cf. Sochorek 2011. Die Staatssprache ist klassisches Arabisch, die Umgangssprache dagegen ein arabischer Dialekt „Darija“, auch Kreolsprache oder Marokkanisch-Arabisch genannt. Die zweite Amtssprache war aufgrund französischer Besatzung lange Zeit Französisch, das heute eine verbreitete Bildungssprache ist. Seit dem 17.6.2011 ist Berberisch bzw. Tamazight die zweite Amtssprache. 7 Des Weiteren wird im Norden des Landes, im sogenannten Spanisch-Marokko, auch Spanisch gesprochen. Als nächstes führt BL zwei kollektive Personenkategorien ein: Marokkaner und eine weitere Generalisierung: „Leute aus dem Orient“, denen ein kollektives Merkmal zugeschrieben wird, das ihren Deutscherwerb erschwert. Dies bezieht der Sprecher nicht auf kulturelle oder sonstige Faktoren (denkbar wäre z. B. das Alter), sondern rein auf Sprachstrukturen, auf die er anschließend eingeht. Bei konkreten Beispielen der Sprachkontrastierung fungiert Arabisch, also die erste Staatssprache Marokkos, als Ausgangssprache der Kontrastierung. Dem entgegen steht das Deutsche mit einem „ganz anderen Sprachsystem, anderen Schriftsystem“ (Z.16). Nach dieser kontextualisierenden Einführung geht der Darsteller auf die Sprachkontrastierung explikatorisch ein. 4.1.2 Sprachkontrastierung und Komik Die Sprachkontrastierung und darauf aufbauende Komik betrifft verschiedene linguistische Ebenen, die im Folgenden aus analytischen Gründen getrennt dargestellt werden. 4.1.2.1 Morphosyntax Zum einen betrifft dies die Morphosyntax, wie die Verbstellung, die in beiden Sprachen unterschiedlich ist: Deutsch ist eine V2-Sprache und es liegt ein verbaler Stil vor. Im Deutschen ist das topologische Feldermodell sehr wichtig, das die Verbposition im Satz erklärt. Die Syntax weist eine eher synthetische Struktur auf, die viele Funktionswörter (z. B. Präpositionen) beinhaltet. Viele Sprachen wie Türkisch, Arabisch, Chinesisch, Thai, Polnisch, Russisch, Italie‐ nisch, Französisch, Romani weisen keine Unterschiede zwischen der Verbstel‐ lung im Hauptsatz und im Nebensatz auf. Sie kennen auch keine Satzklammer. Die Inversionsregeln des Deutschen sind daher schwer zu erwerben, weil diese Sprachen entweder eine feste Satzgliedfolge haben (wie das flexionsferne 250 Halyna Leontiy Türkisch, Thai oder Mandarin bzw. das flexionsarme Englisch) oder aber eine sehr freie (wie Polnisch, Russisch, Ukrainisch) (vgl. Beiträge in Leontiy 2013c). Beim Arabischen handelt es sich um eine introflektierende Sprache, d. h. dass grammatische Formen durch Veränderung der Wortform durch Ablaut erzeugt werden; die Ablautung ist die Regel. Die Grundbedeutung der Wörter liegt in den Konsonanten (drei Buchstaben bilden eine Wurzel). Durch Ablautung, Vor- und Nachsilben werden Substantive und Verben gebildet. Bei der Syntax gibt es zwei mögliche Wortstellungen: S-V-O und V-S-O. Die Wortstellung ist im Hauptsatz und Nebensatz gleich. BL kontrastiert das Arabische vom Deutschen in Bezug auf die Konjugation, bringt aber Beispiele einer Verbstellung VSO, was etwas verwirrt: „hab isch“, „hast du“. Gemeint ist dabei, dass die Personalpronomen meist durch die konjugierte Form des Verbs bestimmt sind und nur dann verwendet werden, wenn dies nicht hinreichend ist oder wenn sie besonders hervorgehoben werden sollen (cf. Arabische Grammatik, Das Personalpronomen). Es ist noch keine Komik produziert worden, doch das Publikum lacht bereits an dieser Stelle, weil es genau weiß, was nun kommt, worauf BL anspielt und weil diese Beispiele allgemeinbekannte ethnolektale Sprechformen darstellen (cf. Androutsopoulos 2011). Es gehört zur mündlichen Erzählperformanz von Witzen, dass Komikef‐ fekte bereits bei der stilisierenden und typisierenden Gestaltung der Protago‐ nisten erzeugt werden und noch vor der Pointe gelacht wird (cf. Kotthoff 1998, 108sqq.). Die Komik entsteht aus den sprachlichen Interferenzen: SVO und VSO werden vermischt, so dass es zur Doppelbesetzung des Subjekts (in diesem Fall des Personalpronomens) und somit zur Abweichung von Grammatikregeln beider Sprachen („isch hab isch“, „du hast du“) führt. Auf dieser, durch den Normbruch der Grammatikregeln bestimmten, abweichenden Sprachprodukti‐ onen wird Komik erzeugt. Der Figur des Vaters als Sprachkomikproduzenten wird dabei eine Absicht zugeschrieben: Er verfüge zwar über das Wissen der beiden unterschiedlichen Sprachsysteme (in diesem Fall: Morphosyntax), in Unsicherheit der Sprachanwendung wende er jedoch die beiden Regeln zugleich an. Es handelt sich somit um eine Hyperkorrektur, die die Komik verstärkt. Die hier dargebotene Komik entsteht also aufgrund einer Inkongruenz, jedoch nicht der Begriffe, sondern der Sprachregeln und der Sprachpraxis. Im Laufe der gesamten Sequenz werden diese Interferenzen mehrmals wiederholt, so dass die uninformierten Zuhörer/ innen es sich gut merken können. Des Weiteren werden morphosyntaktische Fehler präsentiert wie Auslassung von Präpositionen und Artikeln („hab isch disch Fernsehen gesehen“, „in Schule“), bei der Deklination der Adjektive und Verbstellung im Nebensatz („isch weiß 251 Sprachinterferenzkomik, Sprachkontrastierung und kulturelle Mehrfachzugehörigkeit 8 Allerdings herrscht im Arabischen eine Vielzahl an Anredeformen, die verschiedene Beziehungsebenen zwischen Personen markieren. Respektpersonen werden mit „ya sidi“ (oh mein Herr) bzw. „ya chanem“ (oh meine Dame) angesprochen. isch nicht was ist los mit diese Junge“) oder bei der Konjugation des Verbs („auch der ist telefonieren mit Mädschen“). 4.1.2.2 Pragmatik Als nächstes geht der Darsteller auf die Ebene der Pragmatik ein. Zur pragma‐ tischen Kompetenz gehören die Wahl von Anredeformen, Regeln der Höflich‐ keit, Direktheit/ Indirektheit, Gebrauch von Personalpronomina (ich/ wir) sowie Angemessenheit der Sprechhandlungen/ Sprechakte (Fragen, Versprechen, Be‐ fehle, Bitten). Typische Fehler sind hier falsches Register, Stilbruch, kulturell unangemessenes Sprachverhalten. Der Darsteller expliziert dies an den Höflich‐ keitsformen und stellt das Arabische in Opposition zum Deutschen vor: Im Unterschied zum Deutschen würde es im Arabischen keine Unterscheidung zw. „Du“ und „Sie“ geben, es gäbe ausschließlich das „Du“. 8 Die falsche Anwendung in Form der Vertauschung von Höflichkeitsformen „Du/ Sie“ erzeugt die Inkongruenz und somit die Komik. Die Wahl der extremen Beispiele eines Kindes sowie der Bundeskanzlerin sind ebenfalls typisch für die Komikdarstellung. Die Sie-Anrede für ein Kind ist lächerlich, die Du-Anrede für die Bundeskanzlerin dagegen familiär und unhöflich. 4.1.2.3 Phonetik/ Phonologie Als nächstes führt der Darsteller eine weitere problemzentrierte Sprachebene ein, nämlich die der Phonetik und Phonologie. Dabei erklärt er nicht jedes Sprachsystem separat, sondern hängt das Spracherwerbsproblem an der deut‐ schen Sprache auf, die er als Abweichung von einer imaginären Norm darstellt: „Ihr Deutschen habt viel zu viele Vokale“, als gäbe es ein Richtmaß der Vokalmenge in einer Sprache. Dies kommuniziert er als Vorwurf: „Was ist los mit euch? “ (Z.46) Dann spricht er überdeutlich im Stakkato die einzelnen Laute/ Umlaute aus und wiederholt den Vorwurf. Die Darstellung des deutschen Vokalsystems enthält eine Bewertung. Zugleich wechselt der Sprecher die Positionen und zeigt, dass er auch nicht zu den Deutschen gehört: Er sagt z. B. nicht „wir Deutsche haben viel zu viele Vokale“. Er gehört aber auch nicht zu der Kategorie von denjenigen, die Schwierigkeiten beim Deutscherwerb haben, denn er sagt auch nicht „wir Araber haben es mit dem Deutschen schwer“, sondern spricht von „den meisten Arabern“ und von „armen Arabern“. Vielmehr positioniert er sich als Experte von beiden Sprachen, also als ein Mehrsprachiger, ohne eine explizite identitätstechnische Selbstzuschreibung 252 Halyna Leontiy 9 Da viele Komik-Künstler inzwischen auch in den Ländern ihrer Eltern oder vor Diaspora auftreten, z. B. Fatih Cevikkollus türkisches Programm, wären kontrastive Analysen hierzu sinnvoll. 10 Analog zu Hirschauers (2014) Konzepten des „doing“, „undoing“ und „non doing“ gender. 11 Siehe dazu Arbeiten von Susanne Günthner zur Frotzelkommunikation, z. B. Günthner (1996). zu vollziehen. Allerdings sagen BLs Selbst- und Fremdzuordnungen in diesem Stand-Up noch nicht viel über seine eigenen Positionierungen aus; in anderen Kontexten, z. B. als deutscher Lehrer vor einer Gruppe marokkanischer Deutsch‐ lernenden oder vor einem Diaspora-Publikum würde er sich ggf. anders posi‐ tionieren. 9 Diese multioptionalen Positionierungen sind üblich für das Zeitalter der Globalisierung und Migrationsströme. Somit positioniert er sich abseits der dualistischen Unterscheidbarkeit „zugehörig-fremd“ oder „Eigenes-Fremdes“, „Muttersprache-Fremdsprache“, „L1-Lx“, indem er eine polarisierende Selbstzu‐ ordnung verweigert und damit das „undoing“ oder das „nicht doing“ 10 betreibt. Anschließend folgt der Vergleich mit dem Türkischen, das durch das Um‐ lautsystem bekannt ist, explikativ sowie zur Komikerzeugung herangezogen. Dabei wird aufgrund der Existenz von Umlauten sowohl im Türkischen als auch im Deutschen eine Gemeinsamkeit hergestellt. Das Publikum lacht und applaudiert. Diese Sequenz kann für die Komik-Gattung des Frotzelns stehen, ist also in der Ambivalenz von Spaß und Ernst angesiedelt. 11 Das arabische Alphabet hat lediglich drei Vokale (a, i, u) und zwei Diphthonge, dafür aber 28 Konsonanten. Auf dem Unterschied im phonetischen System der beiden Sprachen baut der Darsteller die komischen Interferenzen auf: Unterschiede im Konsonantensystem: • „Pepsi-Bibsi“, „Pommesbude-Bumsbude“ (b/ p: bilabiale Plosive, Unter‐ schied stimmhaft/ stimmlos); • „Teppich-Tippisch“, „drekich-drikisch“, „Aschenbecher-Eschembeschem“ (Koronalisierung des ich-Lautes; betroffen sind Frikative: post-alveolar „ʃ“ und palatal „ҁ“). Unterschiede im Vokalsystem: • „liegen-legen, gleische“ (beides vordere Vokale, die sich nach der Zun‐ genhöhe unterscheiden: mittlerer Vokal „e“ ggü. hohem Vokal „i“); • „kochen-Kuchen“, „kokhen-kokhen (beides hintere hohe Vokale). Phonologisch sind diese Beispiele damit zu erklären, dass sie sog. Minimalpaare, also Paare von Wörtern mit unterschiedlicher Bedeutung, bilden, die sich genau 253 Sprachinterferenzkomik, Sprachkontrastierung und kulturelle Mehrfachzugehörigkeit 12 In einem soziologischen Forschungskolloquium, wo diese Komiksequenz diskutiert wurde, evozierten diese Beispiele gar Erinnerungen an die Vorfälle der sexuellen Belästigung während der Kölner Silvesternacht 2015. in einem Lautsegment unterscheiden: „liegen“ und „legen“ unterscheiden sich bezüglich der Eigenschaft „mittel/ hoch“ beim zweiten Segment. Die Komik wird durch phonetische Interferenzen erzeugt, wobei manche Beispiele einfach komisch im Sinne „merkwürdig“ klingen (Tippisch, drikisch), während andere zu semantischen Verschiebungen führen und eine neue Bedeu‐ tung kreieren. Das Wort Pommesbude bekommt durch die falsche Aussprache eine obszöne Bedeutung „Bumsbude“. Zudem lässt dieses Beispiel die Erwar‐ tungen der Zuschauer kollabieren: Das Obszöne, das Peinliche wird nicht erwartet. Preisendanz spricht dabei vom „Umkippen von einem Kontext in einen anderen“ (Preisendanz 1970, 21) bzw. von einem „Kollaps des Erwartungs‐ schemas“ (ibid., 28). Obszöne Ausdrücke, die unbeabsichtigt erzeugt werden, rufen Schamgefühle hervor und verstärken die Komikwahrnehmung (die Komik ist neben der Kognition im Bereich des Emotionalen angesiedelt). Diese Evo‐ zierung sexualisierter Kontexte aktualisiert zugleich ethnische Stereotype, die im Publikum sicherlich vorhanden sind. 12 Im Unterschied zum Witz evoziert mündliche Komik auch Anspielungen, die nicht intendiert werden. An dieser Stelle möchte ich auf eine kulturelle Signifikanz aufmerksam machen: Dass diese, Komik erzeugenden, phonologischen Interferenzen in der Kommunikation zwischen Vater und Sohn überhaupt zustande kommen, deutet daraufhin, dass die beiden auf Deutsch kommunizieren. Das ist in der Tat für viele Migrantenfamilien nicht ungewöhnlich und widerspricht dem gängigen Vorurteil, Migranten sprächen zu Hause nur ihre eigene Landessprache. 4.2 Explikation anhand der kommunikativen Gattung „Elternsprechtag“ Als nächstes soll die Episode „Elternsprechtag“ analytisch betrachtet werden, welche die Kulmination des StandUp-Auftritts darstellt. (Min. 3: 40-6: 00) 102 BL: Und ich hatte immer zwei große ComedyShows im Jahr. 103 Elternsprechtag. 104 P: hahahaha 105 BL: Elternsprechtag war die größte Comedysache für mich 106 überhaupt. Du kommst allein die Aufmachung schon. 107 Erstmal merkst du richtig den Unterschied zwischen 108 arabischen Eltern und deutschen Eltern. Deutsche Eltern 109 kommen zum Elternsprechtag, weil die wirklich interessiert 254 Halyna Leontiy 110 sind. hehe. Die wollen wirklich wissen, was ist mit meinem 111 Kind los, wie läuft der Unterricht? und alles Mögliche. 112 Und die verteidigen ihre Kinder auch, die sind wie 113 Rechtsanwälte. Du kannst gar nichts gegen die Kinder sagen. 114 Wenn du sagst so, „ja: : Christian ist in letzter Zeit nicht 115 so gut in Mathe und alles Mögliche“ ((verstellt ernst)), 116 die Eltern direkt so, „darf ich ja bitte den Lehrplan 117 sehen? “ ((verstellt ernst)) 118 P: hahahaha 119 BL: Bei uns gabs so was nicht. Unsere Eltern gehen mit uns 120 zum Elternsprechtag, um uns gemeinsam mit dem Lehrer 121 fertig zu machen. 122 P: hahahaha [[Applaus]] 123 BL: Das ist der Grund. Es gibt- 124 P: [[langer Applaus]] 125 BL: Also mein Vater war immer froh, dass er jemanden auf seiner 126 Seite hat! Deswegen ist er mit mir gegangen! Manchmal bin 127 ich mit ihm zum Elternsprechtag gegangen, er sitzt nicht 128 neben mir, er sitzt neben dem Lehrer. 129 P: hahahaha 130 BL: „Baba, komm, du musst dich hier hinsetzen“. Und ich hatte 131 so in der siebten, achten Klasse hatte ich sehr viele 132 Probleme in der Schule, so. Also meine Noten waren immer 133 schlechter. Ein bisschen Scheiße gebaut, keine großartige 134 Scheiße, ich war einfach nur auf einmal an Mädchen 135 interessiert. Auf einmal so, Mädchen - WOW! und keine 136 Hausaufgaben mehr gemacht, gar nichts. Voll nachgelassen. 137 Meine Klassenlehrerin fand das sehr problematisch. 138 Meine Klassenlehrerin hieß Frau Wagner. Und sie zu mir 139 „Benaissa, dein Lehrdein Vater muss auf jeden Fall zur 140 Schule kommen“ ((verstellt)). Weil er ist nicht so gerne 141 gegangen. Und ich musste ihn drei Wochen lang überreden, 142 ich so, „Baba, du musst zum Elternsprechtag, komm, 143 Frau Wagner will dich unbedingt sehen“ ((verstellt ernst)). 144 Irgendwann sagte er zu mir „ja. isch komme isch“. ((verstellt)) 145 P: hahahaha 146 BL: Also habe ich ihn mitgenommen, und wir sitzen beim 147 Elternsprechtag, und Wagner sagt Folgendes zu ihm. 148 „Herr Lamroubal, ich hab in letzter Zeit sehr viele 149 Probleme mit Benaissa. Er ist ständig unkonzentriert, 150 macht kaum Hausaufgaben, ist nur noch mit den Mädchen 255 Sprachinterferenzkomik, Sprachkontrastierung und kulturelle Mehrfachzugehörigkeit 151 beschäftigt und seine Noten gehen in den Keller.“ 152 Jetzt kommt mein Vater, seine Antwort. „Äh, Frau Waginar.“ 153 P: hahahaha 154 BL: „Frau Waginar, Frau Waginar.“ 155 P: [[Applaus]] 156 BL: „Ah, isch weiß isch nicht was ist los mit diese Junge. 157 Der ist immer nur mit Mädchen, der guckt immer nur auf 158 Mädschen zu Hause, auch der ist telefonieren mit Mädschen, 159 und Frau Waginar“ 160 P: hahahaha 161 BL: „was sagsts du, bitte? Der geht mit Nutten in Keller? ? “ 162 P: hahahaha [[Applaus]] 163 BL: „Hier in Schule? In Schule? ? “ ((verstellt, entsetzt)) 164 P: [[Applaus]] […] Für die Analyse dieser Sequenz soll das Konzept der kommunikativen Gattungen herangezogen werden, das Thomas Luckmann (1986) auf Basis der Erkennt‐ nisse aus der philosophischen Anthropologie, der Sprachphilosophie und der literaturwissenschaftlichen Gattungstheorie entwickelte. Gemäß der Logik der Kommunikationssoziologie von Luckmann ist die soziale Welt kommunikativ aufgebaut: Handlungs- und Lebenssinn sowie die gesamten Wissensvorräte einer Gesellschaft entstehen in kommunikativen Vorgängen und werden ge‐ sellschaftlich weiterverarbeitet. Wir eignen uns die soziale Wirklichkeit in intersubjektiven, kommunikativen Vorgängen an, die in soziale Interaktion eingebettet sind. Dabei bilden sich im kommunikativen Handeln typische Muster aus, die intersubjektiv gefestigt werden, eine erwartbare Form des Hand‐ lungsverlaufs darstellen und eine Entlastungsfunktion für die Interagierenden erfüllen. Diese Muster nennt Luckmann kommunikative Gattungen. Sie haben eine vorgeprägte Struktur, d. h. kommunikative Mittel und kommunikative Bedingungen werden strukturell vorbestimmt und von der jeweiligen Gesell‐ schaft bereitgestellt, was auch kulturelle Gebundenheit und interkulturelle Unterschiede im Gattungswissen begründet (cf. Luckmann 2002a). Luckmann unterscheidet für die Realisierung kommunikativer Gattungen zwischen drei Ebenen: 1) der Ebene der Binnenstruktur, wozu Sprache, Stilformen und kom‐ munikative Register gehören, 2) der interaktiven Realisierungsebene (oder Zwischenstruktur), wozu die Regelungen der Dialogizität, der Redezugabfolge, Indikationen einer sozialen Beziehung etc. gehören, und 3) der Ebene der Außenstruktur, die sich aus der Beziehung zwischen kommunikativem Handeln und der Sozialstruktur ableiten lässt (cf. Luckmann 1986 und 2002b). 256 Halyna Leontiy Bezogen auf die analysierte Komiksequenz stellt sich die Frage, inwiefern bei der inszenierten Figur des Vaters das Wissen um die Gattung „Elternsprechtag“ vorhanden ist. Zum einen lässt er sich mehrfach darum bitten, die Einladung zum Gespräch mit der Lehrerin anzunehmen, was entweder das fehlende Interesse oder die Unsicherheit im Umgang mit dieser Gattung indiziert, da ihm Wissen um diese Gattung womöglich fehlt. Wie in der interaktionalen Soziolinguistik mehrfach gezeigt, können Gattungstraditionen verschiedener kultureller Gruppen divergieren, oder scheinbar gleiche Gattungen werden un‐ terschiedlich realisiert, was zu kommunikativen Missverständnissen und nega‐ tiven Folgen für Beteiligte führen kann. Dies zeigt Günthner (2001) am Beispiel der kommunikativen Gattung Sprechstundengespräche, die den chinesischen Germanistikstudierenden völlig unbekannt ist. Auer (1998) stellt bei der Analyse von ost- und westdeutscher Bewerbungsgesprächen fest, dass ostdeutsche Bewerber/ innen mit dieser institutionellen Gattung Schwierigkeiten haben, da sie in den DDR-Zeiten nicht zum kommunikativen Haushalt gehörte. Kotthoff (2002) macht auf kulturspezifische Differenzen bei der Realisierung der Gattung wissenschaftlicher Vortrag bei deutschen und russischen Wissenschaftler/ innen aufmerksam, um nur einige Beispiele zu nennen. Betrachtet man die Realisierung der kommunikativen Gattung „Eltern‐ sprechtag“, so können Brüche zumindest auf den beiden ersten Ebenen festge‐ stellt werden: Auf der Ebene der Binnenstruktur zieht der Vater falsche Register und spricht die Lehrerin unhöflich per Du an. Die falsche Aussprache des Namens der Lehrerin erzeugt einen obszönen Kontext und könnte ebenfalls zur Verletzung der Binnenstruktur gezählt werden. Die interaktionale Bezie‐ hungsebene ist in der Komiksequenz nicht ausreichend ausgebaut. Es gibt lediglich einen Turn: die Rede der Lehrerin und die Reaktion des Vaters darauf. Dennoch lassen sich hier zwei kommunikative Handlungen feststellen: Zum einen bestätigt er die Feststellung der Lehrerin, sein Sohn sei unaufmerksam und nur an Mädchen interessiert. Zum anderen missversteht er den idiomatischen Ausdruck „in den Keller gehen“ (was Komik erzeugen sollte) und reagiert mit Entrüstung („hier in Schule? In Schule? “). Phonetische Interferenzen, die, wie bereits oben gezeigt, obszöne Bedeutung kreieren und Lachen aus Scham hervorrufen, sind auch in dieser Episode zu finden. Die Autorität der Lehrerin wird somit doch geschwächt. Das semantische Feld „Bildungsinstitution“ wird in den Kontext „Prostitution“ gesetzt, womit ein Tabu verletzt wird. Der Zwischenebene kann ebenso das räumliche Verhalten des Vaters zugeordnet werden: Er setzt sich nicht neben seinem Sohn, den er als gesetzlicher Vormund vertritt, sondern neben der Lehrerin, womit er die Figur der Lehrerin als Autoritätsinstanz zu der (erfolglosen? ) Erziehung seines Sohns heranzieht. Hier 257 Sprachinterferenzkomik, Sprachkontrastierung und kulturelle Mehrfachzugehörigkeit 13 Vgl. Portes / Rumbaut 2001; Phalet / Schönpflug 2001, Rabold / Diehl 2005, Boos-Nün‐ ning / Karakaşoğlu 2005, um nur einige zu nennen. stellt er die Autorität der Institution Schule nicht in Frage. Diese Episode wird im Kulturkontrast deutsch-marokkanisch stilisiert, wobei den deutschen Eltern ein gegenteiliges Verhalten zugeschrieben wird: Sie fungieren als Anwälte ihrer Kinder und treten in Opposition zur Institution Schule auf. Dass der Sohn seinen Vater bei der Ausführung seiner Rolle in dieser kommu‐ nikativen Gattung korrigiert, ist ein Indiz für die Macht- und Rollenumkehr in Migrantenfamilien, was in der Forschung hin und wieder gezeigt wurde: Kinder, die in Deutschland aufwachsen, bekommen Rollen der Experten zugeordnet oder übernehmen diese Rollen selbst, während ihre Eltern mit Sprach- und Kom‐ munikationsschwierigkeiten kämpfen. Es betrifft die Gastarbeitergeneration genauso wie die deutschstämmigen Migranten aus der ehemaligen Sowjetunion. Es gibt neben der sog. Solidaritätsthese, die einen engen Zusammenhalt in migrierten Familien bedeutet, auch die Konfliktthese, die von Spannungen und Auseinandersetzungen der Eltern-Kind-Beziehungen zeugt. Einige Studien weisen auf den elterlichen Autoritätsverlust aufgrund der besseren sprachlichen Anpassung der Kinder und somit des Rollentauschs hin. 13 4.3 Situativ-interaktive Realisierung kategorialer Mehrfachzugehörigkeit und das Figurationsmodell nach Elias Die in diesem Beitrag analysierte Komiksequenz ergibt weitere, auch für die Pädagogik und Sprachdidaktik relevante, Analysethemen, die im Rahmen dieses Beitrags nicht ausführlich bearbeitet werden konnten. Hierzu gehört die kul‐ turbezogene Reflexion. Inzwischen herrscht unter Wissenschaftlern Einigkeit darüber, dass Personenkategorien wie Gender, Kultur oder Ethnizität keine natürlichen Eigenschaften von Menschen und auch keine festen Gebilde sind, sondern Ergebnis gesellschaftlich machtvoller Konstruktions- und Differenzie‐ rungsprozesse. Auch ist nicht jede Dimension von Vielfalt konstant und in jeder sozialen und kommunikativen Situation relevant, sondern ihre Relevanz wird kontext- und situationsabhängig hergestellt (das sog. ‚doing‘/ ‚undoing‘ Differences). Die mehrperspektivische Interaktionsanalyse der interkulturellen Komik erlaubt m. E. über die sprachliche Reflexion hinaus auch kulturbezogene Reflexion. Zu fragen ist: In welchen gesellschaftlichen Kontext wir diese Komik eingebettet? Welche Zugehörigkeitskategorien werden an welchen Stellen in der Interaktion aktiviert? Wo, an welchen Stellen wird Ethnizität konstruiert und wo nicht? Wo und wie wird Ingroup-Outgroup hergestellt? Wie positioniert sich der Sprecher in Bezug auf diese Kollektivkategorien? 258 Halyna Leontiy Eine Möglichkeit, sich dieser Frage nach dem Umgang mit Kategorien zu nähern wäre die Analyse des Pronomengebrauchs mit Hilfe des Figurationsmo‐ dells der „Fürwörterserie“ in der Soziologie von Norbert Elias (2009). Darunter wird der elementarste Koordinatensatz an Pronomen verstanden, der dazu dient, anzuzeigen, welche der Grundpositionen dieses Beziehungsgeflechts jemand in der Kommunikation einnimmt (ibid., 133). Im Unterschied zu konkreten Positionssätzen wie Vater-Mutter-Tochter-Sohn, die sich in der Kommunika‐ tion auf die gleichen Personen beziehen, können Pronomen in der akuten Kommunikation mehrere Personen bezeichnen. Dieses wandelnde Muster, das die Interagierenden in einer sozialen Situation bilden, bezeichnet Elias als Figuration (ibid., 142). Es gibt kein „ich“ allein, denn es schließt stets die Mitgedachten Anderen mit ein. Es gibt kein „ich“ ohne „du“, kein „wir“ ohne „sie“ usw. Den Gebrauch von Pronomen sieht Elias als Anzeichen für Unterschiede in der Struktur der betreffenden Gruppen, in den Beziehungen der Menschen und in der Art, wie diese Beziehungen erfahren werden (ibid., 135). Pronomen drücken die Position in der Beziehung zum jeweils Sprechenden oder zur ganzen Gruppe aus. Aus diesen Gründen eignet sich das Figurationssystem der Pronomenserie für die Analyse der Selbst- und Fremdkategorisierungen, der gesellschaftlichen Positionierungen oder des Interdependenzgeflechts sozialer Beziehungen. Folgende Figurationen lassen sich in der Komik-Sequenz unter‐ scheiden: „wir/ unser - ihr“ (Z.5-7): Die 1. Figuration stellt zunächst die Rahmung der Show dar: Das Publikum steht im Plural, die Show-Crew auch im Plural. Diese Beziehung ist zunächst nicht kulturell geladen. „ich/ mich - er/ ihm (mein Vater)“ (Z.8-13, 17sqq.): Hier liegt die 2. Figuration in Form einer Vater-Sohn-Beziehung vor, die kulturell konnotiert wird: Der Vater ist Marokkaner, dem Sprachschwierigkeiten im Deutschen und nicht intendierte Komikproduktion zugeschrieben wird. Die kulturelle Zugehörigkeit des Sohns wird durch seine Zugehörigkeit zum marokkanischen Vater konstruiert. „Marokkaner/ Leute aus dem Orient - die meisten Deutschen“ (Z.13-16): Es sind zwar keine Pronomen, sondern Substantive, sie markieren jedoch Gruppen von Menschen, denen kollektive Eigenschaften hinsichtlich der geographischen bzw. nationalen Positionierung, und zwar in Bezug auf den Deutscherwerb, zugeschrieben werden. „bei uns“: Diese Wir-Zugehörigkeit in Z.30 ist ein Verhandlungsgegenstand. Während die Darstellung der Sprachinterferenzen auf die Figur des Vaters bezogen ist, stellen die Kollektivkategorien wie die obigen den Referenzrahmen dar: Nicht allein der Vater hat diese Schwierigkeiten, sondern es geht „generell“ den „Leuten aus dem Orient“ so. Hier aber positioniert sich der Darsteller zum 259 Sprachinterferenzkomik, Sprachkontrastierung und kulturelle Mehrfachzugehörigkeit ersten Mal selbst als zugehörig zu dieser kulturellen Kollektivkategorie. Diese Zugehörigkeit ist jedoch nicht auf die Sprachschwierigkeiten bezogen, denn er sagt nicht „uns macht es Probleme“, sondern allein auf die Zugehörigkeit zum pragmatischen Sprachsystem und der Regel „höfliche Anrede“ in Form von Pronomen „Du/ Sie“, also die Zugehörigkeit zur arabischen Sprachgemeinschaft. „den meisten Arabern/ die Araber/ die armen Araber - ihr Deutsche(n)“ (Z.43-59): Hier wird am Beispiel der Kontrastierung im Vokalsystem erneut eine kollektive Opposition konstruiert: diesmal nicht geographisch (Marokko, Orient), sondern in Bezug auf Ethnizität oder Nationalität (Araber). Zu der Kategorisierung kommt nun die Wertung hinzu, die beim Publikum vermutlich Mitgefühl mit dieser Sprechergemeinschaft erzeugen soll. Zugleich distanziert er sich selbst von dieser Kategorie (er sagt nicht „wir, arme Araber“). In dieser Sequenz positioniert der Sprecher zum ersten Mal sich selbst in Bezug auf die Zugehö‐ rigkeit zur Kategorie „Deutsche“: Er sagt „ihr Deutschen“, was bezogen auf das vorherige „bei uns“ logisch ist (es ist nicht doppelt belegt, wobei das „bei uns, Arabischsprechenden“ und „bei uns, Deutschsprechenden“ in Bezug auf Bilingualismus denkbar wäre). Hier findet die Abgrenzung aufgrund der Erstsprache statt. „Die Türken“ (Z.49, 54): Eine weitere Sprachzugehörigkeit wird zur Komiker‐ zeugung herangezogen. Dabei wird aufgrund der Existenz von Umlauten sowohl im Türkischen als auch im Deutschen eine Gemeinsamkeit hergestellt. „Arabische Eltern - deutsche Eltern“ (108sqq.): Hier findet die Zuschreibung der konträren, kulturell bedingten, Elternrollen statt; deutsche Eltern fungieren als Anwälte ihrer Kinder, während arabische Eltern als Verstärker der Leh‐ rerrolle/ Erziehungsinstanz auftreten. Die beiden Kategorien verwendet der Sprecher explikativ, wobei seine Zuordnung feststeht. Bei der Erzeugung der Komik verwendet der Darsteller somit Kollektivkate‐ gorien nicht wahllos, sondern kreiert eine Quantifizierung und Validierung, und positioniert sich selbst in Bezug auf diese Kollektivkategorien. Er aktiviert meh‐ rere kulturelle Kategorien, die er in Kontrast zur deutschen Zugehörigkeit stellt: „wir“ als Angehörige von Migranten aus Ländern wie Marokko und „Orient“ und „ihr“ als das deutsche/ deutschsprachige Publikum. Diese kategorialen Zugehörigkeitszuschreibungen und Positionierungen vollzieht BL in Bezug auf diese „Gruppe“. Vergleicht man die Shows von RebellComedy in der Zeit bevor sie medial bekannt wurde, so sehen die Zugehörigkeitskonstruktionen etwas anders aus: Es wird mehr von „uns“ sowohl auf der Bühne als auch in Bezug auf das Publikum gesprochen. Auf die Bedeutung der Bezugsgruppe, deren Perspektive von einem handelnden Menschen als Bezugsrahmen für sein Handeln benutzt wird, hat der Soziologe Tamotsu Shibutani bereits 1955 260 Halyna Leontiy hingewiesen. Treten mehrere Bezugsgruppen in die Perspektive der handelnden Person, wird sie ihr Handeln und Deuten je nach Bezugsgruppe variieren. „Die jeweilige ‚Bezugsgruppe’ liefert dann den Maßstab, mit dessen Hilfe eine konkrete Situation beurteilt wird und mit dessen Hilfe die eigene Stellung in dieser Situation abgeschätzt wird“ (Helle 2001, 146). Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich der Sprecher in Bezug auf den Topik „Schwierigkeiten des Spracherwerbs“ von beiden Kollektivkategorien abgrenzt: Zum einen grenzt er sich von „Deutschen“ ab, indem er mehrfach von „ihr Deutschen“ spricht. Deutsche sind in Opposition, als direkte Interaktions‐ partner, als Publikum, adressiert. Er zählt sich jedoch nicht hierzu. Alternativ hätte er sagen können „wir Deutsche haben zu viele Vokale“ o. ä. Zum anderen grenzt er sich von „Arabern“ ab, die Schwierigkeiten im Deutscherwerb haben, die er nicht hat. Somit positioniert er sich als Experte von beiden Sprachen, der im Unterschied zur Elterngeneration keine Sprachinterferenzfehler macht, ohne eine explizite identitätstechnische Selbstzuschreibung zu vollziehen. 5 Fazit: Sprachdidaktische Ressourcen der interkulturellen Komik Im vorliegenden Beitrag wurden die Sprachinterferenzkomik im Kontext der Mehrsprachigkeit und des DaZ-Erwerbs von Arabischsprachigen sowie die kulturelle Mehrfachzugehörigkeit dieser Migrantengruppe am Beispiel eines Mitglieds der RebellComedy analysiert. Es konnte gezeigt werden, dass die Komik größtenteils auf dem Spiel mit sprachlichen und interkulturellen Unter‐ schieden, aber auch auf der Sprachpraxis von erwachsenen DaZ-Lernenden aufgebaut wird. Dabei positioniert sich der Komiker selbst als Experte der beiden kontrastierten Sprachen (Deutsch und Arabisch), die er auf allen Ebenen der Grammatik mit den Mitteln der Komik analysiert. Mithilfe des Konzepts der kommunikativen Gattungen nach Luckmann wurde die Sequenz „Elternsprechtag“ analysiert. Die Komik resultiert aus den Brüchen auf verschiedenen Gattungsebenen. Zudem erlaubt diese „komische“ Realisierung der Gattung einen Einblick in die Interaktionsstrukturen von Migrantenfamilien, insb. in die intergenerationellen Verhältnisse. Für die Analyse situativ-interaktiver Realisierung kategorieller Mehrfachzu‐ gehörigkeit wurde das Figurationssystem von Elias herangezogen. Dabei wurde festgestellt, dass der Darsteller Kollektivkategorien nicht willkürlich verwendet. Er nimmt eine Quantifizierung und Validierung vor und positioniert sich abseits der Kollektivkategorien „Deutsche“ und „Marokkaner/ Araber“, die Schwierig‐ keiten im Deutscherwerb haben. Allerdings identifiziert er sich generell mit der arabischen Sprach- und Kulturgemeinschaft. 261 Sprachinterferenzkomik, Sprachkontrastierung und kulturelle Mehrfachzugehörigkeit Bezogen auf den Schwerpunkt des Bandes stellt sich nun die Frage, inwiefern ernst-unernster Umgang mit Sprachen und Kulturen in Form von interkultu‐ reller Bühnenkomik als didaktische Grundlage in Lehr- und Lernkontexten genutzt werden kann. Eignet sich Humor überhaupt für den schulischen Unter‐ richt? Diese Fragen beschäftigen v. a. Pädagogen, wie Piepenbrink (2013) in ihrer „Einführung in die Soziologie des Humors für den Unterreicht“ zusammenfasst. Demnach herrscht ein ambivalentes Verhältnis zwischen Humor und Schule (cf. Zöpfl u. a. 1994, Osterwalder 2002, Liebertz 2007 und andere). Humor wurde als „umstürzlerisch“ gewertet (Piepenbrink 2013, 62). „Machtverhältnisse und geregelte Beziehungen zwischen Lehrpersonen und Schülern“ (Gruntz-Stoll / Rißland 2002, 10) könnten durch komische Bemerkungen oder das Lachen in Frage gestellt werden. Der Unterricht versuche generell Zweideutigkeit zu meiden, Humor und Komik würden wenn überhaupt, von einem ernsten Standpunkt aus behandelt, und zahlreiche ablehnende Argumente im selben Duktus (cf. Piepenbrink 2013, 62 sqq.). Auf der anderen Seite wird für den Einsatz des pädagogischen Humors in der Schule plädiert, der die Qualität des Unterrichts verbessern soll: Humorvoller Unterricht würde Schüler belohnen. Da Humor indirekt wirkt, würde die Beziehungsdimension zwischen Schüler und Lehrer gestärkt, was den besseren Zugang zu den Schülern und somit einen indirekten Handlungsspielraum der Lehrenden erweitern würde (cf. Liebertz 2007). Humor als pädagogisches Mittel vermag zudem die Kreativität und Originalität der Schüler zu kanalisieren, um sie in Motivation umzuwandeln (cf. Veith 2007, 80; Piepenbrink 2013, 71). Die in diesem Beitrag analysierte Bühnenkomik lässt sich m. E. im Rahmen des Sprachunterrichts sowohl indirekt als auch direkt einsetzen. • Unterstützung metasprachlicher Reflexionsfähigkeit: Im Unterricht kann thematisiert werden, wo in den einzelnen Sprachen die Verben stehen, ob die Verben in Übereinstimmung mit den Subjekten flektiert werden, ob Artikel oder Präpositionen vorhanden sind und vieles andere mehr. Der kontrastive Vergleich des Deutschen mit weiteren Sprachen ermöglicht durch die Bewusstmachung der Unterschiede und der Gemeinsamkeiten die grammatischen Regeln des Deutschen zu verstehen und den Sprach‐ erwerb dadurch effektiver zu gestalten (vgl. Leontiy 2013c). Diskutiert werden können sowohl Gemeinsamkeiten von als auch Unterschiede zwischen Arabisch und Deutsch. In Bezug auf die Sprachkontrastierung könnte die Arbeitshypothese lauten: Aufgrund der Grammatikunter‐ schiede zwischen L1 und L2 bilden erwachsene Deutschlernende mit Arabisch als L1 sprachliche Interferenzen aus, die sich im Laufe der 262 Halyna Leontiy Zeit verfestigen können (in der DaF-/ DaZ-Terminologie wird von der Fossilierung gesprochen). • Spracherwerb: Die Inszenierung durch Komik verstärkt den sprachkont‐ rastiven Spracherwerb. Durch die Übertreibung und Erzeugung von Inkongruenzen werden die Wahrnehmung geschärft und kognitive Pro‐ zesse angeregt. Bei den Sprachpraktikern könnte eine Stresssituation, verursacht durch fehlerhafte Sprachanwendung, durch einen humoris‐ tischen Umgang entlastet werden. Eine Entlastung wird erzeugt auch durch die Umkehr der Machtrollen (subversive Funktion der Komik): Elternsprechtag als „die größte Comedysache überhaupt“. Hierfür müsste die Humor- oder Komikkompetenz entwickelt werden. • Kulturreflexion mittels Rezeptionsanalyse der Komik: Hierzu ist zu fragen: Was finden die Zuschauer (Schüler bzw. Studierende) lustig und was nicht? Womit können sie sich identifizieren und womit nicht? Was emp‐ finden sie als Normbruch? Was empfinden sie gar als diskriminierend und warum? Was sagt es über die Gesellschaft aus? Obwohl RebellComedy ein lebensweltliches, authentisches und der deutschen Mainstreamco‐ medy alternatives Komikmodell beansprucht, das Migrantengeneration aufwerten soll, weisen die jüngsten Shows viele, rein ethnisch markierte, stereotypisierte Witze auf, die m. E. mit dem „going public“ zu tun haben. Hierzu ist zu fragen, ob sich durch die quantitative und qualitative Veränderung des Publikums auch das Programm und die Qualität der Komik verändert haben. Hat RebellComedy an Authentizität und lebens‐ weltlichem Bezug verloren und zur Analogie der EthnoComedy lanciert? Hat der „lustige Marokkaner“ den „lustigen Türken“ ersetzt? Wenn ja, was sagt der Erfolg der ethnischen Komik über die deutsche Gesellschaft aus? Wie verhält sich diese Art Komik zum gesamtmedialen Komikdiskurs und Komik-Markt? • Zur Reflexion über Genderklischees: Des Weiteren stellt sich die Frage nach dem Zusammenhang der Komik, Kultur/ Ethnizität und der Kategorie Gender. Es ist auffällig, dass RebellComedy männlich dominiert ist; die wenigen performenden Frauen blieben nicht lange. Das Zielobjekt der Komik ist in dieser Sequenz neben der Figur des marokkanischen Vaters die deutsche Lehrerin mit einem ins Obszöne verdrehten Namen. Anhand der Beispiele von Sprachinterferenzkomik werden weitere Se‐ xualisierungskontexte hergestellt: Bumsbude, Nutten im Keller etc. Ist diese Art der Comedy sexistisch und frauenfeindlich? Ausgehend von Thesen der Gender-Komik-Forscherinnen wie Kotthoff 1996, 2004b, Jen‐ kins 1996, Stocking / Zillmann 1996 u. a. kann darüber hinaus den Fragen 263 Sprachinterferenzkomik, Sprachkontrastierung und kulturelle Mehrfachzugehörigkeit nachgegangen werden, ob Komik, vor allem „aggressive Scherzrituale“, immer noch eine Männerdomäne darstellen, inwiefern weibliche und männliche Komik in den Medien präsent sind, inwiefern Komik die Gesellschaftsstruktur in Bezug auf Geschlechterverhältnisse reproduziert u.v.a. Literatur Auer, Peter. 1998. „Learning how to play the game: an investigation of role-played job interviews in East Germany“, in: Text, 18, 7-38. Bachmaier, Helmut (ed.). 2005. Texte zur Theorie der Komik. Stuttgart: Reclam. Berger, Peter L. 1998. Erlösendes Lachen. Das Komische in der menschlichen Erfahrung. Berlin / New York: de Gruyter. 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Konzeptionelle Entwürfe Für eine Didaktik des Rumänischen als Schulsprache in Deutschland Begründungszusammenhänge, linguistische Dimensionen und Umsetzungsperspektiven für die Praxis Daniel Reimann 1 Fragestellung, Zielsetzung und Methode 1.1 Fragestellung und Zielsetzung Der Beitrag geht von der Feststellung aus, dass das Rumänische als Fremd‐ sprache (aber auch als Herkunftssprache) im deutschen Schulsystem derzeit so gut wie keine Rolle spielt - anders als andere romanische Sprachen wie etwa das Französische, Spanische und Italienische, aber auch das Portugiesi‐ sche (zu einer grundsätzlichen Unterrepräsentation auch des Portugiesischen an deutschen Schulen vgl. z. B. einführend Reimann 2017a). Diese Situation kontrastiert nicht nur mit der historischen Verbundenheit Deutschlands mit Rumänien (vgl. einführend kurz Abschnitt 2.1), sondern gerade auch mit der in den letzten beiden Jahrzehnten massiv angestiegenen Präsenz von Rumä‐ ninnen und Rumänen in Deutschland, die inzwischen u. a. die viertgrößte Ausländergruppe in Deutschland darstellen (im Detail vgl. Abschnitt 2.3). Ausgehend von diesen Befunden verfolgt der Beitrag das Ziel, erstmals und grundlegend für die Entwicklung eines schulischen Rumänischunterrichts in seinen Facetten als Fremd- und als Herkunftssprache einerseits und für die Entwicklung einer akademisch-lehrerbildenden Disziplin einer Didaktik des Rumänischen andererseits zu plädieren. Zielgruppen des Beitrags sind daher weniger Rumänistinnen und Rumänisten im engeren Sinne, sondern vielmehr Vertreterinnen und Vertreter anderer romanistischer Teildisziplinen, Fremd‐ sprachenforscherinnen und Fremdsprachenforscher im Allgemeinen, Schulpä‐ dagoginnen und Schulpädagogen, praktizierende Lehrkräfte und Akteurinnen und Akteure pädagogischen Landesinstitute und der Kultusministerien, sowie nicht zuletzt Bildungspolitikerinnen und -politiker. 1.2 Aufbau und Methode Der Beitrag versteht sich als theoretisch-konzeptioneller Vorschlag anhand eines hermeneutischen Zugriffs auf die Fragestellung und die entsprechende einschlägige Grundlagenliteratur. Im Folgenden werden zunächst Begrün‐ dungszusammenhänge, aufgrund derer sich das Postulat der Entwicklung eines schulischen Rumänischunterrichts und einer Didaktik des Rumänischen als Schulsprache in Deutschland abzeichnen, skizziert (Abschnitt 2). Dabei werden mit Blick auf die in Abschnitt 1.1 genannten Zielgruppen kurz historische und kulturelle Begründungszusammenhänge rekapituliert (Abschnitt 2.1), sodann Quellen zur Geschichte des Rumänischlernens in Deutschland ausgewertet (Abschnitt 2.2) und in der Folge die grundlegend veränderte Ausgangsposition einer Reflexion über das Rumänische als Schulsprache vor dem Hintergrund der quantitativen Entwicklung der rumänischen und rumänischstämmigen Bevöl‐ kerung in Deutschland in den letzten beiden Jahrzehnten reflektiert (Abschnitt 2.3). In Abschnitt 3 werden linguistische Dimensionen des Rumänischen mit Blick auf die Entwicklung einer Didaktik und Methodik des Rumänischen als Schulsprache insbesondere in kontrastiv-linguistischer und mehrsprachigkeits‐ didaktischer Perspektivierung untersucht. Dabei erfolgt zunächst ein kurzer Abriss zur externen Geschichte der rumänischen Sprache unter besonderer Be‐ rücksichtigung sozio- und kontaktlinguistischer Aspekte (Abschnitt 3.1), bevor ausgewählte Phänomene des Rumänischen in einem zunächst deskriptiv-sys‐ temlinguistischen Ansatz vorgestellt werden. Innerhalb dieser Darstellung wird, wo dies in (mehrsprachigkeits-) didaktischer Perspektivierung sachdienlich ist, Parallelen und Kontrasten zum Deutschen, zum Lateinischen und zu anderen romanischen Schulsprachen Rechnung getragen (Abschnitt 3.2). Abschließend werden Umsetzungsperspektiven des Postulats einer Einführung des Rumäni‐ schen als Schulsprache aufgezeigt (Abschnitt 4), und zwar auf den Ebenen der Schul- und Sprachenpolitik (Abschnitt 4.1), im Kontext der Mehrsprachigkeits‐ didaktik und des enrichment (Abschnitt 4.2) sowie auf der Ebene einer möglichen Verbindung von Fremd- und Herkunftssprachenunterricht (Abschnitt 4.3). 2 Begründungszusammenhänge 2.1 Historische und kulturelle Begründungszusammenhänge Es kann und soll nicht Aufgabe dieses Beitrags sein, die deutsch-rumänischen (Kultur-) Beziehungen und die (sicherlich oftmals verkannte) Bedeutung der rumänischen Kultur in Geschichte und Gegenwart vertieft zu beleuchten (ein‐ führend in die Landeskunde und Landeswissenschaft Rumäniens z. B. Verseck 2007 und Kahl / Metzeltin / Ungureanu 2008). Gleichwohl lassen sich aus der 272 Daniel Reimann 1 http: / / liceulhonterusbrasov.ro/ lic/ , Zugriff: 19.08.2020. 2 http: / / brukenthal.ro/ ? page_id=108, Zugriff: 19.08.2020. 3 https: / / nlenau.ro, Zugriff: 19.08.2020. 4 http: / / colegiulgoethe.ro, Zugriff: 19.08.2020. Geschichte der Beziehung des deutschsprachigen Raumes zu Rumänien bzw. aus der Geschichte der deutschsprachigen Bevölkerungsteile innerhalb des heutigen Rumänien, aus der sprachlichen und kulturellen Schnittstellenposition, die Ru‐ mänien und das Rumänische zwischen der westeuropäisch geprägten Romania und dem Osten Europas einnehmen, und nicht zuletzt aus der Geschichte der Beschäftigung mit dem Rumänischen in wissenschaftshistorischer Perspekti‐ vierung Ansatzpunkte finden, die für eine intensivere Auseinandersetzung mit dem Rumänischen im deutschen Bildungssystem sprechen. Die engen historischen und kulturellen Vernetzungen zwischen Rumänien und Deutschland gehen - über etwa das römisch-lateinische Erbe hinaus - auf die zahlreichen deutschsprachigen Siedlergruppen zurück, die sich seit dem 12. Jahrhundert im Gebiet des heutigen Rumänien niedergelassen haben und bis ins 20. Jahrhundert dort stark präsent waren (v. a. sog. Siebenbürger Sachsen ab dem 12. Jahrhundert, sog. Donauschwaben ab dem 17./ 18. Jahrhundert, zusam‐ menfassend mit anderen Gruppen oft mit dem Oberbegriff „Rumäniendeutsche“ bezeichnet, vgl. z. B. konzis Granser o. J., 5sq.: Abschnitt „Sprachbrücken Rumä‐ nisch - Deutsch“). In der Folge gibt es bis heute u. a. zahlreiche deutschsprachige Schulen in Rumänien - darunter auch sehr frühe humanistische Gründungen schon des 16. Jahrhunderts wie etwa das Honterus-Gymnasium / der Colegiul Național (bis 2019 Liceul Teoretic) „Johannes Honterus“ in Brașov (Kronstadt) 1 oder der Colegiul Național „Samuel von Brukenthal“ in Sibiu (Hermannstadt) 2 , aber auch jüngere Gründungen etwa des 19. Jahrhunderts wie z. B. der Liceul Teoretic Nikolaus Lenau in Timișoara (Temeswar) 3 . Auch in der Hauptstadt Bukarest gibt es mit dem deutschsprachigen Colegiul German Goethe ein sehr renommiertes Gymnasium, das ursprünglich für die deutschsprachige Minderheit eingerichtet worden war, schon seit seiner Frühzeit aber auch von rumänischen Schülerinnen und Schülern mit entsprechend hohem Bildungsan‐ spruch besucht wird. 4 Wenn auch in Westeuropa bis dato nicht so stark rezipiert wie etwa andere westeuropäische Kulturen, so hat die rumänische Kultur - gerade aufgrund ihres hybriden Charakters zwischen römisch-lateinischer Tradition, griechisch- (süd-) osteuropäisch geprägter Orthodoxie, slawischen, türkischen, ungarischen und nicht zuletzt eben auch deutschen Einflüssen doch bedeutende Schöp‐ fungen hervorgebracht, die Rumänisch zu einer europäischen Kultursprache werden lassen. Dies soll an einigen Beispielen aus Literatur und Film angedeutet 273 Für eine Didaktik des Rumänischen als Schulsprache in Deutschland 5 http: / / 2012.filmwochenende.de/ index.php? option=com_content&view=article&id=75 6: das-filmland-rumaenien-im-fokus&catid=14: pressetexte&Itemid=174&lang=en, Zu‐ griff: 19.08.2020. werden: International rezipierte Literatur entstand vor allem ab dem 18. Jahr‐ hundert, herausragende Autorinnen und Autoren sind etwa - um nur sehr wenige zu nennen - Mihai Eminescu, Ion Luca Caragiale, Tudor Arghezi, Lucian Blaga oder Mircea Eliade. Zahlreiche bedeutende rumänische Literaten und Wissenschaftler besuchten deutschsprachige Schulen in Rumänien, studierten oder lebten in Deutschland (oder beispielsweise auch Frankreich), unter den Genannten etwa auch Eminescu und Caragiale, aber etwa auch der Rumänist Sextil Pușcariu. Diese (bildungs-) biographischen Daten sind ein Indiz für die enge Verbindung des rumänischen Kulturraums mit Deutschland und der westeuropäischen Romania, die eine Annäherung an die rumänische Sprache und Literatur erleichtern können (einführend in die Geschichte der rumänischen Literatur z. B. Schroeder 1967, 74sqq., Stiehler 2010). Mit Blick auf diese Mittlerfunktion zwischen Rumänien und Deutschland, die auch im Rumänischunterricht nutzbar gemacht werden kann, ist ferner die Bedeutung der deutschsprachigen Autorinnen und Autoren Rumäniens bzw. der Re-Migration aus Rumänien nicht zu unterschätzen: Erwähnen könnte man hier beispielsweise Oskar Pastior, Moses Rosenkranz, Werner Söllner oder Richard Wagner - und nicht zuletzt die rumäniendeutsche Nobelpreisträgerin für Literatur des Jahres 2009, Herta Müller (einführend z. B. Krause 2007). Daneben tritt auch deutschsprachige Literatur rumänischer Autoren, so etwa Zweieinhalb Störche. Roman einer Kindheit in Siebenbürgen von Claudiu M. Florian (Berlin: Transit 2008). Punktuell wird auch rumänische Gegenwartslite‐ ratur in Deutschland von einem breiteren Publikum rezipiert, so etwa Mircea Cărtărescu. Das rumänische Filmschaffen hat seit 1989 erhebliches kreatives Potential freigesetzt, das auch international sehr anerkennend rezipiert wurde - man denke nur an die Filme beispielsweise von Cristi Puiu oder Cristian Mungiu, die u. a. in Cannes mehrfach prämiert wurden, oder auch die Tatsache, dass beim Internationalen Filmwochenende in Würzburg 2012 Rumänien als Schwer‐ punktland präsentiert wurde. 5 Auch ein deutscher Film wie Toni Erdmann (2016) beleuchtet die heutige, neue Realität von Teilen Rumäniens - hier vor allem der Hauptstadt Bukarest. 274 Daniel Reimann 6 Die Geschichte des Fremdsprachen- und gerade auch Deutschunterrichts in Rumänien ist besser dokumentiert, vgl. z. B. Wagner 2002, Spiță 2014, vgl. Reimann 2020a, 121. 2.2 Geschichte des Rumänischunterrichts und der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Rumänischen in Deutschland Zeugnisse über das Erlernen des Rumänischen im deutschsprachigen Raum sind seit der Frühzeit des Fremdsprachenunterrichts beinahe inexistent. Die Linguarum recentium annales enthalten für den Zeitraum von 1500 bis 1800 beinahe keine Einträge zum Rumänischen und überhaupt keine, die sich auf einen systematischen Rumänischunterricht beziehen würden (Schröder 1980sqq.). Lediglich eine Deutsch-wallachische Sprachlehre von Molnar von Mullersheim aus dem Jahr 1788 ist dort als frühe Quelle des Rumänischlernens im deutschsprachigen Raum verzeichnet (erschienen in Wien, 2. Auflage 1810 in Hermannstadt (Sibiu), Schröder 1985, 725). Auch die Sammlung von Lehr‐ plänen und weiteren staatlichen Vorgaben zum Fremdsprachenunterricht seit dem 19. Jahrhundert von Christ / Rang 1985 enthält keinen einzigen Eintrag zum Rumänischen. 6 Aus jüngerer Zeit konnten ebenfalls keine Zeugnisse über einen allgemeinbildenden Rumänischunterricht an staatlichen Schulen in Deutschland ausfindig gemacht werden. Dies ist auch insofern bedauerlich, als in anderen Bildungssystemen der verstärkten Präsenz Rumäniens in Europa zumindest in Ansätzen durchaus Rechnung getragen wurde. Auf den EU-Beitritt und eine zunehmende Zuwanderung aus Rumänien reagierte beispielsweise Italien schneller als etwa die deutschen Bundesländer: dort wurde bereits 2006 eine Lehrbefähigung für das Fach Rumänisch im schulischen Bereich eingeführt (neben Chinesisch und Arabisch) (vgl. Balboni 2009, 139, Reimann 2020a, 155, 157; zu Geschichte und Status quo (bis 2018) der Didaktik der romanischen Sprachen und Literaturen in Deutschland insgesamt vgl. Reimann 2018a). Gleichwohl muss es auch in Deutschland in der Vergangenheit punktuell zumindest zur Anerkennung einer Lehrberechtigung, wenn nicht sogar zur Verleihung einer Fakultas gekommen sein, teilweise wohl auch in der Folge einer Rückkehr so genannter Rumäniendeutscher nach dem zweiten Weltkrieg. So führt etwa die Festschrift des Gymnasiums Schweinfurt aus dem Jahr 1959 einen Lehrer ( Jahrgang 1911) mit den Fächern Latein, Griechisch und Rumänisch (abgekürzt als „L Gr Rum“, Gymnasium Schweinfurt 1959, 48), der dort seit 1948 unterrichtete (vgl. Celtis Gymnasium 1984, 157) und später als Oberstudiendirektor an ein anderes bayerisches Gymnasium bestellt wurde. Seine Lehrberechtigung kann auf ein Studium der Klassischen Philologie, Rumänistik und Theologie in Klausenburg (Cluj-Napoca), Tübingen und Berlin 275 Für eine Didaktik des Rumänischen als Schulsprache in Deutschland 7 Siebenbürgische Zeitung Online, 20.01.1998, 22, www.siebenbuerger.de/ zeitung/ pdfarch iv/ suche/ dr.%20martha%bruckner/ seite3.html (21.08.2020) und Siebenbürgische Zeitung Online, 10.07.2011, o.N., www.siebenbuerger.de/ zeitung/ artikel/ kultur/ 11269-christ-un d-siebenbuerger-sachse-zum.html (21.08.2020). 8 Nachrichten des Bayerischen Philologenverbands an den Verfasser vom 08. und 09.09.2020. zurückgeführt werden. 7 Das Bayerische Philologenjahrbuch führt noch in seiner bislang letzten Auflage von 2016 in der Liste der „Prüfungsfächer und Lehr‐ befähigungen“ das Kürzel „Rm“ als Abkürzung für Rumänisch (Bayerischer Philologenverband 2016, 9). In der Datenbank des Bayerischen Philologenver‐ bands sind insgesamt drei Lehrkräfte aus Vergangenheit und Gegenwart mit der Angabe des Faches „Rm - Rumänisch“ verzeichnet, und zwar mit den Fä‐ cherverbindungen Deutsch / Sozialkunde / Rumänisch ( Jahrgang unbekannt), Latein / Griechisch / Rumänisch ( Jahrgang 1911, s. die oben erfasste Person) sowie Mathematik / Physik / Rumänisch ( Jahrgang 1940). 8 Im akademischen Bereich ist die wissenschaftliche Erforschung der rumäni‐ schen Sprache und Literatur ein etabliertes Teilgebiet der Romanistik. Als Ahn‐ vater der deutschsprachigen Rumänistik wird immer wieder Gustav Weigand (Leipzig) rezipiert (z. B. Dahmen 2014, 30), wobei etwa Dahmen 2014 treffend herausarbeitet, dass die Rumänistik seit den Anfängen der Romanistik immer auch ein Bereich deutschsprachiger romanistischer Forschung und Lehre war, mithin schon früh auch von anderen Forschern und Lehrenden getragen wurde - wenn auch nie in dem Maße, wie es für Französistik, Italianistik, Hispanistik und auch Lusitanistik zu verzeichnen war (Dahmen 2014, 28sq. und bes. 30sqq.). Zugleich formuliert Wolfgang Dahmen prägnant das Dilemma, in dem sich die deutschsprachige Rumänistik angesichts der Teilung Europas in Ost und West über mehrere Jahrzehnte befand und das sich letztlich in der Präsenz Rumäniens und der rumänischen Sprache in der deutschen Romanistik zumindest bis in die jüngste Zeit noch immer spiegelt: Für die Romanistinnen und Romanisten der DDR war Rumänien das einzige roman‐ ischsprachige Land in Europa, in das man ohne allzu große Probleme reisen konnte; für die Kollegen aus der damaligen Bundesrepublik war es hingegen eher umgekehrt. Längere Studien- oder Forschungsaufenthalte in Frankreich, Spanien oder Italien waren unproblematisch, in Rumänien jedoch fast unmöglich. (Dahmen 2014, 32) In der Linguistik wurde immer wieder die Besonderheit des Rumänischen unter den romanischen Sprachen, die sich aus den anders gelagerten Substrat‐ sprachen, aber auch durch spätere Kontaktphänomene u. a. zu den slawischen Sprachen ergeben, untersucht (z. B. Meyer-Lübke 1930). Immer wieder hat 276 Daniel Reimann die deutschsprachige Romanistik umfassende linguistische Betrachtungen zum Rumänischen vorgelegt (z. B. Holtus / Radtke 1986, Iliescu / Sora 1996). Beson‐ derheiten des Rumänischen werden aber auch in jüngerer Zeit immer wieder diskutiert, sei es mit kontaktlinguistischem (z. B. Kahl 2013), sei es mit sprach‐ typologischem Schwerpunkt (z. B. Metzeltin 2016). Umfassende Darstellungen zu Einzelaspekten der rumänischen Sprache vor dem Spiegel des seinerzeit aktuellen Forschungsstandes enthält das Lexikon der Romanistischen Linguistik (LRL), insbesondere in seinem Band III (Holtus / Metzeltin / Schmitt 1989), sowie im Beitrag Ernst 1998 des Bandes VII (Holtus / Metzeltin / Schmitt 1998). Im Bereich der Linguistik ist ferner für 2023 unter maßgeblicher Beteiligung der deutschsprachigen Romanistik der Band zur rumänistischen Linguistik der Manuals of Romance Linguistics angekündigt (Dahmen / Munteanu i.Vb.). Parallel dazu unternahm und unternimmt die rumänistische Literaturwissen‐ schaft den Versuch, rumänische Literatur nach Deutschland zu vermitteln (z. B. Gregori 2007, Wolf / Weident / Mazilu 2011). Darüber hinaus begründete etwa Klaus Heitmann am Beispiel des Rumänienbildes im deutschen Sprachraum den von ihm geprägten kulturwissenschaftlichen Forschungszweig einer Ima‐ gologie (Das Rumänienbild im deutschen Sprachraum 1775-1918, Heitmann 1985), den er später vor allem am Beispiel des italienischen Blicks auf Deutschland intensiv fortschrieb (Heitmann 2003, 2008, 2012). Immer wieder wurden auch die deutsch-rumänischen Kulturbeziehungen und Schnittstellenphänomene be‐ trachtet, z. B. Heitmann 1986 oder in jüngerer Zeit Schippel 2004. Trotz herausragender Beiträge der deutschen Romanistik zur Erforschung der rumänischen Sprache, Literatur und Kultur fristet das Fach Rumänistik an deutschen Hochschulen heute eher ein Schattendasein und ist innerhalb der Romanistik möglicherweise weniger präsent als in der Vergangenheit. Rumänisch wurde in der ehemaligen DDR intensiver beforscht und war auch durch Professuren vertreten (z. B. Klaus Bochmann an der Universität Leipzig, vgl. https: / / research.uni-leipzig.de/ agintern/ CPL/ PDF/ Bochmann_Kla us.pdf, Zugriff 17.08.2020). In der heutigen Bundesrepublik wird Rumänisch an den Hochschulen überwiegend im Bereich von Anfänger-Sprachkursen für Hörer aller Fakultäten und an den Volkshochschulen unterrichtet. Das Fach Rumänistik als wissenschaftliche Disziplin indes ist an den Universi‐ täten nur noch sehr schwach vertreten (vgl. einführend Dahmen 2006). An der in Dahmen 2006 beschriebenen Situation hat sich zwischenzeitlich nur wenig zum Positiven geändert. Es gibt nur noch sehr wenige Studiengänge - etwa Bachelor- und Masterstudiengänge an der Universität München, den Bachelor-Studiengang mit Schwerpunkt Rumänisch an der Universität Jena oder den Beifach-Bachelor-Studiengang Rumänisch an der Humboldt-Universität 277 Für eine Didaktik des Rumänischen als Schulsprache in Deutschland zu Berlin. Bezeichnend ist etwa, dass die bis dato letzte schwerpunktmäßig der Rumänistik gewidmete Professur (damalige Denomination: Rumänische Sprach- und Literaturwissenschaft) im Jahr 2017 bei ihrer Neubesetzung in eine Juniorprofessur herabgestuft und nicht originär romanistisch besetzt wurde. 2.3 Entwicklung der rumänischen Bevölkerung in Deutschland (bes. seit 2008) Der rumänische Bevölkerungsanteil in Deutschland hat seit dem EU-Beitritt Rumäniens im Jahr 2007 massiv zugenommen, was eine Neubewertung der Rolle des Rumänischen als in Deutschland präsenter Sprache durch die Romanistik und die Sprachenzentren an den weitgehend autonomen Hochschulen einerseits und durch die kultusministeriell-schulische Sprachenpolitik andererseits erfor‐ derlich scheinen lässt: Wurden 2008 noch unter 95.000 Rumäninnen und Rumänen in Deutschland gezählt (Statista 2019), so belief sich ihre Zahl im Jahr 2019 bereits auf beinahe 750.000 (DESTATIS 2020a). Der Anteil an in Deutschland lebenden Rumäninnen und Rumänen hat sich also binnen eines guten Jahrzehnts etwa verachtfacht bzw. ist um ca. 800 % angestiegen. (Statista 2019, DESTATIS 2020a) Abb.: Zahl der Rumäninnen und Rumänen in Deutschland 2008 - 2019 (eigene Darstel‐ lung auf der Grundlage der Daten aus Statista, https: / / de.statista.com/ statistik/ daten/ stu die/ 530434/ umfrage/ auslaender-aus-rumaenien-in-deutschland/ , Zugriff: 19.08.2020). 278 Daniel Reimann Rumänen stellen dabei insgesamt nach Türken (1.472.000), Polen (863.000) und Syrern (789.000) inzwischen die viertgrößte Gruppe von Einwohnern mit aus‐ ländischer Staatsangehörigkeit in Deutschland dar. Unter den EU-Ausländern sind sie nunmehr die zweitgrößte Gruppe noch vor den Italienern. Absolut betrachtet sind sie zuletzt sogar die Bevölkerungsgruppe, die am stärksten angewachsen ist: Die größten Zuwächse verzeichnet das AZR [Ausländerzentralregister] im Jahr 2019 aus Rumänien (+ 52.000), Syrien (+ 44.000) und Bulgarien (+ 23.000). […] Die meisten [der registrierten EU-Staatsangehörigen in Deutschland] hatten die polni‐ sche (863.000), rumänische (748.000) oder italienische (646.000) Staatsbürgerschaft. (DESTATIS 2020b) Auch die vom Mikrozensus erfassten Daten zum Migrationshintergrund weisen Personen mit rumänischem Hintergrund als eine der größten Gruppen in Deutschland aus. Mit über einer Million Personen (1.018.000, davon über 800.000 mit eigener Migrationserfahrung) wird der Bevölkerungsanteil mit rumänischem Migrationshintergrund nur von den Gruppen mit Zuwanderungs‐ geschichte aus der Türkei (ca. 2,8 Millionen), Polen (ca. 2,2 Millionen), der Russischen Föderation (ca. 1,4 Millionen) und Kasachstan (ca. 1,2 Millionen) übertroffen. Im Vergleich stellen die Bevölkerungsanteile, die einen Migrations‐ hintergrund mit Bezug zu anderen romanischen Schulsprachen haben, mit Ausnahme Italiens sehr kleine Gruppen dar: Italien 873.000, Spanien 210.000, Frankreich 189.000, Portugal 166.000 (weiterhin z. B. Marokko 239.000, Algerien und Tunesien zusammengefasst mit Ägypten und Libyen 297.000, lateinameri‐ kanische Hintergründe nicht einzeln dokumentiert) (DESTATIS 2020c). Auffällig ist auch, dass die rumänische Bevölkerung in Deutschland sehr jung ist: Mit einem Durchschnittsalter von 32,2 Jahren, darunter je ca. 151.000 Personen unter 20 Jahren bzw. 442.000 Personen in der Altersspanne von 20 bis 45 Jahren, stellen sie nach der Gruppe der Syrer, Afghanen und Iraker sowie nach den Chinesen (Durchschnitt 32,0 Jahre) die jüngste ausländische Bevölke‐ rungsgruppe dar (DESTATIS 2020a). Bei einem längerfristigen Verweilen dieser Bevölkerung in Deutschland ist also - unabsehbare Faktoren ausgenommen - zumindest mittelfristig mit einem erheblichen Zuwachs an Schülerinnen und Schülern mit rumänischem Migrationshintergrund zu rechnen. Eine geringfügige Einschränkung dieser Zahlen mag sich daraus ergeben, dass ggf. nicht alle Rumäninnen und Rumänen in Deutschland tatsächlich das Rumänische als Erst- oder Herkunftssprache haben. Wenn man indes davon ausgeht, dass innerhalb Rumäniens über 90 % der Bevölkerung das Rumänische als Erstsprache angeben (Institutul Național de Statistică 2011, 6), dürfte der 279 Für eine Didaktik des Rumänischen als Schulsprache in Deutschland Anteil der rumänischsprechenden unter den zugewanderten Rumäninnen und Rumänen dennoch hoch sein. Genaue Statistiken hierzu liegen meines Wissens nicht vor. 3 Linguistische Dimensionen in kontrastiv-linguistischer und mehrsprachigkeitsdidaktischer Perspektivierung 3.1 Linguistische Grundlagen: Historischer, soziolinguistischer und kontaktlinguistischer Abriß zur rumänischen Sprache Rumänisch ist Amtssprache in Rumänien und der Republik Modau (Moldawien), die seit 1991 unabhängig ist. Rumänien ist seit 2007 Mitglied der EU, Rumänisch mithin seitdem eine der Amtssprachen der Union (vgl. Bossong 2008, 248). In Rumänien ist Rumänisch Primärsprache von gut 90 % der Einwohner, in Moldawien von ca. 26 % (Institutul Național de Statistică 2011, 6, Bossong 2008, 257). Insgesamt kann man innerhalb Rumäniens und Moldawiens von ca. 23 bis 25 Millionen Primärsprecherinnen und -sprechern ausgehen (vgl. z. B. Iliescu 2003, 145, Bossong 2008, 257). Außerhalb der beiden genannten Staaten ist das Rumänische vor allem in der Ukraine (ca. 400.000 Rumänen/ Moldawier), in Griechenland (ca. 100.000 Sprecher/ innen), in Serbien (ca. 75.000 Spreche‐ rinnen und Sprecher), Ungarn, Bulgarien, Albanien, Mazedonien und Istrien verbreitet (vgl. z. B. Iliescu 2003, 145, Bossong 2008, 257). Während man das Rumänische Rumäniens im engeren Sinne als „Dakorumänisch“ bezeichnet, sind in den genannten Gebieten v. a. die Ausprägungen des Aromunischen, Meglenorumänischen und Istrorumänischen präsent (vgl. Bossong 2008, 258sq.). Bossong 2008, 258 nennt unter Berufung auf Wolfgang Dahmen folgende Sprecherzahlen: 150.000 Sprecherinnen und Sprecher des Aromunischen, 5.000 des Meglenorumänischen und 1.500 des Istrorumänischen, wobei gerade das Ist‐ rorumänische in einem starken Rückgang begriffen zu sein scheint. Rumänisch als Minderheitensprache ist darüber hinaus in der Folge von Emigration u. a. in Amerika und Europa verbreitet, etwa in den USA, Kanada, Südamerika, Israel, aber auch in Frankreich, Deutschland und Schweden (vgl. Iliescu 2003, 145). Velica 2010, 177 geht von 4,5 Millionen Sprecherinnen und Sprechern außerhalb Rumäniens und Moldawiens aus, so dass man gerundet ingesamt weltweit etwa 30 Millionen Primärsprecherinnen und -sprechern der rumänischen Sprache annehmen kann. Rumänisch ist eine romanische Sprache, die sich jedoch von den als Fremd‐ sprachen in Deutschand geläufigen westromanischen Sprachen wie auch vom Italienischen in verschiedener Hinsicht unterscheidet: Zum einen handelt es sich um eine relativ junge Latinität, die entsprechenden Gebiete (v.a. Dacia) wurden 280 Daniel Reimann von den Römern erst zu Beginn des 2. Jahrhunderts nach Christus kolonisiert und konnten auch nur recht kurz - bis Ende des 3. Jahrhunderts - gehalten werden (vgl. z. B. Schroeder 1967, 22sqq., Bochmann/ Stiehler 2010, 20sqq.). Durch die vom Zentrum des Reiches relativ weit entfernte Randstellung handelt es sich zugleich um eine konservative Latinität, die bestimmte gemeinsame Züge mit dem ebenfalls an der Peripherie des Imperiums gelegenen iberoromanischen Raum erklärt (z. B. vă rog - bitte). Das Rumänische bewahrt als einzige romanische Sprache die drei Genera Maskulinum, Femininum und Neutrum sowie ein flektiertes Kasussystem. Das Lateinische traf auf andere indigene (Substrat-) Sprachen als in den anderen Provinzen. Diesen sind Lexeme entlehnt, die sich folglich in den anderen romani‐ schen Sprachen nicht finden und etwa zu Gemeinsamkeiten mit dem Albanischen führen (z. B. mă bucur (de) - für „ich freue mich an / auf / über“, „es gefällt mir“) (vgl. z. B. Bochmann / Stiehler 2010, bes. 34sqq.). In Zeiten der Völkerwanderung führte die Eroberung der Gebiete durch slawische Völker ab dem 7. Jahrhundert zu einem spürbaren slawischen Einfluss, der durch die Bedeutung des Kirchenslawischen bis ins 19. Jahrhundert verstärkt wurde (vgl. z. B. Schroeder 1967, 33sqq., Boch‐ mann / Stiehler 2010, 38sqq.). Weitere für die westlichen romanischen Sprachen weniger oder gar nicht relevante Kontaktsprachen - etwa das Griechische und das Ungarische, durch Zugehörigkeit zum Osmanischen Reich vor allem auch das Türkische und zuvor weitere Turksprachen - führen zu einer Divergenz des Rumänischen von Sprachen wie dem Französischen, Spanischen, Portugiesischen oder Italienischen (vgl. z. B. Bochmann / Stiehler 2010, 47sqq.). In der Folge der deutschsprachigen Migration in das rumänische Sprachgebiet v.a. im 12. und 18. Jahrhundert kennt das Rumänische darüber hinaus zahlreiche Entlehnungen aus dem Deutschen (z. B. cartof, Plural cartofi - Kartoffel(n)) (vgl. z. B. Bochmann / Stiehler 2010, 55). Zugleich lässt die erwähnte konservative Latinität das Rumä‐ nische deutlich als romanische Sprache erkennen, gerade mit dem Italienischen finden sich zahlreiche gemeinsame lautliche und morphologische Züge (etwa Plural aus dem lateinischen Nominativ Plural auf -i bzw. -ae vs. aus dem Akkusativ in den westromanischen Sprachen Französisch, Spanisch und Portugiesisch, die daher ein „Plural-s“ kennen). Hinzu kommen zahlreiche Latinismen v.a. aus dem 17. und 19. Jahrhundert (s.u., Abschnitt 3.2.2). Sprachstatistische Erhebungen der 1950er Jahre sind etwa bezogen auf den tatsächlichen Gebrauchswert / die Verwendung in der gesprochenen Sprache zu dem Ergebnis gekommen, dass über 80 % des Gebrauchswortschatzes lateinischen, nur ca. 10 % slawischen Ursprungs sind (weiterführend Schroeder 1967, 44). Der erste schriftlich überlieferte Text in rumänischer Sprache stammt aus dem 16. Jahrhundert (vgl. z. B. Bochmann / Stiehler 2010, 72sqq.), womit das Rumänische eine deutlich kürzere überlieferte Sprach- - und folglich Literatur‐ 281 Für eine Didaktik des Rumänischen als Schulsprache in Deutschland geschichte (vgl. z. B. Schroeder 1967, 74sqq., Bochmann / Stiehler 2010, bes. 146sqq.) - aufweist als andere romanische Sprchen. Mit dem erwachenden Nationalgefühl im 19. Jahrhundert besann man sich auf die Latinität und orientierte sich an Mittel- und Westeuropa, was u. a. zur Übernahme des lateinischen Alphabets sowie zu zahlreichen Latinismen und Französismen (mit Einschränkungen auch Italianismen) führte (vgl. z. B. Bochmann / Stiehler 2010, 106sqq.) (vgl. Reimann 2017b, 1sqq.). Eine Periodisierung der rumänischen Sprachgeschichte kann etwa wie folgt vorgenommen werden (vgl. Iliescu 2003, 530sq.): 1. Latein (2.-7. Jhd.) 2. Urrumänisch (8.-13. Jhd.) 3. Vorliterarisches Rumänisch (14. / 15. Jhd.) 4. Altrumänisch und entstehende rumänische Hochsprache (16.-18. Jhd.) 5. Modernes Rumänisch (18. Jhd.-1945) 6. Zeitgenössisches Rumänisch (1945-1989, 1989-). 3.2 Ausgewählte deskriptiv-systemlinguistische Aspekte in kontrastiv-linguistischer und mehrsprachigkeitsdidaktischer Perspektivierung Im Folgenden werden ausgewählte deskriptiv-systemlinguistische Phänomene der rumänischen Sprache in einer kontrastiv-linguistischen und mehrsprachig‐ keitsdidaktischen Perspektive vorgestellt, und zwar aus den folgenden sechs Bereichen: • Aussprache und Orthographie • Lexik • Morphosyntax: - Kasussystem - Präsumtiv - Gerundium - Supin. Abschließend erfolgt eine Zusammenfassung ausgewählter typologischer Cha‐ rakteristika der rumänischen Sprache. 3.2.1 Phoneme und Grapheme im Rumänischen Bis 1860 verwendete die rumänische Schriftsprache kyrillische Schriftzeichen (z. B. Iliescu 2002, 163). Erst danach wurde in Rumänien auf das lateinische Alphabet umgestellt. In Moldawien wurde zwischen 1940 und 1989 mit kyril‐ lischen Buchstaben geschrieben (Bossong 2008, 253). 1993 erfolgte die letzte 282 Daniel Reimann Rechtschreibreform. Auffällig sind Buchstaben mit diakritischen Zeichen wie ă [ǝ], â, î [ɨ] (beide), ș [ʃ], ț [ts]. Insgesamt umfasst das (dako-) rumänische Alphabet 31 Buchstaben (Iliescu 2002, 163). Das (dako-) rumänische Vokalsystem umfasst - je nach Zäh‐ lung - 33 Phoneme, darunter folgende sieben phonematische Vo‐ kale: / i/  - / ɨ/  - / u/  - / e/  - / ǝ/  - / o/  - / a/ , zwei bzw. vier Halbvokale bzw. Halbkon‐ sonanten und 22 Konsonanten (z. B. Vasiliu 1989, 1, Ernst 1998, 762, Iliescu 2002, 147, Grewendorf / Remberger 2014, 369). Die „3-Stufigkeit des Öffnungsgrades“ im Vokalsystem gilt als eine Charakteristik der rumänischen Phonologie, die das Rumänische mit dem Spanischen teilt (vgl. Ernst 1998, 761). / ɨ/ ist ein ungerundetes zentrales Vokalphonem mit minimalem Öffnungs‐ grad, „[d]ie Existenz der zentralen Vokale mit phonologischem Status auf allen drei Öffnungsstufen ist eine Charakteristik des Rumänischen“ (/ ɨ/ , / ǝ/ , / a/ , Iliescu 2003, 533sq., vgl. z. B. Ernst 1998, 761). Im Vergleich etwa zum Franzö‐ sischen und Italienischen werden / e/ und / o/ geschlossener artikuliert (Iliescu 2003, 534). Eine weitere Eigenheit des Rumänischen ist auslautendes, nur schwach (bis beinahe gar nicht) artikuliertes [i] am Wortende (vgl. Iliescu 2002, 148), z. B. in Pluralendungen wie copaci - Bäume: „[i] [wird] zu einem nichtsilbischen palatalen Laut ohne Vibration [i], der wie eine zusätzliche Aspiration im palatalen Bereich beschrieben werden kann und der kürzer ausgesprochen wird als [j] in der Funktion eines Halbvokals“ (Iliescu 2003, 534), es gilt als unsilbisches Allophon von / i/ (vgl. Ernst 1998, 763). Auffällig und das Rumänische charakterisierend sind weiterhin zahlreiche Diphthonge und Triphthonge, wiederum je nach Zählung z. B. 20 bis 25 Dip‐ thonge oder auch bis zu 22 steigende und 13 fallende Diphthonge sowie etwa acht, neun oder zehn Triphthonge (z. B. Ernst 1998, 762, Iliescu 2002, 148, Iliescu 2003, 534, vertiefend kann z. B. auf Iliescu/ Popovici 2013, 21sqq. verwiesen werden). Im Bereich des Konsonantismus kann im Kontrast zu den meisten anderen romanischen Sprachen einerseits die Existenz mehrerer Alveolare festgehalten werden, die das Rumänische mit dem Italienischen verbindet (/ ʃ/ , / ʒ/ , / tʃ/ , / dʒ/ ), der andererseits das Fehlen der in anderen romanischen Sprachen verbreiteten Laute / ʎ/ und / ɲ/ gegenübersteht. Auch fehlen - wie in den meisten romani‐ schen Sprachen mit Ausnahme von / R: / in einigen Sprachen - phonologisch relevanten Längen im Konsonantismus, was wiederum eine deutliche Abgren‐ zung zum Italienischen erlaubt (vgl. Ernst 1998, 762). Die folgende Tabelle zeigt Buchstaben, ihre Bezeichnung, entsprechende Pho‐ neme, jeweils ein Beispiel sowie besondere Graphem-Phonem-Beziehungen. 283 Für eine Didaktik des Rumänischen als Schulsprache in Deutschland Die Bezeichnungen der 31 Buchstaben der rumänischen Sprache sind maskulin (z. B. Iliescu/ Popovici 2013, 19). Rumänischer Buchstabe Bezeichnung des Buchstabens in der rum. Stan‐ dardvarietät Phonem Beispiel a a / a/ act - Akt, Akte ă ă / ǝ/ casă - Haus â ɨ din a / ɨ/ român - rumänisch b be / b/ București cim Digraphem „ci“/ „ce“ ce / k/ / tʃ/ cablu - Kabel cer - Himmel d de / d/ dată - Datum e e / e/ / ɛ/ mere - Äpfel (offene und ge‐ schlossene Aus‐ sprache möglich) / e̯/ seară - Abend in Diphthongen und Triphthongen am Wortanfang bei Personalprono‐ mina und Formen von a fi - sein / je/ el [jel] - er, ei [jej] - sie (Pl.), este [jeste] - er/ sie/ es ist, era [jera] - er/ sie/ es war f ef / f/ familie - Familie gim Digraphem <gi>/ <ge> ge / g/ / dʒ/ gară - Bahnhof gel (de duș) - (Dusch-) Gel h haș / h/ hotel - Hotel i i / i/ important - wichtig î ɨ din i / ɨ/ îmbarca - ein‐ schiffen j je / ʒ/ joc - Spiel 284 Daniel Reimann k ca (capa) / k/ kiwi - Kiwi l el / l/ lagună - Lagune m em / m/ mic - klein n en / n/ nu - nein, nicht o o / o/ / ɔ/ om - Mensch (offene und ge‐ schlossene Aus‐ sprache in Diphthongen möglich) und Triphthongen / o̯/ noapte - Nächte p pe / p/ pentru - für q kü / kw/ (nur in wenigen Fremdwörtern) r er / r/ România - Rumä‐ nien s es / s/ soare - Sonne ș șe / ʃ/ și - und știință - Wissen‐ schaft t te / t/ telefon - Telefon ț țe / ts/ piață - Markt, Platz u u / u/ cum - wie in Diphthongen und Triphthongen / u̯/ bzw. / w/ ou - Ei v ve / v/ viață - Leben w duble ve / w/ week-end (nur in Fremdwörtern) x ics / ks/ , intervokalisch nach / e/ auch / gz/ xerox - Kopierer examen - Prüfung y igrec / j/ yoga z zet / z/ zi - Tag 285 Für eine Didaktik des Rumänischen als Schulsprache in Deutschland Des Weiteren führen bestimmte konsonantische Grapheme in verschiedenen Kontexten zu unterschiedlichen phonetischen Realisierungen: Besondere Laute Beispiele <c> wird vor <a>, <o>, <u>, <â> sowie vor Konsonant und im Auslaut als [k] gesprochen casă, parc <g> wird vor <a>, <o>, <u>, <â> sowie vor Konsonant und im Auslaut als [g] gesprochen gust - Geschmack <c> wird vor <e> und <i> als [tʃ] gespro‐ chen cinema, centru, liceu - Gymnasium (ab Jahrgangsstufe 9) <g> wird vor <e> und <i> als [dʒ] gespro‐ chen Germania, gimnaziu - Gymnasium ( Jahr‐ gangsstufen 5-8) <ch> wird vor <e> und <i> als [k] gespro‐ chen chestiune - Frage, Angelegenheit <gh> wird vor <e> und <i> als [g] gespro‐ chen ghirlandă - Girlande, ghitară - Gitarre <sc> wird vor <a>, <o>, <u> und <sch> vor <e> und <i> als [k] gesprochen deschis - geöffnet (< *de-ex-cl(a)udere) Die Aussprache dieser Dibzw. Trigrapheme folgt also denselben Regeln wie im Italienischen und kennt grundlegende Analogien auch in den anderen romanischen Sprachen. Auf folgende Eigenheiten der Aussprache des Rumänischen soll weiterhin hingewiesen werden: • Das Rumänische kann - je nach Untersuchungsdesign etwa auf einer Stufe mit dem Italienischen - als eine der vokalreichsten romanischen Sprachen gelten (Ernst 1998, 763, mit weiterführender Bibliographie). • Es gibt keine Unterscheidung von langen und kurzen Vokalen (z. B. Velica 2010, 183), was etwa bei Deutschlernenden mit rumänischer Erstsprache zu Schwierigkeiten führen kann (vgl. Grewendorf/ Remberger 2014, 369), aber auch beim Erlernen des Rumänischen als Fremdsprache zu beachten ist. • Das Rumänische kennt einen dynamischen (Wort-) Akzent, der jedoch weniger stark ausgerprägt ist als im Deutschen oder auch im Italieni‐ schen: „Intensität, Dauer und Tonhöhe differenzieren betonte und unbe‐ tonte Silben im Rumänischen in wesentlich geringerem Maße als im 286 Daniel Reimann Deutschen […] und auch in den anderen romanischen Sprachen. Das Rumänische klingt eher monoton.“ (Iliescu 2003, 537) • Das rumänische <r> wird wie z. B. im Italienischen und Spanischen immer hörbar ausgesprochen und apikoalveolar realisiert. • Stimmlose Okklusiva werden wie in anderen romanischen Sprachen nicht aspiriert ([p], [t], [k]), stimmhafte Okklusiva dagegen immer stimmhaft ausgesprochen ([b], [d], [g]) - es gibt keine Auslautverhärtung wie im Deutschen. • Vokalfolgen, die auch Diphthonge bilden können, können in bestimmten Kontexten wie in anderen südromanischen Sprachen (z. B. Italienisch, Spa‐ nisch, Portugiesisch) und anders als im Deutschen auch als Hiat artikuliert werden, z. B. „E-uropa“, ei - sie (Plural) (vgl. Iliescu/ Popovici 2013, 23). Lautentwicklungen, die das Rumänische von anderen romanischen Sprachen un‐ terscheiden, stellt Velica 2010, 182 zusammen. Diese Tabelle soll hier, terminologisch überarbeitet (Diphthongisierung, Rhotazimus), teilweise mit geänderten Beispielen und um entsprechende Beispiele aus anderen romanischen Sprachen ergänzt, aufgegriffen werden: Phänomen Lateinisch Rumänisch andere romani‐ sche Sprachen 1a Diphthongie‐ rung von / e/ und / o/ , [dies] sera sol, solem (Bună) seara! soare It (Buona) sera! It sole, Sp sol, Pg sol, F soleil nox, noctem noapte It notte, Sp noche, Pg noite, F nuit 1b Jotazismus am Wortanfang herba iarbă It erba, F herbe, Pg erva (aber auch Sp hierba) 2 Labialisierung von velarem / k/ und / g/ vor alveo‐ laren Konsonanten, [wa] und von [ks] zu / p/ , / b/ , / m/ , octo opt It otto F, Pg huit, oito Sp ocho lingua limbă Pg It lingua, F langue, Sp lengua, Pg coxa coapsă língua It coscia, F cuisse, Pg coxa teilweise auch an‐ lautend quattuor patru It quattro, F quatre, Sp cuatro, Pg quatro 287 Für eine Didaktik des Rumänischen als Schulsprache in Deutschland 9 Vgl. Meyer-Lübke 1935, 8596, Pușcariu 1975, 1718. 10 Vgl. Pușcariu 1975, 237. 3 Rhotazismus: intervokalisches / l/ > / r/ caelum cer It cielo, F ciel, Sp cielo, Pg céu (Pg: oft Ausfall) malum mel măr miere It mela It miele, F miel Sp miel, Pg mel 4 Palatalisierung von alveolaren / d/ und / t/ vor kurzem / e/ und (la‐ teinischem) langem / i/ deus Zeu It Dio, F Dieu, Sp Dios, Pg Deus 3.2.2 Wortschatz des Rumänischen Um einen kurzen Einblick in den Wortschatz des Rumänischen zu geben, werden im Folgenden ausgewählte Verwandtschaftsbeziehungen tabellarisch aufgelistet (in Anlehnung an Palcu 2014). Eine Erklärung der Etyma bzw. die Angabe der Entsprechungen in anderen romanischen Schulsprachen sollen bezogen auf die Verwandtschaftsbezeichnungen das Potential des rumänischen Wortschatzes für die mehrsprachige Bildung und die Mehrsprachigkeitsdidaktik verdeutlichen: mamă Mutter F maman, It mamma, Sp mamá, Pg mam- tată Vater părinți = Eltern < L tata  9 bunică Großmutter < maică bună < L bona  10 bunic Großvater bunici = Großeltern < taică bun < L bonus soră Schwester F sœur, It sorella frate Bruder frați = Brüder, Ge-schwister F frère, It fratello fiică Tochter F fille, It figlia Sp hija, Pg filha fiu Sohn fils = Söhne, Kinder F fils, It figlio 288 Daniel Reimann 11 Vgl. Meyer-Lübke 1935, 424, Pușcariu 1975, 1054, 1809. 12 Vgl. Pușcariu 1975, 1856, dort auch zu verișoară. Ebd. wird auch auf die analoge, aber abweichende Bildung L consobrinus/ a primus/ a in den iberoromanischen Sprachen hingewiesen, aus der Sp. primo / prima und Pg primo / prima entstanden sind. mătușă Tante < L amita  11 unchi Onkel F oncle nepot Neffe F neveu, It nipote nepoată Nichte F nièce, It nipote cumnat Schwager It cognato, Sp cu‐ ñado, Pg cunhado cumnată Schwägerin It cognata, Sp cu‐ ñada, Pg cunhada verișor Cousin < L (consobrinus) verus  12 verișoară Cousine < L (consobrinus) vera nepot Enkelsohn It nipote, Sp nieto, Pg neto nepoată Enkeltochter It nipote, Sp nieta, Pg neta socru Schwiegervater socri = Schwieger‐ eltern It suocero, Sp su‐ egro, Pg sogro soacră Schwiegermutter It suocera, Sp su‐ egra, Pg sogra ginere Schwiegersohn It genero, Sp yerno, Pg genro noră Schwiegertochter It nuora, Sp nuera, Pg nora soț Ehemann < L socius soție Ehefrau < L socia Zugleich wird deutlich, dass das Rumänische zahlreiche Lexeme aufweist, deren lateinischer Ursprung oder Entsprechungen in den anderen romanischen Spra‐ chen nicht leicht erkennbar sind, d. h., dass hier beim Erlernen des Rumänischen als Fremdsprache ein erhöhter lernökonomischer Aufwand zu erwarten ist. 289 Für eine Didaktik des Rumänischen als Schulsprache in Deutschland Am Beispiel der Verwandtschaftsbezeichnungen wird deutlich, dass dafür nicht ausschließlich nicht-lateinische bzw. nicht-romanische Sprachschichten (etwa Sub- oder Adstrate, vgl. Abschnitt 3.1) verantwortlich sein müssen, sondern dass das Rumänische auch innerhalb des lateinisch-romanischen Lexikons zumindest auf phonetisch-phonologischer Ebene eigene Wege geht und somit Kognaten im psycholinguistischen Sinne bisweilen kaum mehr erkennbar sind (z. B. mătușă, verișor). Charakteristisch für den Wortschatz des Rumänischen sind u. a. zahlreiche rumänisch-italienische Parallelen, insbesondere auch Parallelen zu südita‐ lienischen Dialekten. Manche rumänisch-kalabresische Übereinstimmungen wurden mit dem gemeinsamen griechischen Einfluss erklärt (vgl. auch den weit‐ reichenden Einsatz des Konjunktivs, s. Abschnitt 3.2.4, Ernst 1998, 769). Wieder‐ holt wurde auch auf rumänisch-iberoromanische Übereinstimmungen im Sinne von Bartolis aree laterali - Konzept („Randromania“) hingewiesen (Ernst 1998, 769). Eine gewisse Eigenständigkeit des rumänischen Wortschatzes innerhalb der romanischen Sprachen lässt sich auch erahnen, wenn man zur Kenntnis nimmt, dass in einzelnen vergleichenden Untersuchungen das Rumänische die Sprache ist, die innerhalb eines bestimmten Korpus an „Panromanismen“ die meisten Lücken aufweist, mithin also die Sprache ist, die solche den anderen romanischen Sprachen gemeinsamen Wörter (z. B. amare, contentus, falsus usw.) nicht fortführt. Allerdings treten häufig andere lateinische Erbwörter oder spätere Entlehnungen aus dem Lateinischen an die Stelle der aufgegebenen Lexeme (Ernst 1998, 770, mit weiterführender Bibliographie). Die wesentlichen Schichten des rumänischen Wortschatzes spiegeln den Einfluss des (Kirchen-) Lateinischen und des (Kirchen-) Slawischen seit dem 9. Jahrhundert, den weniger bedeutenden ungarischen Einfluss vor allem im 11. und 12. Jahrhundert, den türkischen Einfluss seit dem 14./ 15. Jahrhundert, griechischen Einfluss aus verschiedenen Epochen, vor allem auch aus byzanti‐ nischer Zeit (7. bis 15. Jahrhundert) und aus der Phanariotenzeit des 18./ 19. Jahr‐ hunderts, deutschen Einfluss seit den Zuwanderungen des 12./ 13. Jahrhunderts und seit dem 17. Jahrhundert sowie aus der Zeit der österreichischen Herrschaft in Siebenbürgen und der Bukowina vom 18. Jahrhundert bis 1918, sowie jeweils verhältnismäßig geringen Einfluss aus dem Russischen, slawischen Nachbars‐ prachen und der Sprache der Roma. Vor allem seit 1989 ist auch ein zunehmender Einfluss des Englischen zu verzeichnen (vgl. z. B. Iliescu 2002, 160sqq., jeweils mit Beispielen). Der heutige spürbare lateinisch-romanische Wortschatzanteil des Rumäni‐ schen ist zwar einerseits erbwörtlich bedingt, vor allem aber dem lateinischen Kulturadstrat geschuldet, das vor allem seit dem 17. und dem 19. Jahrhundert 290 Daniel Reimann den rumänischen Wortschatz geprägt hat. Seinerzeit wurde in gezielten Re‐ formbewegungen der Anschluss an die Latinität und die westliche Romania gesucht (v. a. so genannte „Siebenbürgische Schule“ bzw. „școală ardeleană“ des 18./ 19. Jahrhunderts). Etwa zeitgleich wurden auch italienische und vor allem französische Wörter in die rumänische Sprache aufgenommen. Man kann von einer regelrechten „Reromanisierung“ (reromanizare) sprechen (Ernst 1998, 770, Iliescu 2002, 162). Maria Iliescu bringt die Bedeutung des französischen Einflusses auf das Rumänische wie folgt prägnant zum Ausdruck: „Der franzö‐ sische Einfluss auf das Rumänische ist mit dem mittelalterlichen Einfluss der gelehrten lateinischen Wörter auf das Französische und die anderen romani‐ schen Sprachen zu vergleichen“ (Iliescu 2003, 532). Gerhard Ernst bezieht auch neuere Latinismen und Romanismen des 20. Jahrhunderts ein und konstatiert: „Die Entlehnungen des 19./ 20. Jh. aus dem Lateinischen bzw. den anderen romanischen Sprachen haben sehr stark dazu beigetragen, den romanischen Charakter des rumänischen Lexikons zu unterstreichen“ (Ernst 1998, 768). Aus den verschiedenen Quellen des rumänischen Wortschatzes ergeben sich auch unterschiedliche Konstellationen der (Para-) Synonymie (Beispiele aus Iliescu 2002, 159): 1. beide Wörter stammen aus dem Lateinischen 2. beide Wörter stammen aus dem Slawischen 3. beide oder mehrere Wörter haben verschiedene Herkunft, z.B. ad (1) a conoaște - a ști - wissen ad (2) a grăi - a vorbi - sprechen ad (3) frontieră (< F) - graniță (< Slaw.) - hotar (< Ungar.) - Grenze. Es gibt zahlreiche Untersuchungen zu Ursprüngen und Schichtung des rumä‐ nischen Wortschatzes, die je nach Untersuchungsdesign zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Bezogen auf die verschiedenen Sub-, Super- und Adstrate als Gebersprachen (s. o., vgl. auch die Skizze zur externen Sprachgeschichte in Abschnitt 3.1) wurden je nach Korpus und Methode recht unterschiedliche Ergebnisse erzielt. Unter den Lehnwörtern seien etwa nach der Statistik von Macrea 1961, erstellt auf der Grundlage des Dicționarul limbii romîne moderne (DLRM) von 1958 43 % lateinisch-romanische Neologismen, v. a. aus dem Französischen, darüber hinaus 11,5 % der Lehnwörter slawischen, 3,6 % türkischen, 2,4 % neugriechischen, 2,2 % ungarischen, 1,8 % deutschen und 1,7 % italienischen Ursprungs (vgl. Metzeltin / Winkelmann 1989, 88, Iliescu 2002, 159). Entsprechende Ergebnisse zum lateinisch-romanischen Anteil des rumänischen Wortschatzes zusammenfassend können folgende Eckdaten als 291 Für eine Didaktik des Rumänischen als Schulsprache in Deutschland weitgehend gesichert festgehalten werden (Ernst 1998, 768, mit weiterführender Bibliographie): • Der erbwörtliche lateinische Anteil beträgt in Wörterbüchern der rumä‐ nischen Sprache ca. 4 bis 5 %, unter Einschluss im Laufe der Sprachge‐ schichte innerhalb des Rumänischen davon gebildeter Ableitungen ca. 20 %. • Mit Blick auf die Frequenz des erbwörtlich lateinischen Wortschatzes im Sinne von tokens innerhalb verschiedener Textkorpora kann festgehalten werden, dass dieser ca. 60 % bis 70 % in Texten ausmacht. • Unter den frequentesten Lexemen ist der erbwörtlich-lateinische Anteil ebenfalls sehr hoch, aber niedriger als in anderen romanischen Sprachen (ca. 30 bis 35 % der 2500 häufigsten Wörter, ca. 20 % der 5000 häufigsten Wörter). • Unter Einschluss der lateinisch-romanischen Entlehnungen und Neolo‐ gismen beträgt der „romanische“ Anteil des rumänischen Wortschatzes ca. 60 % der 2500 häufigsten Wörter (vs. z. B. 67 % im Französischen). • Bei Einbezug dieser Kategorie der Latinismen / Romanismen sowie in‐ nerhalb des Rumänischen gebildeter Ableitungen von lateinischen Basen liegt der lateinisch-romanische Anteil des rumänischen Wortschatzes bei etwa 80 %. • Wörter nicht lateinisch-romanischen Ursprungs finden sich vor allem in der Umgangssprache, während lateinisch-romanische Elemente vor allem im wissenschaftlich-technischen und politisch-administrativen Ge‐ brauch hoch frequent sind (hier mit einem Anteil von 90 bis 95 %). 3.2.3 Morphosyntaktische Besonderheiten im deutsch- / romanisch-rumänischen Sprachkontrast und Spezifika des Rumänischen Im Folgenden werden ausgewählte Besonderheiten und Spezifika der rumäni‐ schen Grammatik betrachtet, die bei der Aneignung des Rumänischen beson‐ dere Beachtung verdienen und dabei teilweise Anknüpfungsmöglichkeiten an andere Sprachen wie etwa Latein oder weitere romanische Sprachen bieten, teilweise aber auch Alleinstellungsmerkmale des Rumänischen innerhalb der romanischen (Schul-) Sprachen darstellen. In einem ersten Schritt werden zunächst Phänomene der Flexion der Substantive grundlegend vorgestellt. In der Folge werden ausgewählte Besonderheiten im Bereich der Verbalmorphologie vorgestellt, namentlich der Präsumtiv, das Gerundium und das Supinum. Da das Rumänische zu den flektierenden Sprachen zählt, weist es zahlreiche morphologische Variationen von Lexemen auf, wobei diese zumeist am Ende des Wortes auftreten. Zugleich ist insgesamt festzustellen, dass im Rumänischen 292 Daniel Reimann synthetische und analytische Formen nebeneinander existieren, mitunter auch als Varianten verwendet werden können. 3.2.3.1 Kasussystem des Rumänischen Anders als die anderen großen romanischen (Schul-) Sprachen wie etwa Fran‐ zösisch, Spanisch, Portugiesisch und Italienisch hat das Rumänische Reste des lateinischen Kasussystems erhalten, wobei sich die Deklination im Wesentli‐ chen auf zwei Formen beschränkt, nämlich je eine Form für Nominativ und Akkusativ und eine Form für Genitiv und Dativ. Weiterhin hat das Rumänische einen Vokativ erhalten, dessen Endung jedoch in den meisten Fällen mit dem Nominativ und Akkusativ übereinstimmt - eine Tendenz, die bereits im Latei‐ nischen angelegt war. Darüber hinaus gibt es wie in den anderen romanischen Sprachen, v. a. auch umgangssprachlich, die analytische Bildung von Genitiv und Dativ(-Funktion) (s. u.). Die Genitiv- und Dativformen des bestimmten Artikels lassen die histori‐ schen Formen des lateinischen ille gut erkennen, die hier in Erinnerung gerufen werden sollen: Singular Plural Nominativ ille, illa, illud illi, illae, illa Genitiv illius illorum, illarum, illorum Dativ illi (spätlat. illui) illis Akkusativ illum, illam, illud illos, illas, illa Ablativ illo, illa, illo illis Fett hervorgehoben sind hier die Formen, die sich für die obliquen Formen Genitiv-Dativ im Singular bzw. Plural durchgesetzt haben. Der bestimmte Artikel wird „enklitisch suffigiert“ bzw. nimmt die Rolle eines „enklitischen Flexionsmorphems“ ein (Iliescu 2003, 538, Stănescu 2010, 669, vgl. die folgende Tabelle in der Spalte „bestimmt“). Selbiges gilt für die Formen des unbestimmten Artikels, der sich auf die (spät-) lateinischen Formen von unus, -a, um (Dativ Singular im klassischen Latein: uni, im gesprochenen Spätlatein: unui, unae, Genitiv Plural: unorum, unarum, unorum) zurückführen lässt. Bei den Feminina auf -ă stimmt die (unbestimmte) Genitiv- und Dativform im Singular mit der für alle Casus gültigen Pluralform -e überein (zurückzuführen auf lateinisches -ae, das bereits die feminine Genitiv- und Dativ-Singularwie auch die Nominativ-Plural-Form war). 293 Für eine Didaktik des Rumänischen als Schulsprache in Deutschland Beispiele: Maskulinum unbestimmt bestimmt Singular Plural Singular Plural -u Nom./ Akk. un metru metri metrul metrii Gen./ Dat. unui metru unor metri metrului metrilor -Konsonant Nom./ Akk. un domn domni domnul domnii Gen./ Dat. unui domn unor domni domnului domnulor Femininum unbestimmt bestimmt Singular Plural Singular Plural -ă Nom./ Akk. o casă case casa casele Gen./ Dat. unei case unor case casei caselor -e Nom./ Akk. o vulpe (Fuchs) vulpi vulpea vulpile Gen./ Dat. unei vulpi unor vulpi vulpii vulpilor Neutrum unbestimmt bestimmt Singular Plural Singular Plural -u Nom./ Akk. un centru centre centrul centrele Gen./ Dat. unui centru unor centre centrului centrelor -Konsonant 294 Daniel Reimann Nom./ Akk. un hotel hoteluri hotelul hotelurile Gen./ Dat. unui hotel unor hoteluri hotelului hotelurilor Diese Darstellung kann nur einen ersten Einblick in die komplexe, sich im Gebrauch aber schnell erschließende Nominalmorphologie des Rumänischen bieten. Für eine ausführliche Darstellung der Deklinationen mit bestimmtem und unbestimmtem Artikel in den verschiedenen Genera kann auf Iliescu/ Popovici 2013, 78sqq. verwiesen werden. Das Oszillieren des Rumänischen zwischen synthetischen und analytischen Bildungen lässt sich am Beispiel der Kasusfunktionen besonders gut veran‐ schaulichen. Um die oben beschriebenen Bildungen des Genitiv und Dativ, aber auch den Akkusativ zu ersetzen bzw. zu markieren gibt es, jeweils unter bestimmten syntaktischen Voraussetzungen, die in diesem grundlegend einfüh‐ renden Beitrag nicht im Detail vertieft werden können, vor allem umgangs‐ sprachlich folgende Möglichkeiten der analytischen Bildung (einführend vgl. z. B. Ernst 1998, 764sq., Iliescu 2002, 150sq., Iliescu 2003, 539, Iliescu / Popovici 2013, 69sq.): Genitiv Dativ Akkusativ synthetische Form ușa școlii - die Tür der Schule Aduc elevului o carte. - Ich bringe dem Schüler ein Buch. analytische Formen de la + Nom./ Akk. (nur unbelebter Be‐ sitzer) la + Nom./ Akk. (Objektpronomen) + pe + Akkusativ einer (bekannten) Personenbezeich‐ nung → Beispiel ușa de la școală Aduc la elevul o carte. îl visitez pe prieten. - ich besuche den Freund, o văd pe Maria - ich sehe Maria a + Nom./ Akk. (vor Mengen-be‐ zeichnungen und -angaben) a + Nom./ Akk. → Beispiel lucrările a trei elevi - die Arbeiten von drei Schülern contrar a ceea ce știam - entgegen meinem Wissen (Iliescu 2002, 150) 295 Für eine Didaktik des Rumänischen als Schulsprache in Deutschland Possessiv- / Geni‐ tivartikel al / a - ai / ale + synthetischer Ge‐ nitiv / Dativ → Beispiel un prieten al părinților - ein Freund der Eltern proklitischer Ge‐ nitiv- / Dativar‐ tikel lui bei bekannten Personen → Beispiel casa lui Petre - Petres Haus Weiterhin werden im Rumänischen zahlreiche (referentielle) Attribute durch de + Nom./ Akk. ausgedrückt, z. B. filme de aventuri (vgl. z. B. Iliescu 2002, 150, Iliescu / Popovici 2013, 377). Die Ergänzung des Akkusativs von als für Sprecher und Hörer bekannt erachteten Personen einschließlich vertrauter Lebewesen (Haustiere) durch die Präposition pe kann etwa mit dem präpositionalen Akku‐ sativ a im Spanischen (z. B. veo a María), aber auch in anderen romanischen Varietäten verglichen und gemeinsam mit dem Phänomen eines proklitischen Genitiv- und Dativartikels (z. B. casa lui Petre - Petres Haus) als Ansatz einer „Kategorie ‚Genus der individualisierten Person‘“ interpretiert werden (Ernst 1998, 764, jeweils mit weiterführender Bibliographie, zum persönlichen Akku‐ sativ des Rumänischen weiterhin z. B. Iliescu / Popovici 2013, 384). Der so genannte Possessiv- oder Genitivartikel stellt eine weitere Besonder‐ heit des Rumänischen dar: Sofern das die besitzende Instanz bezeichnende Substantiv nicht durch einen bestimmten Artikel ergänzt ist (Iliescu 2002, 151, 156), kann ihm ein Possessivartikel folgen, der sich in Genus und Nummerus nach dem durch das Genitivattribut näher bestimmten nominalen Bezugswort richtet, diesem wiederum folgt der synthetische Genitiv, also z. B. o casă a proprietarului - ein Haus des Vermieters vs. casa proprietarului - das Haus des Vermieters. Der Possessivartikel kann mithin „als ein auf gewisse Umstände beschränktes analytisches Genitivmorphem“ interpretiert werden (Iliescu 2003, 538). Historisch lässt sich der Possessivartikel möglicherweise aus der Verbin‐ dung der Präposition ad mit spätlateinischen, auf ille, illa, illud zurückgehenden Formen begründen, also z. B. ad illo > alu > al bzw. ad illa > a, wodurch in einem ersten Schritt Dativ-, später auch Genitivfunktionen markiert wurden (vgl. z. B. Iliescu 2003, 553 mit weiterführender Bibliographie, dagegen z. B. Manoliu Manea 1989, 106 mit weiterführender Bibliographie). Die Entwicklung scheint durch den Kontakt mit Nachbarsprachen begünstigt worden zu sein (Ernst 296 Daniel Reimann 1998, 765, mit weiterführender Bibliographie, weiterführend zum Possessiv- / Genitivartikel vgl. z. B. Iliescu / Popovici 2013, 90sq.). Aufgrund der mannigfaltigen Postdetermination durch die auf das Latei‐ nische zurückzuführenden flektierten Endungen ist hier im Verhältnis zu anderen, bisher etablierten romanischen Schul(fremd)sprachen wie Französisch, Spanisch oder Italienisch, die kein flektiertes Kasussystem und im Wesentlichen allenfalls im Vergleich recht homogene Genus- und Numerusmarkierungen aufweisen, mit größeren Lernschwierigkeiten zu rechnen. Lernende mit aktiven Lateinkenntnissen könnten hier gegenüber Lernenden mit Kompetenzen nur in den modernen romanischen Sprachen leicht im Vorteil sein. 3.2.3.2 Präsumtiv Der Präsumtiv (prezumtiv) ist unter den romanischen Sprachen ein für das Rumänische spezifischer Modus bzw. „eine grammatikalisierte analytische Verbalform zum Ausdruck der epistemischen Modalität“ (Iliescu 2002, 153). Er drückt Unkenntnis, Unwissenheit oder eine Annahme aus, wird daher häufig auch in Fragen verwendet. In Aussagesätzen kann er als Äquivalent der epistemischen Modalität des Futurs in anderen romanischen Sprachen gelten. Ein Beispiel wäre etwa: Ioana o fi studiind încă. - Ioana lernt / studiert wohl noch (vgl. z. B. F Il sera à la campagne. - Er ist wohl auf dem Land., Sp Tendrá unos sesenta años. - Er wird so um die 60 Jahre alt sein., Pg Estará doente. - Sie / er wird wohl krank sein., It Saranno le cinque. - Es wird wohl 5 Uhr sein.). Der rumänische Präsumtiv wird analytisch gebildet, und standardsprachlich vor allem in der 3. Person (Singular und Plural), umgangssprachlich häufig und in allen Personen verwendet (Iliescu / Popovici 2013, 242). Insgesamt gibt es für das Präsens des Präsumtivs vier unterschiedliche Möglichkeiten der Bildung, für das Perfekt drei verschiedene Formenreihen, wobei die jeweils häufigste Bildung aus folgenden Bestandteilen besteht (vgl. Iliescu / Popovici 2013, 242sq.): Präsumtiv Präsens: konjugierte Form des Hilfsverbs a voi („wollen“) (prezentul prezumtiv) im Präsens + fi (Infinitiv von „sein“) + Gerundium (gerunziul) Präsumtiv Perfekt: konjugierte Form des Hilfsverbs a voi („wollen“) (perfectul prezumtiv) im Präsens + fi (Infinitiv von „sein“) + Partizip Perfekt (participiul perfect) 297 Für eine Didaktik des Rumänischen als Schulsprache in Deutschland Die Bildung des Präsumtiv Perfekt ist identisch mit dem Futur II (vgl. Iliescu / Popovici 2013, 243) und kann wiederum auch in Analogie zur epistemischen Modalität des Futur II in den anderen romanischen Sprachen gesehen werden. Der Präsumtiv Präsens kann weiterhin mit den (umgangssprachlichen) Formen des Futur I (umgangssprachliche Formen von a voi + kurzer Infinitiv) zusam‐ menfallen. Weniger gebräuchlich ist die Variante, bei der a voi in der oben als erste beschriebenen Bildung durch ein anderes Hilfsverb, namentlich a avea („haben“) ersetzt wird, so dass a avea + fi + Gerundium den Präsumtiv bilden. Ein noch selteneres Bildungsmuster besteht aus der konjunktivische Nebensätze einleitenden Konjunktion să + fi + Gerundium (Iliescu / Popovici 2013, 242sq.). Das Hilfsverbum a voi kann wiederum in einer standardsprachlichen und in einer umgangssprachlichen Variante konjugiert werden, mit bestimmten Präsumtiv-ty‐ pischen Präferenzen (Iliescu / Popovici 2013, 242). Aus den ersten beiden genannten Möglichkeiten der Bildungs des Präsumtiv ergeben sich exemplarisch die zwei folgenden, häufigen Formenreihen (am Beispiel des Verbs a cânta - singen): voi / oi (ugs.) oi vei oi / ăi va / o o vom / om fi cântând om cânta veți oți / ăți vor / or or Beim Hilfsverb a fi (sein) selbst fällt im Präsumtiv Präsens das Gerundium aus, d.h., es steht dann nur o fi, z. B. Unde o fi Marcel? - Wo mag Marcel sein? , Când o fi acasă? - Wann wird er wohl zu Hause sein? (vgl. Salzer 2015, 153). Für den Präsumtiv Perfekt ist die geläufigste Formenreihe am Beispiel des Verbs „schreiben“: voi / oi (ugs.) fi cântat vei va / o vom / om 298 Daniel Reimann veți vor / or Die beiden weniger geläufigen Paradigmen fallen mit denen des Konditional Perfekt respektive des Konjunktiv Perfekt zusammen (Iliescu / Popovici 2013, 243). 3.2.3.3 Gerundium Insgesamt kennt das Rumänische vier infinite Modi bzw. Nominalformen des Verbs: Infinitiv, Partizip Perfekt, Gerundium und Supinum (Iliescu 2002, 153). Von diesen sollen im Folgenden das Gerundium und das Supinum aus sprachkontrastierender Perspektive betrachtet werden. Wie das Lateinische, Italienische, Spanische und Portugiesische (aber anders als das Deutsche und das Französische), verfügt das Rumänische über ein Gerundium (gerunziul). Es wird auf -ând (Verben auf -a, -ea, -e, -î) bzw. -ind gebildet (Verben der i-Gruppe sowie die Verben, deren Stamm auf -i enden, also z. B. auch studiind). Wie in den genannten anderen romanischen Sprachen kann es vor allem temporale, kausale, konditionale, konzessive und modale Bedeutung haben. Im Französischen und Deutschen entspricht es am ehesten einer zusammengesetzten gérondif-Konstruktion bzw. einem entsprechenden Nebensatz. z.B. a studia - studiind Rumä‐ nisch Italienisch Spanisch Portugie‐ sisch Franzö‐ sisch Deutsch studiind studiando estudiando estudando en étudiant z.B. weil / indem er / sie lernt / studiert Studiind atât de mult, el are succes. Vgl. It Studiando così tanto ha successo. Sp Estudiando tanto tiene éxito. Pg Estudando tanto ele consegue. aber F En étudiant autant il a du succès. 299 Für eine Didaktik des Rumänischen als Schulsprache in Deutschland Die Konstuktion ist für deutschsprachige Lernende gewöhnungsbedürftig. Beim Vorliegen von Kenntnissen im Lateinischen, insbesodere aber auch in den romanischen Sprachen Italienisch, Spanisch oder Portugiesisch, ist indes mit einem erheblich einfacheren Zugang zu diesem Phänomen zu rechnen (weiter‐ führend zu Formen und Gebrauch des Gerundiums im Rumänischen vgl. Iliescu / Popovici 2013, 248sq., 291sqq.). 3.2.3.4 Supinum Das Lateinische verfügt über zwei infinite Verbformen, die in der Grammatiko‐ graphie als Supin(um) beschrieben werden. Beide sind vom Partizip Perfekt Passiv abgeleitet, Supin I ist mit dem Neutrum Singular identisch (-um), Supin II endet auf -u. Sie drücken eine finale Beziehung aus und werden folglich im Deutschen mit erweiterten Infinitiven („um zu“ bzw. „zu“) wiedergegeben, z. B. iit petitum aquam - er ging, um Wasser zu holen bzw. difficile est dictu - es ist schwer zu sagen. Diese Formen finden in anderen romanischen Standardspra‐ chen keine direkten Nachfolgekonstruktionen, in diesen werden in den meisten Fällen, in denen das Lateinische Supin kennt, (erweiterte) Infinitivkonstrukti‐ onen verwendet. Im Rumänischen hingegen gibt es ein Supinum (supinul), das häufig aus der Präposition de und dem Partizip Perfekt (participiul perfect) gebildet wird. Die Verbindung von de mit Supinum steht dabei wiederum häufig als Ersatz eines Infinitivs, etwa in Formulierungen wie nʼam nimic de spus - ich habe nichts zu sagen (< Infinitiv spune - sagen) (vgl. z. B. Iliescu 2003, 547). Häufig wird das Supinum auch in Verbindung mit dem Verb a avea (haben) und zum Ausdruck einer Verpflichtung oder einer Absicht verwendet, z.B. am de studiat - ich muss lernen (vgl. z. B. F jʼai à étudier, It ho da studiare, Pg tenho de estudar) (Vgl. die Entstehung des romanischen Futurs aus lateinischen Konstruktionen bestehend aus habere + Infinitiv, die eine Verpflichtung oder Absicht ausdrü‐ cken.) Das Supin steht auch nach Adjektiven und Adverbien in Ausdrücken wie e bine de știut - das ist gut zu wissen (vgl. auch hier in anderen romanischen Sprachen Infinitivkonstruktionen wie z. B. It (è) buono a sapersi, F cʼest bon à savoir, Sp es bueno saberlo, Pg é bom saber). Weiterhin dient das Supinum der Bildung zusammengesetzter Substantive, die in den anderen romanischen Spra‐ chen häufig ebenfalls durch infinitivbasierte Konstruktionen gebildet werden, z.B. mașină de spălat - Waschmaschine (vs. z. B. F machine à laver) apă de băut - Trinkwasser 300 Daniel Reimann Nicht zuletzt werden mit dem rumänischen Supinum Kausalkonstruktionen gebildet, die in den anderen romanischen Sprachen wiederum mit Infinitiv-, ggf. auch anderen Partizipialkonstruktionen oder Gerundien gebildet werden, z.B. De studiat atât de mult sunt obosit. - Weil ich so viel gelernt habe / Vom vielen Lernen bin ich müde. (Vgl. F Pour avoir étudié autant, je suis fatigué(e), Ayant étudié autant, je suis fatigué(e), It Per aver studiato …, Avendo studiato tanto …, Sp Por haber estudiado tanto …, Habiendo estudiado tanto …, Pg Por ter estudado tanto …, Tendo estudado tanto …) Nicht zuletzt kann das Supinum wie der so genannte „lange Infinitiv“ (entspre‐ chend der etymologischen Form auf -re, z. B. cântare - das Singen vs. a cânta - singen) als Verbalsubstantiv verwendet werden, z. B. băut - das Trinken, einige substantivierte Supina sind zudem lexikalisiert, z. B. început - der Anfang (Iliescu / Popovici 2013, 295). Das Supinum ist bei der Aneignung des Rumänischen als Fremdsprache für deutschsprachige Lernende mit erhöhtem Lernaufwand verbunden, da es sich nicht um eine vordergründig transparente Konstruktion handelt und es über keine Entsprechung im Deutschen, aber auch über keine direkte Entsprechung in den häufig als Brückensprachen fungierenden anderen romanischen (Schul-) Sprachen verfügt. Erleichternd kann die Betrachtung als infinite Verbform, also letztlich als eine Spielart des Infinitivs, wirken, zu dem es häufig als Äquivalent eingesetzt wird (vgl. durch Präpositionen eingeleitete Infinitivkonstruktionen in anderen romanischen Sprachen). Ob das rumänische Supin tatsächlich eine Fortführung des lateinischen Supin ist oder eine spätere Bildung darstellt, scheint nicht abschließend geklärt, einiges spricht für eine Weiterentwicklung innerhalb des Rumänischen (z. B. Ernst 1998, 766, Metzeltin 2016, 944, jeweils mit weiterführender Bibliographie). Weiterführend zum Gebrauch des Supinums im Rumänischen kann z. B. auf Iliescu / Popovici 2013, 250, 294sq. sowie auf Metzeltin 2016, 89sqq. verwiesen werden. Abgesehen von solchen Spezifika und weiteren Eigenheiten etwa in der Bildung einzelner Tempora und Modi bietet das Rumänische in seiner Morpho‐ syntax zahlreiche offensichtliche Anknüpfungspunkte an die verbreiteteren ro‐ manischen Schulsprachen Französisch, Spanisch, Italienisch und Portugiesisch (vergleichend einführend z. B. Bossong 2008, bes. 247sqq.). 3.2.4 Typologische Charakteristika des Rumänischen Zusammenfassend und abschließend können folgende ausgewählte typologi‐ sche Charakteristika und Tendenzen der rumänischen Sprache festgehalten werden (in Anlehnung an Iliescu 2003, 568, mit Ergänzungen aus Ernst 1998): 301 Für eine Didaktik des Rumänischen als Schulsprache in Deutschland • hohe Anzahl an Diphthongen und Triphthongen auf der Grundlage von Halbvokalen • Tendenz zur Vokalschwächung, z. B. a > ă [ǝ] (vgl. z. B. Portugiesisch), ggf. > â, î [ɨ] • Frequenz der vokalischen Alternanz (Ernst 1998, 762, mit einem Vergleich zum Altfranzösischen) • Tendenz zur Labialisierung, z. B. quater > patru, aqua > apă, octo > opt • Koexistenz verschiedener Entwicklungen bzw. Entwicklungsstufen vom Lateinischen zu den romanischen Sprachen (z. B. synthetische und ana‐ lytische Formen) • Existenz eines Possessivartikels • Bedeutung des Dativs, auch als dativus possessivus und ethicus • Konjunktivprominenz (Konjunktiv statt Infinitiv z. B. nach Modalverben des Könnens und Wollens, eingeleitet durch die Konjunktion să, z. B. vreau să beau - ich will trinken, vgl. die entsprechenden durch griechischen Einfluss erklärten süditalienischen Phänomene, Ernst 1998, 766) • schwach ausgeprägte Zeitenfolge nach Verben der Wahrnehmung und in der indirekten Rede (vergleichbar mit anderen Balkansprachen, vgl. Ernst 1998, 767) • Wortbildung als Spiegel der verschiedenen Quellen des rumänischen Wortschatzes (erbwörtlich, Ad- und Superstrate). In einem sprachtypologisch orientierten Modell hat Michael Metzeltin (Met‐ zeltin 2016) den Versuch unternommen, Charakteristika des Rumänischen verschiedenen „Vektoren“ der Sprachentwicklung „im Sinne von Kräften, die bestimmte Richtungen kennzeichnen“ (Metzeltin 2016, 65) zuzuordnen. Für eine Charakterisierung der rumänischen Sprache setzt er dabei fünf Vektoren an, namentlich einen bewahrenden, einen latenzaktivierenden, einen homoge‐ nisierenden, einen evidenzierenden und einen imitierenden. Damit werden folgende Entwicklungstendenzen bezeichet (vgl. Metzeltin 2016, 65): • bewahrender Vektor: • Konservierung alter Strukturen • latenzaktivierender Vektor: • latente Strukturen werden entfaltet • homogenisierender Vektor: • Aufhebung unregelmäßiger, unökonomischer Strukturen • evidenzierender Vektor: • Entwicklung neuer Strukturen zur besseren semantischen oder pragmatischen Evidenzierung • imitierender Vektor: • Adaption oder Nachahmung von Strukturen anderer Sprachen. 302 Daniel Reimann Ausgewählte Beispiele für Phänomene der rumänischen Sprache, die diesen Tendenzen zugeordnet werden können, sind in der folgenden Tabelle zusam‐ mengestellt (vgl. Metzeltin 2016, 5sq. passim): bewahrend Erhalt von Deklinationen latenzaktivierend Erhalt / Entwicklung des Supinum homogenisierend vereinfachtes Konditionalgefüge: Kondi‐ tional / Konditional bzw. Ind. Imperfekt / Ind. Imperfekt evidenzierend präpositionales direktes Objekt imitierend verschiedene südosteuropäische Affini‐ täten 4 Umsetzungsperspektiven für die Praxis 4.1 (Schul-)Sprachenpolitische Dimension Vor dem Hintergrund der oben skizzierten Begründungszusammenhänge und aufgrund des aus mehrsprachigkeitsdidaktischer Perspektive (hierzu vgl. wei‐ terhin Abschnitt 4.2) innerhalb des deutschen Schulsprachengefüges - das neben dem Lateinischen bis dato die vier romanischen Sprachen Französisch, Italienisch, Spanisch und Portugiesisch in den Sekundarstufen I und II als Angebote vorhält - für viele Schülerinnen und Schüler verhältnismäßig leichten Zugangs zur rumänischen Sprache sollte erwogen werden, das Rumänische als Schulsprache zumindest im Sekundarbereich, ggf. punktuell auch im Pri‐ marbereich, zu berücksichtigen. An den Hochschulen müssten entsprechend qualifizierende Studiengänge oder zumindest ausreichend qualifizierende Er‐ gänzungs- oder Zertifikatsstudien eingerichtet werden. Als Grundlage hierfür ist eine Stärkung der Rumänistik und die disziplinäre Konstituierung einer Didaktik der rumänischen Sprache und Kultur notwendig. Die Einrichtug des Rumänischen als Schulsprache sollte v. a. dort geschehen, wo ein hoher rumänischer Bevölkerungsanteil die Sprache präsent sein lässt. Besonders geeignet dürften weiterhin Standorte sein, an denen eine ausgeprägte kulturelle und sprachliche Sensibilität die Wertschätzung und Wahrnehmung eines solchen Angebots erwarten lässt, etwa an alt- und durch romanische Sprachen neusprachlich geprägten Schulstandorten. Denkbar ist auch die Ein‐ richtung des Rumänischen im Wahl- (pflicht-) bereich als Enrichment-Angebot für besonders interessierte und begabte Schülerinnen und Schüler. Seltene 303 Für eine Didaktik des Rumänischen als Schulsprache in Deutschland Sprachenangebote - derzeit etwa Altgriechisch als AG bis zum Graecum, Hebräisch als AG oder als spät beginnende Fremdsprache - stoßen an den Schulen erfahrungsgemäß auf bisweilen unerwartete Resonanz (z. B. Büsche 2019). Enrichment und Akzeleration (hierzu s. u., Abschnitt 4.3.2) werden im Bereich der Begabungsforschung schon lange als zentrale Dimensionen der Be‐ gabtenförderung bzw. der Förderung besonders leistungsstarker Schülerinnen und Schüler thematisiert (z. B. Pfaffel / Wagner / Wagner 1998, 267sq., aus jüngerer Perspektive einführend z. B. Preckel / Vock 2013, 153sqq.). 4.2 Mehrsprachigkeitsdidaktische Dimension Rumänisch eignet sich hervorragend als Baustein in einem Modell der „aufge‐ klärten Mehrsprachigkeit“, wie ich es in Reimann 2016 erstmals ausführlich vorgestellt habe. In dieser Konzeption einer erweiterten Mehrsprachigkeitsdidaktik nimmt die Integration der beiden Dimensionen eines „traditionellen“, schulspra‐ chenvernetzenden Fremdsprachenunterrichts, wie er verstärkt seit den 1990er Jahren modelliert wird, auf der einen Seite und die Integration von Herkunftsspra‐ chen auf der anderen Seite eine zentrale Rolle ein (vgl. z. B. Reimann 2018b, 29). Dar‐ über hinaus sind die Dimensionen einer verstärkten Integration der produktiven Fertigkeiten in nachgelernten Fremdsprachen, die Vernetzung der - im Falle der romanistischen Mehrsprachigkeitsdidaktik - romanischen Sprachen auch mit dem Englischen, Lateinischen, (Alt-) Griechischen und weiteren Schulfremdsprachen, die Integration des Deutschen als Erst- und Fremd-/ Zweitsprache, die Entwicklung einer rezeptiven Varietätenkompetenz in der Zielsprache, die Einrichtung eines multilingualen Sachfachunterrichts sowie das Erreichen transkultureller kommu‐ nikativer Kompetenz als ein übergeordnetes Leitziel des Fremdsprachenunterrichts grundlegende Handlungsfelder einer „aufgeklärten“ Mehrsprachigkeit(sdidaktik) (vgl. Reimann 2016, 17sqq.). Die besondere Eignung des Rumänischen für dieses Konzept von Fremdspra‐ chenunterricht begründet sich darin, dass sich der Rumänischunterricht (vor allem gedacht als dritte oder spät beginnende Fremdsprache) in Deutschland zugleich einerseits wie die anderen romanischen Sprachen, die seinerzeit bereits mit gedacht wurden, hervorragend für die Umsetzung einer seit den 1990er Jahren modellierten „Didaktik der romanischen Mehrsprachigkeit“ im Sinne des schulsprachenvernetz‐ enden Lernens eignet (hierzu vgl. z. B. Meißner / Reinfried 1998, Martinez / Reinfried 2006), und auf der anderen Seite zugleich die Dimension einer Förderung von Herkunftssprachen im schulischen Unterricht berücksichtigen würde (vgl. Reimann 2016, García García / Prinz / Reimann 2020): Schülerinnen und Schüler, die über keinerlei Rumänisch-Vorkenntnisse verfügen, finden durch in den meisten anzu‐ nehmenden Fällen vorhandene Vorkenntnisse wenigstens im Lateinischen oder in 304 Daniel Reimann einer anderen romanischen Sprache einen erleichterten Zugang zum Rumänischen als Fremdsprache, Schülerinnen und Schüler, die das Rumänische als - wie auch immer gefestigte - Herkunftssprache aus ihrer eigenen Sprachenbiographie mit‐ bringen, können zu einer Förderung der Herkunftssprache im Rahmen des regulären Schulunterrichts gelangen. 4.3 Integration von Fremd- und Herkunftssprachenunterricht 4.3.1 Schulstrukturelle Aspekte Der Fremsprachenunterricht geht in Deutschland traditioneller Weise von der Annahme aus, dass Schülerinnen und Schüler über keinerlei Vorkenntnisse in der fraglichen Sprache verfügen. Dies ist in Zeiten zunehmender Mobilität, der Transmigration und transkultureller Hybridität allerdings immer seltener der Fall (vgl. z. B. Reimann 2020b). Der traditionelle herkunftssprachliche Unterricht weist in Deutschland eine lange, unmittelbar mit der Anwerbung so genannter „Gastarbeiter“ durch die Bundesrepublik verknüpfte, Geschichte auf (einführend z. B. Reich 2014 und 2016, Mehlhorn 2017). In den letzten Jahren und Jahrzehnten hat sich die Umsetzung des meist außerhalb der regulären Unterrichtskontingente und -zeiten angesiedelten herkunftssprachlichen Unterrichts zunehmend als pro‐ blematisch erwiesen: teilweise fühlen sich weder die involvierten Herkunftsstaaten noch die aufnehmenden Bundesländer wirklich verantwortlich, für Kinder und Jugendliche mit häufig geringem Bezug zu Sprache und Kultur ihrer Eltern oder tendenziell inzwischen häufiger Großeltern gibt es „attraktivere“ Freizeitangebote als zusätzlichen Sprachunterricht, usw. Die Realisierung des herkunftssprachlichen (Ergänzungs-) Unterrichts ist von Bundesland zu Bundesland verschieden, teils handelt es sich um staatlichen Unterricht des jeweiligen Bundeslands, teils um Unterricht der jeweiligen Konsulate, teils um Mischformen - einen Überblick über den Status quo und die heterogene Ausgestaltung bietet die Darstellung Mediendienst Integration 2020 (überblickend die Karte Seite 4). Da Rumänien kein Herkunftsland von Gastarbeitern in der alten Bundesrepu‐ blik Deutschland war, ist die Situation des herkunftssprachlichen Unterrichts im Rumänischen noch prekärer als in manch anderer Sprache. Nach Auskunft der Botschaft von Rumänien in der Bundesrepublik Deutschland gebe es keinen herkunftssprachlichen Unterricht unter der Ägide der Botschaft oder der Konsulate, allerdings punktuell an sog. Sonntagsschulen in einzelnen Kirchengemeinden (elek‐ tronische Nachricht an den Verf. vom 03.06.2020). Entsprechend der o.g. Darstellung Mediendienst Integration 2020 gibt es punktuell herkunftssprachliche Angebote im Rumänischen, und zwar in Bayern - dort organisiert vom (General-) Konsulat (Mediendienst Integration 2020, 6) -, in Brandenburg, Nordrhein-Westfalen und Sachsen - dort jeweils im Rahmen des staatlich organisierten herkunftssprachli‐ 305 Für eine Didaktik des Rumänischen als Schulsprache in Deutschland 13 Auch auf wiederholte Anfrage an das Generalkonsulat konnte keine Auskunft erzielt werden. Ein Dokument zur Abfrage des Bedarfs an entsprechendem Unterricht lässt auf eine - zumindest intensivierte - Bemühung um entsprechende Angebote nach 2016 schließen (vgl. grundschule-und-mittelsch.jimdo.com, 03.09.2020). 14 Nach Auskunft des Ministeriums für Schule und Bildung in Nordrhein-Westfalen (Nachricht an den Verfasser vom 27.08.2020). Die Anfänge des Herkunftssprachlichen Unterrichts als solchem bzw. seiner Vorläufer reichen in Nordrhein-Westfalen bis in die 1970er Jahre zurück. chen Unterrichts (in Brandenburg seit 2019/ 2020 mit 12 Teilnehmerinnen und Teilnehmer, in Sachsen mit 4, 8 bzw. 0 Teilnehmerinnen und Teilnehmern in den Jahren 2017/ 2018, 2018/ 2019 bzw. 2019/ 2020, in Nordrhein-Westfalen im Schuljahr 2019/ 2020 mit 654 Schülerinnen und Schülern (davon 416 auf der Primarstufe), unterrichtet in 36 Lerngruppen durch ca. 5,5 Lehrkraftstellen) (Mediendienst Inte‐ gration 2020, 8, 17, elektronische Nachricht des Ministeriums für Schule und Bildung Nordrhein-Westfalen an den Verf. vom 27.08.2020). Bundesland Träger Einführung Bayern Generalkonsulat nicht bekannt 13 Brandenburg Land seit 2019/ 2020 Nordrhein-Westfalen Land nicht rekonstruierbar 14 Sachsen Land seit 2017/ 2018 Abb.: Herkunftssprachlicher Unterricht Rumänisch in den Bundesländern (eigene Dar‐ stellung) Grundsätzlich ist vor diesem Hintergrund - wie für alle Herkunftssprachen, die auch als Schulsprachen gelehrt werden - zu überlegen, inwiefern es nicht sinnvoller Weise zu einer Integration von Fremd- und herkunftssprachlichem Unterricht kommen könnte. Der Fremdsprachenunterricht müsste dann so gestaltet werden, dass er - z. B. durch Maßnahmen der Binnendifferenzierung - gleichermaßen für Fremdsprachenlernende und für Schülerinnen und Schüler mit - häufig in unterschiedlichem Maße ausgeprägtem - zielsprachlichem Hin‐ tergrund geeignet ist; zu empirischen Grundlagen einer Inklusion von Schüle‐ rinnen und Schülern mit zielsprachlichem Hintergrund in den Fremdsprachen‐ unterricht am Beispiel der romanischen Sprachen und hier insbesondere für den Fall des Spanischen vgl. Reimann 2020b, aus unterrichtspraktischer Perspektive wiederum am Beispiel des Spanischen vgl. Martín Fraile / Bültemeyer 2020; 306 Daniel Reimann grundlegend aus slawistisch-didaktischer Perspektive weiterhin vgl. Brehmer / Mehlhorn 2018 und deren dort zitierte umfangreichen weiteren Studien). 4.3.2 Schulpraktische Aspekte Für die Förderung von Schülerinnen und Schülern mit zielsprachlichem Hin‐ tergrund im Fremdsprachenunterricht können zum einen Maßnahmen der Akzeleration greifen: es ist denkbar, dass solche Schülerinnen und Schüler nach Einstufungstests in der Zielsprache den Unterricht einer höheren Jahrgangs‐ stufe besuchen. Dem dürften aber in vielen Fällen alleine stundenplantechnische Gründe im Weg stehen - neben psychologischen Gründen, die etwa von Martín Fraile / Bültemeyer 2020 (36) vorgebracht werden. Weiterhin ist denkbar, auf der Grundlage eines Einstufungstests im Bedarfsfall zu leistungsdifferenzierter Lerngruppenbildung zu gelangen: so könnte man etwa für den Sekundarbereich ein Konstrukt entwickeln, in dem Herkunftssprecher/ innen bis zu einem Niveau A2 in den Fremdsprachenunterricht (hier: Rumänisch) integriert werden, ab einem festgestellten Niveau B1 einen aber eigenen Kursus durchlaufen, der ggf. auch an die Stelle einer anderen schulischen Fremdsprache treten kann. Es ist allerdings davon auszugehen, dass es sowohl aus schulstrukturellen Gründen als auch aufgrund des Niveaus in der Herkunftssprache in vielen Fällen zu einem gemeinsamen Unterricht für Fremdsprachenlernende (im Folgenden: L2L) und Herkunftssprecher/ innen (im Folgenden: HLL) kommen wird. Dabei ist auch im Rumänischen zu berücksichtigen, dass beide Gruppen unterschiedliche Lernvoraussetzungen mitbringen und unterschiedliche Bedürfnisse haben. Dies wurde in der heritage language-Forschung umfassend thematisiert; zentrale Aspekte können tabellarisch wie folgt zusammengefasst werden (vgl. z. B. Carreira 2016, 165, Rinke / Flores / Santos 2019, 223): HLL L2L age of onset ab Geburt später Zeitpunkt der Aneig‐ nung Stärken v. a. bei früh erwor‐ benen Phänomemnen weniger spürbare Unter‐ schiede zwischen verschie‐ denen Bereichen der Sprache Art des Inputs eher mündlich, eher um‐ gangssprachlich eher formal weniger Zugang zu Um‐ gangssprache Wissen und Kompetenz eher implizit v.a. mündlich, Wortschatz weniger standardorientiert eher explizit v.a. schriftlich / literacy skills eher standardorientiert 307 Für eine Didaktik des Rumänischen als Schulsprache in Deutschland Lernstile eher inhaltsorientiert eher von der Form zum In‐ halt sozio-affektive Dimen‐ sion familiärer Bezug häufig weniger Bezug Diesen unterschiedlichen Ausgangsvoraussetzungen und Bedürfnissen kann dabei auf verschiedene Weise Rechnung getragen werden. Aus der ebenfalls noch in den Kinderschuhen stehenden (vgl. Carreira 2016, 159) US-amerikani‐ schen Forschung zu „mixed classes“ gerade auch im Spanischunterricht können folgende Anregungen auf Brauchbarkeit geprüft werden: • Komplementarität der Kompetenzen nutzen, z. B. bei Partnerarbeit HLL - L2L, jeder soll das für sich Herausfordernde bearbeiten, z. B. Lückentext zu einer Fragestellung: L2L füllen Lücken, HLL beantworten eine aus dem Text hervorgehende Frage, • Inhaltsorientierung für HLL, Formorientierung für L2L, sog. macro-based approaches (z. B. Lernaufgaben) für HLL, micro-based approaches (vgl. kognitivierender Grammatikunterricht) für L2L, • phasenweise Binnendifferenzierung: z. B. Wochenplanarbeit für eine Sprechergruppe, Aktivitäten mit der Lehrkraft für die andere, Lernbüros, virtuelle Kursräume, • Bewusstmachung von Zielen und gegenseitige Stützung: KWL charts (what we know / what we want to learn / what we have learned), z. B. unterschiedliche Bedürfnisse bei Aneignung der Tempora und ihrer Verwendung (vgl. Carreira 2016). Auf der Grundlage von Alltagserfahrungen legen Martín Fraile / Bültemeyer 2020 (bes. 35) darüber hinaus u. a. gemeinsame Arbeit im Kontext von Lernauf‐ gaben, Aktivitäten in Lerntandems sowie das Erstellen und Bearbeiten von Fehlerprotokollen und individuelle Korrekturen als besonders geeignet vor, um in einem gemeinsamen Unterricht beiden Gruppen von Lernenden gerecht zu werden. Für die slawistische Fremdsprachendidaktik liegen ebenfalls Konzepte für die Berücksichtigung der Bedürfnisse der beiden Gruppierungen von Lernenden vor, die auf ihre Übertragbarkeit auf die romanischen Sprachen und hier konkret auf das Rumänische geprüft werden könnten (verkürzend und geringfügig adap‐ tierend (punktuell inhaltlich, v. a. terminologisch) wiedergegeben aus Mehlhorn 2016, 12, die sich ihrerseits auf Kagan / Dillon Source 2001 bezieht): 308 Daniel Reimann Lernbereich Fremdsprachenler‐ nende Herkunftssprachenler‐ nende Aussprache explizite und implizite Ver‐ mittlung kaum Bedarf Orthographie eher implizit explizit und kleinschrittig Wortschatz grundständige Wortschat‐ zaneignung Fokus auf Fachwortschatz und Registermarkierung (Umgangssprache vs. Stan‐ dardsprache) Grammatik kleinschrittige und grund‐ ständige Grammatikaneig‐ nung Konzentration auf fehler- (bes. auch in‐ terferenz-) anfällige Phä‐ nomene, macro-based-ap‐ proach (s. o.) Hör-Sehverstehen kleinschrittig: allmähliche Progression ausgehend von kurzen, einfachen Texten macro-based-approach: ganze Bandbreite authenti‐ schen zielsprachlichen In‐ puts Leseverstehen s. Hörverstehen s. Hörverstehen, viel Lese‐ angebote für SuS mit ziel‐ sprachlichem Hintergrund (→ Förderung der Schrift‐ lichkeit) Sprechen kleinschrittig: allmähliche Progression vom (Mini-) Dialog hin zu Monolog und Diskussion macro-based-approach: Schwerpunkt auf Präsenta‐ tion und Diskussion Schreiben kleinschrittig: allmähliche Progression von Einzel‐ sätzen über Kurztexte zu mittellangen Texten macro-based-approach: bereits früh lange Textpro‐ duktionen, Konzentration auf Inhalt, Orthographie, Grammatik und Stilistik Sprachmittlung kleinschrittig: allmähliche Progression von der Mitt‐ lung einzelner Informa‐ tionen zur Mittlung kom‐ plexerer Texte lebensweltliche Erfahrung mit Sprachmittlungssitua‐ tionen erlaubt anspruchs‐ vollere Aufgaben, Fokus bes. auch formelle Situa‐ tionen und schriftliche Sprachmittlung 309 Für eine Didaktik des Rumänischen als Schulsprache in Deutschland Kultur kleinschrittig: Progression von einzelnen landeskund‐ lichen Informationen über den interkulturellen Ver‐ gleich hin zur transkul‐ turellen kommunikativen Kompetenz macro-based-approach: authentische zielsprach‐ liche und -kulturelle Ausgangsdokumente und -texte, ggf. Einbeziehung von Migrationsliteratur Sprachreflexion lernunterstützende Funk‐ tion, bewusste Vergleiche zur Erstsprache Deutsch und vorgelernten Sprachen Konzentration auf Fehler‐ schwerpunkte, bewusste Vergleiche zwi‐ schen herkunftssprachli‐ cher Varietät und Stan‐ dardsprache Lernstrategien umfassende Aneignung, je nach 1., 2., 3. oder spät be‐ ginnender Fremdsprache Schwerpunkt auf der Über‐ arbeitung schriftlicher Texte Innerhalb der auf die deutschen Schulsysteme bezogenen romanistischen Fremdsprachenforschung wurde bis dato nur die allgemeine Situation von Schülerinnen und Schülern mit zielsprachlichem Hintergrund empirisch er‐ gründet (u. a. Motivation, Stärken, Schwächen, Fördermaßnahmen). Die daraus gewonnenen Erkenntnisse zu Fördermaßnahmen, die auch für das Rumänische im Sinne einer Integration von Fremd- und Herkunftssprachenunterricht zu prüfen wären, sollen im Folgenden resümiert werden: • Angebot differenzierenden Materials (auch zur herkunftssprachlichen Varietät) • Einbeziehung als Experten (Aussprache (v. a. Vorlesen), auch unter Be‐ rücksichtigung der herkunftssprachlichen Varietät, Lexik (v. a. Semanti‐ sierung), soziokulturelles Orientierungswissen) • Einbeziehung bei der Ergebnissicherung (Tafelanschrift, mündliche Zu‐ sammenfassung als „Spiegeltext“ statt „Lehrerecho“) • Einbeziehung als Helfer und Lernberater/ in / Lerncoach, v. a. bei koope‐ rativen Lernformen • Übernahme von Lehrerfunktionen (vgl. Lernen durch Lehren - „LdL“) • Moderation von Hausaufgabenbesprechung, aber auch von Diskus‐ sionen / Debatten • Aufzeigen von Grenzen, auch in Bezug auf Varietäten (v. a. Dialekte) • Zusatzaufgaben (Vorträge, Interviews) (vgl. Reimann 2020b, 243sq., ver‐ tiefend vgl. 238sqq.). 310 Daniel Reimann Weitere denkbare Fördermaßnahmen, die ich an dieser Stelle vorschlagen möchte, die aber einer Praxisprüfung und empirischen Beforschung unterzogen werden sollten, sind etwa: • Intensivierung des Einsatzes bei der Ergebnissicherung • Intensivierung des Einsatzes von LdL • vertiefte Einbeziehung auch in den Phasen der Vorbereitung / Konzeption und Durchführung von Unterricht • Erstellen von Übungen für Mitschüler/ innen • Erstellen von Erklärfilmen für Mitschüler/ innen (-> inverted classroom) • Auswahl und Aufbereitung von Dokumenten und Texten für Mitschüle‐ rinnen (z. B. Lieder, Gedichte, usw.) • Durchführung von Förderunterricht für einzelne Mitschülerinnen und Mitschüler • kooperative Lernformen - Gruppenarbeit: Wahrnehmung der Rolle eines „Sprachcoach“ • differenzierendes Textangebot (z. B. ungekürzte Texte), etwa Lesekoffer: schwierigere Texte • Stationenlernen: eigene Stationen • Übungen aus dem zielsprachlichen L1-Unterricht auf Lernplattformen Daneben müssten auch die Bedürfnisse der Lernenden ohne zielsprachlichen Hintergrund bewusst berücksichtigt werden. Über die - sofern diese Lernenden die Mehrheit einer Lerngruppe darstellen - grundlegende Orientierung v. a. an der Kleinschrittigkeit des traditionellen Fremdsprachenunterrichts hinaus können an dieser Stelle in Ermangelung empirischer Grundlagen zu dieser Fragestellung folgende konzeptionelle Überlegungen angestellt werden: • psychologische Unterstützung: Vermeidung von Minderwertigkeitsge‐ fühlen • Stärken unterstreichendes Feedback • Schulung der Wahrnehmung der Stärken der Mitschüler/ innen mit ziel‐ sprachlichem Hintergrund, verbunden mit • Ermutigung, Stärken der Mitschüler/ innen mit zielsprachlichem Hinter‐ grund z. B. in Partner-, Gruppen- und Projektarbeit aufzurufen • Ermutigung, Mitschüler/ innen mit zielsprachlichem Hintergrund in Be‐ reichen, in denen diese eher Schwächen aufweisen, zu unterstützen. 311 Für eine Didaktik des Rumänischen als Schulsprache in Deutschland 5 Zusammenfassung und Fazit Ziel des Beitrags war, die Relevanz des Rumänischen als Schulsprache für die deutschen Bildungssysteme zu verdeutlichen. Hierzu wurde u. a. histo‐ risch-kulturellen Aspekten, insbesondere um die lange Migrationsgeschichte aus deutschsprachigen Regionen in das Gebiet des heutigen Rumänien, Rech‐ nung getragen. Vor allem aber wurde die demographische Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland in den letzten gut zehn Jahren mit einem massiv angestiegenen rumänischen Bevölkerungsanteilen untersucht und als Faktor erkannt, aufgrund dessen Rumänisch als Schulsprache künftig stärker zu berücksichtigen sein wird. In kontrastiv-linguistischer und mehrsprachigkeits‐ didaktischer Perspektivierung konnte gezeigt werden, dass das Rumänische als romanische Sprache immer dann erleichtert als Fremdsprache angeeignet werden kann, wenn Vorkenntnisse in Latein oder in wenigstens einer anderen romanischen Sprache vorliegen, dass es aber andererseits aufgrund seiner be‐ sonderen Geschichte innerhalb der Romania Eigenheiten aufweist, die nicht nur Anknüpfungspunkte für mehrsprachige Schülerinnen und Schüler mit weiteren Herkunftssprachen bieten, sondern auch für sprachinteressierte Schülerinnen und Schüler spürbare, aber überwindbare, Herausforderungen mit sich bringen. Auf der Grundlage dieser Reflexionen wird hier dafür plädiert, Rumänisch im Primarbereich und im Sekundarbereich künftig flächendeckend als Schul‐ sprache zu berücksichtigen. Im Primarbereich ist dabei an Angebote eines herkunftssprachlichen Unterrichts zu denken, der für alle interessierten Schü‐ lerinnen und Schüler zu öffnen wäre. Im Sekundarbereich sollte Rumänisch zumindest als spät beginnende, ggf. auch als 3. Fremdsprache angeboten werden, wobei diese Kurse durch binnendifferenzierende Maßnahmen gerade auch Herkunftssprecher/ inne/ n offenstehen sollten (vgl. Abschnitt 4.3.2). Weiterhin sind, wie in 4.3.2 ausgeführt, eigene Kursangebote für besonders starke Her‐ kunftssprecher/ innen denkbar, die an die Stelle einer regulären Fremdsprache (etwa 3. oder spät beginnende Fremdsprache) treten könnten, sofern das Niveau B1 bereits vor Beginn der 3. bzw. spät beginnenden Fremdsprache vorliegt (etwa zum Zeitpunkt der Wahl dieser Wahl(pflicht)angebote). Vorsichtige Versuche, Rumänisch als Schulsprache stärker zu berücksich‐ tigen, sind derzeit vor allem auf der Primarstufe im Bereich des herkunftssprach‐ lichen Unterrichts erkennbar, wo einige Bundesländer in den letzten Jahren Angebote für Rumänisch eingerichtet haben (z. B. Brandenburg, Sachsen). In Nordrhein-Westfalen sind entsprechende Angebote schon etwas breiter aufge‐ stellt, auch in Bayern scheint das Generalkonsulat die Arbeit im Bereich des herkunftssprachlichen Unterrichts zu verstärken (vgl. Abschnitt 4.3.1). 312 Daniel Reimann Um Rumänischunterricht qualifiziert anbieten zu können, ist eine entspre‐ chende fachliche und fachdidaktische Lehrerausbildung unabdingbar. Hierfür wiederum ist die disziplinäre Entwicklung einer Didaktik der rumänischen Sprache und Literatur eine notwendige Voraussetzung. Insofern soll an dieser Stelle nicht nur an die Kultusministerien, sondern auch an die Wissenschaftsmi‐ nisterien und die lehrerbildenden Hochschulen appelliert werden, die Einrich‐ tung entsprechender Angebote zu prüfen. Indem sie das zumindest teilweise gemeinsame Unterrichten von Fremdsprachenlernenden und Herkunftsspre‐ cher/ inne/ n von Anfang an grundlegend in ihre Konzepte einbezieht, könnte eine zu konstituierende Rumänischdidaktik eine exemplarische Vorreiterrolle für die Fremdsprachendidaktik insgesamt mit Blick auf die von Anfang an selbstverständliche Integration beider in heutigen Fremdsprachenklassen auch anderer Sprachen präsenten Lernergruppen einnehmen. Bibliographie Balboni, Paolo E. 2009. Storia dellʼeducazione linguistica in Italia. Dalla Legge Casati alla Riforma Gelmini, Torino, UTET. Bayerischer Philologenverband (eds.) 2016. Bayerisches Philologenjahrbuch 2016. Mün‐ chen: Bayerischer Philologenverband. Bochmann, Klaus / Stiehler, Heinrich. 2010. Einführung in die rumänische Sprach- und Literaturgeschichte. Bonn: Romanistischer Verlag. Bossong, Georg. 2008. Die romanischen Sprachen. Eine vergleichende Einführung. Ham‐ burg: Buske. Brehmer, Bernhard / Mehlhorn, Grit. 2018. 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Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung des Deutschunterrichts“, in: Lechner, Elmar (ed.): Formen und Funktionen des Fremdsprachenunterrichts im Europa des 20. Jahrhunderts. Frankfurt am Main et al.: Peter Lang, 419-450. Wolf, Irina / Weident, Medena / Mazilu, Alina (eds.). 2011. Das rumänische Theater seit 1989. Seine Beziehungen zum deutschsprachigen Raum. Berlin: Frank & Timme. 318 Daniel Reimann Sprachstatt Sprechunterricht - ein Plädoyer Joachim Theisen Einleitung Der Beitrag reflektiert die zunehmende Mechanisierung des Deutsch als Fremd‐ sprachenunterrichts, wie sie - unter anderem - in Griechenland festzustellen ist. Es wird vorgeschlagen, nicht nur kommunikative Kompetenzen zu vermit‐ teln, sondern auch Sprachwissen zu lehren. FremdsprachenlehrerInnen sollten ihre linguistischen Kenntnisse nicht vergessen. Vielmehr sollten sie diese im Gegenteil kontrastiv und sprachvergleichend erweitern und weitergeben. Ein kontrastiver und sprachvergleichender Unterricht führt weit über die Kommu‐ nikation hinaus und schafft Sprachbewusstsein, das nicht nur dem Sprechen (und Schreiben) zugutekommt, sondern auch sprachbedingt unterschiedlichen Zugang zur Welt verstehen lässt. Das gilt sowohl für die Syntax als auch für den Wortschatz. 1 Kommunikation Günther Storch, dessen Buch zur Didaktik des Deutschen als Fremdsprache 1999 erschien, erzählte einmal folgende Geschichte: Im winzigen Copyshop, in dem in den 1980er Jahren die Kopien für die Vorlesungen und Seminare der deutschen Abteilung in Athen angefertigt wurden, war eines Tages auch der kleine Sohn des Inhabers anwesend. Der Vater, auf Griechisch: „Du lernst doch Deutsch. Sag mal was. Sag doch mal was.“ Der Junge, stocksteif: „Ich kann, du kannst, er kann, wir können, ihr könnt, sie können.“ Der Junge hat ganz offenbar nicht gewusst, warum er Deutsch lernen musste. Denn Deutsch können, bedeutet selbstverständlich, auf Deutsch kommuni‐ zieren zu können und nicht, Konjugationstabellen herunterleiern. Vielleicht hatte seine Lehrerin auch nicht viel verstanden. Andererseits: Die ersten „Gastarbeiter“ kamen in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts nach Deutschland, ohne je einen Sprachkurs besucht zu haben. Das war der Schlusspunkt einer jahrhundertelangen selbstverständlichen Praxis. „Gastarbeiter“ war lediglich ein neues Wort. Nur ein paar Zahlen: 1910 arbeiteten fast 150.000 NiederländerInnen im deutschen Reich, 1913 170.000 Italienerinnen und Italiener, 1914 allein im Ruhrgebiet ungefähr 350.000 Polen, die sogenannten „Ruhrpolen“ (cf. DHM, o. J.). Schon lange vorher waren Europäer nach Amerika ausgewandert - die ersten etablierten mit relativ viel Grausamkeit ihre eigene Sprache noch als künftige Landessprache, im Norden (Englisch und Französisch) wie im Süden (Spanisch und Portugiesisch). Es war auch später ein großes Wagnis, z. B. aus Deutschland kommend oder aus dem Fernen Osten, sein Zuhause zu verlassen und eine neue Heimat zu suchen. „Gastarbeiter“, von denen erwartet wurde, dass sie bald wieder gehen, gab es noch nicht. Das Wort „Ausland“ war gerade erst erfunden. Das Ausland, die Fremde war im Mittelhochdeutschen „ellende“, lateinisch „exsilium“, und „ellende“ wurde neuhochdeutsch „Elend“. Die meisten Auswanderer lernten, wo das nötig war, offenbar sehr schnell in der Fremdsprache zu kommunizieren, wenn sie nicht, z. B. aus Deutschland kommend, ihre eigenen Siedlungen gründeten, in denen sie mehr oder weniger unter sich blieben. Wenn sich aber amerikanische Großgrundbesitzer Sklaven aus Afrika liefern ließen, wurde dafür gesorgt, dass diese Menschen nicht aus ein und demselben Dorf, sondern aus verschiedenen Stämmen kamen, damit sie sich nicht ver‐ stehen und sich nicht miteinander zu einem Aufstand gegen den Sklavenhalter verabreden konnten. Dahinter stand eine uralte Erfahrung, die in der Bibel als Geschichte vom Turmbau zu Babel erzählt wird: Wenn alle Menschen eine einzige Sprache sprechen, werden sie mächtiger als Gott. Zur menschlichen Grundausstattung gehört Sprache, und damit ist gemeint die Sprache - nicht die Sprache dieses oder jenes Dorfes in Afrika, nicht die Sprache des Sklavenhalters in Amerika. Die Sklaven fanden deshalb auch sehr schnell eine Kommunikationsform, deren lautlicher Teil aus allerhand Komponenten der Sprachen aller Beteiligten zusammengesetzt war, auch aus der Sprache des Sklavenhalters. Und nicht erst zwischen den Kindeskindern, sondern bereits zwischen den Kindern entwickelte sich daraus eine vollkommen funktionierende, eigenständige Sprache, mit der sich alles machen ließ, was man mit einer Sprache machen kann. Damit hatten sie, der Muttersprachen ihrer Eltern notwendigerweise entfremdet, eine neue Sprache geschaffen, eine Kreolsprache, z. B. auf Haiti das Haitianische, in der ehemaligen deutschen Kolonie Papua-Neuguinea „Unserdeutsch“ (cf. Theisen 2016: 200sqq.). Sprache braucht mindestens zwei Sprecher, damit sie Sprache sein kann, denn Sprache ist Kommunikation. Man kann diesen Satz an der ersten Stelle ohne weiteres paradigmatisch verändern: Streicheln, Blicken, Küssen, Schlagen usw. 320 Joachim Theisen ist Kommunikation. Und da zur Kommunikation gehört, dass sie wechselseitig ist, kann selbstverständlich zurückgesprochen, -gestreichelt, -geblickt, -geküsst, -geschlagen usw. werden. Und alles geht auch gleichzeitig. Es gibt eine Menge Praktiken, die sich mit diesem Hin und Her und diesen Gleichzeitigkeiten beschäftigen, hinter denen eine Menge Wissen‐ schaften stehen, z.B.: Psychologie, Psychiatrie, Soziologie, Kommunikations‐ wissenschaft, Medienwissenschaft und natürlich die angewandte Linguistik. Wo ist die Linguistik selbst, die Sprachwissenschaft? Kommunikation, sich verständlich machen zu können und sich zu verstehen, ist eine fantastische Sache, jeder weiß, wie das funktioniert, das Können erwirbt man als Kind in der Regel fast problemlos, auch das sprachliche Können, ohne allzu große Ermüdungserscheinungen zu zeigen. Das Lernen einer Fremd‐ sprache fällt da schon schwerer. Doch seit den Auswanderungswellen in der zweiten Hälfte des 2. Jahrtausends und den „Gastarbeitern“ in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich das Fremdsprachenlernen geändert. Auch wenn grenzüberschreitende Mobilität vielerorts staatlich behindert wird, ist sie innerhalb Europas und unter bestimmten Umständen weltweit viel einfa‐ cher geworden. 2017 lebten in Essen Menschen aus mehr als 170 Ländern (Westdeutsche Allgemeine Zeitung vom 15.05.2017), aus welchen Gründen auch immer. Die einen kamen wahrscheinlich vorbereitet, auch sprachlich vorbereitet, andere holen das Lernen der Sprache vermutlich nach. OECD und EU sehen es, unabhängig vom Wohnort, als ausdrücklichen Vorzug an, eine, besser zwei oder mehr Fremdsprachen zu beherrschen; es wird, im Gegensatz zu früher, sehr viel Fremdsprachenunterricht angeboten und dahinter gibt es eine Methodik und Didaktik des Fremdsprachenunterrichts. Und um Migranten in Deutschland und anderen Ländern gesellschaftlich zu integrieren, engagieren sich nicht nur viele Menschen z. B. in NGOs, sondern auch staatliche Institutionen bieten Einbürgerungs- und Sprachkurse an, die eine Brücke schlagen wollen zwischen dem Eigenen und dem Fremden, zwi‐ schen der eigenen und der fremden Sprache. Man findet für den Unterricht sehr hilfreiche Handreichungen, etwa beim Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung Hamburg aus dem Jahr 2011: „Mehrsprachigkeit zur Ent‐ wicklung von Sprachbewusstsein“ im Rahmen eines Programms zur „Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund“. Darin stehen u. a. sehr hilfreiche Tabellen zum Sprachvergleich, kontrastiv, sehr bodenständig und praktisch, eine ideale Hilfe für DeutschlehrerInnen, wenn die Sprachenauswahl (Bosnisch, Italienisch, Portugiesisch, Spanisch, Türkisch, Russisch, Polnisch, Griechisch - Deutsch) heute auch nicht mehr ganz aktuell ist. (Cf. auch z. B. Bünting et al. 2012.) Der Ansatz ist sehr überzeugend: Erst mal müssen die 321 Sprachstatt Sprechunterricht - ein Plädoyer Grundlagen der eigenen Sprache bewusst gemacht werden, die man erworben, aber nie gelernt hat. 2 Fremdsprachenlernen Eine Fremdsprache lernen zuhause, in der Heimat, und eine Fremdsprache lernen im Ausland oder Zielland erfordert unterschiedliche Methoden. Im zweiten Fall (also z. B. Deutsch lernen in Deutschland) ist das Ziel körperlich bereits erreicht, sprachlich aber noch lange nicht. Um auch sprachlich anzu‐ kommen, lernt man die Sprache des Ziellandes und hat außerhalb des Unter‐ richts in der Nachbarschaft, bei Ämtern und Behörden oder, wenn man Glück hat, bei der Arbeit, viele Gelegenheiten, in dieser Sprache zu kommunizieren, vielleicht auch mit Stützen links und rechts auf das Englische. Fremdspra‐ chenlernen zuhause, wo man natürlich in seiner vertrauten Umgebung seine vertraute Sprache spricht, ist jedoch etwas ganz anderes. Umso erstaunlicher, dass auch dort, ganz ohne kommunikative Möglichkeiten, die kommunikative Methode wie selbstverständlich angewandt wird. (Dasselbe gilt z. B. für den Englisch- oder Französischunterricht in Deutschland natürlich genauso.) „porta crepat. ancilla laborat. agricola ancillam amat.“ Das waren die Sätze, die einem in den 60er und 70er Jahren im Lateinunterricht als erstes begegneten. Nicht sehr lebensnah, was aber nicht weiter störte, denn die Sprache Latein lebte selbst nicht mehr. Und das Ziel dieses Fremdsprachenunterrichts war es, über die knarrende Tür und die arbeitende und vom Bauern geliebte Magd hinaus, Sprachwissen zu vermitteln. Kommunikativer Unterricht - heutzutage - ist da natürlich viel besser und lebensnäher: „Wie heißt du? Ich heiße Kostas. Wo wohnst du? Ich wohne in Athen. Wie alt bist du? “ In der Umgebung, in der Kostas Deutsch lernt, weiß aber jeder, wie Kostas heißt, wo Kostas wohnt, wie alt Kostas ist, welches seine Interessen sind und wo er seine Ferien verbringt. Die Fremdsprache ist in dieser Umgebung in solchen Sätzen jedes kommunikativen Sinns beraubt. Zur Kommunikation gehört zwar nicht immer, dass man Informationen austauscht, aber so tun zu müssen, als würde man Informationen austauschen, deren Neuigkeitswert null ist, ist schon sehr merkwürdig, und als kommunikativer Akt, als Sprechakt, nirgends einzuordnen, außer eben im Fremdsprachenunterricht, als Fremdspra‐ chenunterrichtssprechakt, als Fremdsprechakt. Das hat man natürlich erkannt und das Rollenspiel entdeckt: „Wir machen nun ein Rollenspiel: Ich bin deine Mitschülerin / dein Mitschüler und wir wollen eine Party organisieren. Hier ist der Katalog.“ - So hieß es in der staatlichen griechischen Sprachprüfung von 2011 (Niveau A1/ 2). Aber warum soll eine griechische Schülerin mit einem 322 Joachim Theisen Prüfer, der mindestens doppelt so alt ist wie sie selbst, auf Deutsch eine Party organisieren? Weil sie das in der Prüfungsvorbereitung gelernt hat. 3 Fremdsprachunterricht Warum nimmt man Fremdsprachenunterricht nicht auch als Fremdsprachun‐ terricht ernst, sondern meint, daraus ausschließlich Fremdsprechunterricht, Fremdhörunterricht, Fremdschreibunterricht, Fremdleseunterricht machen zu müssen? Dazu erst ein paar Erinnerungen: Seit dem Erscheinen des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen im Jahr 2001 und der ersten PISA-Studie, deren Ergebnisse im selben Jahr veröffentlicht wurden, sind als Unterrichtsziele Sollen und Können festgeschrieben. Für den Fremdspra‐ chenunterricht werden Kompetenzen definiert, die durchwegs kommunikativ ausgerichtet sind, europaweit überall gleich. Auch wenn es im Referenzrahmen ein Kapitelchen (5.2.1) über linguistische Kompetenzen gibt, in der Praxis kommt davon wenig an. Das zeigen die Prüfungen und die Prüfungsmuster, die in Vorbereitungsbüchern hundertfach erscheinen. Es werden Floskeln geübt und trainiert, die mündlich und schriftlich genauso reproduziert werden müssen, denn das ist die sicherste Methode, seine Kompetenzen unter Beweis zu stellen. Fremdsprachenunterricht orientiert sich in dieser Hinsicht am Mathematikun‐ terricht, da gibt es für jede Aufgabe genau eine richtige Lösung: Mit dieser Formel beginnt eine E-Mail, und mit jener Formel endet sie, und im Gespräch über dies und das muss man dieses so sagen und jenes so sagen. Und wenn nach den offensichtlich katastrophalen Ergebnissen der PISA-Studie der Deutsch‐ unterricht verbessert werden musste, dann vor allem in eine Richtung: Die Schüler hatten in Zukunft auf die Fragetechnik in den Prüfungen erfolgreich zu reagieren. Prüfungskompetenzen sind aber nicht dasselbe wie Wissen. Schülerinnen und Schüler, in welchem Alter auch immer, die ja normaler‐ weise keine Probleme damit haben, kompetent zu kommunizieren, lernen seither eine Fremdsprache ausschließlich prüfungsorientiert, und die Prüfungen sollten möglichst maschinell bewertet werden können. Immerhin gibt es Kom‐ petenzstandards. Kommunikation jedoch ist flexibel und individuell, sie kann gelingen und sie kann scheitern. Und das Gelingen oder Scheitern der Kommu‐ nikation ist von beiden Partnern abhängig - das in einer Prüfung zu simulieren ist ein Ding der Unmöglichkeit. Fremdsprachunterricht in der Heimat, aber ausdrücklich nicht nur dort, ist, was leider gern vergessen wird, eine hervorragende Gelegenheit, nicht nur Kommunikation, sondern eine Sprache zu lernen und viel zu lernen über 323 Sprachstatt Sprechunterricht - ein Plädoyer Sprache. Ganz traditionell nach de Saussure formuliert: Statt immer nur paroles zu rezipieren oder zu produzieren, könnte, sollte und müsste man sich auch mal mit der langue beschäftigen. Wie heißt dieser Satz in einer anderen Sprache? Die Modalverben im Deutschen sind bekanntlich sehr speziell. Ins Griechische ist das nicht zu übersetzen. Wenn man Deutsch perfekt beherrschen will, muss man aber die Bedeutungen und Funktionsweisen von Modalverben gelernt haben, z. B. den Unterschied zwischen „Du sollst“, „Du solltest“, „Du musst“. Zwischen Deutsch und zahlreichen anderen Sprachen gibt es keine Wortgleichungen, was die Modalität betrifft. Griechische Deutschlerner haben erhebliche Probleme, die Modalverben in der korrekten Bedeutung zu verwenden, was aber auch daran liegt, dass die wenigsten griechischen DeutschlehrerInnen sie korrekt gelernt haben. Sie haben ebenfalls kommunikativ gelernt. Da die kommunikativen Lasten auf beide TeilnehmerInnen, SprecherInnen und HörerInnen, verteilt sind, versteht man in der Regel ja auch, was der andere meint, in der Kommunikation genügt das durchaus. Es scheint mir trotzdem kurzsichtig zu sein, nur Versatzstücke zu lehren, Sätze und Satzbausteine, die dann aneinandergefügt werden, wie sie in der Prüfung bequem abgefragt werden können. Stattdessen sollte man jede Chance nutzen, die der Sprachunterricht und besonders der Fremdsprachunterricht bieten, um das System zu lernen, die Funktionen des Systems und das Funktionieren dieses Systems: Sprache. Man traut erwachsenen und auch jugendlichen LernerInnen und auch Kin‐ dern viel zu wenig zu, wenn man meint, dass sie keine Systeme verstehen und keine Zusammenhänge entdecken, die über das Kommunizieren und das pure Grammatikwissen hinausgehen. Erstspracherwerb, landläufig Sprechlernen, heißt nicht, Regeln zu lernen, sondern Regeln zu entdecken. Außerdem erleben Kinder Welt in den meisten Hinsichten unvoreingenommen und hinterfragen sie, indem sie ihre Eltern mit ständigen Warum-Fragen nerven. Irgendwann geben sie auf, wahrscheinlich weil sie feststellen, dass ihre Eltern auch keine Ahnung von dieser Welt haben. Mama weiß es nicht, Papa auch nicht, niemand weiß es, also ist es offenbar einfach so - Nachfragen lohnt sich da nicht mehr. Auch und gerade im Fremdsprachunterricht gibt es die wundervolle Mög‐ lichkeit, diese von Eltern verursachte und von der Schule verschuldete Bedürf‐ nislosigkeit aufzubrechen, gerade anhand des Mediums, das selbst tagtäglich verwendet wird. Je mehr ein Kind lernt, desto weniger kann es sein Wissen einordnen. Das gilt auch für Jugendliche und auch noch später, solange man nicht lernt, sein eigenes Wissen zu verstehen. Es ist ja auch nicht so ganz einfach, sich in seinem Wissen zurechtzufinden: Mathematik ist überall dieselbe, Physik, 324 Joachim Theisen Chemie, alle Naturwissenschaften. Bei den Gesellschaftswissenschaften und vor allem den Geistes- oder Humanwissenschaften ist das ganz anders, da gibt es z. B. nationale Perspektiven auf die Geschichte, eine Menge unterschiedliche Geschichten und Auseinandersetzungen über richtiges und falsches Handeln und alles Mögliche Andere, Interpretationen über Kunst, Literatur, Musik usw. Aber es ist nicht nur die Wissenschaft, die Wissen schafft. Lange vor der Begegnung mit ihr und lebenslang gibt es die alltägliche Erfahrung mit sich selbst und seiner eigenen Welt und Umwelt: Körperliche Funktionen sind überall dieselben. Zum Beispiel essen und trinken und krank sein. Aber das ist mein ganz persönliches Essen und Trinken und Kranksein. Und Sprache? Sprache steht irgendwo dazwischen. Die eine Sprache ist auf diese, die andere ist auf jene Art jeweils dieselbe und ändert sich dennoch. Sie funktionieren alle gleich, doch unterscheiden sie sich. Keine, außer meiner, verstehe ich. Man lernt als Kind heute relativ früh, dass es verschiedene Sprachen gibt, aber worin sind sie eigentlich verschieden und vor allem: warum? Interessiert das wirklich niemanden? Oder interessiert das niemanden, weil niemand das Interesse weckt? Sprachen sind Gewordenes und Werdendes. Sie waren nicht immer so, wie sie heute sind, sondern werden immer neu, um die Bedürfnisse ihrer Sprecher, die sie gemacht haben und machen, erfüllen zu können. Das gilt für alle Sprachen, aber für meine anders als für andere. Fremdsprachunterricht kann und muss meines Erachtens das Bewusstsein dafür schärfen und nicht nur Fertigkeiten, sondern auch Sprache als Sprache vermitteln, die immerhin zur Substanz des Menschen gehört. Dabei, um dieser Substanz auf die Spur zu kommen, sind Sprachvergleiche von zentraler Bedeu‐ tung, weil sie erhellen, was einerseits Sprache als Sprache ausmacht und was andererseits eine besondere Sprache zu dieser Sprache macht, und wie das Verhältnis ist zwischen Sprache und Sprechen, zwischen langue und parole. Ich meine ausdrücklich „Sprachvergleiche“. Mit Kontrasten sollte man es im Fremdsprachunterricht nicht übertreiben, weil es links und rechts, oben und unten durchlässige Grenzen gibt zwischen der eigenen und der - immer weniger - fremden Sprache. Es wäre, denke ich, nicht gut, zurückzugehen hinter die „Familienähnlichkeiten“ Ludwig Wittgensteins, der in seinen „Philosophischen Untersuchungen“ von 1945 im 20. Jahrhundert als erster auf die Bedeutung des kommunikativen Aspekts der Sprache (für die Sprachphilosophie) hingewiesen hat. Es kommt sehr darauf an, Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu thema‐ tisieren. Wenn man Kontraste feststellt, kann man auch offen sein für das Gemeinsame und umgekehrt. Beides ist notwendig. Warum bringt man Lernenden einer Fremdsprache nicht bei, was sie können, und warum macht man ihnen nicht ihr sprachliches Wissen bewusst? „Was 325 Sprachstatt Sprechunterricht - ein Plädoyer ist gleich, was ist anders? “ Das sind ganz einfache Fragen; es lohnt sich, sie zu stellen. Oder spricht etwas dagegen? Oder gegen das folgende Beispiel, das ganz unsprachlich (was aber nur einen kleinen Umweg bedeutet) aus der Landeskunde gewählt ist: In Griechenland gibt es viele Bräuche, die sehr fest gefügt sind. Die Erklä‐ rungen dafür sind einfach, etwa: Eine Identität, die sich - im Bewusstsein eines Großteils der Bevölkerung - aus Kontrasten ergibt, wie schon in der Antike: Wir und die Barbaren. Das Land ist relativ klein und braucht umso mehr Identifizierungsmuster. Und schließlich reicht das kollektive kulturelle Gedächtnis sehr weit in die Vergangenheit zurück - die griechische Geschichte ist erheblich länger als z. B. die deutsche, und damals gab es viele Streitereien untereinander, aber einen Ελληνισμός, ein Griechentum, mit gemeinsamen Orten zum Beispiel in Olympia auf der Peloponnes und in Delphi in Mit‐ telgriechenland. Es wurde vieles zementiert, auch von der Schule, und so lernt man dortzulande auch deutsche Kultur: Wir essen an Ostern Lamm, und ihr? Wir essen Melomakárona (ein bestimmtes und leckeres Gebäck) an Weihnachten - und welche Sorte ist bei euch typisch? Keine. Was kommt an Rosenmontag auf den Tisch? Dass es woanders ganz anders sein kann, zum Beispiel vielfältiger, weniger starr, weil Bräuche einen ganz anderen Stellenwert haben, öffnet Horizonte; auch in Griechenland kommt langsam Bewegung in die Festtagsküche. Interkultureller Fremdsprachenunterricht schließt derartige Unterschiede (die hier stark überzeichnet wurden) auf und erhellt auch die eigene Kultur. Interkulturelle Ausrichtung des Fremdsprachenunterrichts ist heute, nach sehr langem Vorlauf, erfreulicherweise modern. Kontrastive oder eben sprachvergleichende Ausrichtung leider noch nicht. Theorie in Praxis umzubiegen ist schwierig. Theoretiker, auch viele Didak‐ tiker, haben von Praxis häufig keine Ahnung, und bei den Praktikern kann man nie sicher sein, ob sie die Theorie richtig verstehen und umsetzen, zumal sie mit den konkreten Anforderungen ihres Unterrichts und damit ihrer Lernenden zu kämpfen haben. Als Problem kommt hinzu: Am Ende steht die Prüfung, und die muss, wegen des Zertifikats, bestanden werden, immerhin wurde Geld für Unterricht und Prüfungsteilnahme bezahlt. Deshalb gibt es die passenden Lehr- und Arbeits- und Lehrerhandbücher. Eine Umsetzung der paar exemplarischen Hinweise, die ich im Folgenden für einen Fremdsprachunterricht geben will, erfordert nicht einmal neue Lehr‐ werke; ein paar gute sprachvergleichende Arbeitsblätter genügen, um, dem jeweiligen Alter und Sprachniveau angepasst, Einblicke in Sprache und die beiden Sprachen zu verschaffen. 326 Joachim Theisen 4 Perspektiven 1) Schon im Anfängerunterricht kann man fragen und darüber sprechen, warum eine Sprache so ist, wie sie ist. Warum gibt es unterschiedliche Wortschätze, woher stammen Wörter und woher kommen neue Wörter? Wörter sind eine wunderbare Sache. Mit Wörtern kann man Weltausschnitte benennen, ob gegenständlich oder mental oder fiktiv usw. Aber wie werden die Ausschnitte benannt? Und wie kommt es dazu, dass viele Wörter eine übertragene Bedeu‐ tung haben? Weil es zu lästig ist, für jeden Sachverhalt ein neues Wort zu bilden (und lernen zu müssen). Man kommt, im Sprachvergleich, sehr rasch zu ganz unterschiedlichen Bezeichnungsmotiven. Wie sehen Wortfelder in der eigenen Sprache aus und in der Fremdsprache, die man gerade lernt, oder außerdem in Englisch, das in vielen Kulturen als Zweitsprache gelernt wird? Gibt es dieselben Metaphern, dieselben Metonymien, dieselben Möglichkeiten der Übertragung? - Wortgeschichten sind schon an sich spannende Geschichten, vergleichende noch sehr viel spannender. 2) Im Deutschen gibt es nicht sehr viele eigene Wortstämme, Splett (2009) listet 8264 Wortfamilien, die weitaus meisten Wörter werden gebildet oder aus anderen Sprachen übernommen und zum Teil weiterentwickelt. Das bedeutet zweierlei: Man braucht ein sehr reichhaltiges Maß an Wortbildungsmöglich‐ keiten. Und zweitens ist zu fragen: Was passierte und was passiert mit dem Fremden? Man muss das nicht wissenschaftlich kategorisieren als Fremdwort, Lehnwort, Lehnübersetzung usw. Allein die Tatsache, dass Wörter entlehnt, aufgesaugt, verdaut werden und in der eigenen Sprache Karriere machen, zeigt, wie lebendig der Austausch sein muss und wie aktuell der Austausch ist. Das Deutsche ist wie das Englische eine relativ junge Sprache und war von Anfang an Einflüssen von allen Seiten ausgesetzt. 3) Englisch-deutsche Wortgleichungen können genutzt werden, um den Wortschatz einsichtiger zu machen. Das gilt - nicht so zahlreich und deutlich - auch für andere indoeuropäische Sprachen. Darf man so weit in der Geschichte zurück, ins Germanische und bis ins Indoeuropäische? Kinder, Jugendliche und Erwachsene schauen mit großer Begeisterung „Game of Thrones“ und „Herr der Ringe“ und manche lernen sogar Valyrisch oder Elbisch - nicht nur die Vergangenheit, auch die Sprache ist faszinierend, kommunikativ, aber auch ihre Entwicklung und ihre Verwandtschaften. Diese beiden Seiten, Gebrauch und Geschichte - der Fremdsprachunterricht bietet die beste Gelegenheit, darüber nachzudenken und zum Fragen anzuregen. 4) Ein sehr faszinierendes Thema sind Grammatikalisierungen. In Kreolspra‐ chen werden z. B. syntaktische Konnektoren innerhalb einer einzigen Genera‐ 327 Sprachstatt Sprechunterricht - ein Plädoyer tion gebildet, Wörter verlieren ihre inhaltliche Bedeutung und nehmen eine ausschließlich grammatische Funktion an. Im Deutschen und vermutlich allen anderen Sprachen gibt es das selbstverständlich auch; im Deutschen sehr leicht nachvollziehbar: „weil“ kommt von „Weile“, mittelhochdeutsch „wîle“, kein neues Wort, sondern ein altbekanntes, das man (wer, wissen wir nicht) gewählt hat, um einen kausalen Zusammenhang sprachlich zu verdeutlichen. Kausale Zusammenhänge finden in der Zeit statt: Erst regnet es, dann öffne ich den Regenschirm - weil es regnet, öffne ich den Schirm. Eine ziemlich gute Wahl, die aber nicht zwangsläufig so getroffen werden muss. „weil“ gibt es auch im Englischen: „while“ - da ist der temporale Aspekt stärker erhalten geblieben und benennt nicht Nach-, sondern Gleichzeitigkeit. Griechisch „γιατί“ (jatí) ist ‚weil‘, aber auch ‚warum? ‘ - hier entscheidet der syntaktische Kontext. Kontextualität ist eines der wichtigsten Merkmale sprachlicher Verständigung, und Funktionswörter sind wesentlicher Bestandteil einer Sprache, Artikel, Pronomen, Präpositionen, Konnektoren. Welchen Vorteil haben das Genus differenzierende Artikel und Pronomen? Der Gebrauch im Englischen z. B. ist notwendigerweise ein ganz anderer als im Deutschen - selbstverständlich ist beides bequem zu handhaben. Wie? Gemeinsame Entdeckungen erhellen Eigenarten der jeweiligen Sprachen. 5) Warum hören sich die Wörter in verschiedenen Sprachen so unterschied‐ lich an? Im Deutschen, wie im Englischen, ist Wortstammbetonung die Regel, warum? Weil es im Germanischen Erstsilbenbetonung gab. Sie sorgte dafür, dass im Deutschen die Nebensilben abgeschwächt wurden (in der Regel zu / ɛ/ ) oder ganz wegfielen. Möglich war das, weil Wortbegleiter „erfunden“ wurden, Artikel und Pronomen, die die grammatischen Informationen übernahmen, die zuvor, noch im Althochdeutschen, von den Endungen getragen wurden. Das ist eine sehr interessante Entwicklung, weil sie zeigt, wie sich ein Strukturmo‐ dell ändert, hier vom synthetischen zum analytischen und von einer Silbenzu einer Wortsprache, im Englischen noch deutlicher als im Deutschen. Im Neugriechischen ist das ganz anders. Auch dort gab es Umbaumaßnahmen, die z. B. dazu führten, dass der im Altgriechischen umfangreiche Vokalbestand erheblich reduziert wurde, auf fünf Vokale, / a e i o u/ , ohne Längendistinktionen (zu Diphthongen cf. Ruge 1997: 24). Silben wurden allerdings nicht eingespart, die Betonungsverhältnisse haben sich nicht geändert, wie im Lateinischen kann eine der letzten drei Silben betont werden, Stammbetonung existiert nicht: „παιδἰ, παιδιού, παιδιά (pedí, pediú, pediá)“ gegen „Kínd, Kíndes, Kínder“. Im Französischen verlagerte sich die Betonung systematisch auf das Wort‐ ende: „ich habe“ (im südlichen Umgangsdeutsch „ich hab“) - „j’avais“. Es gibt auch hier jede Menge Einsparungen, im Mündlichen: Endbetonung, aber das 328 Joachim Theisen Ende wird trotzdem gekürzt zu Endbetonung mit Vokalausgang: „j’avais, tu avais, il/ elle avait, nous avons, vous avez, ils avaient“. Auch hier ist der Kontext entscheidend, allerdings standardisiert, wie in den germanischen Sprachen, durch Pronomina. 6) Warum bleibt die Schreibung gleich, während sich die Aussprache ganz er‐ heblich verändert? Weil Schrift äußerst konservativ ist. Die ersten schriftlichen Zeugnisse des Griechischen stammen von ca. 750 v. Chr. Die Wörter werden, mit einigen Ausnahmen, immer noch gleich geschrieben (1974 wurden lediglich die diakritischen Zeichen reduziert), aber sie werden schon lang nicht mehr gleich gesprochen. Im Deutschen ist das ganz anders: Althochdeutsch, die ersten Zeugnisse von ca. 750 n. Chr., also 1500 Jahre nach dem Griechischen, kann man ohne Übung kaum artikulieren. Die Schreibung passt sich immer wieder der Aussprache an, die längste Zeit stillschweigend. Rechtschreibunterricht wird viel leichter, wenn man versteht, warum und wie Rechtschreibung geworden ist. Im Deutschen wurde sie 1901 normiert und seither immer wieder reformiert, sie hält nicht an einem historischen Zustand fest, ist aber insgesamt etymologisch ausgerichtet (und seit der letzten Reform vor allem in der Groß-/ Kleinsowie Getrennt-/ Zusammenschreibung sehr tolerant). Einzelwörter zu lernen, ist erheblich aufwendiger (oder aufwändiger? ) als Regeln zu durchschauen. 7) Deutsche Grammatik und Syntax kommen aus der Vergangenheit, sie sind Lateinisch. Im frühen Mittelalter war es kein Problem, lateinische Texte interlinear zu übersetzen - zum Beispiel das Glaubensbekenntnis und das „Vater unser“. Unter ein lateinisches Wort schrieb man stur ein deutsches, in einen religiösen, heiligen Text durfte man nicht so ohne weiteres eingreifen, und wenn schon ein Sprachwechsel stattfand, konnte wenigstens die Syntax beibehalten werden, zumal es noch keine schriftliche deutsche Syntax gab; im „Vater unser“ ist die lateinische Wortstellung bis heute stehen geblieben. Viele Eigenheiten des Deutschen sind nur vom Lateinischen her verständlich, ungefähr 1000 Jahre lang gab es eine in ihrer Striktheit nur langsam abnehmende Zweisprachigkeit, Latein oben und schriftlich, in Theologie und Wissenschaft, Deutsch unten und mündlich, in alltäglicher Kommunikation. Anders als andere europäische Sprachen war Deutsch, bis ins späte 18. und frühe 19. Jahrhundert, nie eine über die Landesgrenzen hinaus geltende „Kultursprache“ (um in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dann zum krassen Gegenteil zu werden). 8) Das Griechische war spätestens seit Alexander dem Großen rund um das östliche Mittelmeer Verkehrssprache, dann das Lateinische, später das Französische als Sprache der Gebildeten in Europa, heute ist Englisch fast weltweit lingua franca. Deutsch hat fast immer nur genommen. Das Englische, das sich lange in einer ähnlichen Situation befand wie das Deutsche, hat 329 Sprachstatt Sprechunterricht - ein Plädoyer vereinfacht; im Deutschen, an der lateinischen Grammatik klebend und nicht aus seiner Enge im Zentrum Europas herauskommend wurde hingegen vieles verkompliziert und zudem wurden merkwürdige Eigenheiten entwickelt, wie Satzklammer, unterschiedliche Verbstellung in Haupt- und Nebensatz usw. Soll Fremdsprachunterricht also historisch ausgerichtet sein? Ganz und gar nicht, doch um das System Sprache zu verstehen, braucht man auch einen Blick zurück, weil dieses System geworden ist. Es ist sehr hilfreich, wenn das verständlich gemacht wird. Das kostet nur ein paar Stunden im Jahr. 9) Sinnvoll ist es auch, z. B. über Binnenstrukturen zu sprechen, über Sprach‐ varietäten, Dialektgebiete, die Entstehung der deutschen Standardsprache. Warum gibt es in Deutschland so viele Dialekte? Ein Blick auf die Landkarte, die nicht nur die Grenzen der Bundesländer zeigt, macht das verständlich. Warum soll man das aus dem Unterricht heraushalten? Weil man damit nicht kommunizieren kann? Aber sehr wohl darüber und zugleich über Dialekte im eigenen Land, allgemein über Kommunikationsradien, über Kommunikations‐ bedürfnisse, -situationen und -angebote. Welche Bedeutung hat darin Sprache, die eigene oder eine fremde? 10) Von Bedeutung sind auch die Unterschiede zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Nicht nur in Griechenland herrscht bei Schülern und Studenten die Meinung vor, schriftliche Sätze müssten möglichst lang sein. Viele verderben sich im schriftlichen Ausdruck ihre Note, weil sie in diesen Satzmonstern eine Menge unnötige Fehler machen. Wie kompliziert muss eine Sprache sein? Sogar das Deutsche wird einfacher, ergonomischer (Theisen 2015), die schriftlichen Sätze kürzer, im Mündlichen setzt sich die V2-Stellung in dass- und weil-Sätzen durch. Das ist eine gar nicht mehr ganz aktuelle Entwicklung, die in den meisten Lehrbüchern und Prüfungen aber nach wie vor unberücksichtigt bleibt. Die hier vorgestellten und viele ähnliche Themen und Fragen können insge‐ samt mit großem Gewinn zwischen der eigenen und der fremden Sprache (und umgekehrt) und ohne großen Aufwand dargestellt und besprochen werden. 5 Schluss Im Fremdsprachenunterricht sollte es meines Erachtens nicht nur um kommu‐ nikative Kompetenzen gehen, sondern um Sprache in all ihren Dimensionen. Sie darf nicht nur auf dem einen Bein der kommunikativen Funktion, sondern muss auf beiden Beinen, auch dem des Systems, stehen. In die Fremdsprachen‐ didaktik sollte eine Sprachdidaktik integriert werden, die auch Antworten gibt auf die Frage, was Sprache ist. Das kann ein höchst verlockendes Angebot des Fremdsprachunterrichts sein. Die Lernenden entdecken dabei auch ihre 330 Joachim Theisen eigene Sprache neu, die sie erworben, aber nicht gelernt haben. So können sie sich nicht nur eine Fremdsprache, sondern auch Sprachwissen aneignen. Man muss sich nur ein bisschen mehr Zeit im Unterricht nehmen. Ihn stur und ausschließlich in der Zielsprache zu halten, ist dabei wenig sinnvoll. Wenn man schon einen kommunikativ ausgerichteten Unterricht anbietet, scheint es mir selbstverständlich erforderlich zu sein, dass die Lernenden, wo dies erforderlich ist, die Gelegenheit haben, auf selber Höhe wie die Lehrenden an der Kommunikation teilzunehmen. Deshalb ist es zweifellos sinnvoll, dass FremdsprachlehrerInnen die Mutter‐ sprache ihrer SchülerInnen beherrschen. Im Unterricht für Lernende aus un‐ terschiedlichen Herkunftsländern und mit unterschiedlichen Muttersprachen sollte man sich immerhin mit Sprachbau (Typologie), Wortschatz und der Gliederung von Wortfeldern, Phonologie, Grammatik, Sprachgeschichte usw. vertraut machen, und natürlich auch möglichst viel strukturiertes Wissen über seine eigene Sprache mitbringen. Vergleichendes Wissen ist tieferreichendes und differenzierteres Wissen, das gilt auch für Sprachwissen. Nicht nur das Fremde lernen, sondern auch das Eigene - für die Kommunikation ist das zwar nicht unbedingt notwendig, aber warum soll man nicht während des Aneignens einer fremden Sprache die Gelegenheit nutzen, auch die eigene Sprache sowie Sprache kennenzulernen? Das ist selbstverständlich kein Plädoyer für „Ich kann, du kannst, er kann, …“. Literaturverzeichnis Bünting, Karl-Dieter. 2012. Grammatik. Alles, was GrundschullehrerInnen wissen müssen. Mülheim: Verlag an der Ruhr. DHM (= Deutsches Historisches Museum). o. J. „Zuwanderungsland Deutschland: Mi‐ grationen 1500-2005 - Die Hugenotten“. (www.dhm.de/ archiv/ ausstellungen/ zuwan derungsland-deutschland/ migrationen, 25.09.2019). Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung Hamburg (ed.). 2011. Mehrspra‐ chigkeit zur Entwicklung von Sprachbewusstsein. (https: / / li.hamburg.de/ publikationen / 3163902/ mehrsprachigkeit-entwicklung-sprachbewusstsein, 29.09.2019). Ruge, Hans. 2001. 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La Española - Isla de Encuentros / Hispaniola - Island of Encounters 2015, 227 Seiten €[D] 64,- ISBN 978-3-8233-6901-1 2 Anja Steinlen, Thorsten Piske (Hrsg.) Bilinguale Programme in Kindertageseinrichtungen Umsetzungsbeispiele und Forschungsergebnisse 2016, 306 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-6902-8 3 Christine Möller Young L2 learners‘ narrative discourse Coherence and cohesion 2015, 294 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-6903-5 4 Thorsten Piske, Anja Steinlen (Hrsg.) Cognition and Second Language Acquisition Research on Bilingual and Regular Language Programs 2021, 300 Seiten €[D] ,- ISBN 978-3-8233-8194-5 5 Viviane Lohe Die Entwicklung von Language Awareness bei Grundschulkindern durch mehrsprachige digitale Bilderbücher Eine quasi-experimentelle Untersuchung zum Einsatz von MuViT in mehrsprachigen Lernumgebungen 2018, 320 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-8233-8208-9 6 Cordula Glass Collocations, Creativity and Constructions A Usage-based Study of Collocations in Language Attainment 2019, 306 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-8233-8171-6 7 Anja Steinlen English in Elementary Schools Research and Implications on Minority and Majority Language Children’s Reading and Writing Skills in Regular and Bilingual Programs 2021, 208 Seiten €[D] 49,- ISBN 978-3-8233-8451-9 8 Patrick Wolf-Farré, Katja F. Cantone, Anastasia Moraitis, Daniel Reimann (Hrsg.) Sprachkontrast und Mehrsprachigkeit Linguistische Grundlagen, didaktische Implikationen und Desiderata 2021, 332 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-8233-8349-9 In den letzten Jahren ist die sprachkontrastive Arbeit stärker in den Fokus der (Zweit-)Spracherwerbsforschung und der Fremdsprachenforschung gerückt, während die Berücksichtigung entsprechender Forschungsergebnisse im Unterricht erst allmählich einsetzt. Diese Publikation soll dazu beitragen, die Verbindung zwischen sprachkontrastiver Arbeit und Mehrsprachigkeitsdidaktik zu stärken. Hierzu sind Beiträge internationaler Forscher: innen versammelt, die anhand verschiedener Sprachen theoretische Grundlagen und praktische Anwendungsbeispiele erarbeiten. Von den hier zusammengeführten Ansätzen, Prinzipien und Methoden können besonders Lehrkräfte profitieren, um sie im Sinne einer aufgeklärten Mehrsprachigkeitsdidaktik im schulischen Kontext zu integrieren. Weiterhin eignet sich der Band dazu, Studierenden des Lehramts den Zugang zu sprachvergleichender Arbeit zu erleichtern und sie für einen bewussten Umgang mit Sprache zu sensibilisieren. Nicht zuletzt finden sich auch Anregungen für weitere Forschung im Bereich der Linguistik und Fremdsprachenforschung. ISBN 978-3-8233-8349-9 Multilingualism and Language Teaching 8