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Unterrichtswelten – Dialoge im Deutschunterricht

2021
978-3-8233-9422-8
Gunter Narr Verlag 
Jörg Roche
Gesine Lenore Schiewer

Die ersten drei Bände der Dialogdidaktik-Reihe (Identitäten, Emotionen, Lebenswelten) enthalten eine Vielfalt von Texten unterschiedlicher literarischer Gattungen zu Themen, die den Anliegen heutiger Schülerinnen und Schüler entsprechen. Zu diesen relevanten Themen finden sich in den drei Bänden zahlreiche Bearbeitungsvorschläge der Autorinnen und Autoren, die zum Dialog über die teilweise eigens für diese Bände verfassten Texte und ihre Themen einladen. In verschiedenen Beiträgen werden zudem die theoretischen Hintergründe dieser Literaturdidaktik des Dialogs behandelt. Band 4 der Reihe baut darauf auf, nimmt dabei aber gezielt Aspekte der Fort- und Weiterbildung von Lehrkräften in den Blick: Wie gelingt es am besten, dialogdidaktische Elemente in den Deutschunterricht und den fächerübergreifenden Unterricht aufzunehmen? Wie lassen sie sich mit den Anforderungen der Lehrpläne unterschiedlicher Jahrgangsstufen vereinbaren? Worin bestehen die Zielsetzungen der Dialogdidaktik, wie die Kompetenz- und Handlungsorientierung, im Umgang mit literarischen Texten? Wie lassen sich Schülerinnen und Schüler heute anregen, selbst literarisch aktiv zu werden, und dafür sensibilisieren, produktiv und reflektierend mit Sprache umzugehen? In welchem Verhältnis stehen Literatur und Gesellschaft heute beziehungsweise wie kann die kritische Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Gegenwart im Umgang mit Literatur entwickelt werden? Wie lässt sich im Austausch mit Mitschülerinnen und Mitschülern anderer Muttersprachen und Kulturen Dialogverhalten ausprobieren? Wie lassen sich dabei gerade Fremdheitserfahrungen mit anderen Sprachen zur Reflexion - und kritischen Hinterfragung - der eigenen, oftmals allzu selbstverständlich erscheinenden Lebenswelten zielführend einsetzen?

Jörg Roche / Gesine Lenore Schiewer (Hrsg.) Unterrichtswelten - Dialoge im Deutschunterricht mit Unterrichtskonzepten von José F.A. Oliver, Akos Doma, Lena Gorelik, Sudabeh Mohafez und Senthuran Varatharajah N e u e P e r s p e k ti v e n f ü r L it e r a t u r v e r m ittl u n g , L e s e n u n d S c h r e i b e n Jörg Roche / Gesine Lenore Schiewer (Hrsg.) Unterrichtswelten - Dialoge im Deutschunterricht Neue Perspektiven für Literaturvermittlung, Lesen und Schreiben Mit Unterrichtskonzepten von José F.A. Oliver, Akos Doma, Lena Gorelik, Sudabeh Mohafez und Senthuran Varatharajah Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Verlag hat sich bemüht, sämtliche Nutzungsrechte an Fremdmaterialien zu klären. Nicht in allen Fällen ist dies gelungen. Berechtigte Ansprüche können beim Verlag geltend gemacht werden. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISBN 978-3-8233-8422-9 (Print) ISBN 978-3-8233-9422-8 (ePDF) ISBN 978-3-8233-0325-1 (ePub) www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® 5 Inhalt Inhalt Einleitung (Jörg Roche, Gesine Lenore Schiewer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 „Ohne Abschied kein Neuanfang“. Literarische Schreibwerkstatt - Am Beispiel der Bedingungen des Menschlichen (Senthuran Varatharajah) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Neuanfang (Senthuran Varatharajah) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Interkulturalität und Intertextualität im kreativen literarischen Schreiben - Am Beispiel der Themen Angst und Traum (Sudabeh Mohafez) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Literarische Schreibwerkstatt - Am Beispiel der Themen Hoffnung und Sehnsucht (Akos Doma) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Mehrsprachige Lebenswirklichkeit (Lena Gorelik) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 Von der Notiz ins Notat; vom Notat in die Verdichtung; aus der Verdichtung ins Gedicht (José F.A. Oliver) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Zu den Grundlagen der Didaktik des Dialogs (Jörg Roche, Gesine Lenore Schiewer) . . . . . . . . . 85 Dialogische Literatur- und Sprachdidaktik im Fortbildungsportfolio der Akademie für Lehrerfortbildung und Personalführung Dillingen (Tatiana Neugebauer, Tobias Akira Schickhaus) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 7 Einleitung Einleitung Jörg Roche, Gesine Lenore Schiewer Die ersten drei Bände der Dialogdidaktik-Reihe (Identitäten, Emotionen, Lebenswelten) enthalten eine Vielfalt von Texten unterschiedlicher literarischer Gattungen zu Themen, die den Anliegen heutiger Schülerinnen und Schüler entsprechen. Zu diesen relevanten Themen finden sich in den drei Bänden zahlreiche Bearbeitungsvorschläge der Autorinnen und Autoren, die zum Dialog über die teilweise eigens für diese Bände verfassten Texte und ihre Themen einladen. In verschiedenen Beiträgen werden zudem die theoretischen Hintergründe dieser Literaturdidaktik des Dialogs behandelt. Der vorliegende Band baut darauf auf, nimmt dabei aber gezielt Aspekte der Fort- und Weiterbildung von Lehrkräften in den Blick: ▶ Wie gelingt es am besten, dialogdidaktische Elemente in den Deutschunterricht und den fächerübergreifenden Unterricht aufzunehmen? ▶ Wie lassen sie sich mit den Anforderungen der Lehrpläne unterschiedlicher Jahrgangsstufen vereinbaren? ▶ Worin bestehen die Zielsetzungen der Dialogdidaktik, vor allem die Kompetenz- und Handlungsorientierung, im Umgang mit literarischen Texten? ▶ Wie lassen sich Schülerinnen und Schüler heute anregen, selbst literarisch aktiv zu werden, und dafür sensibilisieren, produktiv und reflektierend mit Sprache umzugehen? ▶ In welchem Verhältnis stehen Literatur und Gesellschaft heute beziehungsweise wie kann die kritische Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Gegenwart im Umgang mit Literatur entwickelt werden? ▶ Wie lässt sich im Austausch mit Mitschülerinnen und Mitschülern anderer Muttersprachen und Kulturen Dialogverhalten ausprobieren; wie lassen sich dabei gerade Fremdheitserfahrungen zum Beispiel mit anderen Sprachen zur Reflexion - und kritischen Hinterfragung - der eigenen, oftmals allzu selbstverständlich erscheinenden, Lebenswelten zielführend einsetzen? Praktische und vielschichtige Antworten für einen Schülerinnen und Schüler wirklich begeisternden, motivierenden und kenntnisreichen Unterricht geben darauf in diesem Band Senthuran Varatharajah, Sudabeh Mohafez, Akos Doma, Lena Gorelik und José F.A. Oliver. Ergänzt werden ihre didaktischen Vorschläge durch eine gut verständliche Darstellung der Grundlagen der Didaktik des Dialogs, eines neuartigen Ansatzes der Literaturvermittlung und des Zugangs zum Lesen und Schreiben, der diesem Band zugrunde liegt. Die Vielfalt der Themen, der Poetiken und der didaktischen Zielsetzungen und Schwerpunkte eröffnet ein großes Spektrum an Zugängen zu jungen Leserinnen und Lesern, von denen viele vermutlich noch gar nicht wissen, dass sie auch Autorinnen und Autoren sind oder sein können und dass auch in ihnen literarische Kompetenzen schlummern. Diesen 8 Jörg Roche, Gesine Lenore Schiewer Potentialen soll mit den didaktischen Beiträgen für unterschiedliche Formen von Schreibwerkstätten zur Entfaltung verholfen werden. Als Referenzpunkte dienen dabei eigene Werke und Werke unterschiedlicher Gattungen anderer bekannter zeitgenössischer und historischer Autorinnen und Autoren. Hervorgehoben werden Struktur- und Wirkungselemente literarischer Texte, Funktionen sprachlicher Mittel, Perspektivierungen in Erzählung und Dichtung, Schreibstrategien und -techniken, Aspekte der Mehrsprachigkeit und interkulturelle Potentiale. Dabei wählen die Autorinnen und Autoren nicht den klassischen Weg der Didaktikpräsentation, wie er in Fortbildungsveranstaltungen verbreitet ist. Jede Autorin und jeder Autor stellt aufgrund der jeweiligen langjährigen Erfahrungen mit Schulveranstaltungen und Fortbildungen die eigenen Präferenzen schlüssig, entdeckend und jeweils mit eigenen literarischen Texten illustriert dar. So entsteht eine lesenswerte Mischung aus literarischen Texten, biographischen, historischen und gesellschaftlichen Hintergrundinformationen und Lektüre- und Unterrichtshinweisen. Senthuran Varatharajah zeigt in seinem Beitrag „Ohne Abschied kein Neuanfang“. Literarische Schreibwerkstatt - Am Beispiel der Bedingungen des Menschlichen, geleitet von Textauszügen von Joan Didion und Peter Weiss sowie autobiographischen Ausführungen, wie Texte exemplarisch im Unterricht und dabei mittels verschiedener thematischer Aufgabenstellungen auch strukturelle Merkmale bearbeitet werden können, wie sie zum Beispiel beim Wechsel der Erzählperspektive oder der Auslassung von Adjektiven auftreten. Anhand der für alle Leserinnen und Leser relevanten Erfahrungen zu Abschieden und Neuanfängen wird hier vor allem das kreative Potential von sprachlichen Variationen aufgezeigt. In ihrem Beitrag Interkulturalität und Intertextualität im kreativen literarischen Schreiben - Am Beispiel der Themen Angst und Traum entwickelt Sudabeh Mohafez verschiedene Unterrichtseinheiten bestehend aus theoretischen Literaturarbeiten am Beispiel von Originaltexten und Bearbeitungsaufgaben für die eigene literarisch-kreative Schreiberfahrung. Auch diese Unterrichtseinheiten eignen sich für verschiedene Schularten und Altersstufen und sind mit didaktischen Hinweisen für Lehrerinnen und Lehrer versehen. Wie in der vorangehenden Einheit arbeitet auch Mohafez mit Reduktionsstrategien, die dazu dienen, Variationen anzuregen und die Macht der Sprache zu entfalten. Ausführlich behandelt auch sie dabei strukturelle Merkmale literarischer Texte und deren Wirkungen auf Leserinnen und Leser. Unterrichtseinheit 2 behandelt vertieft, am Beispiel eines persischen Originaltextes von Forrough Farrokhsād, die Wirkungen einer fremden Sprache und die Möglichkeiten der Eröffnung eines dritten Raumes als Konsequenz der Begegnung von Sprachen. Akos Doma wählt für seine Didaktik einen etwas anderen Weg. In seinem Beitrag Literarische Schreibwerkstatt - Am Beispiel der Themen Hoffnung und Sehnsucht beginnt er jeweils mit einem kulturgeschichtlichen Überblick über die Begriffe Hoffnung und Sehnsucht und begründet sie als Motive berühmter literarischer Texte von Henrik Ibsen und Anton Tschechow über Eugene O’Neill, Arthur Miller, Maxim Gorki bis zu E.T.A. Hoffmann, Novalis, Joseph von Eichendorff und Johann Wolfgang Goethe. Auf dieser literaturwissenschaftlichen Einführung baut dann seine Schreibwerkstatt auf, die er als fragenden, dialogischen Prozess des Autors/ der Autorin von der Idee bis zum fertigen Roman beschreibt, illustriert an Hand 9 Einleitung von Domas’ persönlicher Erfahrung. Dieser kleinschrittig beschriebene Weg mit vielen oft unbemerkten Stationen und Entscheidungen kann sehr gut als Masterplan für die Analyse von Texten und die Entwicklung eigener Texte der Schülerinnen und Schüler dienen. Er fungiert wie ein didaktischer Leitfaden für einen entdeckungsreichen, aktiven Unterricht. Diesem Leitfaden folgen methodische Hinweise für eine Schreibwerkstatt in Form von Übungen zum Schreiben und Vortragen, die Doma dann in unterrichtliche Szenarien, mit verschiedenen thematischen und textuellen Perspektivierungen, für Willkommensklassen, Grundschule, Haupt-, Mittel- und Berufsschule, Realschule und Gymnasium überführt. Lena Gorelik fokussiert ihre Einheit auf das Thema Mehrsprachige Lebenswirklichkeit. Dabei geht sie eingangs vor allem auf die vermeintlichen Ängste von Autorinnen/ Autoren beim Schreiben generell und beim literarischen Schreiben im Besonderen ein und behandelt erprobte Strategien zur Überwindung dieser Ängste. An einem Auszug aus ihrem Roman Null bis Unendlich gibt sie schließlich differenzierte methodische Hinweise dazu, wie die Schülerinnen und Schüler die Brücke vom Textverstehen zum eigenen Schreiben schlagen können, zunächst über Worterklärungen und über sprachliche Perspektivierungen bis hin zum Transfer in erlebte oder imaginierte Situationen. Die methodischen Hinweise sind in drei Komplexitätsstufen, mit zunehmender Komplexität, gegliedert und lassen sich damit unter anderem unterschiedlichen Schularten zuordnen oder auch in einem binnendifferenzierten Unterricht einsetzen. In dem Ansatz Von der Notiz ins Notat; vom Notat in die Verdichtung: aus der Verdichtung ins Gedicht führt José Oliver die Arbeiten fort, die er bereits in den drei vorangehenden Materialbänden ausgearbeitet und gut illustriert hat. Hier auch wieder illustriert mit einer fast unzählbaren Fülle von Originaltexten und Zitaten (viele von weiteren Chamisso-Autorinnen und -Autoren) und systematisch ausgeführt in Bezug auf den Entstehungsprozess lyrischer Texte und eine Darstellung und Bearbeitung ihrer wesentlichen Strukturmerkmale (Gestaltung, Inhalt und Form, Erzählperspektive, Reim, Textlänge, lyrisches Ich, Variation), versehen mit Schreiblockerungsübungen und Arbeitsblättern als Vermittlungsinstrumente und -begleiter, schon fast ein Lyrik-Grundkurs für die Schule und eine Schreibwerkstatt für angehende Poeten. 11 „Ohne Abschied kein Neuanfang“ „Ohne Abschied kein Neuanfang“ Literarische Schreibwerkstatt - Am Beispiel der Bedingungen des Menschlichen Senthuran Varatharajah Annäherung (I) Es gibt kein Leben ohne Abschied - ohne Verabschiedung. Das ist der Fall: Jeder Mensch ist - ob wir wollen oder nicht - mit verschiedenen Formen des Abschieds konfrontiert; mit unterschiedlichen Handlungen, und manchmal auch Ritualen des Verabschiedens. Diese existentielle Situation - wir könnten auch von einer prinzipiellen Unausweichlichkeit sprechen; wir alle haben uns bereits verabschiedet, und wir werden uns weiterhin verabschieden, bis wir verabschiedet werden - begründet auch das literarische Interesse am Abschied. Wir verabschieden uns jeden Tag: von Dingen, von Menschen. Das ist der Fall. Ein Abschied ist allerdings nicht einfach ein Abschied: Es gibt ein Register des Abschieds - einen Umfang von Varietäten von Verabschiedungen. Wenn wir von Abschied sprechen, meinen wir entweder einen Augenblick der Trennung oder einen längeren Prozess; man könnte sagen: je länger der Abschied dauert, desto bedeutsamer war das, von dem wir uns verabschieden - ein Ding, ein Mensch. Ein Abschied kann aktiv vollzogen werden - wir verabschieden uns an der Tür von Freund* innen - oder in die Ordnung unseres Lebens einbrechen - d. h.: als ein unerwartetes Ereignis, als ein Widerfahrnis, wie der Tod eines Menschen, der uns nahesteht, nahestand. Wir verabschieden uns mit einem Handschlag, mit einer Umarmung, mit einer Trauerfeier. Es gibt kein Leben ohne Abschied. Annäherung (II) Abschied. Ein biographisches Beispiel: Meine Familie kennt den Abschied. Ich wurde 1984 in Jaffna, im Norden Sri Lankas, in einen Krieg geboren. 80 000 bis 100 000 Menschen wurden - offiziellen Schätzungen zufolge - in den 26 Jahren, die dieser Krieg dauerte, getötet. Als ich vier Monate alt war, konnte meine Mutter mit meinem älteren Bruder und mir über Colombo, Moskau und Ost-Berlin nach West-Berlin fliehen. Die ersten sieben Jahre wohnten wir in fünf verschiedenen Asylbewerberheimen: in West-Berlin, Frankfurt am Main, Nürnberg, Coburg und in einer bayerischen Kleinstadt, in der ich auch bis zum Studium lebte. Meine Familie kennt den Abschied: Den Abschied von dem Haus, in dem meine Eltern aufgewachsen sind, den Abschied von ihren Freund* innen, von ihrer Familie, von ihrer Heimatstadt, die sie verlassen mussten, von dem Land, in dem sie, bis zum Zeitpunkt ihrer Flucht, ihr ganzes Leben verbracht hatten, von der Sprache, in der sie jeden Tag gesprochen haben, von den Asylbewerberheimen, in denen wir die ersten sieben Jahre hier in Deutsch- 12 Senthuran Varatharajah land gelebt hatten. Als ich in der zweiten Klasse war, wollten meine Eltern Deutschland verlassen und nach Kanada auswandern. Meine beiden Brüder und ich gingen auf den Spielplatz und begannen, Abschied zu nehmen, von unseren Freund* innen, und auch von den Dingen, auf denen wir gespielt hatten: von der Holzbrücke, von den Betonröhren, vom Sandkasten. Je länger der Abschied dauert, desto bedeutsamer war das, von dem wir uns verabschieden. Annäherung (III) Abschied. Ein literarisches Beispiel: Die US-amerikanische Schriftstellerin Joan Didion erzählt in ihrem 2005 in den USA veröffentlichten autobiographischen Roman Das Jahr des magischen Denkens von einem anderen Abschied: vom Tod ihres Mannes. Der Roman beginnt mit einer Notiz, die die naheliegenden Themen des Romans zusammenfasst: Das Leben ändert sich schnell. Das Leben ändert sich in einem Augenblick. Man setzt sich zum Abendessen, und das Leben, das man kennt, hört auf. Die Frage des Selbstmitleids. Diese Themen, die diese Notiz versammelt, beziehen sich in Das Jahr des magischen Denkens nicht nur auf Didions Mann, den Schriftsteller John Gregory Dunne, mit dem sie 40 Jahre verheiratet war, sondern auch auf ein anderes Unglück, auf eine parallele Trauer - auf einen doppelten Abschied: ihre gemeinsame Tochter Quintana lag im Koma, als ihr Vater an einem Herzinfarkt starb; über den Tod von Quintana, die zwei Jahre nach ihrem Vater an den Folgen einer Gehirnblutung stirbt, wird Didion in ihrem darauffolgenden, sechs Jahre später veröffentlichten Roman, Blaue Stunden schreiben. Beide Romane, Das Jahr des magischen Denkens wie auch Blaue Stunden, erzählen vom Abschied und dem Abschiednehmen als einer existentiellen Erfahrung, als einer prinzipiellen Unausweichlichkeit: davon, wie der Tod in die Ordnung ihres Lebens einbrach, und dieses Leben von Grund auf veränderte. Das Leben ändert sich in einem Augenblick. Und von diesem Punkt an wird es kein Zurück mehr geben. Didion weiß: Es gibt kein Leben ohne Abschied. Ohne Verabschiedung. Auch, wenn sie darüber schreibt, unter anderem unter Bezugnahme auf medizinische Quellen, bleiben diese Ereignisse unbegreiflich. Sie - der Tod, die Trauer, der Abschied - entziehen sich dem Verständnis, auch wenn wir wissen, auch wenn wir verstanden haben, dass es kein Leben ohne Tod, ohne Trauer und ohne Abschied gibt. Didions Romane versuchen diese existentielle Grausamkeit zu verstehen. Aber auch Literatur kann der Sinnlosigkeit dieser Ereignisse keinen Sinn abringen - aber sie kann ihre Sinnlosigkeit darstellen; von ihr erzählen. Und von diesem Punkt an kann es kein Zurück mehr geben. Schreibaufgaben Das Thema Abschied kann im Unterricht starke emotionale Reaktionen bei den Schüler* innen hervorrufen. Es ist wichtig, es allen Schüler* innen selbst zu überlassen, ob sie den Text, den sie geschrieben haben, vor der Klasse vorlesen wollen oder nicht. Eine alternative Metho- 13 „Ohne Abschied kein Neuanfang“ de könnte darin bestehen, alle Texte zu sammeln, zu mischen und in der Klasse zu verteilen, sodass kein* e Schüler* in den eigenen, womöglich sehr persönlichen Text vorlesen muss, aber dennoch alle Texte vorgelesen werden. Aufgabenstellung I (30 Minuten) Die Schüler* innen sollen ein Gedicht schreiben, das aus 30 je einsilbigen Wörtern besteht, über einen persönlichen Moment des Abschieds. Die formale Vorgabe dient dazu, den Moment von Sprachlosigkeit darzustellen: das Suchen von Wörtern, das Fehlen von Wörtern, ihre Kargheit angesichts eines Ereignisses, das uns die Sprache verschlagen hat. Aufgabenstellung II (45 Minuten) Die Schüler* innen sollen ihre* n Banknachbar* in fragen, was der letzte Abschied war, den sie erlebt haben, und von ihnen auch dazu befragt werden. Über diesen Abschied sollen die Schüler* innen dann jeweils eine Erzählung aus der Ich-Perspektive schreiben und diese im Anschluss ihrem Banknachbarn/ ihrer Banknachbarin vorlesen, von dem oder der sie nur das Thema des Abschieds erfahren haben, aber keine Details. Aufgabenstellung III (60 Minuten) Die Schüler* innen sollen das Gedicht, das aus 30 je einsilbigen Wörtern besteht, in der Form einer Erzählung umschreiben, aber dabei die Erzählperspektive ändern: Wenn das Gedicht in der ersten Person geschrieben wurde, sollen sie es in der zweiten Person schreiben. Wurde es in der dritten Person geschrieben, soll es in der ersten Person umgeschrieben werden. 15 Neuanfang Neuanfang Senthuran Varatharajah Annäherung (I) Einem Neuanfang muss ein Abschied vorausgegangen sein, zumindest ein Ende. Ein Neuanfang bezeichnet eine Zäsur. Diese Zäsur kann verschiedene Formen haben: ein neues Schuljahr, der Schulabschluss, ein Umzug, eine Trennung. Ein Neuanfang ist nicht einfach ein Anfang. Es gibt einen terminologischen Unterschied, der hörbar ist: bezeichnet das Wort Anfang einen objektiven Beginn, einen Beginn ohne Wertung, klingt in dem Wort Neuanfang ein Optimismus an, eine Zuversicht, die sich doppelt begründen lässt - aus dem Ende einer Vergangenheit, mit der man abgeschlossen hat, und aus einem Anfang, der eine andere Zeit verspricht. Wir sagen: „Das wird ein Neuanfang“, und meinen die Trennung von einem bestimmten Abschnitt in unserem Leben. Wir können uns von Dingen verabschieden, wir können uns von Menschen verabschieden. Wir können Dinge zurücklassen, Menschen zurücklassen. Das ist die Bedingung der Möglichkeit eines Neuanfangs: ein Abschied, der vollzogen werden kann, der vollzogen wurde. Annäherung (II) Neuanfang. Ein literarisches Beispiel. Obwohl es einen terminologischen Unterschied zwischen Anfang und Neuanfang gibt, gibt es dennoch etwas, was diese beiden Wörter über ihre eigene Differenz hinweg zusammenhält, wir könnten sagen: eine begriffliche und substantielle Gemeinsamkeit. Es gibt einen Unterschied: ob am Anfang oder im Anfang gesagt wird. Die Elberfelder Bibel bleibt konsequent: sie entscheidet sich immer dafür, im Anfang zu sein, 1. Moses 1 : 1, Johannes 1 : 1. D. h.: Im Anfang schuf Gott die Himmel und die Erde. Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Es gibt zwei Möglichkeiten, die Präposition im zu verstehen: zeitlich - als Augenblick in einer Zeitspanne; räumlich - als Position in einem Raum. Das im zeitlich zu interpretieren liegt nahe; es räumlich zu verstehen irritiert: Es gab bereits einen Anfang, einen Anfang vor dem Anfang, ein Anfangen bevor etwas angefangen hat; aber der Anfang vor dem Anfang - dieser Anfang: Wie nennen wir ihn? Gibt es einen Namen, einen anderen Ausdruck? Einen Begriff ? Wenn es diesen Begriff gäbe, dann scheint er - in der Erzählung des Alten und des Neuen Testaments - vor der Sprache zu liegen, vor dem Sprechen. Erst nach dem Anfang nach dem Anfang, erst nach dem Anfangen nach dem Anfangen gibt es Himmel und Erde; das Wort; etwas, das da ist; etwas, das sagt. Über den Anfang - und ein Neuanfang lässt sich nur 16 Senthuran Varatharajah verstehen, wenn die Idee des Anfangs begriffen wurde - wurde in der Geschichte der Philosophie immer schon nachgedacht. Auch Aristoteles‘ Überlegungen zur Bewegung - und die Zeit ist, in unserer Vorstellung, eine Bewegung, die sich nicht aufhalten lässt - können als eine Reflexion über den Anfang verstanden werden. Wenn es Bewegung gibt, dann muss es etwas geben, das das, was bewegt wurde, das Bewegte, in Bewegung gebracht hat. Aristoteles führt jede Bewegung notwendigerweise auf eine Urbewegung zurück, die am Anfang der Bewegung, am Anfang aller Dinge steht. Aristoteles nennt sie den unbewegten Beweger. Ein Anfang ist also immer auch eine Konstruktion: Ein Anfang lässt sich zwar in den meisten Fällen mit einer gewissen Sicherheit bestimmen, aber diesem Anfang ist immer bereits etwas anderes vorausgegangen, was einem Anfang, einem Neuanfang seine Bedeutung und begriffliche Berechtigung gibt. Es gibt keinen Neuanfang ohne Anfang. Und um neu anfangen zu können, müssen wir uns von einem anderen Anfang verabschiedet haben. Annäherung (II) Neuanfang. Ein literarisches Beispiel. Peter Weiss schreibt in seinem autobiographischen, 1962 veröffentlichten Roman Fluchtpunkt von einem erzwungenen Neuanfang: Am 8. November 1940 kam ich in Stockholm an. Vom Bahnhof fuhr ich zu Schedins Pension in der Drottninggata, wo Max Bernsdorf ein Zimmer für mich bestellt hatte. Mit diesen beiden Sätzen beginnt der Roman. Fluchtpunkt erzählt davon, wie der 24-jährige Weiss nach seiner Flucht in Stockholm ankommt, und wie er versucht, ein Leben als Künstler in der schwedischen Emigration aufzubauen. Fluchtpunkt ist im Grunde genommen eine Fortsetzung seines, ein Jahr zuvor veröffentlichten, autobiographischen Romans Abschied von den Eltern, an den er auch thematisch anschließt. Der Abschied ist auch hier die Bedingung der Möglichkeit eines Neuanfangs: ein Abschied, der vollzogen werden kann, der vollzogen wurde - der vollzogen werden musste. Ein Abschied von den Portalfiguren meines Lebens, den Eltern: Die Trauer galt der Erkenntnis eines gänzlich mißglückten Versuchs von Zusammenleben, in dem die Mitglieder einer Familie ein paar Jahrzehnte lang beieinander ausgeharrt hatten. Die Trauer galt dem Zuspät, das uns Geschwister am Grab überlagerte, und das uns dann wieder auseinandertrieb, ein jedes in sein eigenes Dasein. Es gibt keinen Neuanfang ohne Abschied. Es gibt keinen Abschied ohne ein Ausmaß der Trauer. Abschied von den Eltern erzählt von dem repressiven großbürgerlichen Umfeld, in dem Peter Weiss erzogen wurde, und von der Intimität seines Widerstands: von seiner Affinität zur Kunst. Fluchtpunkt hingegen erzählt von den Schwierigkeiten des Neuanfangs, des Neuanfangens - dem Gefühl der Unzugehörigkeit und der künstlerischen Unzulänglichkeit; Fluchtpunkt erzählt von seinen Selbstzweifeln: 17 Neuanfang Mein Leben war nutzlos, ich hatte nicht einmal etwas verloren, weil ich nie etwas besessen hatte, ich konnte keine Wunden, keine Narben aufweisen, weil ich an keinem Kampf teilgenommen hatte, ich hatte nichts zu berichten, weil mir nichts widerfahren war. Es gibt keinen Neuanfang ohne Anfang. Und um neu anfangen zu können, müssen wir uns von einem anderen Anfang bereits verabschiedet haben. Der terminologische Unterschied zwischen Anfang und Neuanfang wird im letzten Satz des Romans ausgesprochen: An diesem Abend, im Frühjahr 1947, auf dem Seinedamm in Paris, im Alter von dreißig Jahren, sah ich, daß ich teilhaben konnte an einem Austausch von Gedanken, der ringsum stattfand, an kein Land gebunden. Je länger der Abschied dauert, desto bedeutsamer war das, von dem wir uns verabschieden. Das Buch endet mit der bestimmten Zuversicht eines Neuanfangs, eines neuen Anfangens. Von diesem Punkt an wird es kein Zurück mehr geben. Schreibaufgaben Aufgabenstellung I (30 Minuten) Die Schüler* innen schreiben eine Liste von 10 Empfindungen auf, die sie mit einem Neuanfang, den sie erlebt haben, in Verbindung bringen. Aus dieser Liste der Empfindungen, die nur aus Adjektiven bestehen dürfen, schreibt ihr* e Banknachbar* in ein Gedicht, das aus 30 Wörtern besteht, wobei die Wörter in einem Vers nach Silbenlänge geordnet werden, d. h.: der Vers beginnt mit einem einsilbigen Wort, darauf folgt ein zweisilbiges, usw. Aufgabenstellung II (45 Minuten) Die Schüler* innen schreiben eine Erzählung, die von einem Abschied und einem Neuanfang erzählt, von ihren Zweifeln, aber auch von der Zuversicht, die sie damit assoziiert haben. Die Geschichte soll aus der Perspektive der zweiten Person geschrieben werden und keine Adjektive enthalten. Anhand dieser Übung kann die Wichtigkeit von Adjektiven gezeigt werden, die nach gegenwärtig konventionellen literarischen Maßstäben keine literarische Bedeutung besitzen sollen, sondern nur dekorativen Nutzen hätten. Dieses institutionalisierte Vorurteil gegenüber den Adjektiven kann mit dieser Übung widerlegt werden. 18 Senthuran Varatharajah Aufgabenstellung III (30 Minuten) Die Schüler* innen schreiben die Erzählung, die sie vorher ohne Adjektive geschrieben haben, mit Adjektiven, allerdings dürfen sie in der ganzen Erzählung nur maximal 10 verwenden. 19 InterkulturalitätundIntertextualitätimkreativenliterarischen Schreiben-AmBeispielderThemenAngstundTraum Interkulturalität und Intertextualität im kreativen literarischen Schreiben - Am Beispiel der Themen Angst und Traum Sudabeh Mohafez Schon die Begriffe verweisen auf eine Verwandtschaft: Sowohl in der Interkulturalität als auch in der Intertextualität geht es um Wechselbeziehungen. Um gegenseitige Einflüsse, um Prägungen des Einen durch das Andere und umgekehrt, um kulturelle, gesellschaftliche, politische, sprachliche und Räume des Denkens von Möglichkeiten, die überhaupt dadurch erst entstehen, dass Wechselbeziehungen möglich sind, stattfinden und, im besten Falle, gefördert und ausgebaut werden. Die hier folgenden drei Vorschläge für je mehrstündige Unterrichtseinheiten widmen sich der Intertextualität in interkulturellen Werken deutscher Autor* innen und verwenden Beispiele daraus für Unterrichte, die die interkulturellen Wahrnehmungsfähigkeiten und Kompetenzen ihrer Schüler und Schülerinnen nicht nur nutzen, sondern gleichzeitig stärken und fördern wollen. Sämtliche Unterrichtseinheiten bestehen aus (I) theoretischen Literaturarbeiten am Beispiel von Originaltexten einerseits und aus (II) sich daran anschließenden Schreibaufgaben, in denen Schüler und Schülerinnen auf dem Hintergrund des Erlernten in eigene literarischkreative Schreiberfahrung eingeführt werden. Die UEs sind umsetzbar für Schüler und Schülerinnen von Real-, Mittel-, Berufsschulen und Gymnasien. In Unterrichtseinheit I geht es am Beispiel eines kurzen Prosagedichts mit unterschiedlichen intertextuellen Bezügen um die Auseinandersetzung mit interkulturellen Texten, die sich zwar der Regeln der deutschen Schriftsprache bewusst sind und ihnen weitgehend folgen, sie aber in bestimmten Punkten mit Regeln aus anderen Schriftsprachen ergänzen und gleichzeitig durch den textimmanenten Verweis auf andere Literaturen/ Texte weitere Bedeutungsebenen adressieren und ein Netzwerk aus Bezügen knüpfen. Ziel aller dieser Unterrichtseinheiten ist es einerseits, den Schülern und Schülerinnen ein Tor dahin zu öffnen, sich dem Schreiben als Ausdrucksform zu nähern und ihnen andererseits ein Verständnis für die vielschichtigen Ausdrucks- und Aussagemöglichkeiten intertextueller und interkultureller Textarten und -bezüge zu vermitteln. 20 Sudabeh Mohafez Unterrichtseinheit I I. Literaturarbeit Einführung ins Thema anhand der Auseinandersetzung mit literarischen Originaltexten. I.1 Lesen Sie der Klasse den Text Behalte den Flug im Gedächtnis 1 vor, ohne ihn zum Mitlesen zu verteilen/ zu projizieren. Bitten Sie die Schüler und Schülerinnen, beim Zuhören nicht nach „dem Sinn“ des Textes zu suchen und auch der Versuchung zu widerstehen, „einer Handlung“ folgen zu wollen. Vielmehr ist es ihre Aufgabe, die Bilder, die sie hören, sowie deren Abfolge und den Rhythmus, in dem sie vorgetragen werden, aufmerksam wahrzunehmen und sich von ihnen zu eigenen Assoziationen verleiten zu lassen. Es geht bei diesem Schritt nicht in erster Linie um einen kognitiven oder Verstehensprozess, schon gar nicht um einen der Analyse. Es geht darum, dem Text eine Chance zu geben, in der Wahrnehmung der Zuhörer und Zuhörerinnen eine je individuelle Wirkung zu entfalten. Erklären Sie den Schülern und Schülerinnen das und nehmen sich ruhig ein wenig Zeit dafür, denn dieser Auftrag unterscheidet sich in der Regel sehr von Unterrichtsaufträgen, wie die Schüler und Schülerinnen sie gewohnt sind. Stellen Sie sicher, dass das Wirkenlassen des Textes als Hauptaufgabe verstanden wird, indem Sie darauf hinweisen, dass es kein richtiges oder falsches Assoziieren und Empfinden beim Zuhören gibt. Ziel Literarische Bilder wahrnehmen und auf sich wirken lassen, ohne in Bewertung oder eine Vorstellung vorgegebener Deutungen, Ergebnisse, Wertungen zu geraten. I.2 Klären Sie mögliche Verständnisprobleme, zum Beispiel: ▶ patrouillieren ▶ Absperrung ▶ Grenzer I.3 Lesen Sie den Text erneut vor. 1 Mohafez 2017; in diesem Buch S. xx 21 Interkulturalität und Intertextualität I.4 Sammeln Sie nach diesem zweiten Vortrag an der Tafel, was der Klasse an diesem Text beim Zuhören aufgefallen ist, zum Beispiel: ▶ Er besteht aus einer Reihung von Fragen. ▶ Er gibt keine Antworten auf diese Fragen. ▶ Er verrät nicht, wer die Fragen stellt. ▶ Er scheint von einem möglicherweise nicht sehr gut verlaufenen Abschied zu handeln. ▶ Er scheint vom Verlassen eines Landes zu handeln. ▶ Er berichtet von der Sichtung eines Berges, die in Frage gestellt wird. ▶ Er klärt nicht, um welchen Berg es sich handelt. ▶ usw. Möglicherweise nennen die Schüler und Schülerinnen bereits hier auch Gefühle, die der Text bei ihnen evoziert hat. Sollte das der Fall sein, notieren Sie auch diese an der Tafel. I.5 Verteilen Sie den Text an alle. I.6 Lesen Sie den Text erneut vor und fordern Sie die Klasse auf, still mitzulesen. I.7 Diskutieren Sie mit der Klasse, was durch das Mitlesen über das bereits an der Tafel Notierte hinaus am Text auffällt. Lassen Sie die Punkte zusammentragen, ohne Sie zu kommentieren, dazu kommen Sie später noch: ▶ Er ist linksbündig geschrieben, aber rechtsbündig gesetzt. ▶ Er ist durchgehend in Kleinschreibung gehalten. ▶ Er besteht aus Fragen, verwendet aber als Satzzeichen ausschließlich Punkte. ▶ Evtl. kommen Sie sogar hierzu: Die Umbrüche scheinen keine tiefere Bedeutung zu haben, wie es sonst in der Lyrik der Fall ist (Prosaverweis). ▶ usw. 22 Sudabeh Mohafez I.8 Teilen Sie die Klasse in Gruppen mit höchstens vier Personen auf. Die Gruppen sollen ein oder mehrere Szenarien zum Text entwerfen und diese in Stichpunkten festhalten: ▶ Wer könnte der Ich-Erzähler/ die Ich-Erzählerin (oder das lyrische Ich) sein? ▶ Wo, in welchem Ort/ Land könnte sich das Geschehen abspielen? ▶ Was könnte sich am Flughafen abgespielt haben? ▶ Was könnten Gründe für die angedeutete Reise/ den angedeuteten Flug gewesen sein? ▶ Wie könnte der Garten ausgesehen haben? ▶ Warum wurde möglicherweise die Tür nicht geschlossen? ▶ Was könnte es mit den Uniformierten auf sich gehabt haben? ▶ Wer könnten „die Frau“ und „der Mann“ gewesen sein? ▶ Von welchem Berg könnte im Text die Rede sein? ▶ Was könnte den Ich-Erzähler/ die Ich-Erzählerin (das lyrische Ich) dazu gebracht haben, diese Fragen zu stellen, obwohl er/ sie doch offensichtlich am beschriebenen Geschehen teilgenommen hat? ▶ usw. I.9 Sammeln Sie die Ergebnisse stichpunktartig an der Tafel. Es wird sowohl Szenarien geben, die bei vielen/ allen vorkamen, als auch Einzeldeutungen. Sie sollten alle gleichwertig an der Tafel stehen und es sollte möglichst kein Richtig oder Falsch, sondern eine Vielzahl von logischen Deutungsoptionen geben. Solange ihre Verbindung zum Text in irgendeiner Weise gegeben ist, haben sie alle ihre Berechtigung. I.10 Erarbeiten Sie anhand der Tafelnotizen zusammenfassend und gemeinsam mit den Schülern und Schülerinnen, dass ▶ das Prosagedicht eine Situation vor unserem inneren Auge evoziert, die nicht ausdifferenziert oder eindeutig beschrieben wird, ▶ das Prosagedicht zahlreiche Bilder in uns aufkommen lässt, die zusammengenommen Vermutungen darüber erlauben, was für ein Geschehen möglicherweise beschrieben wird/ vom Ich-Erzähler/ der Ich-Erzählerin (dem lyrischen Ich) erlebt wurde, 23 Interkulturalität und Intertextualität Hinweis Hierbei ist wichtig, dass diese Vermutung bei jedem Schüler/ jeder Schülerin anders ausfallen können und trotzdem immer zulässig sind! Es geht nicht darum, auf eine einzige, gültige Deutung hinzuarbeiten. ▶ das Prosagedicht durch die Fragen, die es stellt und auf die es keine Antwort gibt, einen Raum der Einsamkeit, der Trauer und (bei älteren Schülern und Schülerinnen, bei jüngeren mit ausführlicherer Erklärung: ) der ungewissen Zeugenschaft eröffnet. Regen Sie die Schüler und Schülerinnen gern an, weitere „Räume“ zu benennen, die möglicherweise für sie eröffnet wurden und von den hier genannten abweichen. I.11 Exkurs Traumaliteratur/ Traumasprache Wenn Sie möchten, könnten Sie hier noch weitergehen, und mit Ihren Schülern und Schülerinnen eine kleine Einheit zum Thema Trauma in der Literatur (insbesondere zu literarischen Traumasprachen) einbauen. Dieser Vorschlag sprengt die Vorgaben für diesen Text. Für die unter Ihnen, die Interesse an dieser Spur haben, verweise ich aber zum Beispiel auf Agota Kristóf (1987), Aglaja Veteranji (1991) oder meinen eigenen Roman brennt (Mohafez 2010). II - Schreibarbeit II.1. Fordern Sie die Schüler und Schülerinnen auf, sich an ein Ereignis in ihrem eigenen Leben oder im Leben eines Menschen, den sie kennen, zu erinnern, das ▶ schmerzhaft war, ▶ mit Verlust zu tun hatte oder ▶ als bedrohlich empfunden wurde. 24 Sudabeh Mohafez Hinweis zu „Black-outs“ bei dieser und vergleichbaren Aufgabenstellungen Sollte jemand überhaupt keinen Einfall dazu haben, kann das unterschiedliche Gründe haben: Zum einen blenden manche Menschen solche Erfahrungen aus ihrer Wahrnehmung komplett aus oder wollen sich ihnen auf keinen Fall im Rahmen von Schule und Schreibaufgaben zuwenden. In dem Fall ist es von großer Wichtigkeit, nicht in sie zu dringen und keinen Druck aufzubauen. Sie machen ja Deutschunterricht und wollen keine psychologisch komplizierten Situationen evozieren. Zum anderen, wenn auch sehr selten, haben jüngere Menschen solche Erfahrungen einfach noch nicht gemacht. Ermöglichen Sie Schülern und Schülerinnen, die einer dieser Gruppen angehören, die Mitarbeit, 1. indem Sie die Möglichkeit geben, sich eine solche Situation auszudenken, statt auf eine zurückgreifen zu müssen, die wirklich stattgefunden hat. Gestatten Sie auch den Rückgriff auf Erlebnisse von Filmhelden oder -heldinnen, Figuren aus Büchern, die die Kinder und Jugendlichen gelesen haben oder ähnliches, a. indem Sie Beispiele geben, die unter Umständen als weniger belastend empfunden und von den meisten Kindern und Jugendlichen auf jeden Fall schon einmal erlebt wurden, zum Beispiel den Verlust eines Kuscheltieres in der Kindheit, den Tod eines Haustieres, eine kleinere Enttäuschung in einer Freundschaft oder ähnliches Alle, denen ein biografischer Moment einfällt, sollten aber bestärkt werden, ihn als Grundlage für die folgende Schreibaufgabe zu verwenden. II.2 Die Schüler und Schülerinnen sollen sich den Moment, für den sie sich entschieden haben, so deutlich wie möglich vergegenwärtigen: ▶ Wer war dabei? ▶ Wo fand die Situation statt? ▶ Welche Gefühle spielten eine Rolle? ▶ Wie war das Wetter? ▶ Gab es besondere Gerüche? ▶ Gab es besondere Geräusche? ▶ usw. 25 Interkulturalität und Intertextualität II.3 Geben Sie den Schülern und Schülerinnen - je nach Durchschnittsleistungsstärke der Klasse - 20 bis 40 Minuten Zeit, um einen Text zu verfassen, der sich in Form aneinandergereihter Fragen um den von ihnen ausgewählten Moment beziehungsweise die von ihnen gewählte Situation dreht und in etwa die Länge des behandelten Prosagedichts aufweist. Hinweis zu Abweichungen in der Umsetzung der Aufgabe Manchmal weichen Schüler und Schülerinnen von Teilen dieser Aufgabenstellung ab und entwickeln, entlang der gemachten Vorgaben, aber sich von ihnen entfernend, eigene Regeln, zum Beispiel werden keine Fragen aneinandergereiht, sondern parataktisch strukturierte Aussagesätze oder Bündelungen von Adjektiven, die Gefühlslagen beschreiben. Sollte etwas in der Art geschehen, ist das nicht zu kritisieren, sondern im Gegenteil: hervorzuheben und als gleichwertig positiv zu bewerten, weil es zeigt, dass das literarische Prinzip verstanden und eigenständig weiterentwickelt wurde. Aber auch, wenn die meisten Vorgaben nicht eingehalten wurden, sondern zum Beispiel ein reiner Prosatext entstehen sollte, dessen einzige Verbindung zur Aufgabenstellung die Auseinandersetzung mit einer traumatischen, traurigen, verunsichernden etc. Situation ist, ist das Ziel der Übung erfolgreich erreicht worden: Der Schüler oder die Schülerin hat ausgehend von der Auseinandersetzung mit einem literarischen Originaltext eigenständig einen Text verfasst. Hinweis zum Vortrag von Texten, die die Schüler und Schülerinnen verfasst haben Erfahrungsgemäß entstehen bei dieser Aufgabe Texte, die teilweise extrem persönlich sind und intime Situationen behandeln. Es ist daher von großer Bedeutung, es den Schülern und Schülerinnen freizustellen, ob sie Ihren Text am Ende vortragen wollen oder nicht. Manchmal ist es in Ordnung für Schüler und Schülerinnen, die ihren Text nicht vortragen wollen, wenn er von jemand anderem vorgelesen wird. Bieten Sie diese Option immer mit an und bieten Sie auch immer an, die Texte selbst vorzulesen. Von den Schülern und Schülerinnen wird das in der Regel als große Wertschätzung ihrer Arbeit empfunden. 26 Sudabeh Mohafez II.4 Alle Schüler und Schülerinnen, die bereit dazu sind, tragen ihren Text selbst vor der Klasse vor oder lassen ihn von jemandem vorlesen. Sehr gern können sie dafür nach vorn kommen. Ermutigen Sie die Klasse, nach dem Vortrag zu applaudieren, und zwar auch dann, wenn ihnen der Text inhaltlich nicht besonders gefallen hat. Erläutern Sie der Klasse dazu das Folgende: Ziel des Vortrags ist nicht, Gefallen zu erzeugen oder eine unter Umständen hervorragende Leistung zu präsentieren. Ziel ist es, den Mut und das Selbstvertrauen zu haben, geschützt-öffentlich zu einer eigenständig verfassten literarisch-kreativen Arbeit zu stehen. Unterrichtseinheit II I. Literaturarbeit I.1 Zum (Wieder-)Einstieg lesen Sie das Prosagedicht aus Block I noch einmal vor oder lassen es vorlesen. I.2 Besprechen Sie mit den Schülern und Schülerinnen, inwiefern dieser Text für sie etwas von einem Erzähltext (Prosa) und inwiefern er etwas von einem Gedicht (Lyrik) hat und erläutern Sie anschließend am Beispiel des eben gelesenen Textes den Begriff Prosagedicht. Arbeiten Sie dabei insbesondere heraus, dass ein Prosagedicht eine „dritte Form“ ist, die Charakteristika der beiden „traditionellen Bereiche“ in sich vereint und damit formal etwas Neues erschafft, einen „dritten Ort“ eröffnet, die Eindeutigkeit der Kategorien in Frage stellt oder einfach darauf hinweist, dass diese Eindeutigkeit immer etwas Künstliches, etwas Gesetztes ist, das auch anders festgelegt sein könnte, etc. Lassen Sie das bis hierhin Besprochene zunächst einfach so stehen und gehen über zum nächsten Punkt. Keine Sorge: die losen Enden kommen am Ende wieder zusammen. 27 Interkulturalität und Intertextualität I.3 Falls Sie selbst kein Farsi/ Persisch können, klären Sie, ob jemand in der Klasse die Sprache beherrscht und (Achtung: das ist nicht immer vorauszusetzen! ) sie auch lesen kann. Aufgabe für den/ die vortragende/ n Schüler/ Schülerin Sollte das der Fall sein, fragen Sie den Schüler/ die Schülerin, ob er/ sie bereit wäre, der Klasse das Gedicht Parandeh mordani ast 2 vorzutragen. Falls ja, geben Sie ihm/ ihr eine Kopie und bitten Sie ihn/ sie zum Vortrag vor die Klasse zu treten. Hinweis Applaus ist nach einem solchen Auftritt immer erwünscht, aber nicht auf Bestellung. Es ist schön, wenn er kommt. Wenn er nicht kommt, sorgen Sie als Lehrkraft für ausreichend Wertschätzung. Aufgabe für die Zuhörer und Zuhörerinnen Bitten Sie die restlichen Schüler und Schülerinnen, sich ganz bewusst auf den Klang, den Rhythmus und die Melodie des Gehörten zu konzentrieren. I.4 Lesen Sie anschließend die Übersetzung des Textes Der Vogel ist sterblich 3 vor. Verteilen sie dazu beide Fassungen (die persische und die deutsche) an die Schüler und Schülerinnen. I.5. Sprechen Sie kurz darüber, wovon dieses Gedicht handelt ▶ Liebeskummer ▶ Einsamkeit ▶ Quintessenz in den letzten zwei Zeilen: Es ist die Erfahrung selbst, die kostbar ist und uns niemals genommen werden kann. Die gelebte Verbindung (in der Liebe, der Freundschaft, der Familie etc.) kann vorübergehen. ▶ usw. 2 Farrokhsād 2014, in diesem Buch S. xx 3 Farrokhsād 2014 Übersetzung von Sudabeh Mohafez, in diesem Buch S. xx 28 Sudabeh Mohafez I.6 Bitten Sie nun die Schüler und Schülerinnen, erneut in Kleingruppen nach Verbindungslinien zwischen dem Gedicht von Farrokhsād und dem Prosagedicht zu suchen, zum Beispiel: ▶ thematisch Trauer, Abschied, Verlust ▶ formal rechtsbündiger Satz der beiden Originalfassungen ▶ semantisch a) die aus dem persischen Original im deutschen Titel zitierte Zeile Behalte den Flug im Gedächtnis ▶ semantisch b) die Umdeutung des Vogelflugs aus dem persischen Original in einen Flugzeugflug im deutschen Original I.7 Erarbeiten Sie mit den Schülern und Schülerinnen, was sich aus diesen intertextuellen Bezügen ableiten lässt: ▶ Inwieweit weisen Konnotationen aus dem persischen Gedicht in den Sentenzen des Prosagedichts in eine bestimmte Richtung? ▶ Was spiegelt die Quintessenz aus dem persischen Gedicht (behalte den [Vogel-] Flug im Gedächtnis) durch das Zitat im Prosagedicht wider? ▶ Gibt es durch dieses Zitat Bedeutungsdopplungen? Falls ja, welche? Tragen Sie die Ergebnisse an der Tafel zusammen und diskutieren Sie mit der Klasse die intertextuellen Verweise des Prosagedichts auf der inhaltlichen wie der formalen Ebene und arbeiten Sie die damit angesprochenen Konnotationsräume heraus, zum Beispiel: ▶ Der rechtsbündige Satz des in linksbündig notierten, deutschen Wörtern verfassten Textes verweist auf die Rechtsbündigkeit der persischen Schrift, damit auf den persischen, den iranischen und sogar den arabischen Kulturraum und damit auf das Geburtsland und die Vatersprache der Autorin des Textes. Es entsteht eine Repräsentanz dieses Kulturraums innerhalb des deutschsprachigen Gedichts. Das Prosagedicht eröffnet demnach einen Raum oder stellt einen Ort dar, in dem die beiden Sprachräume und die ihren Schriften zugrunde liegenden Konzepte nicht mehr voneinander zu trennen, sondern in eins gefallen sind. ▶ Die Punkte anstelle von Fragezeichen am Ende der Fragesätze könnten auf einer formalen Ebene darauf hindeuten, dass es diesen Fragen gar nicht um Antworten geht, dass es dem Ich-Erzähler/ der Ich-Erzählerin (dem lyrischen Ich) vielmehr darum gehen könnte, diese Fragen als Ausdruck eines Erlebens „in die Welt zu stellen“, Zeugnis abzulegen über dieses Erleben, als darum, Antworten auf sie zu finden. 29 Interkulturalität und Intertextualität ▶ Angesichts der Thematik des Textes, ließe sich zumindest vermuten, dass die durchgehende Kleinschreibung im vorliegenden Prosagedicht möglicherweise den speziellen geistigen und emotionalen Zustand des Ich-Erzählers/ der Ich-Erzählerin (des lyrischen Ichs) markieren soll. Er/ sie scheint sich im Zustand einer schmerzhaften und traurigen Selbstbefragung zu befinden, scheint in einem emotionalen Befinden gefangen, in dem Fragen nicht aus Erkenntnisinteresse gestellt und rein assoziativ aneinandergereiht werden. Er/ sie scheint sich gedanklich an einem sowohl beängstigenden wie irrealen „Ort“ zu befinden oder einen solchen zu befragen. Einen Ort, an dem die gewöhnlichen Regeln außer Kraft gesetzt sind. Möglicherweise spiegelt sich das hier in der durchgehenden Kleinschreibung. Hinweis Je nach Leistungsstärke und/ oder Interessenslage der Gruppe, bietet dieser Punkt einen guten Anlass dafür, mit den Schülern und Schülerinnen den literaturgeschichtlichen Hintergrund der Kleinschreibung in der deutschsprachigen Lyrik und Prosa zu besprechen. Historisch zum Beispiel bei: Jacob Grimm, Stefan George, Friederike Mayröcker, Ernst Jandl oder Peter Paul Zahl. Zeitgenössisch zum Beispiel bei: Uljana Wolf (2013), Daniela Seel (2011), Yevgeniy Breyger (2016), Monika Rinck (2005), José F. A. Oliver (2005), Ulf Stolterfoth, Sudabeh Mohafez, Max Czolleck und vielen mehr. ▶ Das Farrokhsād-Zitat verweist auf eine der wichtigsten dichterischen Stimmen des 20.-Jahrhunderts in der persischen Sprache, auf eine feministische, politisch denkende und experimentelle Dichterin zudem, die eine enge Verbindung zu Deutschland hatte und einige Jahre in Deutschland lebte. Es ist somit eine Hommage sowohl an die Dichterin, als auch an die literarischen, ethischen und politischen Inhalte, für die sie stand. 4 Hinweis Je nach Klassenstufe, können Sie die Schüler und Schülerinnen zur literarischen Arbeit Forough Farrokhs ā ds, aber auch zu ihrem Bezug zu Deutschland recherchieren und vielleicht ein Referat halten lassen. 4 Wikipedia.de zu Forough Farrokhsād 2020 30 Sudabeh Mohafez ▶ Die Engführung des Liebeskummer-Topos aus dem persischsprachigen Gedicht mit dem Topos der Migration im deutschsprachigen Prosagedicht verweist sowohl auf Liebe als auch Kummer im Zusammenhang mit dem im Text verhandelten Flug von einem Land ins andere. ▶ Die Eröffnung eines „dritten Raums“ in der Verwendung der Form des Prosagedichts, erschafft auch in diesem Kontext einen „dritten Raum“. Er hat eine Engführung des deutschen und des persisch/ iranischen Bezugsrahmen zur Folge. ▶ usw. I.8 Stellen Sie schließlich die Frage nach dem Berg: Klärt das Prosagedicht in irgendeiner Weise auf, was es mit dem Berg auf sich hat, den der Ich-Erzähler/ die Ich-Erzählerin (das lyrische Ich) möglicherweise „in Wahrheit“ doch nicht sehen konnte? ▶ Er tut es nicht. Arbeiten Sie das heraus und lassen es vorerst so stehen. Wir kommen auch hierauf noch zurück. Teilen Sie das den Schülern und Schülerinnen mit. I.9 Fragen Sie ab, wer in der Klasse welche Sprachen beherrscht. Sollten Schüler oder Schülerinnen anwesend sein, die andere außer der deutschen Sprache auch schriftlich beherrschen, lassen sie diese einen einfachen Satz in dieser Sprache an die Tafel schreiben. Verwenden Sie dafür freie Sätze oder gern auch eine Sentenz aus entweder dem Gedicht von Farrokhsād oder dem Prosagedicht, zum Beispiel: ▶ „Niemand wird mich der Sonne vorstellen.“ ▶ „ob die sonne schien.“ Sammeln Sie im Anschluss gemeinsam weitere Sprachen, die anders als linksbündig notiert werden oder weitere Charakteristika aufweisen, die sie von der Notation der deutschen Schrift unterscheiden: ▶ Mandarin, Koreanisch, Japanisch werden meist von oben nach unten geschrieben, wobei die Spalten von rechts nach links angeordnet sind. ▶ Hebräisch, Arabisch, Persisch (semitische Schriften) werden von rechts nach links geschrieben (waagerechte linksläufige Schriften). ▶ Tigrinya (auch eine semitische Schrift) wird waagerecht rechtsläufig, also von links nach rechts geschrieben. ▶ Auf dem Lateinischen beruhende Schriften (Deutsch, Englisch, Französisch, Spanisch, Italienisch etc.) werden meist von links nach rechts geschrieben (waagerechte rechtsläufige Schriften). 5 5 Wikipedia.de zur Schreibrichtung 2020 31 Interkulturalität und Intertextualität II - Schreibarbeit Hinweis Die folgende Aufgabe lässt sich besser realisieren, wenn Sie mit der Klasse an Rechnern arbeiten können. II.1 Fordern Sie die Schüler und Schülerinnen auf, aus den beiden, ihnen vorliegenden Gedichten insgesamt drei Wörter (Reizwörter) auszuwählen. II.2 Fordern Sie die Schüler und Schülerinnen auf, die ausgewählten Wörter in ein Prosagedicht einzuarbeiten, das einen wie auch immer gearteten, thematischen Bezug zu einem Land aufweist, in dem eine waagerecht linksläufige Schrift verwendet wird und dieses Gedicht rechtsbündig zu verfassen. Weisen Sie darauf hin, dass die Schüler und Schülerinnen jederzeit von der Vorlage des Prosagedichts abweichen und zum Beispiel auch Reime oder sinnvolle Umbrüche verwenden können (allerdings nicht müssen! ). Geben Sie der Klasse - je nach Leistungsstand - zwischen 20 und 30 Minuten Zeit für diese Aufgabe. II.3 Lesung mit freiwilligen Beiträgern und Beiträgerinnen. II.4 Lassen Sie die Schüler und Schülerinnen am Ende dieses Blockes die Fragen und Themenkomplexe rekapitulieren, die Sie bis hierher besprochen und geklärt haben. Falls Sie eine Klassenarbeit oder Tests durchführen müssen, lassen sich diese Punkte sehr gut dafür verwenden, bewerten Sie aber nicht die Ergebnisse der Texte, die die Schüler und Schülerinnen verfasst haben: ▶ Wofür könnte Rechtsbündigkeit in einem deutschsprachigen Prosagedicht Verwendung finden? (Fallen den Schülern und Schülerinnen noch weitere mögliche Gründe für eine solche Verwendung ein, oder anders: Was könnte Rechtsbündigkeit in der deutschen Schriftsprache noch repräsentieren und wie ließe sich das kontextuell verdeutlichen? ) 32 Sudabeh Mohafez ▶ Inwieweit ist die durchgehende Kleinschreibung ein Stilmittel in der deutschsprachigen Literatur? Welche bereits verstorbenen Autoren oder Autorinnen haben sie manchmal verwendet und warum? Welche zeitgenössischen, lebenden Autoren und Autorinnen verwenden sie manchmal und warum? ▶ Welche weniger offensichtlichen Gründe kann es für eine von der offensichtlichen Logik abweichende Verwendung von Satzzeichen in einem literarischen Text geben? Und an welchen kontextuellen Verfahren in einem Text lässt sich das verdeutlichen? ▶ Was ist ein Prosagedicht? Unterrichtseinheit III Lassen Sie die Schüler und Schülerinnen zu Beginn dieses dritten Blockes noch einmal rekapitulieren, welche Fragen bis hierher besprochen und geklärt, welche aber auch noch offen sind. Im diesem dritten und letzten Block bringen wir eine zusätzliche Ebene der Intertextualität ins Spiel und außerdem alle losen Enden zusammen. Teilen Sie das Ihren Schülern und Schülerinnen gern mit, wenn es losgeht. Sie werden bald feststellen, dass eigentlich nur noch eine Frage, nämlich die nach dem Berg, offen ist. I. Literaturarbeit I.1 Schreiben Sie den „Berg-Satz“ aus dem Prosagedicht an die Tafel ob ich den berg in wahrheit überhaupt sehen konnte. und lassen sie die Schüler in Gruppenarbeit herausfinden, was uns diese neun Worte tatsächlich sagen. Geben Sie den Gruppen nicht mehr als 10 Minuten Zeit dafür und tragen Sie die Ergebnisse anschließend im Plenum an der Tafel zusammen. Das Ergebnis wird sehr wahrscheinlich ziemlich eindeutig ausfallen: Es scheint, als ob die Stimme einst behauptet oder geglaubt habe, diesen Berg gesehen zu haben, als ob sie sich aber nun frage, ob das überhaupt (! ) stimmt. Ob sie sich nicht geirrt habe. Oder sogar, ob sie nicht eine Lügnerin gewesen sein könnte. Eine Erfinderin, Er-Dichterin eines Umstands, eines Ereignisses, das so nie stattgefunden hat, das aber gleichwohl vielleicht so hätte stattfinden können und möglicherweise sogar wirklich so stattgefunden hat. Wir wissen es nicht. Sie scheint es selbst nicht (mehr? ) zu wissen. Was hat es mit diesem Berg bloß auf sich? Das Gedicht verrät es uns nicht. Vielleicht aber tut es ein anderer Text derselben Autorin. 33 Interkulturalität und Intertextualität I.2 Je nachdem wie Sie gewöhnlich in der Klasse mit der Lektüre etwas längerer Texte verfahren, lesen Sie Sediment 6 vor oder lassen Sie die Schüler und Schülerinnen den Text eigenständig lesen. I.3 Klären Sie unbekannte Worte, möglicherweise und je nach Klassenzusammensetzung zum Beispiel: ▶ Sediment ▶ Tränenpalast ▶ Spree ▶ schmiedeeisern ▶ Brecht-Theater ▶ Teheran ▶ Betäubungsmittel ▶ Altstadtkern ▶ trockenwohnen ▶ Petroleumofen ▶ inhalieren ▶ usw. II. Schreibarbeit II.1 Schreibübung 1 Lassen Sie die Schüler und Schülerinnen eine maximal einseitige Zusammenfassung der Gegenwartshandlung des gelesenen Textes schreiben. Geben Sie dafür nicht mehr als 20 Minuten Zeit. Es soll nur die Haupthandlung wiedergegeben werden. Sie ist überaus schlicht: Die Ich-Erzählerin steht in Berlin auf der Weidendammer Brücke. Von dort aus sieht sie einen Berg namens Damâwand auf der Spree. Angesichts dieser Erscheinung, Einbildung, Halluzination, Fantasie schweifen ihre Gedanken ab und folgen einer Reihe von Erinnerungen. Am Ende des Textes lenkt der Anblick von Zirkusleuten und eines Esels ihre Gedanken wieder in die Gegenwart. 6 Mohafez 2017, in diesem Buch: S. xx 34 Sudabeh Mohafez II.2 Tragen Sie die Ergebnisse an der Tafel zusammen beziehungsweise lassen sie Freiwillige vorlesen. II.3. Schreibübung 2 Lassen Sie die Schüler und Schülerinnen einen freien Text darüber schreiben, was der Berg in der Erzählung „tut“ (zum Beispiel: „er kommt und geht“) und was er bewirkt (zum Beispiel „er evoziert in Berlin Bilder, die offensichtlich nicht nach Berlin, sondern nach Teheran gehören). Sie können dafür Wendungen aus dem Text verwenden, sollen sie dann aber mit Anführungszeichen als Zitate markieren. II.4 Tragen Sie die Ergebnisse an der Tafel zusammen beziehungsweise lassen Sie Freiwillige vorlesen. II.5 Fragen Sie die Schüler und Schülerinnen, ob dieser Text ihrer Meinung nach eine Korrespondenz zu der im Prosagedicht aufgeworfenen Überlegung aufweist, die Ausgangspunkt dieses Arbeitsblocks war: Was hat es mit dem Berg auf sich, den der Ich-Erzähler/ die Ich-Erzählerin (das lyrische Ich) des Prosagedichts vielleicht gesehen oder aber vielleicht auch nicht gesehen hat. Bitten Sie die Schüler und Schülerinnen, die Stelle im Text zu suchen, an der der Damâwand von der Ich-Erzählerin tatsächlich gesehen wird, und bitten Sie sie anschließend, zu beschreiben, was der ganze, sehr kurze Absatz, in dem er auftaucht, für sie bedeutet. Welche Situation beschreibt er? Welche Gefühle evoziert er? Welche Bilder und Metaphern verwendet er, um diese Gefühle darzustellen? II.6 Bitten Sie die Schüler und Schülerinnen zur nächsten Stunde einen Text mitzubringen, den sie selbst mögen. Es kann ein Roman sein, aber auch ein Gedicht, ein Comic, ein Songtext, ganz egal. Es darf auch ein Text sein, den sie zu irgendeiner früheren Gelegenheit einmal selbst verfasst haben. 35 Interkulturalität und Intertextualität II.7 Zum Abschluss dieses Blocks bitten Sie Ihre Schüler und Schülerinnen ein Prosagedicht zu verfassen, das ein Zitat aus oder einen Hinweis auf ihren mitgebrachten Text enthält, ohne dass dieser Zusammenhang textimmanent offengelegt wird. Originaltexte behalte den flug im gedächtnis 7 ob schnee lag. ob uniformierte patrouillierten. ob es morgen war oder abend. ob viele taschentücher aufgebraucht wurden. ob ich müde war. ob überhaupt jemand an der absperrung stand. ob die luft anders roch als sonst. ob die grenzer am flughafen nett waren oder bedrohlich. ob wir gefrühstückt hatten an diesem tag. ob ich ein buch im handgepäck hatte. ob ich mich von irgendjemandem verabschiedet habe. ob die sonne schien. ob ich angst hatte. ob ich einen fensterplatz oder einen am gang hatte. ob ich den berg in wahrheit überhaupt sehen konnte. ob die geschwister quängelig waren. ob wir abends irgendjemandem bescheid gegeben haben. ob ich verstand, warum die frau ständig von heimat sprach. ob ich ahnte, dass der mann nicht ahnte, dass es für immer war. ob ich vorher noch einmal durch den garten gegangen bin. ob jemand die tür hinter uns schloss. ob ich mich noch einmal umgedreht habe. 7 Mohafez 2017 36 Sudabeh Mohafez Der Vogel ist sterblich 8 Mein Herz ist betrübt Mein Herz ist betrübt Zum Söller gehe ich und ziehe meine Finger über die gedehnte Haut der Nacht Die Lichter der Verbindung sind dunkel Die Lichter der Verbindung sind dunkel Niemand wird mich zum Fest der Sperlinge führen Niemand wird mich der Sonne vorstellen Behalte den Flug im Gedächtnis der Vogel ist sterblich von Forrough Farrokhsād Sediment 9 Er ist wieder da. In all seiner Pracht: groß und schimmernd und unwiderstehlich. Er ist wieder da und hat mich überrascht, wie immer. Er meldet sich nie an. Er kommt und geht, wie es ihm passt. Heute hat er mich auf der Weidendammer Brücke eingeholt. Hinter mir rauscht der Feierabendverkehr die Friedrichstraße entlang. Neben mir lehnt das Fahrrad am schmiedeeisernen Geländer. Zwischen dem Tränenpalast und dem alten Brecht-Theater sehe ich in die untergehende Sonne. Sie spiegelt sich in der Spree. Dort, auf dem Wasser, steht er. Groß, still und unbezwingbar. Der Damâwand. Der Berg. Die Krone Teherans. Er steht auf dem Wasser, wächst aus ihm heraus zu seinen fast sechstausend Metern Höhe, breitet sich rechts und links über die Ufer der Spree, legt sich auf Straßen und Häuser, und sein weißbedecktes Haupt leuchtet strahlender als die Berliner Abendsonne. Meine Kehle ist rau. Ich kenne das schon. Erst kommt die Atemnot, dann der Kloß im Hals. Ich weiß, dass es nachlässt, wenn ich ruhig bleibe und nicht an dem zweifle, was ich sehe. Ich habe schon alles mögliche versucht. Einfache Dinge, wie Umdrehen oder Wegfahren. Aufwendigere, wie die Einnahme unterschiedlichster Betäubungsmittel. Aber es nützt nichts. Ist er einmal da, der Damâwand, dann hat er seinen Grund dafür. Dann lässt er sich nicht vertreiben, dann bleibt er, wo er ist und solange er will. Ohnehin ist das Ansinnen albern. Einen Berg zu vertreiben. Den Berg der Berge verscheuchen, verjagen zu wollen, kindisch. Also atme ich gründlich aus, warte den Bruchteil einer Sekunde, hole dann wieder Luft und betrachte das überwältigende Felsmassiv, das so unerwartet in meinem kleinen, zerklüfteten Berlin aufgetaucht ist. Die Stille des Damâwand ist bis hier unten zu spüren, und der braunblaue Schimmer seiner faltigen, rissig-rauen Flanken legt sich auf die Mitte meiner alt gewordenen, neuen Heimat. Das Dorf an 8 Farrokhsād 2014, S. 15 Übersetzung: Sudabeh Mohafez 9 Mohafez 2017 37 Interkulturalität und Intertextualität seinem Fuß döst in der Abendsonne, obwohl ich weiß, dass es in Wahrheit nicht mehr existiert. Die Stadt hat es sich einverleibt in den Jahren, die vergangen sind. Möglicherweise ist es zum Altstadtkern eines neuen Bezirks geworden. Wahrscheinlicher ist, dass es dem Erdboden gleichgemacht wurde und verschwunden ist. Nicht aber seine Bewohner, die arm sind und einflusslos. Ja, es wird eher so sein. Das Dorf wird vielgeschossigen Neubauten aus billigem Beton Platz gemacht haben, die trockengewohnt werden, wie vor der Jahrhundertwende die Gründerzeithäuser Berlins. Trockengewohnt von denen, die dort vorher in Lehmhütten und schmalen, an den Fels geschmiegten Häusern aus selbstgebrannten Ziegeln lebten. Wie Musik brandet das Hupkonzert des Teheraner Verkehrs an meine Ohren. Der Schiffbauerdamm ist über und über behängt mit bunten Lichtern. Es wird ein Feiertag sein. Und mir läuft das Wasser im Munde zusammen, als ich die Männer neben ihren kleinen Petroleumöfen entdecke, die am Straßenrand hockend Labu verkaufen, in Salzwasser gekochte rote Beete. An den Hängen des Damâwand im Norden Teherans plätschert die Spree unter meinen Füßen, und eine der Punks, die vor dem Tränenpalast ihr Lager aufgeschlagen haben, will Zigaretten schnorren. Dass ich ihr keine geben kann, sage ich, weil ich nicht mehr rauche. Sie glaubt mir nicht und besteht auf die Übergabe mindestens eines Exemplars. Ich frage, ob sie den Berg sieht. Eine alte Sau sähe sie nur, gibt sie zur Antwort, pfeift nach ihrem Hund und geht. Ich wende mich wieder zum Höchsten der Hohen. Rauchen wär gar keine so schlechte Idee. Ich würde tief inhalieren und dann einen langen, grauen Silberstreifen in die Luft schicken. In die Luft vor mir, vor meinem Gesicht. Einen Streifen silbrigen Rauchs, der meine Sicht vernebeln und meinen Anblick verstecken würde: verstecken vor dem Berg. Natürlich nur für Sekunden, für Bruchteile von Sekunden. Ohnehin wäre das Ansinnen albern. Mich vor dem Berg zu verbergen, vor dem Berg der Berge, mich wegmachen, ihm ausweichen, entwischen zu wollen. Abwesend taste ich in meiner Jackentasche nach einer vergessenen Packung Zigaretten, aber es ist zu lange her, dass ich das Rauchen aufgegeben habe. Ich entsinne mich noch gut an den Moment: Wir saßen auf den Stufen eines kleinen Ladens, der leer stand, wie die meisten Wohnungen in dem alten baufälligen Haus. Wir, das waren Mira und ich. Sie rauchte nach Pfeife riechende, filterlose Zigaretten und brachte Geschichten mit. Ich war zuständig für ein Sixpack Billigbier und einen Stapel alter Zeitungen gegen die Kälte von unten. Damals war ich schon auf eine leichte Sorte umgestiegen und handelte mir dafür jeden Abend Miras Spott ein. Von Ende März bis Anfang Oktober saßen wir bis weit nach Mitternacht auf dem Treppchen, tranken jede drei Bier und verloren uns in dem, was Mira erzählte. Es waren Träume für die Zukunft oder Geschichten aus der Vergangenheit. Eines aber war ihnen gemeinsam: Sie spielten immer in Berlin, in Miras Berlin, einer Stadt, die ich nicht kannte und deren Straßen gesäumt waren von Gefängnissen, Heimen und Asylen. Ihre wichtigsten Bewohner waren arme Huren, reiche Huren, Kinder und Hunde. Sie war angefüllt mit Politik, massenweise Politik. Von unten, darauf legte Mira wert. Über mein Berlin sprachen wir nicht. Es interessierte sie nicht, und ich konnte das verstehen, denn mein Berlin war ein verwischtes. Eines, das nicht richtig zu sehen war, sich stets entzog und irgend- 38 Sudabeh Mohafez wie nebelhaft blieb. Es war mir ähnlich: eigenbrötlerisch, ein wenig verloren, hässlich, widersprüchlich und vernarbt. An einem dieser Abende voller Geschichten waren wir unterwegs in der Strafvollzugsanstalt Söthstraße, wo Frauen mit gebeugtem Rücken hölzerne Wäscheklammern fertigten. Mira erzählte von einer leidenschaftlichen Liebe, die hier ihren Lauf genommen hatte, nur um einige Jahre später, allerdings in Italien, ebenso dramatisch zu enden, wie sie begonnen hatte. Völlig in die Bilder versunken, die Mira vor uns in die kalte Berliner Luft zeichnete, drückte ich meine siebenunddreißigste Zigarette des Abends mehrmals auf den Boden und bekam, als ich den Stummel schließlich fallen ließ, plötzlich keine Luft mehr. Ich japste und machte quietschende, ächzende Geräusche, dachte panisch, dass das Leben nicht so urplötzlich, so unerwartet und auf so gemeine Weise zu Ende gehen könne, und hörte durch das anschwellende Rauschen in meinen Ohren eine Stimme, die immer wieder energisch sagte: „Ausatmen! Du musst ausatmen! “ Es war Mira, die diesen Befehl ein ums andere Mal wiederholte und mir gleichzeitig die Arme hochriss, weit über den Kopf - im Mundwinkel eine Kippe. Seitdem rauche ich nicht mehr. Einmal habe ich Mira vom Damâwand erzählt. Da stand er gerade bei uns im Hinterhof. Ich überlegte kurz, gab mir einen Ruck und fragte sie, ob sie ihn sähe. „Wen? “ wollte sie wissen. „Den Berg“, sagte ich leise. „Da vorn.“ Wir saßen auf dem Fensterbrett unserer Bruchbude, vierter Stock Altbau, und blickten nach unten. Es war Spätsommer oder Frühherbst. Goldene Reste von Sonnenstrahlen, die über dem Hof hingen, ein paar langgezogene Spinnweben, an unsichtbaren Enden befestigt, die scheinbar im Nichts vor uns aufgespannt waren, und ein Geruch, der all der Stadt um uns zum Trotz, voll Erde war. Der Damâwand stand genau vor uns. Um seinen schneebedeckten Gipfel zu sehen, musste ich den Kopf weit in den Nacken legen. Ich freute mich über seine Nähe und dachte an meinen Vater, wie er mir bei einer Gebirgsfahrt geologische Formationen erklärte. Er erzählte von Tieren, die hier vor Hunderttausenden von Jahren gelebt hatten. Unter dem Wasser gelebt hatten, denn wir bewegten uns auf Sedimentgestein. Auf dem durch gigantische Kräfte an die Erdoberfläche gedrückten Boden eines uralten Ozeans. Ammoniten, Trilobiten, Tiere der Vorzeit mit akademischen Namen, tief vergraben ins Gestein. „Nee. Seh ich nich’, dein’ Berg“, sagte Mira nach einem Blick in den Hof. Ich habe ihr dann von ihm erzählt. Wie er damals im Flugzeug erschien und ich fürchtete, die Maschine könne das Gewicht nicht tragen. Wir Passagiere, die Stewardessen, die Sitze und die kleinen, ovalen Fenster schimmerten genauso durch den Damâwand, wie es jetzt der Efeu und die Vorderhausfassade taten, während unter uns, still und unbeachtet, mein Teheran verschwand. 39 Interkulturalität und Intertextualität Ich habe Mira auch erzählt, wie der Berg dann in Berlin in der Schule auftauchte. Im Sportunterricht bei Herrn Kachler und beim Putzen in Frau Malikowskis Wohnung. Eigentlich immer wieder irgendwo. „Und, na ja, jetzt ist er im Hof. Diesmal schon ziemlich lang’. Ich glaub’, fast zwei Wochen.“ Mira schwieg. Dann schwang sie die Beine über das Fensterbrett, holte sich eine Dose Bier aus unserer neuesten Anschaffung, dem Kühlschrank, der unser ganzer Stolz war, weil er nichts gekostet hatte und jederzeit kühles Pils garantierte, und setzte sich wieder neben mich. Ein Zischen flitzte durch die Küche, als sie mit geübtem Druck die Aluminiumlasche versenkte. Wie jedes Bier, trank Mira auch dieses genießerisch in Ruhe und voller Anerkennung. Schließlich betrachtete sie eine Weile lang aufmerksam den Hinterhof. „Seh’ ihn noch immer nich’, dein’ Berg“, sagte sie und schlenkerte mit den Beinen. Ich nickte, und wir schwiegen wieder. Nach einer Weile zeigte Mira auf die Silhouette von Herrn Börne, die sich gegenüber auf der Milchglasscheibe seiner Küche abzeichnete. Er hatte sie dort eingebaut, weil er wusste, dass Mira und ich, wenn wir nicht unten auf dem Treppchen saßen, hier oben herumlungerten und in seine Küche schauten. Die aber zierte neuerdings eine Kastendusche. Offenbar gingen Herrn Börne die dadurch entstandenen Aussichten zu weit, und so hatte er mit Hilfe der undurchsichtigen Scheibe unseren optischen Radius auf ein annehmbares Maß zurückgeschraubt. Mira zeigte mit der Dose auf Herrn Börnes durchscheinenden Glasschatten, sagte, dass der sie an Max erinnere, und begann damit eine neue Geschichte. Herrn Börnes Schatten vor Augen, gebe ich die Suche nach Zigaretten auf und ziehe die Hand aus der Tasche. Neben mir scharrt etwas auf dem Pflaster. Bei meinem Fahrrad steht ein Esel. So weit ist der Berg noch nie gegangen. Konzentriert atme ich aus und ein und aus und bemerke erleichtert, dass der kleine Junge, der auf dem Tier sitzt, blond und außerdem in Begleitung eines bunt gekleideten, gut genährten Herrn ist, den eine vielzipflige, glöckchenbekränzte Mütze schmückt. Er schwenkt ein klapperndes Töpfchen mit Münzen hin und her. Das Trio sammelt Spenden für einen Zirkus, der in Schöneberg gastiert. Ich brauche mein Geld selber, schüttle den Kopf und finde, dass das Kind dringend ins Bett muss. Die Überlegung beschert dem unbekannten Mann einen vorwurfsvollen Blick, den er nicht versteht. Der Esel schnaubt leise, und ich könnte wetten, dass er mich angrinst, als er so zu mir hochblickt. In Gedanken sage ich zum ihm, dass ich auch endlich nach Hause muss. Der Esel nickt zufrieden. Ich greife nach meinem Fahrrad und wende mich um, dem Damâwand zu winken. Der aber ist spurlos verschwunden, wie schon so viele Male zuvor. Und die Spree, die alte, sie schwappt und plätschert, als wäre nichts, aber auch gar nichts geschehen. 41 Literarische Schreibwerkstatt - Am Beispiel der Themen Hoffnung und Sehnsucht Literarische Schreibwerkstatt - Am Beispiel der Themen Hoffnung und Sehnsucht Akos Doma I Hoffnung Die Hoffnung ist der Regenbogen über den herabstürzenden, jähen Bach des Lebens. Nietzsche, „Nachgelassene Fragmente“ „Ich hoffe, dass“-… Die Formulierung gehört zu den häufigsten Wendungen im Alltag: „Ich hoffe, dass es klappt“, „ich hoffe, dass sie es schafft“, „ich hoffe, dass es gut ausgeht“, „ich hoffe, dass es morgen nicht regnet“, „ich hoffe, dass wir uns bald wiedersehen“, „ich hoffe, dass ich am Samstag nicht arbeiten muss“, „ich hoffe, dass wir das nächste Spiel gewinnen“, „ich hoffe, dass man sich für mich entscheidet“-… Hoffnung ist der erwartungsfrohe, zuversichtliche Blick in die Zukunft. Die griechische Entsprechung des Wortes, „elpis“, ist noch neutral und bedeutet Erwartung sowohl im positiven (Hoffnung) als auch im negativen (Befürchtung) Sinn. In den neuzeitlichen Sprachen ist der Begriff hingegen positiv konnotiert. Hoffnung steht für eine positive Erwartungshaltung, für Zuversicht und Vertrauen in die Zukunft. Sie wirkt motivierend, sie ermutigt weiterzumachen. Als Pandora in der griechischen Mythologie die Büchse öffnete und damit alle Übel, Laster, Krankheit und Tod in die Welt entweichen ließ, fand sich darin als einziges positives Gegenmittel die Hoffnung. Immanuel Kant formulierte es später so: „Der Himmel hat den Menschen als Gegengewicht zu den vielen Mühseligkeiten des Lebens drei Dinge gegeben: Die Hoffnung, den Schlaf und das Lachen.“ Solange die Hoffnung lebt, ist alles noch möglich. Die Hölle, das ist die Hoffnungslosigkeit. Das Fehlen jeder Perspektive, jeder Aussicht auf eine Wendung zum Besseren. “Lasst, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren! “, lautet die Inschrift an der Höllenpforte in Dante Alighieris Göttliche Komödie. Der Schrecken der Hölle besteht nicht nur in der Grausamkeit der Strafen, sondern auch in deren Fortdauer in alle Ewigkeit. Hoffnung auf Erlösung besteht nicht. 42 Akos Doma Die Hoffnung dagegen kann sogar noch stärker, beseelender als das Glücksgefühl sein, das man empfindet, wenn sie in Erfüllung geht. „Die starke Hoffnung“, so Friedrich Nietzsche, „ist ein viel größeres Stimulans des Lebens, als irgendein einzelnes wirklich eintretendes Glück.“ Wenn „der Weg das Ziel“ ist, ist die Hoffnung der Weg. Und als solcher stirbt sie zuletzt. * * * Die Kehrseite des positiven Gefühls Hoffnung ist die Ungewissheit, ob sie sich je erfüllen wird oder nicht, weshalb man „ich hoffe“ auch stets mit einem eher zuversichtlichen oder einem eher bangen Unterton spricht, je nachdem ob die Aussichten auf Erfüllung gut oder schlecht sind. Ist letzteres der Fall, wird die Hoffnung eine „trügerische“, „leere“, „falsche“. Dieser ungewissen, irrealen Qualität wegen wird die Hoffnung in einem sowohl Platon als auch Aristoteles zugeschriebenen Zitat als „der Traum eines Wachenden“ bezeichnet. Als Wachtraum. Real und doch nicht. Wunschtraum, Wunschvorstellung, Chimäre, Luftschloss, Trugbild. Oder schlicht Illusion. Die Sprache kennt viele Ausdrücke dafür. Diese ambivalente Natur der Hoffnung hat Arthur Schopenhauer im Sinn, wenn er die Hoffnung einerseits als „eine Hauptquelle unserer Freuden“ bezeichnet, andererseits feststellt, dass der Mensch von der Hoffnung „genarrt“ werde, denn: „Die Hoffnung verfälscht die Erkenntnis.“ Gerade darin besteht aber auch ihre Stärke. Denn ob begründete Hoffnung oder unbegründete Illusion, in ihrer psychologischen Wirkung lassen sich beide kaum voneinander unterscheiden. Mit ihren Verheißungen wirken beide beseelend und ermutigend, spornen zu Taten an, helfen Leid und Unrecht zu ertragen. Der Spruch „Glaube versetzt Berge“ ließe sich genauso gut als „Hoffnung versetzt Berge“ oder als „Illusion versetzt Berge“ variieren. * * * Zu einem wichtigen literarischen Motiv wird der illusionäre, doppelgesichtige Charakter der Hoffnung vor allem im modernistischen Drama. Unablässig umkreisen die Stücke Henrik Ibsens die „Lebenslügen“ ihrer Protagonisten, ihr blindes Festhalten an Lügen und Illusionen, um den schönen Schein ihres Lebens aufrechtzuerhalten. Die Dramen Anton Tschechows sind bevölkert von Figuren, die ihr Leben müde und untätig fristen, ganz ihren hohlen Träumen und Illusionen hingegeben. In der klassischen, amerikanischen Theaterliteratur - von Eugene O‘Neill über Tennessee Williams und Arthur Miller bis Edward Albee - wird das Motiv der Lebenslüge und ihrer Entlarvung, die Demontage des „amerikanischen Traums“, zum zentralen Thema schlechthin. Am explizitesten vielleicht in O‘Neills monumentalem Spätwerk Der Eismann kommt (1946). Das Stück handelt von einer Gruppe heruntergekommener Trinker, die ihre Tage 43 Literarische Schreibwerkstatt - Am Beispiel der Themen Hoffnung und Sehnsucht in der Bar des gutmütigen Wirtes Harry Hope verbringen, wo sie in Alkoholseligkeit leere Zukunftspläne schmieden und von einer Rückkehr in ihr früheres, „erfolgreiches“ Leben träumen. Als sie eines Tages von ihrem einstigen Saufkumpan Hickey beim Wort genommen und in die Wirklichkeit hinausgeschickt werden, kehren sie am Abend in einer Reihe erschütternder Szenen geschlagen und demoralisiert zurück, manche von ihnen konnten vor schierer Angst nicht einmal die Straße überqueren. Die Konfrontation mit der Wirklichkeit, der Verlust ihrer Lebenslüge („pipe dream“) hat sie nun auch ihrer letzten Würde beraubt. Wie es bereits in Ibsens Drama Die Wildente (1884) heißt: „Nehmen Sie einem Durchschnittsmenschen die Lebenslüge, und Sie nehmen ihm zu gleicher Zeit das Glück“. Oder das Leben. In Maxim Gorkis Stück Nachtasyl (1902) berichtet der Pilger Luka von einem armen Mann, dessen einzige Lebenshoffnung sein Glaube an ein „Land der Gerechten“ war, in das er einst auswandern wollte. Als er eines Tages von einem Gelehrten erfährt, dass es dieses Land gar nicht gibt, dass es nur eine Erfindung ist, geht er nach Hause und erhängt sich. Ohne Hoffnung, ohne schönen Schein kein Sein. Ohne Illusion, ohne Lebenslüge kein Glück, keine Würde. Sehnsucht Ach wie fühlt ich mich beglückt! Dort erblick ich schöne Hügel, Ewig jung und ewig grün! Hätt ich Schwingen, hätt ich Flügel, Nach den Hügeln zög ich hin. Schiller, „Die Sehnsucht“ Hoffnung ist stets Hoffnung auf etwas. Sie hat ein Objekt. Nur so „vor sich hin zu hoffen“ ist nicht möglich. Mag auch die Sehnsucht zuweilen ein konkretes Ziel haben, sei es ein Mensch, eine Sache, ein bestimmter Zustand, so ist sie oft auch nur ein allgemeines, unbestimmtes Lebensgefühl, eine Art, die Welt zu empfinden. Für Friedrich Wilhelm Schelling ist die Sehnsucht gar „das Dunkelste und damit Tiefste der menschlichen Natur“. Schmerzvoll und süß zugleich. Ein unstillbares Verlangen nach dem Unerreichbaren, nach etwas, was fehlt, was abwesend ist, verloren gegangen ist. Das Gefühl eines Mangels. Man leidet darunter, ist ihr wehrlos ausgeliefert, und doch möchte man sie nicht missen, gibt sich ihr hin. Ein paradoxes Gefühl. Ist man zu Hause, befällt sie einen als Fernweh, ist man in der Ferne als Heimweh. Ist man unter Menschen als Wunsch nach Einsamkeit, ist man einsam als Wunsch nach Menschen. Sehnsucht. Nach der wahren Liebe. Nach Freiheit. Nach Erlösung. Nach dem Tod. Nach einer vergangenen Zeit, einem Ort der Jugend, der fernen Heimat. Nach dem Glück. Kaum hat man es erlangt, nach einem anderen. 44 Akos Doma Ein paradoxes Gefühl. Gewichtig. Tief. Ihr Einsatz ist meist die Existenz selbst. Vielleicht weil sie nichts Geringerem als der paradoxen Natur des Menschen selbst entspringt. * * * Sehnsucht, Wehmut, Melancholie, Nostalgie, Schwermut, Weltschmerz. Lauter verwandte Erscheinungsformen eines Seelenzustandes, der in den unterschiedlichen Kulturen mal stark, mal kaum ausgeprägt ist. Besonders markante nationale Ausprägungen dieses Gefühls sind die russische toska oder nostalgia, die finnische kaiho, die portugiesisch-brasilianische saudade sowie die ungarische mélabú. Und die deutsche romantische Sehnsucht. Diese wiederum gehört in den größeren Kontext einiger wegen ihrer spezifisch deutschen Eigenart kaum übersetzbarer Gemütsbegriffe wie Gemütlichkeit, Geborgenheit, Gelassenheit oder Geselligkeit. In Kulturkreisen, die historisch vom Pragmatismus und puritanisch-protestantischen Arbeitsethos geprägt sind, etwa in den Niederlanden oder im anglo-amerikanischen Raum, spielt die romantische Sehnsucht kulturell kaum eine Rolle. Der kühle Pragmatiker und Tatenmensch hält sich nicht mit träumen und sehnen auf, er krempelt die Ärmel hoch und lässt das Ersehnte Wirklichkeit werden. Er plant, entwirft, ersinnt Methoden und Strategien und erarbeitet sich die Erfüllung seines Wunsches. Sehnen und Arbeiten gehen selten Hand in Hand. So steht der romantischen Sehnsucht, die die Protagonisten in Novalis’ Heinrich von Ofterdingen und Joseph von Eichendorffs Aus dem Leben eines Taugenichts umhertreibt, jeweils der fleißige, für den Müßiggang seines Sohnes kaum Verständnis aufbringende Vater gegenüber. Der Nostalgiker, der Melancholiker, der Mensch der Sehnsucht ist kein Macher. Kein Machtmensch, kein Führer, noch weniger einer, der folgt. Er bleibt am Rand stehen und verfolgt staunend die Betriebsamkeit, ein stiller Beobachter, ehrgeizlos, harmlos. Er lebt in seiner eigenen Welt, die er zuweilen in künstlerischer Form zum Leben erweckt. * * * Zum bestimmenden Lebensgefühl ganzer Generationen wurde die Sehnsucht in der deutschen Romantik. In der Literatur, Malerei und Musik der Romantik fand sie ihren vollendeten künstlerischen Ausdruck. So lobt E.T.A. Hoffmann in seiner Abhandlung über Beethovens Instrumentalmusik an Beethoven „eben jene unendliche Sehnsucht, welche das Wesen der Romantik ist“. Die Sehnsucht als das eigentliche Wesen der Romantik. Die Romantik als die ultimative Ausdrucksform der Sehnsucht. Bekanntestes Symbol dieses romantisch-sehnsüchtigen Lebensgefühls ist die „blaue Blume“, die als Leitmotiv zum ersten Mal in Novalis’ Romanfragment Heinrich von Ofterdingen (1802) auftaucht. Heinrich, der Protagonist des Romans, erblickt die blaue Blume in einer kosmisch-synästhetischen Traumvision und wird von einem „unaussprechlichen Verlangen“ erfasst. Fortan will er die blaue Blume suchen. Später glaubt er im Gesicht seiner Liebe Mathilde das Gesicht wiederzuerkennen, das ihm einst im Kelch der Blume erschienen war. So vereinigen sich in der blauen Blume eine ganze Reihe romantischer Motive: die schwärmerische Liebe, die Sehnsucht nach dem Unendlichen und Unbedingten, die Einswerdung von 45 Literarische Schreibwerkstatt - Am Beispiel der Themen Hoffnung und Sehnsucht Mensch und Natur, die Identität von Welt und Göttlichem und das Fernweh, das immer auch ein Heimweh nach einer verlorenen Urheimat, einer zerbrochenen Ureinheit ist. Sechzehn Jahre später greift Joseph von Eichendorff das Motiv der blauen Blume wieder auf. In seinem gleichnamigen Gedicht setzt er sie mit dem „guten Glück“, dem günstigen Schicksal gleich. Dieses sei ihm auf seinen Wanderschaften allerdings nie begegnet: Ich wandre schon seit lange, Hab lang gehofft, vertraut, Doch ach, noch nirgends hab ich Die blaue Blum geschaut. Die Sehnsucht bleibt unerfüllt, doch das scheint für sie wesenhaft zu sein. Wichtiger als ihre Erfüllung ist die Suche, die Wanderschaft - ein weiteres Schlüsselmotiv der Romantik -, die ihretwegen unternommen wurde. Das Leben als Wanderschaft, als Gang in jenes beseelte, poetische „Offene“ - jenseits der platten, eindimensionalen „Offenheit“ des libertären Zeitalters -, das zu feiern Hölderlin in seinen Gedichten nie müde wird. II. Schreibwerkstatt 1. Einführung Literarisches Schreiben ist für die meisten Schülerinnen und Schüler Neuland. Mit seinem kreativen, fiktionalen Ansatz weicht es vom Stoff des gewöhnlichen Deutschunterrichts grundsätzlich ab. Um in das Thema einzuführen, erzähle ich zunächst von meinen persönlichen Erfahrungen als Schriftsteller. Ich beschreibe den Weg eines Romans von der Idee zum fertigen Buch und den Weg des Buches in die Hand des Lesers oder der Leserin. Dabei gehe ich stets fragend vor. Da die Schülerinnen und Schüler in der Regel sehr offen und neugierig sind und ihre Bereitschaft, sich zu melden, groß ist, kommt es zu einem regen Austausch. Dieses einführende Gespräch fördert auch das gegenseitige Kennenlernen und lockert die Stimmung auf, was für das spätere Vortragen der Texte in großer Runde wichtig ist. Obwohl eine Lehrkraft wahrscheinlich nicht über die persönlichen Erfahrungen eines Schriftstellers verfügt, kann sie die Einführung dennoch genauso gestalten. Die Perspektive wird eine andere sein, die Themen und Tatsachen bleiben die gleichen: 1) Schreiben, Schriftsteller ▶ Was heißt literarisches (fiktionales, kreatives) Schreiben? ▶ Warum schreibt man überhaupt Geschichten, Romane, Gedichte? 46 Akos Doma Bei der Antwort auf letztere Frage unterscheide ich zwischen: ▶ dem künstlerisch-handwerklichen Impetus, der Freude am Schreiben, am Schaffen an sich: man will schreiben, ▶ dem existentiellen (psychologischen, gesellschaftskritischen, etc.) Ansatz: man muss schreiben ▶ und der Lust am Erfinden, Erzählen, Fabulieren. In diesem Zusammenhang frage ich die Schülerinnen und Schüler: ▶ ob sie schon einmal selbst etwas geschrieben haben: Tagebuch, Gedichte, Erzählungen-… ▶ was sie gerne lesen, welche Gattungen sie mögen ▶ ob sie eine(n) Lieblingsschriftsteller(in), einen Lieblingsroman haben 2) Schreibakt Ich beschreibe den Weg eines Romanstoffes von der ersten Idee zum fertigen Text und unterscheide die Arbeitsstufen: ▶ Idee ▶ Entwurf (Konstruktion, Personenkonstellation, Handlung, etc.) ▶ Niederschrift ▶ ständige Überarbeitung Hier betone ich - auch im Hinblick auf den Deutschunterricht, auf Haus- und Schulaufgaben -, wie wichtig es ist, einen Text immer wieder zu überarbeiten und zu korrigieren. Schreiben ist ein Prozess, erste Versionen können nicht die Qualität einer mehrfach überarbeiteten Fassung haben. 3) Buch Ich schildere den Weg des fertigen Typoskripts zum Buch und die Rolle, die ▶ Verlag ▶ Literaturagentur ▶ Lektor ▶ Grafikagentur dabei spielen. Ich zeige der Klasse die Umschläge meiner Romane. Die Schülerinnen und Schüler sollen beschreiben, was sie auf den Covers sehen, wie Bild, Buchstaben und Gestaltung sind. Ich erzähle in ein, zwei Sätzen, worum es in den Romanen geht, und demonstriere auf diese Weise, wie eine Grafikagentur das Thema eines Romans visuell umzusetzen versucht. 47 Literarische Schreibwerkstatt - Am Beispiel der Themen Hoffnung und Sehnsucht 4) Vermarktung Das Erscheinungsbild des Buches leitet zum Thema Vermarktung über. Ich erläutere, welche Möglichkeiten es gibt, das Interesse der Leser unter den zahllosen Neuerscheinungen eines riesigen Literaturmarktes gerade auf ein bestimmtes Werk zu lenken: ▶ Werbung in den Medien ▶ Besprechungen, Kritiken, Rezensionen in den Feuilletons der Zeitungen und Zeitschriften, in den Kultursendungen von Rundfunk und Fernsehen ▶ Internet, Blogs ▶ Literaturpreise 5) Literarisches Schreiben als Kunst Zum Schluss erläutere ich - wie immer in Form von Fragen, die ich an die Klasse richte -, worum es uns in unserem Schreibkurs gehen wird. Zunächst grenze ich das literarische Schreiben von anderen Formen des Schreibens ab, etwa vom: ▶ journalistischen Schreiben ▶ wissenschaftlichen Schreiben ▶ Verfassen von Sachtexten. Literarisches (fiktionales, kreatives) Schreiben ist vielmehr eine Kunstform, ein Werk der Fantasie. Und als solches frei. Genauer: seinen eigenen Gesetzen unterworfen. Im Gegensatz zu den Naturwissenschaften oder zur Mathematik gibt es in der Literatur und beim Schreiben kein „richtig - falsch, darf - darf nicht“. Das veranschauliche ich, indem ich die Rechnung 2 x 2 = an die Tafel schreibe und die Schülerinnen und Schüler langsam dazu bringe, auch andere Antworten als 4 zu geben. 2 x 2 muss für uns nicht unbedingt 4 ergeben. Es kann 4 sein, kann genauso gut aber auch 17 oder 200 sein. Kein Thema, kein Ansatz, kein Stil, keine Gattung ist von vornherein verboten oder „unangebracht“. Was nicht heißt, dass alles gleichwertig ist, dass literarisches Schreiben eine wertungsfreie Zone ist. Im Gegenteil. Immer wieder wird es in der Schreibwerkstatt darum gehen, festzustellen, warum der eine Text gelungen, der andere weniger gelungen ist. Es wird weniger um richtige Grammatik und Rechtschreibung gehen als vielmehr um Fragen wie: Wer hat etwas zu sagen? Wer kann das, was er zu sagen hat, am spannendsten, bewegendsten, anregendsten, poetischsten, originellsten sagen? Wer macht sich Gedanken zur Welt und kann seine Gedanken erzählerisch, poetisch umsetzen? Was macht einen reichen, dicht(erisch)en Text aus? Was heißt es überhaupt, gut erzählen zu können? Warum ist die eine Geschichte gut erzählt, die andere weniger gut? Warum bewegt uns die eine, lässt uns die andere aber eher kalt? Was ist dieses rätselhafte, schwer fassbare Phänomen Erzählen? Und nicht zuletzt: Kann man das überhaupt lernen? 48 Akos Doma Zum Schluss zwei Bemerkungen, warum man auch jenseits aller Schreibambitionen von der Schreibwerkstatt profitieren kann: 1. Indem man sich beim Schreiben in unterschiedliche Figuren hineinversetzt und damit auch die Perspektive wechselt, lernt man, Sachen von mehreren Seiten zu betrachten, und wird sich auch im Leben leichter tun, sich in andere hineinzufühlen, Empathie und Verständnis für sie aufzubringen. 2. Zum anderen hebe ich die Bedeutung eines guten, gewandten Umgangs mit der Sprache hervor. Wie in der Steinzeit die Keule, so ist heute die Sprache der Schlüssel zur Welt. Wer klar formulieren und sich gut ausdrücken kann, wer einen schönen, überzeugenden Stil hat, wird in einer Welt, die auf dem Wort beruht, stets im Vorteil sein. 2. Übungen Didaktische Vorbemerkung Hoffnung und Sehnsucht sind existenzielle menschliche Empfindungen, die für Schülerinnen und Schüler jeder Schulart und jedes Bildungshintergrundes verständlich und emotional nachvollziehbar sind. Deshalb sind alle Schreibaufgaben - bei jeweiliger Anpassung an das Alter und Niveau der Teilnehmer - in der Regel für alle Schularten geeignet. Lediglich in Grundschulen und Willkommensklassen verlangt das niedrige Alter der Kinder beziehungsweise das niedrige Sprachniveau der Teilnehmer eine andere Didaktik mit anderen Übungen. Die Schreibwerkstatt besteht in erster Linie aus den beiden Arbeitsbereichen: 1. Schreiben 2. Vortragen und Besprechen der Texte Um die entstandenen Texte in gemeinsamer Runde vorlesen und besprechen zu können, werden die Tische zu Beginn der Schreibwerkstatt U-förmig angeordnet. Die Schülerinnen und Schüler stellen groß beschriftete Namensschilder vor sich auf, um eine persönliche Ansprache zu ermöglichen. Der Schwerpunkt der Schreibwerkstatt liegt auf der Praxis, es wird von Anfang an geschrieben. Wichtige literarische Elemente, die es zu beachten gibt, wie Erzähler, Erzählperspektive, Ton, Metaphorik, Sprache, rhetorische Mittel, Thema, psychologische Stimmigkeit lasse ich während der Textbesprechungen einfließen oder behandele sie in eigenen Exkursen zwischen den Aufgaben, längeres Dozieren vermeide ich. Dabei gilt mein besonderes Augenmerk stets dem erzählerischen Moment. Während die Schülerinnen und Schüler an Erörterungen geschult Schreibaufgaben oft automatisch als Essay oder Sachtext abhandeln, leite ich sie an, eine Handlung zu erfinden und das, was sie zu sagen haben, im Rahmen der fiktiven Handlung mit fiktiven Figuren zu erzählen. Zeigen statt Sagen. Handlung statt Abhandlung. 49 Literarische Schreibwerkstatt - Am Beispiel der Themen Hoffnung und Sehnsucht Bei den Besprechungen verweise ich wo nur möglich auf Werke der Weltliteratur, um das Interesse am qualitativen Lesen zu wecken oder zu fördern. Geschrieben wird per Hand, unter bewusstem Verzicht auf technische Hilfsmittel jeder Art. Die spätere Übertragung in den Computer stellt dann auch eine Überarbeitung dar. Zu guter Letzt: Um das Selbstbewusstsein und das Vertrauen in das eigene Potential zu stärken und damit die Lust am Schreiben sowie die Bereitschaft in großer Runde vorzulesen, zu steigern, ist es eminent wichtig, bei der gemeinsamen Besprechung der entstandenen Texte zu loben. Selbst wo ich korrigiere oder vorsichtig Kritik übe - die auch wichtig ist, denn die Klasse will auch etwas lernen und nicht alles, was geschrieben wird, wahllos abgesegnet bekommen -, finde ich stets auch lobende Worte, Vorzüge am Text. Willkommensklasse Bei der Arbeit mit Willkommensklassen gilt zu bedenken, dass Teilnehmer möglicherweise traumatisierende Erfahrungen wie Krieg, physische und psychische Not oder extreme Gefahr erlebt haben. Ihr Blick richtet sich eher in die Zukunft als in die Vergangenheit, die Sehnsucht nach Normalität hat Vorrang vor dem Wunsch, die Vergangenheit aufzuarbeiten. Opferkult jeder Art ist ihnen fremd. Ideal erscheint vielmehr ein natürlicher, sensibler, gleich behandelnder Umgang mit allen Teilnehmern jenseits jeder krampfhaften Rücksichtnahme oder Fixierung auf das Thema Traumatisierung. Sollte sich im Lauf der gemeinsamen Arbeit eine Familiarität zwischen den Teilnehmern und der Lehrkraft ergeben, die auch eine Thematisierung negativer Erlebnisse wünschenswert macht, ist das nur zu begrüßen. Von besonderer Bedeutung bei der Arbeit mit Willkommensklassen ist das Gespräch, der mündliche Austausch vor und nach den schriftlichen Aufgaben. Nicht nur deshalb, weil die Sprachkenntnisse noch lückenhaft sind, sondern auch, weil die Teilnehmer oft Kulturkreisen mit vorwiegend mündlicher Tradition entstammen. Es fällt ihnen von Haus aus leichter, ihre Gedanken und Gefühle mündlich als schriftlich auszudrücken. Die allmähliche Hinführung zum Schreiben und zur Schriftlichkeit stellt in solchen Fällen eine der Zielsetzungen der Werkstatt dar. Aufgabe 1 Die Schülerinnen und Schüler schreiben die Worte „Hoffnung“ und „Sehnsucht“ in ihren jeweiligen Muttersprachen auf die Tafel. In welchen anderen Sprachen kennen wir diese Begriffe noch? Gibt es Ähnlichkeiten zwischen den Wörtern in den unterschiedlichen Sprachen? 50 Akos Doma Aufgabe 2 Die Schülerinnen und Schüler listen Dinge auf, die in ihren Heimatländern mit Hoffnung und Sehnsucht assoziiert werden. Aufgabe 3 Die Schülerinnen und Schüler beenden drei Sätze, die mit den Worten beginnen: 1. Ich hoffe, dass-… 2. Ich hoffe, dass-… 3. Ich hoffe, dass-… Aufgabe 4 Anschließend schreiben sie drei Sätze zur Sehnsucht: 1. Ich sehne mich nach-… 2. Ich sehne mich nach-… 3. Ich sehne mich nach-… Aufgabe 5 Die Schülerinnen und Schüler schreiben einfache Sätze oder einen kurzen Text über ihre Erwartungen in der neuen Heimat. Welche Hoffnungen und Sehnsüchte haben sie? Was assoziieren sie mit ihrer neuen Heimat? Was fällt ihnen ein, wenn sie ▶ an die Stadt, in der sie leben ▶ an Deutschland denken? 51 Literarische Schreibwerkstatt - Am Beispiel der Themen Hoffnung und Sehnsucht Aufgabe 6 Die Teilnehmer schreiben eine einfache Geschichte zum Thema falsche Träume, falsche Sehnsüchte. Ein Flüchtling muss miterleben, wie eine Freundin/ ein Freund unter dem Einfluss falscher Freunde schlechte Gewohnheiten anzunehmen beginnt und auf die schiefe Bahn zu geraten droht. Was passiert? Was kann er tun, um das zu verhindern? Findet er eine Möglichkeit, um ihn/ sie auf den richtigen Weg zurückzuführen? Grundschule Auch bei Schreibwerkstätten an Grundschulen geht es zunächst darum, Kinder, die von Haus aus gewohnt sind, sich mündlich mitzuteilen, an das Schreiben heranzuführen. Zur Auflockerung der schriftlichen Aufgaben bietet es sich an, das Schreiben zeichnerisch begleiten zu lassen. So können die Kinder ihre Geschichten durch kleinformatige Bilder im Comicstil ergänzen. In einer ersten Gesprächsrunde wird die Klasse gefragt, wer die Worte Wunsch, Sehnsucht oder Hoffnung kennt und den anderen erklären kann. Was fällt ihnen zu den Worten ein? Dieser erste mündliche Austausch leitet zu den schriftlichen Aufgaben über. Aufgabe 1 Die Kinder schreiben - und zeichnen - fünf Dinge auf, die sie sich wünschen. 1. Ich wünsche mir ein-… 2. Ich wünsche mir ein-… 3. Ich wünsche mir ein-… 4. Ich wünsche mir ein-… 5. Ich wünsche mir ein-… 52 Akos Doma Aufgabe 2 Die Kinder schreiben - und zeichnen - fünf Ereignisse auf, die sie sich erhoffen. 1. Ich hoffe, dass-… 2. Ich hoffe, dass-… 3. Ich hoffe, dass-… 4. Ich hoffe, dass-… 5. Ich hoffe, dass-… Aufgabe 3 Kinder haben oft Lieblingsorte, an denen sie sich mit Vorliebe aufhalten, die für sie Rückzugsraum und kleines Universum in einem sind. Das können Plätze in einem Zimmer sein, Ecken, Nischen, Möbelstücke, Verstecke, Höhlen, Baumhäuser oder Hütten im Garten. Zu Beginn zeichnet jedes Kind seinen Lieblingsort und beschreibt ihn in einem kleinen Text. Wo befindet er sich? Warum mag es ihn? Was macht es dort gewöhnlich? Sollte ein Kind einen solchen Lieblingsort nicht haben, beschreibt es sein Zimmer oder einen anderen Raum, in dem es sich oft aufhält. Aufgabe 4 In einem zweiten Schritt schreibt jedes Kind eine Geschichte über einen realen oder fiktiven Ort seiner Sehnsucht. Solche Orte könnten ein Spielplatz, ein Freizeitpark, ein Stück Natur, ein Bauernhof oder ein Ponyhof sein. Dort soll nun etwas Spannendes, Geheimnisvolles passieren. Die Erzählung kann sowohl in der Ich-Form als auch in der dritten Person Singular geschrieben werden. 53 Literarische Schreibwerkstatt - Am Beispiel der Themen Hoffnung und Sehnsucht Aufgabe 5 Margit Auers Kinderbuchreihe Die Schule der magischen Tiere handelt von einer Schulklasse, in der jedes Kind einmal ein eigenes „magisches“ Tier bekommt, das sprechen kann und zu seinem besten Freund und Vertrauten wird. Gemeinsam erleben sie aufregende Abenteuer. Im vierten Band der Reihe, Abgefahren (2014), unternimmt die Klasse einen Ausflug ins Schullandheim. Im Gegensatz zu ihren Klassenkameraden, die sich schon lange auf den Ausflug gefreut haben und die Tage im Schullandheim nun genießen, leidet Finja heftig unter Heimweh. Margit Auer, Die Schule der magischen Tiere Band-4 Abgefahren! S. 97-104 Finja stand in der Eingangshalle und telefonierte. Es tat gut, die vertraute Stimme der Mutter zu hören. „Wir schaffen das schon, meine Kleine“, tröstete sie ihre Mutter. „Die Zeit bis Freitag vergeht ganz schnell, glaub mir.“ Finja schniefte. „Ach, mein Schatz“, sagte ihre Mutter. „Du fehlst mir ja auch. Was habt ihr denn heute noch vor? “ „Ein Stadtspiel“, sagte Finja traurig. Ihre Mutter seufzte tief. „Wenn es ganz schlimm wird, hole ich dich ab, mein Schatz. Dann machen wir es uns zu Hause gemütlich.“ Für einen Moment klang das sehr verlockend. Mit ihrer Mama zusammen Filme schauen, kuscheln-… Finja sah, wie die anderen in der Eingangshalle tobten. Einige Mädchen spielten Hüpfgummi. Andere ließen sich von Ida hübsche Zöpfe machen - als Tochter von zwei Friseuren konnte sie das supergut. Jo kickte mit ein paar Jungs einen Flaschendeckel hin und her. Eddie und Benni sprangen herum und versuchten Eugenia zu fangen. Die kleine Fledermaus umkreiste die Lampenschirme und johlte: „Ihr kriegt mich nicht, ihr kriegt mich nicht! Für euch ist es zu hocherich! “, was allerdings nur Eddie hören konnte. Finja verstand sich selbst nicht. Alle Kinder hatten so viel Spaß, nur sie war traurig-… „Es geht los! “ Miss Cornfield klatschte in die Hände. „Bitte zusammenkommen! “ „Ich muss aufhören“, flüsterte Finja in den Hörer. Sie schluckte, während sie den Worten der Mutter lauschte. „Wenn du mich brauchst, bin ich in drei Stunden da.“ Dann tutete es in der Leitung. Finja stellte sich zu den anderen. […] Es konnte losgehen. Miss Cornfield verteilte Stadtpläne und Fragebögen. Gut gelaunt machten sie sich auf den Weg ins Tal. Für das Stadtspiel teilten sie sich in Gruppen auf. Ohne Aufsicht durften sie die Stadt erkunden. Die Kinder zeichneten Hausfassaden ab, zählten Brückenfiguren und befragten Fußgänger nach dem Namen des Bürgermeisters. Antwort um Antwort kritzelten sie auf das Blatt Papier. 54 Akos Doma Schoki und sein Pinselohrschwein verschwanden zwischendurch in einem Laden und kauften Schokolade. Ihr Vorrat war schon gefährlich geschrumpft. Krokodil Rick und Pinguin Juri nahmen ein Bad im Stadtbrunnen, Silas und Jo machten eine Wasserschlacht. Helene und ihr vornehmer Kater Karajan erlaubten sich einen kurzen Abstecher in einen Modeladen, wo sich Helene eine schicke Sonnenbrille kaufte. Ida, Benni und Anna-Lena genehmigten sich ein großes Eis und gaben ihren Tieren reichlich davon ab. Stunde um Stunde verging, schon war es später Nachmittag. Finja hatte sich mit Feuereifer auf die Fragen gestürzt. Aber jetzt war sie mit den Gedanken wieder zu Hause bei Mama und Papa. Um diese Zeit saßen sie immer zu dritt am Küchentisch, tranken Tee und erzählten sich von ihrem Tag-… Die Kinder machten sich auf den Rückweg. Um halb sieben sollten sie zurück im „Haus Steinfels“ sein. Finja ließ sich unbemerkt von den anderen zurückfallen. Sie träumte noch immer von zu Hause. Der Weg führte am Bahnhof vorbei. Ein Zug fuhr gerade ab. Ob er in Richtung Norden fuhr? Auf einmal wurde Finjas Sehnsucht riesig groß. Sie setzte sich auf eine Bank auf dem leeren Bahnsteig und begann zu weinen. Sie wollte nicht mehr hier sein, sie fühlte sich so allein-… Ihr Körper wurde durchgeschüttelt vor lauter Kummer. Gab es vielleicht einen Direktzug nach Hause? Finja rappelte sich auf und stolperte zu dem nächstbesten Schaukasten. Ihr Zeigefinger fuhr zitternd über den gelben Abfahrtsplan. Durch den Tränenschleier versuchte sie etwas zu erkennen. Wie viel Uhr war es überhaupt? Da hörte sie plötzlich eine Durchsage. Die Durchsage lautete nicht: „Sehr geehrte Fahrgäste, wir bitten um Ihre Aufmerksamkeit-…“ Nein, sie lautete ganz anders. „An Finja Degenhardt! Die magische Zoohandlung teilt mit: Das Auswahlverfahren läuft. Bald wirst du dein magisches Tier bekommen. Halte dich bereit. Viele Grüße! Die magische Zoohandlung“ Finja schaute zum Lautsprecher auf. Ein zaghaftes Lächeln huschte über ihr Gesicht. Sie wischte die Tränen ab und hopste den Berg zur Herberge hinauf. Pünktlich um 18 Uhr 30 saß Finja bei den anderen im Speisesaal. Sie hatte beschlossen ihr Geheimnis noch eine Weile für sich zu behalten. Sie würde ein magisches Tier bekommen! Wie sehr sie sich freute! Es gab Suppe und belegte Brote. Das Abendessen schmeckte Finja diesmal richtig gut. Für Finja geht es in diesem Kapitel gut aus. Die Ankündigung, dass ihr langgehegter Wunsch, auch ein magisches Tier zu bekommen, bald in Erfüllung gehen wird, versetzt sie sofort in gute Laune. Ihr Heimweh ist wie weggeweht, alles was ihr vorher zuwider war, erscheint ihr nun in freudigem Licht. 55 Literarische Schreibwerkstatt - Am Beispiel der Themen Hoffnung und Sehnsucht In einer ersten Aufgabe erfinden die Kinder ihrerseits ein „magisches“ Tier, das sie am liebsten zum „besten Freund“ hätten, und zeichnen es. Aufgabe 6 Anschließend stellen sich die Kinder vor, dass auch sie Schülerinnen und Schüler der Schule der magischen Tiere sind, und schildern in einer Erzählung, wie sie zu ihrem „magischen“ Tier gekommen sind. Ist es wirklich das Tier, das sie sich gewünscht haben? Oder ein anderes? Werden sie dennoch Freunde? Kann es tatsächlich sprechen? Sie beschreiben ihren ersten Schultag mit ihrem neuen Freund. Wie reagieren die Klassenkameraden? Passiert etwas Überraschendes? Aufgabe 7 Die Kinder schreiben eine Geschichte, in der es ebenfalls um einen Klassenausflug in ein Schullandheim geht. Sie erzählen, wie sie ankommen, ihre Zimmer beziehen, wie plötzlich etwas Unerwartetes passiert-… Die Geschichte soll mit dem Satz enden: „Dieses Schullandheim werden wir sicher nie vergessen! “ Haupt- und Mittelschule, Berufsschule Eine offene Gesprächsrunde führt das Thema ein. Was bedeuten die Begriffe Hoffnung und Sehnsucht für die Schülerinnen und Schüler heute? Das Gespräch, an dem die Lehrkraft nur als Moderator teilnimmt, soll auch dazu dienen, die Atmosphäre aufzulockern und dem Thema eine subjektive, persönliche Note zu verleihen. Aufgabe 1 Die Schülerinnen und Schüler notieren fünf eigene oder allgemein geläufige Objekte der Sehnsucht, die ihnen einfallen. Klassische Assoziationen für Sehnsucht könnten sein: Meer, Berge, Heimat, Ferne, Reise, ein geliebter Mensch, Familie, Kinder, Liebe, Wärme, Geborgenheit, Zärtlichkeit, Zuwendung, Glück, Harmonie, Erfüllung, Erlösung, Ruhe, Frieden, Tod („Todessehnsucht“), Freiheit, Unabhängigkeit, Jugend, Kindheit, Unschuld, Schönheit, Stille, Paradies, goldenes Zeitalter, Arkadien, die „gute alte Zeit“, Normalität 56 Akos Doma Aufgabe 2 Die Schülerinnen und Schüler beenden drei Sätze, die mit den Worten beginnen: 1. Ich hoffe, dass-… 2. Ich hoffe, dass-… 3. Ich hoffe, dass-… Aufgabe 3 Anschließend schreiben sie drei Sätze zur Sehnsucht: 1. Ich sehne mich nach-… / Ich sehne mich danach, dass-… 2. Ich sehne mich nach-… / Ich sehne mich danach, dass-… 3. Ich sehne mich nach-… / Ich sehne mich danach, dass-… Aufgabe 4 Die Schülerinnen und Schüler wählen einen der Sätze in Aufgabe 2 oder Aufgabe 3 aus und schreiben dazu eine kurze Erzählung. Der Satz soll sowohl als Titel dienen als auch als Dialogzeile in der Erzählung auftauchen. Aufgabe 5 Das langersehnte Wiedersehen mit einer geliebten Person gehört zu den emotionalsten Momenten im Leben. Die Schülerinnen und Schüler schreiben die Geschichte eines solchen Wiedersehens. Der Protagonist, aus dessen Perspektive erzählt wird, soll in ihrem Alter sein. Wie immer kann die fiktive Erzählung auch autobiographisch inspiriert sein. Eine Möglichkeit, die Geschichte zu erzählen, wäre im Rahmen einer Rückblende, während der Protagonist auf die andere Person wartet. 57 Literarische Schreibwerkstatt - Am Beispiel der Themen Hoffnung und Sehnsucht Aufgabe 6 Millionen Menschen weltweit fiebern jede Woche mit und hoffen auf den großen Lottogewinn. Neben der Spielleidenschaft werden sie vor allem von ihren Vorstellungen animiert, was sie mit dem Millionengewinn alles anstellen könnten. Ein Haus, ein neues Auto, eine Weltreise, Kündigung der Arbeit, endlich etwas haben, etwas tun, was man immer schon haben, immer schon tun wollte. Je kleiner die Gewinnchance, desto größer ihre Hoffnung, vielleicht auch einmal zu einem „Glückspilz“, einem Günstling des Schicksals zu werden. Die Schülerinnen und Schüler schreiben eine längere Erzählung über einen passionierten Lotto- Spieler/ eine passionierte Lotto-Spielerin, dessen/ deren große Hoffnung im Leben darin besteht, einmal den Jackpot zu knacken. Und eines Tages gelingt ihm/ ihr der große Wurf. Doch was passiert dann? Mögliche Titel für die Geschichte: 1. Volltreffer! Mein neues Leben. 2. Wie gewonnen, so zerronnen! 3. Nichts soll sich ändern! 4. Wo ist der Schein? Aufgabe 7 Die Sehnsucht danach, in etwas der/ die Beste zu sein. Die Schülerinnen und Schüler schreiben eine Erzählung, die über einen längeren Zeitraum spielen soll, über einen jungen Menschen in ihrem Alter, der davon träumt, in seinem Handwerk, seiner Kunst, seiner Sportart einmal der Beste zu sein. Gelingt es ihm? 58 Akos Doma Aufgabe 8 Akos Domas Roman Der Weg der Wünsche (2016) beschreibt die Flucht einer vierköpfigen Familie aus dem kommunistischen Ungarn nach Deutschland Anfang der 70er Jahre. Obwohl die Familie sehr beengt lebt und wegen ihrer nicht-kommunistischen Haltung vom System ständig schikaniert wird, bringen es die Eltern Károly und Teréz lange nicht über sich, der Heimat den Rücken zu kehren. Ihr Familienglück entschädigt sie für die politischen Benachteiligungen. Erst als Károly, ein Biologe, ein einjähriges Auslandsstipendium in einem Institut in Deutschland erhält, wird Teréz bewusst, dass es zu einer Flucht keine Alternative mehr gibt. Der folgende Ausschnitt aus dem Roman schildert den Augenblick, als Teréz, von einer „heftigen Sehnsucht“ erfasst, zu dieser Einsicht gelangt. Nach einer kurzen, historischen Einführung in den politischen Hintergrund der siebziger Jahre liest die Klasse gemeinsam den Romanausschnitt. Akos Doma, Der Weg der Wünsche, S. 33-34 Das Gewitter zog schnell wieder ab, das Zimmer hellte sich auf. Sie saßen eng beieinander, erst sprachlos, dann immer aufgeregter. Das waren wahrlich große Nachrichten. Westdeutschland sei weit weg, nicht geographisch, aber politisch, was für eine Ehre für Károly, in ein deutsches Institut eingeladen zu werden, eine solche Auszeichnung würde nur den Talentiertesten zuteil. Dass Károly talentiert war, darin war man sich einig, nur ein bisschen lebensfähiger, kämpferischer könnte er sein, er war viel zu gutmütig für diese Welt, dachten sie. „Aber die arme Teréz, wie soll sie das bloß schaffen! Die beiden Kinder und die Arbeit, so ganz allein.“ Róza seufzte, schüttelte den Kopf. Wie sollte das nur werden? Sie würden auf jeden Fall alle zusammen helfen müssen. Während sie redeten, legte Károly immer wieder den Finger auf die Lippen und deutete zur Wand, und sofort senkten sie die Stimmen. Károly und Teréz vermuteten, dass Ferenc, der Nachbar, der beim Innenministerium arbeitete und als Erweiterung seiner eigenen Wohnung schon lange ein Auge auf ihr Zimmer geworfen hatte, lauschte und Berichte über sie schrieb. Teréz stand am Fenster. Nur vage drangen die Worte an ihr Ohr. Die Sonne schien wieder, schien ihr warm ins Gesicht, und plötzlich erfasste sie eine heftige Sehnsucht, mit Károly zu gehen, wegzugehen, die Kinder mitzunehmen und nie mehr zurückzukommen, alles hinter sich zu lassen, die Lügen und die Lügner, die Opportunisten und die Karrieristen, dieses ganze System von Gefälligkeiten und Gegengefälligkeiten, und irgendwo weit, weit weg ein neues Leben zu beginnen. Sie starrte auf die leuchtenden Tropfen auf der Fensterscheibe, erschrocken über sich selbst. Sie hatte bisher nie überlegt, Ungarn, die Heimat, zu verlassen, wie es so viele, die sie gekannt hatte, getan hatten, um im Überfluss des Westens besser zu leben. Sie war nicht so wie sie, hatte derlei nie gebraucht, um glücklich zu sein, ihre private Zufriedenheit hatte ihre Unzufriedenheit mit der Gesellschaft ringsum stets überdeckt, das, worauf es ihr wirklich ankam, hatte sie. 59 Literarische Schreibwerkstatt - Am Beispiel der Themen Hoffnung und Sehnsucht Sie riss das Fenster auf, taumelte fast. Ein neues Leben. Sie wünschte, sie könnte den Gedanken, der plötzlich als reale Möglichkeit vor ihren Augen stand, wieder ungedacht machen, jetzt, sofort, doch ahnte sie schon, dass die Idee nun in ihr war und wachsen und reifen würde wie eine Frucht am Baum. Nach der Lektüre diskutiert die Klasse über die Textpassage: ▶ Was veranlasst Teréz zur Einsicht, dass die Familie die Heimat verlassen muss? Fällt ihr die Entscheidung leicht? ▶ Was ist unter den Ausdrücken „private Zufriedenheit“ sowie „Unzufriedenheit mit der Gesellschaft“ zu verstehen? ▶ Teréz distanziert sich von vielen anderen Emigranten, die in den Westen ausgewandert sind. Was kritisiert sie an ihnen? Die Schülerinnen und Schüler schreiben einen Dialog zwischen zwei Jugendlichen. Eine/ r der Jugendlichen ist entschlossen, aus Deutschland in ein anderes Land auszuwandern, der/ die andere möchte sie/ ihn überzeugen, in der Heimat zu bleiben. Während beide ihre Argumente austauschen, erfahren wir alles über ihr Leben, ihren Hintergrund, warum sich der/ die eine hier wohl fühlt und der/ die andere nicht. Realschule, Gymnasium Eine offene Gesprächsrunde führt das Thema ein. Was bedeuten die Begriffe Hoffnung und Sehnsucht für die Schülerinnen und Schüler heute? Das Gespräch, an dem die Lehrkraft nur als Moderator teilnimmt, soll auch dazu dienen, die Atmosphäre aufzulockern und dem Thema eine subjektive, persönliche Note zu verleihen. Aufgabe 1 Die Schülerinnen und Schüler notieren fünf eigene oder allgemein geläufige Objekte der Sehnsucht, die ihnen einfallen. Klassische Assoziationen für Sehnsucht könnten sein: Meer, Berge, Heimat, Ferne, Reise, ein geliebter Mensch, Familie, Kinder, Liebe, Wärme, Geborgenheit, Zärtlichkeit, Zuwendung, Glück, Harmonie, Erfüllung, Erlösung, Frieden, Tod („Todessehnsucht“), Freiheit, Unabhängigkeit, Jugend, Kindheit, Unschuld, Schönheit, Stille, Paradies, goldenes Zeitalter, Arkadien, die „gute alte Zeit“, Normalität 60 Akos Doma Aufgabe 2 Die Schülerinnen und Schüler beenden drei Sätze, die mit den Worten beginnen: 1. Ich hoffe, dass-… 2. Ich hoffe, dass-… 3. Ich hoffe, dass-… Aufgabe 3 Anschließend schreiben sie drei Sätze zur Sehnsucht: 1. Ich sehne mich nach-… / Ich sehne mich danach, dass-… 2. Ich sehne mich nach-… / Ich sehne mich danach, dass-… 3. Ich sehne mich nach-… / Ich sehne mich danach, dass-… Aufgabe 4 Die Schülerinnen und Schüler wählen einen der Sätze in Aufgabe 2 oder Aufgabe 3 aus und schreiben dazu eine kurze Erzählung. Der Satz soll sowohl als Titel dienen als auch als Dialogzeile in der Erzählung auftauchen. Aufgabe 5 Heinrich von Ofterdingen, das 1802 posthum erschienene Romanfragment des romantischen Dichters Novalis, gehört zu den Schlüsseltexten der deutschen Romantik. Die „blaue Blume“, die im Roman zum ersten Mal als Motiv erscheint, wurde im Lauf der Zeit zum Symbol der romantischen Sehnsucht und der Romantik an sich. Als Einführung wird die Epoche der deutschen Romantik vorgestellt. Was sind typische Themen und Motive der romantischen Literatur und des romantischen Lebensgefühls? Wer sind ihre Hauptvertreter in Literatur, Kunst und Musik? Anschließend liest die Klasse gemeinsam die Romanauszüge, in denen die „blaue Blume“ vorkommt. 61 Literarische Schreibwerkstatt - Am Beispiel der Themen Hoffnung und Sehnsucht Novalis, Heinrich von Ofterdingen, S. 13-16, 105-106 Die Eltern lagen schon und schliefen, die Wanduhr schlug ihren einförmigen Takt, vor den klappernden Fenstern sauste der Wind; abwechselnd wurde die Stube hell von dem Schimmer des Mondes. Der Jüngling lag unruhig auf seinem Lager und gedachte des Fremden und seiner Erzählungen. „Nicht die Schätze sind es, die ein so unaussprechliches Verlangen in mir geweckt haben“, sagte er zu sich selbst; „fern ab liegt mir alle Habsucht: aber die blaue Blume sehn’ ich mich zu erblicken. Sie liegt mir unaufhörlich im Sinn, und ich kann nichts anderes dichten und denken. So ist mir noch nie zumute gewesen: es ist, als hätt ich vorhin geträumt, oder ich wäre in eine andere Welt hinübergeschlummert; denn in der Welt, in der ich sonst lebte, wer hätte da sich um Blumen bekümmert, und gar von einer so seltsamen Leidenschaft für eine Blume hab’ ich damals nie gehört. Wo eigentlich nur der Fremde herkam? Keiner von uns hat je einen ähnlichen Menschen gesehn; doch weiß ich nicht, warum nur ich von seinen Reden so ergriffen worden bin; die andern haben ja das nämliche gehört, und keinem ist so etwas begegnet.“ […] Der Jüngling verlor sich allmählich in süßen Phantasien und entschlummerte. Da träumte ihm erst von unabsehlichen Fernen und wilden, unbekannten Gegenden. Er wanderte über Meere mit unbegreiflicher Leichtigkeit […] Berauscht von Entzücken und doch jedes Eindrucks bewusst, schwamm er gemach dem leuchtenden Strome nach, der aus dem Becken in den Felsen hineinfloss. Eine Art von süßem Schlummer befiel ihn, in welchem er unbeschreibliche Begebenheiten träumte und woraus ihn eine andere Erleuchtung weckte. Er fand sich auf einem weichen Rasen am Rande einer Quelle, die in die Luft hinausquoll und sich darin zu verzehren schien. Dunkelblaue Felsen mit bunten Adern erhoben sich in einiger Entfernung; das Tageslicht, das ihn umgab, war heller und milder als das gewöhnliche, der Himmel war schwarzblau und völlig rein. Was ihn aber mit voller Macht anzog, war eine hohe lichtblaue Blume, die zunächst an der Quelle stand und ihn mit ihren breiten, glänzenden Blättern berührte. Rund um sie her standen unzählige Blumen von allen Farben, und der köstliche Geruch erfüllte die Luft. Er sah nichts als die blaue Blume und betrachtete sie lange mit unnennbarer Zärtlichkeit. Endlich wollte er sich ihr nähern, als sie auf einmal sich zu bewegen und zu verändern anfing; die Blätter wurden glänzender und schmiegten sich an den wachsenden Stängel, die Blume neigte sich nach ihm zu, und die Blütenblätter zeigten einen blauen ausgebreiteten Kragen, in welchem ein zartes Gesicht schwebte. Sein süßes Staunen wuchs mit der sonderbaren Verwandlung, als ihn plötzlich die Stimme seiner Mutter weckte und er sich in der elterlichen Stube fand, die schon die Morgensonne vergoldete. Er war zu entzückt, um unwillig über diese Störung zu sein; vielmehr bot er seiner Mutter freundlich guten Morgen und erwiderte ihre herzliche Umarmung. „Du Langschläfer“, sagte der Vater, „wie lange sitze ich schon hier, und feile. Ich habe deinetwegen nichts hämmern dürfen; die Mutter wollte den lieben Sohn schlafen lassen“ […] Auf einem Fest lernt Heinrich später die junge Mathilde kennen. Ihr Gesicht glaubt er einst im Kelch der blauen Blume erblickt zu haben. Es war tief in der Nacht, als die Gesellschaft auseinanderging. „Das erste und einzige Fest meines Lebens“, sagte Heinrich zu sich selbst, als er allein war und seine Mutter sich ermüdet zur Ruhe gelegt hatte. „Ist mir nicht zumute wie in jenem Traume beim Anblick der blauen Blume? Welcher sonderbare Zusammenhang ist zwischen Mathilden und dieser Blume? Jenes Gesicht, das aus dem 62 Akos Doma Kelche sich mir entgegenneigte, es war Mathildens himmlisches Gesicht, und nun erinnere ich mich auch, es in jenem Buche gesehn zu haben. Aber warum hat es dort mein Herz nicht so bewegt? O! sie ist der sichtbare Geist des Gesanges, eine würdige Tochter ihres Vaters. Sie wird mich in Musik auflösen. Sie wird meine innerste Seele, die Hüterin meines heiligen Feuers sein. Welche Ewigkeit von Treue fühle ich in mir! Ich ward nur geboren, um sie zu verehren, um ihr ewig zu dienen, um sie zu denken und zu empfinden. Gehört nicht ein eigenes ungeteiltes Dasein zu ihrer Anschauung und Anbetung? Und bin ich der Glückliche, dessen Wesen das Echo, der Spiegel des ihrigen sein darf ? Es war kein Zufall, dass ich sie am Ende meiner Reise sah, dass ein seliges Fest den höchsten Augenblick meines Lebens umgab. Es konnte nicht anders sein; macht ihre Gegenwart nicht alles festlich? “ Die Schülerinnen und Schüler klären die Verständnisfragen und beantworten Fragen zum Text. Solche Fragen könnten lauten: ▶ Wie ist die Stimmung in den Textausschnitten? ▶ Worauf richtet sich Heinrichs Sehnsucht? ▶ Wovon träumt Heinrich, wie wirkt sein Traum? ▶ Welche Rolle spielt für ihn die blaue Blume? ▶ Welche Bedeutung hat Mathilde für ihn? Anschließend sucht die Klasse gemeinsam nach charakteristischen Motiven der Romantik im Text. Aufgabe 6 Eines der typisch romantischen Motive im Textauszug ist der Traum, das Verschwimmen von Vorstellung und Wirklichkeit, Schlaf und Bewusstsein. Die Schülerinnen und Schüler schreiben - als Prosatext oder Gedicht - einen (schönen, spannenden, geheimnisvollen, beglückenden, angsteinflößenden-…) Traum. Der Traum soll irgendeinen Bezug zum realen Leben der träumenden Person haben. Aufgabe 7 Heinrich betont, dass seine Sehnsucht nicht „Schätzen“ gilt, dass nicht „Habsucht“ ihn antreibt, sondern der Wunsch, die blaue Blume zu erblicken. Die Schülerinnen und Schüler schreiben einen Dialog zwischen zwei Jugendlichen, die vor ihrem Schulabschluss stehen. Beide hegen unterschiedliche Träume und Zukunftshoffnungen. Der/ die eine sehnt sich nach materiellem Wohlstand und Erfolg, während sich der/ die andere nach Glück und seelischer, emotionaler Erfüllung sehnt. Der Dialog soll die Argumente beider vor Augen führen und ein Licht auf ihre Charaktere werfen. Anders als bei einer Erörterung darf die subjektive Haltung des Autors/ der Autorin durchaus spürbar sein. 63 Literarische Schreibwerkstatt - Am Beispiel der Themen Hoffnung und Sehnsucht Aufgabe 8 Die stärkste Form der Sehnsucht ist die Liebessehnsucht. Das Verlangen nach einem geliebten Menschen, der abwesend ist oder die ihm entgegengebrachte Liebe nicht erwidert. Johann Wolfgang von Goethe beschreibt das Gefühl in seinem Gedicht Nur wer die Sehnsucht kennt. Johann Wolfgang von Goethe, Nur wer die Sehnsucht kennt, S. 283 Nur wer die Sehnsucht kennt, Weiß, was ich leide! Allein und abgetrennt Von aller Freude, Seh’ ich ans Firmament Nach jener Seite. Ach! der mich liebt und kennt, Ist in der Weite. Es schwindelt mir, es brennt Mein Eingeweide. Nur wer die Sehnsucht kennt, Weiß, was ich leide! Die Schülerinnen und Schüler verfassen ein Liebesgedicht über die Sehnsucht nach der/ m Geliebten. Aufgabe 9 Das Sehnsuchtsmotiv spielt nicht nur in der Literatur, sondern auch in der Musik und Malerei der Romantik eine zentrale Rolle, am eindrucksvollsten im Werk Caspar David Friedrichs. Auf zahlreichen Gemälden stellt Friedrich Figuren in Rückenansicht dar, die zum Horizont oder in eine vage Ferne blicken, deren Fernweh förmlich zu greifen ist - wobei ihre Sehnsucht nicht einem bestimmten, fernen Ort gilt, sondern der Ferne in einem gleichsam kosmischen, metaphysischen Sinn. Die Lehrkraft projiziert zwei Gemälde Caspar David Friedrichs - zum Beispiel Auf dem Segler, Frau am Fenster oder Mondaufgang am Meer - an die Klassenwand und lässt die Schülerinnen und Schüler zu einem der beiden eine Erzählung oder Dichtung schreiben, die sich an das Bild anlehnt und die Sehnsucht zum Thema hat. 65 Mehrsprachige Lebenswirklichkeit Mehrsprachige Lebenswirklichkeit Lena Gorelik Vor jeder Erzählung die Angst, am Ende der Angst die Worte, die sich aneinanderreihen, um eine Geschichte zu erzählen. Am Ende der Angst das Staunen über sich selbst, über das, was da auf dem Papier steht, was gelesen wurde, dass Laut gegeben wurde, dass sich aus Lauten Sätze formen lassen, das Staunen über sich selbst: Erzählt zu haben. Ich habe erzählt. Da sind Sätze, da sind Szenen, vielleicht eine Geschichte, immer ein Mensch, immer Figuren, Beziehungskonstellationen, manchmal die Liebe, in vielen von Schüler* innen erzählten Geschichten erstaunlicherweise erfahrungsgemäß auch gerne der Tod. Da sind Welten, die es vorher so nicht gegeben hat, oder die in anderen Farben klingen, jetzt, da sie aufgeschrieben worden sind. Am Ende der Angst ist das geschriebene Leben, da ist eine Welt, die aus Buchstaben wuchs. Was groß und pathetisch klingt, ist in dem Fall eine banale Tatsache: Erst ist da die Angst. Kann ich das, ich kann das nicht, ich bin schlecht in Deutsch, ich kann kein Deutsch, was soll ich schreiben, mir fällt nichts ein, wer bin ich, um erzählen zu wollen, mir fällt aber wirklich nichts ein, und die anderen, die können das eh viel besser. Diese Ängste gilt es, beiseite zu schieben, „halt die Klappe“ zu sagen, zu flüstern, dass es die anderen nicht hören, die Angst gilt es mitzunehmen, wenn sie nicht gehorcht, wenn sie lauter schimpft als man selbst. Am Ende jedenfalls ist das Wort. Ich habe geschrieben, das ist, was am Ende steht. Das ist die Erfahrung, die das Schreiben in Schüler* innen, in Menschen bewirkt. Die Angst kennt jede* r Autor* in, ganz unabhängig davon, wie viele Bücher er* sie veröffentlicht hat. Umso größer ist die Angst eines heranwachsenden Kindes oder Jugendlichen, der* die sich in der Welt zurecht finden, an seiner Familie, seiner Herkunft abarbeiten muss, seiner Peer Group gefallen und sich selbst in all diesen Beziehungsgeflechten erst finden muss. Umso größer die Angst eines Kindes oder Jugendlichen, der* die in einem multikulturellen Kontext groß wird, aus einem anderen Land stammt, dessen Muttersprache möglicherweise nicht Deutsch ist, oder der* die erst dabei ist, Deutsch zu lernen. Dem* der vielleicht die Gesellschaft vorgelebt hat, dass seine* ihre Muttersprache ein Problem ist, weil sie nicht Deutsch ist, der* die nicht gelernt hat, sie als das zu begreifen, was sie sein* ihr ganzes Leben noch sein wird: Eine Bereicherung im Sprechen, Wahrnehmen, Denken und Leben. Diese zweite Sprache, die häufig die Muttersprache ist, so meine Erfahrung in Schreibwerkstätten, empfinden die Schüler* innen oft als Hindernis, wenn es darum geht zu erzählen, zu schreiben. Sie haben das Gefühl, benachteiligt zu sein, weil sie beispielsweise die grammatikalischen Regeln der deutschen Sprache noch nicht verinnerlicht haben, während ich als Autorin ihnen am liebsten zurufen würde: Das ist doch euer Schatz. Das ist, was euch beim Schreiben nicht nur hilft, sondern euch, man könnte beinahe sagen, einen Vorsprung gibt beim Erzählen. Weil ihr es im wahrsten Sinne des Wortes von Haus aus kennt, dass Geschichten unterschiedlich erzählt werden können, weil ihr die Wahrnehmung aus unterschiedlichen Lebensperspektiven von klein auf kennt, weil ihr bereits lernen musstet, dass nicht alles immer so ist wie „bei uns“ 66 Lena Gorelik (wie auch immer man dieses „bei uns“ definiert). Das ist mit das Wichtigste beim Schreiben: Die Fähigkeit, sich in andere Lebenswelten, Figuren, Emotionszustände, Wahrnehmungen, Perspektiven zu versetzen, man könnte beinahe sagen: Die Empathie. Dabei gilt immer: Ohne selbst dabei zu vergessen, wer man ist. Jedes Schreiben kann nur aus einem selbst entstehen, jedes Schreiben beinhaltet ein Ich, selbst wenn dieses in den tatsächlich notierten Zeilen schweigt; selbst wenn die gewählte Erzählperspektive die eines allwissenden Erzählers ist, und die Geschichte beispielsweise im Weltall spielt. Jedes Schreiben ist eine Begegnung: Man begegnet den Protagonisten, man begegnet Worten (oft) neu, man begegnet vor allem aber auch sich selbst. In der Schreibwerkstatt sollen, können, dürfen und müssen die Schüler* innen genau diese Erfahrung machen, sie sollen den Sprung schaffen von dem gelernten und regelgeleiteten Schreiben aus dem Schulunterricht hin in die Freude, Geschichten erzählen zu wollen, sich trauen zu sprechen, im besten Fall jeweils eine eigene Sprache zu entwickeln, eine, die auch aus verschiedenen, tatsächlichen Sprachen, aber auch aus einer eigenen Sprache mit eigenen grammatikalischen Strukturen, bestehen darf; ein Gefühl für das eigene Erzählen. Die hier vorgeschlagenen Übungen widmen sich unter anderem der Frage nach mehrsprachigen Lebenswirklichkeiten- - und damit ist sowohl der tatsächliche Sprachgebrauch multilingual aufwachsender Schüler* innen wie auch die heterogene, oft ambivalente Lebenswirklichkeit gemeint, in denen sich Schüler* innen-- immerhin hat mittlerweile jedes dritte Kindergartenkind in Deutschland das, was man gemeinhin als Migrationshintergrund bezeichnet-- häufig bewegen. Für diejenigen Schüler* innen, deren Lebenshintergrund tatsächlich ein „biodeutscher“ ist, bieten diese Schreibanregungen und -anlässe die Möglichkeit, die eigene Sprache, die sie häufig als ein statisches Bollwerk wahrnehmen, aus fremdsprachlichen Perspektiven zu erfahren und zu erleben, sich neue Wahrnehmungsräume zu erschließen und das eigene Erzählen zu stärken. Die vorgeschlagenen Schreibübungen sind als Ideen und Anregungen gedacht, keinesfalls als feststehende, starre Strukturen für den Schulunterricht. In meiner Erfahrung- - dieser Gedanke vielleicht vorweg-- hat es sich für das literarische Schreiben mit Schüler* innen als hilfreich erwiesen, die zu gut gekannten, manchmal gar verhassten Räume des Schulunterrichts zu verlassen: Hinaus gehen zum Schreiben, das Klassenzimmer zu verlassen, das Schulgebäude, draußen in der Natur, in Bibliotheken, in Museen zu schreiben, zumindest aber den eigenen Schultisch zu verlassen: Sich auf die Treppe zu setzen, auf den Boden zu legen zum Schreiben, mit einem Notizheft in der Hand auf das Fenstersims klettern zu dürfen. Das gilt genauso für die zeitlichen Räume: Das Schreiben sollte, sofern es irgendwie geht, aus dem 45-Minuten-Rhythmus entrissen werden, kreativer Fluss sollte nicht von einer Schulglocke unterbrochen werden. Die hier vorgestellten Schreibübungen schließen sich in diesem Beispiel einer Lektüre an, einem Kapitel aus einem meiner Romane, den ich ausgewählt habe, weil er von einer Protagonistin erzählt, die die Welt um sie herum in ihrer eigenen Sprache, aus einem sehr eigenen Blickwinkelt betrachtet, weil sie sich in diesem Text die Sprache erarbeitet. Man kann jedoch den Schüler* innen auch einen anderen Text vorlegen und diese Art von Schreibübungen an ihm abarbeiten. Die Aufgaben sind in drei Stufen unterteilt, wobei die erste als 67 Mehrsprachige Lebenswirklichkeit die niederschwelligste erscheinen mag, je nach Gruppenkonstellation aber nicht sein muss. Das dreigliedrige Schulsystem in Deutschland lädt dazu ein, die unterschiedlichen Stufen der Schreibübungen nach Schulart zu unterteilen: Haupt- und Mittelschulen, Realschulen, Gymnasien. Je nach Zusammensetzung der Klasse oder Schreibgruppe kann es aber manchmal sinnvoll sein, eine der Schreibübungen, die zunächst für die dritte Stufe als sinnvoll gekennzeichnet ist, in einer Mittelschule zu unterrichten, weil die darin aufgenommenen Themen in der jeweiligen Klasse eine große Rolle spielen oder sie den Schüler* innen aus anderen Gründen besonders liegen. Exkurs 1 Vorweg vielleicht noch so viel: Die meisten Schüler* innen stehen dem freien Schreiben- - wie im Übrigen auch die meisten Erwachsenen-- erst einmal skeptisch, vorsichtig, einfach ängstlich gegenüber. So gilt es im ersten Moment, die erste Hemmschwelle zu überwinden, überhaupt einen Stift in die Hand zu nehmen und etwas zu schreiben, was nicht den Regeln des gewohnten Deutschunterrichts entspricht. Dazu gibt es eine ganz einfache Übung, mit der jede Phase, in der gemeinsam geschrieben wird, begonnen werden kann. Sie nennt sich Automatisches Schreiben und geht folgendermaßen: Jede* r hält einen Stift in der Hand, ein Papier vor sich. Der* die Lehrer* in stellt den Wecker auf fünf Minuten und gibt den Schreibenden einen ersten Satz oder den Anfang eines solchen vor. Das kann ein Satz sein, der an ein Thema anknüpft, das in der Klasse gerade durchgenommen oder besprochen wird, das kann aus der Schreibsituation entstehen („Und dann saß ich am Tisch…), das kann der Anfang einer Geschichte sein („Er sah sich um und wusste nicht weiter.“). Nun schreiben alle drauf los, ohne nachzudenken, praktisch, ohne den Stift abzusetzen, ohne sich in Frage zu stellen und ohne Geschriebenes zu überdenken. Es wird einfach immer weitergeschrieben, bis der Wecker klingelt: Dann darf jede* r noch den letzten Satz zu Ende schreiben. Es ist wichtig, den Schreibenden vorab deutlich zu machen, dass es vollkommen egal ist, was sie schreiben, ob dabei eine Geschichte entsteht, ob sie einfach nur einen Gedanken an einen anderen reihen, ob alles, was sie schreiben im Zusammenhang steht. Oft hilft es, wenn der* die anleitende* Lehrer* in mitschreibt, weil sich somit alle in dieselbe, oft erst einmal verunsichernde Situation begeben. Das Schöne daran ist, was in diesen fünf Minuten entsteht und anschließend den Raum einnimmt und meist eine ganz neue Atmosphäre hineinwehen lässt: Nämlich komplett unterschiedliche Texte, die alle in dem unglaublich kurzen Zeitraum von fünf Minuten entstanden sind, und die jedem Einzelnen im Schreibzimmer zeigen, dass es geht: Schreiben. Es hat sich bewährt, die Texte-- ohne Kommentare und Feedback-- einfach im Kreis vorzulesen und nachwirken zu lassen. Damit ist das erste Eis gebrochen, die erste Angst besiegt-- nun kann losgelegt werden. 68 Lena Gorelik Exkurs 2 Wenn die Schreibgruppe sich noch nicht kennt, was die Schreibenden meist noch mehr verunsichert, kann es sich lohnen, sich bereits im Schreiben kennenzulernen, um eine „übliche“ Vorstellungsrunde zu ersetzen. Ein Schreibspiel dazu kann folgendermaßen aussehen: Jede* r schreibt drei Geschichten über sich auf, von denen zwei der Wahrheit entsprechen und eine erfunden ist. So kommen die Schüler* innen ohne große Hürden sowohl ins Schreiben und Formulieren als auch ins Erfinden, ohne das Gefühl zu haben, dass sie auf Knopfdruck poetische Romane zaubern müssen. Um die Gruppe langsam ins Schreiben einzuführen und kopfgesteuerte Fallen wie „Mir fällt aber nichts ein“ und „Ich kann nicht schreiben“ zu überspringen, soll anfangs mit Schreibaufgaben gearbeitet werden, die etwas Struktur vorgeben. So bekommen die Schüler* innen beispielsweise für ihre erste Geschichte einen Protagonisten, ein Setting und eine Handlungsidee vorgegeben, so haben sie etwas, womit sie arbeiten und woran sie sich entlang hangeln können. Solche Vorgaben sollen im Verlauf der Schreibwerkstatt immer kleiner werden: Ein erster und ein letzter Satz für eine Geschichte; ein Ort, der vorkommen soll; eine bestimmte Wendung. Irgendwann entstehen ganz eigene Geschichten, bei denen die Vorgaben immer mehr in den Hintergrund geraten, manchmal in einen Nebensatz abgeschoben werden, weil die Schüler* innen im besten Fall wissen beziehungsweise spüren, was sie erzählen wollen. Langsam nähert man sich so dem Schreiben aus dem eigenen Ich heraus. Dabei geht es nicht darum, Geschichten über sich selbst oder das eigene Leben zu erzählen, sondern vielmehr darum, aus dem eigenen Interessenfeld, der eigenen Gefühlswelt zu schöpfen, aus einer Welt, die einem selbst etwas bedeutet. Das ist ein Lernprozess: Dass man einen Liebeskummer erzählen kann, ohne den eigenen Freund zu erwähnen, die Geschichte eines einsamen alten Mannes, indem man sich an das Heimweh aus dem letzten Schullandheim erinnert. Dazu verhelfen kann erst einmal das automatische Schreiben, bei dem man etwa zehn Minuten zum Beispiel zum folgenden Satz „Ich erinnere mich, wie meine Mutter“ (oder „Ich erinnere mich nicht, wie meine Mutter“) schreibt. Für eine andere Schreibübung sollen die Schüler* innen einen Gegenstand von zu Hause mitbringen, der ihnen selbst etwas bedeutet, für andere aber erst einmal nach einem Alltags- oder Gebrauchsgegenstand aussieht (eine Gabel, eine Muschel, ein T-Shirt etc.). Die Geschichte dieses Gegenstandes sollen sie dann erzählen. Um auf der anderen Seite zu zeigen, wohin die Fantasie uns führen kann, können die Gegenstände ausgetauscht werden, ohne dass die Geschichten bereits vorgelesen wurden: So erfindet jemand anders zu dem eigenen Gegenstand eine Geschichte. Exkurs 3 Genauso wichtig ist aber das Vorlesen der eigenen Texte. Dazu gehört nicht nur die Vortragskunst-- wie präsentiere ich meinen eigenen Text -, sondern auch die Frage danach, was einem Text geschieht, wenn er laut gelesen wird. Wann klingen Dialoge gesprochen, wann ist ein Satz unverständlich, und wie klingt ein langsames Gefühl, eine gehetzte Ereignisabfolge? Zum Vorlesen gehört auch Feedback: Hier ist es wichtig zu lernen, dass Lektorieren nicht 69 Mehrsprachige Lebenswirklichkeit Korrigieren bedeutet, dass es kein Richtig und kein Falsch beim Schreiben geben kann, dass es keine hohe Instanz gibt, dass jede* r mitsprechen kann und soll, wenn es darum geht, den Eindruck von einem Text wiederzugeben. Im besten Fall entstehen Geschichten und Gedichte nicht aus vorgegebenen Themen, sondern aus den Interessen der Schüler* innen. Deshalb werden auch die Schreibübungen, das Tempo der Schreibwerkstatt, die Themen im besten Falle an die Lebenswelten der Schüler* innen angepasst. Binden Sie die Erfahrungen und Umgebungen Ihrer Schüler* innen nach Möglichkeit in die Texte mit ein. Für die mehrsprachige Lebenswirklichkeit gilt auch, dass die Welt-Wahrnehmung oft mehrsprachig ist: Man sieht alles in mehreren Farben, für jeden Gegenstand existieren mindestens zwei Worte. Versuchen Sie diese Erfahrung ins Schreiben der Schüler* innen zu integrieren: Es geht dabei nicht darum, grammatikalisch richtige deutsche Texte zu schreiben, nein, das Schreiben soll ein Spiel mit den Sprachen sein. Wenn Schüler* innen lieber in ihrer Muttersprache schreiben, dann sollen sie das tun: Man kann im Nachhinein immer noch darüber nachdenken, ob sie den Text-- vielleicht mithilfe von anderen-- ins Deutsche übersetzen wollen. Wenn sie in einer Mischung aus verschiedenen Sprachen schreiben wollen, so gilt dasselbe, und wenn sich einzelne fremde Worte ins Deutsche einmischen, so macht es den Text nur schöner. Lassen Sie die Schüler* innen mit den Sprachen jonglieren und spielen, lassen Sie die Worte und die Sprachen frei, weil da, wo die Sprachen frei fliegen dürfen, die schönsten Geschichten entstehen. Aufgabenstellung zum Schreiben anhand einer Lektüre aus Null bis Unendlich Originaltext (aus dem Roman Null bis Unendlich, Lena Gorelik, S. 18): Sanela. Zwei. Zwei Dinge hatte sie wiederholt über sich gehört, und beide hatte sie nicht einordnen können: „Kriegskind“ und „Waisenkind“. Sie verstand nur „Kind“ und horchte deshalb zu Recht auf, sie meinte, es ging um sie. Den Rest der Konversation verstand sie nicht. „Waisenkind“ klang schöner als „Kriegskind“, weicher irgendwie, mit seinem stimmhaften „s“. Sie mochte es, wenn sie Waisenkind über sie sagten, eine ganze Weile. Zu ihr sagten sie es nie. Das Verstehen war abrupt über sie gekommen, wie es mit Sprache eben geschah: Die Sprache überfiel sie, was ihr das Lernen ersparte. An manchen Tagen waren es Worte, die sie plötzlich verstand, von einer Sekunde auf die andere, an anderen Sätze. Eine Werbetafel, eine Zeitungsüberschrift, den Gruß des Busfahrers. Einen Tag wollte sie sich für immer merken: den, an dem sie das Rezept auf der Mirácoli-Packung verstand, Mittwoch, Juli, der 7. Es gefiel ihr, dass man im Deutschen das Datum nach dem Monat setzen durfte und den Wochentag davor, als herrsche man über die Zeit. Sie liebte Mirácoli: Nudeln, Tomatensoße UND Käse in einer Packung. Wegen solcher Dinge galten die Deutschen als effizient, ganz klar. Wie an jedem anderen Abend hatte sie am 7. Juli das Rezept gelesen, während sie die Nudeln, die Tomatensoße und den Käse, die sie auf der Gabel übereinanderlegte, aber nicht vermischte, in sich hineinschaufelte. An diesem Mittwoch hatte sie das Rezept aber unverhofft und schlagartig verstanden, hatte sogleich den Teller zur Seite geschoben, das eigene Verstehen noch einmal überprüft: Ja, sie begriff, nicht nur die „Minuten“, sondern auch die „Zubereitung“, das 70 Lena Gorelik „heiß werden lassen“, das „darüber streuen“. Woraufhin sie das Datum auf die Verpackung schrieb, diese sorgfältig faltete und in ihren Koffer unter die Kleider legte. Als sie verstand, was sie mit „Waisenkind“ meinten, schnitt sie sich die Haare ab. Es war kein großer Verlust. Die Farbe war ein Dazwischen, das sich irgendwo zwischen blond, braun und farblos tummelte, und die Haare hingen irgendwie herum und herunter, genauso halbherzig, wie sie sich eben nicht die Mühe machten, eine richtige, existierende Farbe zu generieren. Sie hatten bis zu diesem Tag eine Aufgabe zu erfüllen gehabt, was sie lustlos, aber dennoch erledigt hatten: Ihre Ohren zu verdecken. „Dumbo“, hatten die anderen Kinder gerufen, auch im Kindergarten schon. „Ja! Ich bin Dumbo und kann fliegen! “, hatte sie erwidert, aber sich schon beim nächsten Mal nicht mehr die Mühe gemacht, den Mund für eine Reaktion zu öffnen. Sie versuchte, die Schere beim Schneiden schräg zu halten, wie es ihre Tetka Marija tat, wenn sie Tetak Ivan die Haare schnitt. Wozu das wohl gut war? Sie begann links und schnitt direkt über dem linken Dumbo-Ohr. Die langen, willenlosen Strähnen fielen mit mehr Energie auf den Boden und in ihren Schoß, als sie bis dahin an den Tag gelegt hatten. Eine Strähne ließ sie hängen, rechts. Eine, die ihr weiterhin bis über die Schulter reichte. Oben war ein Durcheinander entstanden, ein Vogelnest, das keine Geborgenheit bot, sondern soeben von einem größeren Raubvogel verwüstet worden war. Sanela war außerordentlich zufrieden, als sie die Schere zurück in die Küchenschublade legte. Zu den Messern. Die deutschen Kinder sagten nicht „Dumbo“. Sie überlegte: War es Höflichkeit? Sie wischte die Vermutung beiseite. Die Deutschen doch nicht. Auch nicht deren Kinder. „Haben wir nicht genug Probleme? Brauchen wir auch noch das? “, rief Tetka Marija in ihrer melodramatisch klingenden und genauso gemeinten Art und zeigte mit ihrem fetten Zeigefinger von oben herab auf Sanelas Kopf. „Lass sie“, erwiderte Tetak Ivan, was er meist erwiderte, aber selten passte es thematisch so gut wie an dem Abend jenes Tages, an dem sie „Waisenkind“ verstand. Wobei sie sich nicht sicher war, ob Tetak Ivan die Veränderung auf ihrem Kopf überhaupt registriert hatte. Eines der Kinder aus der Klasse, ein dickliches Mädchen mit rötlichen Haaren und mehr Sommersprossen auf der Nase als Nils, fragte: „Gefällt dir das gut mit der einzelnen Strähne, die herunterhängt? “ „Ja.“ Sie beantwortete alle Fragen mit „Ja“, seit ihre quantitativ nicht umfangreiche, aber qualitativ fehlerfreie Studie ergeben hatte, dass die Menschen mehr Nachfragen stellten, wenn man ihre Fragen mit „Nein“ beantwortete. „Aha. Und das Gute ist auch: Wenn sie dir irgendwann nicht mehr gefällt, kannst du sie einfach selber abschneiden. Musst nicht einmal zum Friseur.“ Das rothaarige Mädchen hatte bestätigend und sehr zufrieden mit der eigenen Schlussfolgerung genickt, bevor sie sich wieder nach vorne zur Tafel umgedreht hatte. „Margarine“ als Schimpfwort war in mehrfacher Weise erniedrigender als „Dumbo“. „Backfett“ sagten sie auch. Das blöde Deutsch reichte ihr leider noch nicht aus, um angemessen zu kontern. Es galt, das Erlernen der Sprache zu beschleunigen. Seit sie in Deutschland war, stellte Sanela überrascht fest, dass es manchmal besser war, nicht zu wissen und nicht zu verstehen. Das wunderte sie, weil sie, seit sie denken konnte, schon immer 71 Mehrsprachige Lebenswirklichkeit wissen, begreifen und lernen wollte. Ihre Großmutter hatte sich ihrer geschämt: Im Dorf las man nicht. Die Haare waren nun weg, und das Verlangen, zu wissen und zu verstehen, war ebenfalls dabei, zu verschwinden. Sie hatte auch die Sache mit der Margarine ein paar Tage lang nicht begriffen, obwohl sie den Begriff „Margarine“ verstand. Margarin, in ihrer Sprache. Warum sich deutsche Kinder wohl für Margarine interessierten, warum sie in ihre Richtung blickten, wenn sie das Wort sagten? Aber die deutschen Kinder sammelten auch Plastikpüppchen mit neonbunten Haaren. Sanela musste nicht alles auf einmal verstehen. Nils erklärte es ihr. „Nimm dir das nicht zu Herzen“, er nickte in Richtung der Jungen, die „Margarine“ gerufen hatten. „Das sind kreteni.“ Sie sorgte sich inzwischen, Nils könnte Serbokroatisch schneller lernen als sie Deutsch, was nicht nur beschämend für sie gewesen wäre, sondern auch ihm nichts nutzte. Sie hatte gehört, Serbokroatisch gebe es nicht mehr, dafür Serbisch, Kroatisch und Bosnisch. Was aber Unsinn war. Weil sie es sprach, und Tetka Marija und Tetak Ivan doch auch. Nimm dir das nicht zu Herzen, hatte er gesagt. Die Sache mit dem Herzen verstand sie auch nicht, weshalb sie fragte: „Wo ich Herzen nehmen? “ Nils lächelte dieses Lächeln, das sie schon kannte, das er immer lächelte, wenn er nicht weiterwusste, als sei es seine Schuld, dass sie ihn nicht verstand. Er ließ dem Lächeln keinen Vortrag folgen, weil er da schon eingesehen hatte, dass Vorträge sie verunsicherten. Wenn einzelne Worte schon die Macht dazu hatten. Nils Liebe lernte, mit Sanela zu sein. „Morgen“, sagte er. Morgen brachte Nils die Plastikpackung mit, eine leere. Sanella. Liebe ist Backen. Die Margarine schrieb man mit zwei „l“. Nils hatte recht. Die Deutschen und die Jungen in ihrer Klasse waren ausgesprochene kreteni, bis auf ihn. Nils war es natürlich auch, der ihr das Wort Krieg erklärte. Er war dazu übergegangen, weniger zu sprechen und stattdessen mehr zu zeichnen und ihr Gegenstände zu zeigen. Sie hörten „Kriegskind“, er sagte „Morgen“, und am nächsten Tag brachte er winzig kleine Zinnsoldaten mit. Sie hatte auch welche gehabt, früher. Er stellte sie auf, zwei Armeen mit jeweils vier Kanonen, sechs Kavalleristen und gut zwanzig Artilleristen. Einer hielt die Tricolore. „Napoleon? “, fragte sie. Nils schien beeindruckt. „Ja. Und das ist Krieg. Guck, wenn sie miteinander kämpfen. So.“ Er ließ zwei Kavalleristen vorrücken. Sie nahm eine der gegnerischen Kanonen in die Finger. Sie spielten Krieg, bis es zur Mathematikstunde klingelte. Die Frau mit dem langen Namen, der durch einen Strich unterbrochen wurde, unterrichtete das Fach, und sie betrat das Klassenzimmer bei diesem Klingeln mit entschlossenem, strengem Schritt, weshalb sie die Soldaten schnell unter die Bank räumten. Der Krieg zu Hause war mit Napoleon übrigens nur schwer vergleichbar. Kriegskind. Waisenkind. Na, wenn sie meinten. 72 Lena Gorelik Aufgaben, Stufe I Gespräch mit den Schüler* innen über den Text: ▶ Gibt es einzelne Worte oder Sätze, die nicht verstanden worden sind? ▶ Wie haben die Schüler* innen den Text verstanden? Was merken sie sich davon? ▶ Anbindung an die Lebenswelten der Schüler* innen: Kennen sie ähnliche Situationen? In wessen Lebenswelt können sie sich besser versetzen-- in Nils’ oder Sanelas? ▶ Sammeln Sie mit den Schüler* innen zusammengesetzte Worte (wie zum Beispiel Kriegskind, aber auch Dinge aus dem Alltag im Klassenzimmer wie zum Beispiel Kreidetafel, Schulranzen) und lassen Sie sie eine Erklärung dafür in ganz einfachen Sätzen finden. Lassen Sie die Schüler* innen, die eine andere Sprache als Deutsch sprechen, ein Wort aus ihrer Sprache im Deutschen erklären und die anderssprachigen Klassenkamerad* innen raten, welches Wort gemeint sein könnte. ▶ Erstellen Sie gemeinsam neue zusammengesetzte Worte, die der Fantasie entspringen, die es noch nicht gibt, und lassen Sie die Schüler* innen diese erklären: Was ist zum Beispiel eine Katzentasse? Und was könnte ein Schnurschrank sein? ▶ Fragen Sie die Schüler* innen, die eine weitere Sprache sprechen, welche Worte es in ihrer Sprache gibt, die es im Deutschen nicht gibt. Es gibt zum Beispiel im Norwegischen das Wort „Utepils“-- ein Bier, das man draußen trinkt. Im Indonesischen steht das Wort „Jayus“ für den schlechten Witze-Erzähler und das englische Worte „balter“ beschreibt eine bestimmte Art des Tanzens, nämlich die, bei der einem niemand zusieht, den freien Tanz, ohne über Fremdwahrnehmung nachzudenken sozusagen. Solche Worte wird es auch in den Sprachen der Schüler* innen geben, sie sollen versuchen, sie zu finden und dann zu erklären. Anschließend können Sie alle gemeinsam nach einer deutschen Fantasie-Entsprechung dafür suchen. Diejenigen Schüler* innen, die hauptsächlich Deutsch sprechen, könnten versuchen, Phänomene in ihrem Leben und ihrer Umgebung zu finden, die noch keine Beschreibung/ keinen Begriff zugewiesen bekommen haben, aber eine/ n gebrauchen könnten. Dafür könnten sie wiederum passende Worte suchen und bauen. ▶ Im nächsten Schritt könnten die Schüler* innen kurze Texte schreiben, in denen diese Fantasieworte oder auch fremdsprachlichen Worte ganz natürlich in den Fluss des Textes eingebaut werden. Das heißt, sie werden im Text nicht näher erklärt, ein Beispiel hierfür könnte ein Satz wie der folgende sein: „Und dann vergaß sie alle um sich herum, sie vergaß die vielen schwitzenden, singenden Menschen, sie balterte nur noch.“ Es reicht, wenn es sich bei den Texten um eine kurze Szene handelt, in der nicht viel geschieht, aber das fremde Wort wie unauffällig in die Geschichte eingebaut ist. Aufgaben, Stufe II ▶ Sprechen Sie mit Ihren Schüler* innen über die beiden Protagonisten des Textes. Was wissen wir bereits über Nils und Sanela? Sammeln Sie die Ergebnisse und ergänzen Sie sie durch Fragen: Was wissen wir noch nicht, und was würden wir gerne wissen? Lassen 73 Mehrsprachige Lebenswirklichkeit Sie die Schüler* innen einzelne Fragen beantworten, am besten in drei bis vier Sätzen. Das heißt auf die Frage „Was für Hobbys hat Nils“ sollte die Antwort nicht „Lesen, Fußball“ lauten, sondern zum Beispiel: „Wenn Nils nach Hause kommt, verkriecht er sich sofort in sein Bett und nimmt sich ein Buch von seinem Nachttisch“. ▶ Sie können die Schüler* innen - je nach Möglichkeit - Steckbriefe oder Beschreibungen zu den beiden Protagonisten schreiben lassen. Wichtig ist dabei, dass sie nicht nur Eigenschaften und Wissen aus dem Text aufnehmen, sondern diese durch eigene Vorstellungen ergänzen. ▶ Lassen Sie die Schüler* innen eine Szene schreiben, in der sich Nils und Sanela an einer anderen Stelle begegnen, zum Beispiel zum ersten Mal. Interessant ist es, wenn man diese Szene als Dialogszene schreibt: Hier könnten sich die Schüler* innen zu zweit zusammen tun, wobei einer der beiden Nils Part auf Deutsch schreibt, und der* die Partner* in den zweiten Teil in einer anderen Sprache. Dabei ist nicht von Bedeutung, ob die beiden Schüler* innen, die zusammenarbeiten, dieselben Sprachen beherrschen; interessant wird eine solche Szene gerade an der Stelle, wo die Missverständnisse entstehen, die auch bei Nils und Sanela entstehen. Lassen Sie die Schüler* innen die Dialoge und Szenen im Stehen vor der Gruppe vortragen und achten Sie dabei auf die Mimik und Gestik der Lesenden, damit Sie im Anschluss gemeinsam als Gruppe versuchen können, Beschreibungen für das zu finden, was außerhalb des Gesprochenen stattfindet: Er blickte fragend zu ihr auf, sie verschränkte die Arme, er stotterte, sie sah ihn mit großen Augen an. Aufgaben, Stufe III ▶ Überlegen Sie zusammen mit Ihren Schüler* innen, welche Situationen für Menschen, die neu nach Deutschland/ in ein anderes Land/ in eine neue Schule/ in eine unbekannte Situation kommen schwierig sein könnten, woran sie sich gewöhnen müssten. Lassen Sie die Schüler* innen erzählen, welche Erfahrungen sie in ihrem Leben gemacht haben. Diese Erfahrungen machen wir unabhängig von unserer Herkunft. Man macht sie, wenn man ein fremdes Land bereist, wenn man Menschen aus fremden Kulturkreisen und mit unbekannten Traditionen begegnet. Tauschen Sie sich über solche Erfahrungen aus, sammeln Sie gemeinsam humorvolle Momente, Gefühle der Verunsicherung, die kleinen Realisationen. Sie können die Schüler* innen solche Situationen-- gerne auch mehrsprachig- - nachspielen lassen. Machen Sie eine Liste von Emotionen, die mit solchen Momenten einhergehen. ▶ Lassen Sie die Schüler* innen eine Geschichte schreiben (sie sollen sich ruhig Zeit dafür nehmen), in der eine Figur sich in einer solchen Situation wiederfindet. Ermutigen Sie die Schüler* innen, unterschiedliche Sprachen zu nutzen, der Sprachlosigkeit in fremden Worten Ausdruck zu verleihen. ▶ Lesen Sie die Geschichten im Kreis vor. Wichtig ist dabei, dass eine respektvolle Atmosphäre des Zuhörens entsteht. Im Anschluss können die Zuhörer* innen erzählen, wie sie die Geschichten empfunden haben, was interessant oder berührend erzählt 74 Lena Gorelik worden ist, an welcher Stelle vielleicht etwas gefehlt hat. Wenn den Schüler* innen das Feedback schwerfällt, stellen Sie möglichst offene Fragen. Im besten Falle nimmt jede* r der Autor* innen fünf Fragen zum eigenen Text mit, die eine Anregung und eine Leitlinie beim Überarbeiten des Textes sein können. Geben Sie den Schüler* innen auch noch einmal Zeit, ihre Geschichten zu überarbeiten. Vielleicht gibt es auch noch den Raum, mögliche Überschriften in einem größeren Kreis zu besprechen, zu sammeln und gegeneinander abzuwägen. Wenn die Zeit und der Raum des Schreibprojekts es zulässt, ist es immer eine besondere Auszeichnung für die jungen Autor* innen-- wie für alle Schreibenden -, wenn ihre Texte in irgendeiner Form gedruckt oder vorgestellt werden: Vielleicht lässt sich im Copy-Shop ein kleiner Sammelband drucken, vielleicht sich im schulischen Rahmen eine kleine (Abend-)Lesung organisieren. Was am Schluss entstehen soll? Das Gefühl, erzählt, gedichtet, geschrieben, Welten geschaffen zu haben. Sich versprach-l-ich-t zu haben, einem Gefühl eine Stimme gegeben zu haben. Sich selbst gelesen zu haben. 75 Von der Notiz ins Notat; vom Notat in die Verdichtung; aus der Verdichtung ins Gedicht Von der Notiz ins Notat; vom Notat in die Verdichtung; aus der Verdichtung ins Gedicht José F.A. Oliver Vorgedicht gedicht, ziel los es gibt keine routine ein sätze des gedichts. Es gibt her was es kann & darüber hinaus fallen wie schuppen das haar schmetterlings staub & blinde fühlerflügel. Ich lese „die Wohlklangplatte muss vom Teller“ & kein hin weis wer & wo. Nur weshalb José F.A. Oliver I. Von der Notiz Fangen wir mit dem Sprechen an. B: leiben wir ins Unvorstellbare und gewähren uns damit einen ersten Schritt ins Vorstellbare. Eine Notiz ist Fragment eines Schreib-Sprechens. Aufhorchen, plötzlich und unmittelbarer Aufschrieb. Dabei ist die vermeintliche Richtungslosigkeit der Charakter jeglicher Notiz. Wenngleich - ich unterscheide drei Facetten eines möglichen (oder gar notwendigen) Aufschriebs, sprich einer Notiz: Die ungebändigte Notiz oder der Sprachen entwerfende Aufschrieb Die auf uns deutende, sich wesensorientierende Notiz des Eigenen Die aktiv perspektivische Notiz oder kontrollierte Notiz Wer weiß, wo Notizen letzten Endes hinführen. Vielleicht ins N: irgendwo. Auch das wäre reizvoll. Vielleicht bleibt es „nur“ bei einer Notiz, weil sie in sich und für uns Schreibende zunächst fragmentarisch abgeschlossen ist. Ein Fragment als Voraussetzung in ein Fragment, das auf den ersten Blick nichts mit dem Weiterschreiben zu tun hat. Sehr komplex. Indes: 76 José F.A. Oliver auch gut. Vielleicht ist sie ausschließlich Humus für ein späteres Geschöpft, namens Notat oder Verdichtung oder gar ein Gedicht als geschöpfte Sprache. Eigenständige Alltagssplitter. Deshalb und nicht nur deshalb eine erste Schreibaufgabe… Ja, für Sie, liebe Leserin, lieber Leser. Sie könnte lauten: „Verfassen Sie ein Gedicht, indem Sie zunächst notieren, was Ihnen in den Sinn kommt. Schreiben Sie es einfach auf. Einfach schreiben, schreiben, schreiben. Und nehmen Sie das Aufgeschriebene, dies ja, als Gerüst ins Weitere. Eine Notiz ist ein Gerüst, das imaginär begehbar ist. Stellen Sie sich vor, was Sie sich dabei vorstellen! Sie fragen mich jetzt vielleicht: „Wie vorstellen, was ich mir vorstelle? “ „Nun, stellen Sie sich vor, dass Sie sich etwas vorstellen, und schauen Sie sich dabei auf die Schreibhand beziehungsweise auf die Schreibfinger. Die Ihrer Schreiber* in! (Mit Ausrufezeichen! ) So in etwa: Ich stelle mir vor, dass ich eine mir (scheinbar) vertraute Person schreiben lasse; eine Person, die ich kenne; und die ich darum bitte, sie möge sich etwas vorstellen und einfach nur aufschreiben, was sie sich vorstelle (vorstellt! ). Je nachdem. Eine Notiz. Eine erste Notiz ins Notat, in eine künftige Verdichtung, ins noch spätere Gedicht. Ein Gedicht fällt nicht vom Himmel, wächst auch nicht aus dem Erdboden. Ein Gedicht ist ein Gesicht, ein Akzent der Poesie als Lebenssehnsucht. Damit Teil des Überlebens. Rätselhaft? Ja, schon. Aber. Zugleich auch klar. Du musst wissen: Ich liebe das Spiel - und genau das möchte ich Dir im nachfolgenden Beitrag vermitteln. Spiel und die Lust am Spiel. Nicht am Glücksspiel. Weit gefehlt. Nein, am poetischen Spiel. Die Perspektive ist entscheidend und im Handumdrehen, pardon im Schreibumdrehen, entsteht aus dem ICH ein D: ICH. Das Du im Ich gebrochen oder: geborgen. Das „ge d ich t“ erhält in einer fremden Sprache eine neue, sprich „Weiterwärts-Stimme“ - habe ich einst in einer Celan-Biographie gelesen. Vielleicht mögen Sie jetzt verwirrt sein. Nun. Herzlich Willkommen! In der „Verw: irrtheit“. Verwirrtsein ist gut. Es birgt Hoffnung. Auf eine Entwirrung. Vielleicht, indem ich bisher ungeahnte Pfade gehe oder sie anlege beim Gehen. Notiz 1 Heute bin ich Freitag. Morgen Samstag. Sonntag? Nicht gern. Notiz 2 Heute ist er Freitag. Morgen Samstag. Sonntag? Nicht gern. 77 Von der Notiz ins Notat; vom Notat in die Verdichtung; aus der Verdichtung ins Gedicht Ich stelle mir vor, jemand formulierte bei einem zweiten Schreibversuch „Heute bin ich Freitag. Morgen Samstag. Sonntag? Nicht gern.“ Damit wäre ich beim Notat. Allein der Wechsel der Personalpronomina ist eine erste Bearbeitung. Sie könnte auch anders notiert sein oder in einen Zeilenbruch führen. Ein Notat ist eine bearbeitete Notiz. Notat 1 Heute bin ich Freitag. Morgen Samstag. Sonntag? Nicht gern. Notat 2 Heute bin ich Freitag. Morgen Samstag. Sonntag? Nicht gern. II. Von der Notiz ins Notat Ein Notat ist eine bearbeitete Notiz. Ich möchte diesen Satz wiederholen. Wo führt er hin? Vielleicht in die Erkenntnis, dass die Übergänge zwischen Notiz und Notat fließend sind. Auch zwischen Notat und Verdichtung. Es scheint mir wesentlich, dass jedes Schreiben ein Weitersch: reiben ist. Dabei spielt die Logik eine nachgeordnete Rolle. Sie ist erst wirklich und wirksam zu berücksichtigen, wo es um das Gedicht geht beziehungsweise um das, was ich als Gedicht bezeichne. Wo es um den Übergang zwischen Verdichtung und Gedicht geht. Wenngleich. Die Logik eines Gedichts gehorcht eigenen Maßstäben, eigenen Verbindungen. Nicht immer zu benennen. Deshalb nenne ich sie innere Übersetzungen. Welches Wort verlangt nach welchem Wort? Welches Bild ruft welches Bild hervor? Welcher Rhythmus ergibt sich, weil er in mir eine Grundstruktur bildet? Welche Form wird durch welches Wort und welches Bild und welchen Rhythmus zur Form, die m: ein Gedicht gestaltet? Verdichtung 1 Heute bin ich Freitag. Er? Morgen Samstag. Sonntag? Nicht gern. 78 José F.A. Oliver Verdichtung 2 Heute bin ich Freitag. Morgen Samstag. Sonntag? Nicht. Gern die ganze Woche III. Vom Notat in die Verdichtung ins Gedicht Es ist an der Zeit ein paar Gedankenleitmotive anzureißen, um vom Notat über die Verdichtung ins Gedicht gelangen zu können. 11 Sätze ins Gedicht 1 Ein Gedicht erklärt nicht, sondern sagt. Schreiblockerungsübung Bildet Sätze, die sagen und nicht erklären. (Die Aufgabe kann auch in Gruppen zu je zwei oder drei Schülerinnen/ Schüler durchgeführt werden. Ziel: Einstieg ins Schreiben und ohne Erklärung) Beispielsätze aus der Praxis: „Es ist heiß und ich schwitze nicht.“ „Ich zocke jeden Tag mindestens acht Stunden.“ „Ein Mann fährt Auto.“ „Heute Nacht habe ich schlecht geschlafen.“ „Morgen fahren wir in den Urlaub.“ Raum für eigene Sätze _________________________________________________________________________ _________________________________________________________________________ _________________________________________________________________________ _________________________________________________________________________ _________________________________________________________________________ Eine weiterführende, aus dieser Vorübung resultierende Aufgabe könnte nun lauten, sich jeweils einen Satz auszusuchen und einen zehnzeiligen Text zu schreiben, der den ausgewählten Satz als Arbeitstitel nimmt. Der Text sollte lediglich beschreibend vorgehen, nicht erklärend. Geben Sie keine weiteren Anweisungen. 79 Von der Notiz ins Notat; vom Notat in die Verdichtung; aus der Verdichtung ins Gedicht 2 Das Wort im Gedicht ist nicht frei von Überlieferung. Jedes Wort hat eine Geschichte. Je mehr ich über die Worte weiß, die ich benutze, um so bewusster werde ich sie lesend, aber auch schreibend verwenden. Im Gedicht ist jedes Wort gesetzt. Kein Wort ist letzten Endes dem Zufall überlassen, auch wenn es sich zunächst in der Notiz, dann in der bearbeiteten Notiz, dem Notat, und in der Folge des Notats, in der Verdichtung, wie von selbst schreibt. Was muss ich wissen, um ein Gedicht zu lesen? Was, um ein Gedicht zu schreiben? Muss ich über die Dinge, die vor meiner Zeit geschehen sind, Bescheid wissen? Oder reicht es, mich intensiv mit der Gegenwart auseinanderzusetzen, in die ich hineingeboren wurde und in der ich mich bewege? Wie viel Vergangenes erzählt mir dabei die Gegenwart? Es ist nicht nur wissensreich, den einzelnen Wörtern aus dieser Perspektive heraus nachzugehen und ihre Herkunfts- und Entwicklungsgeschichte auszuloten, um ihren Ursprung und die Bedeutungsveränderungen zu erkunden, die sich im Laufe der Zeit ergeben haben, sondern in jeder Hinsicht eine unglaublich einprägsame Erweiterung des Sprachschatzes und der eigenen Ausdrucksfähigkeiten. Mein Eindruck ist, dass die Dichter* innengenerationen von heute nicht nur sehr gebildet sind und dieses Wissen auch in ihre jeweilige Dichtung einfließen lassen, sondern auch aus einer Mehrsprachigkeit heraus auf die deutsche Sprache schauen und diese brechen. Uljana Wolf 10 oder Dagmara Kraus 11 sind gute Beispiele für diesen Sprachen- und Sprechschmuggel. Lassen Sie die Schülerinnen und Schüler einen Text verfassen, der sich mit dieser Frage beschäftigt: „Was existiert wirklich, außerhalb von uns? “ Die Aufgabe sollte auf eine bestimmte Anzahl von Sätzen, eine überschaubare Länge zielen. Exakt 100 Worte. Damit wäre ein Längenformat vorgegeben, und die Schülerinnen und Schüler müssten sich beim Schreiben und danach beim Kürzen oder Ergänzen, um auf die 100 Wörter zu kommen, darauf konzentrieren. Beispiel aus der Praxis. Textbeginn einer 16-jährigen Schülerin „Ich verstehe die Aufgabe nicht wirklich. Was soll das heißen? Es existiert Vieles außerhalb von mir. Wenn meine Mutter beispielsweise zur Arbeit geht, dann weiß ich, dass sie arbeiten gegangen ist, aber ich weiß nicht, was sie gerade tut, wenn ich an sie denke. (…)“ Als sie abbricht, hatte sie 45 Wörter geschrieben, den Arbeitstitel nicht mitgezählt. Es wäre nun die Aufgabe, sie zu motivieren, die restlichen 55 Wörter auch noch zu schreiben. Welche Fragen könnten dabei helfen, den Text weiterzuschreiben? a) Woran könnte die Mutter gerade arbeiten? Was erzählt sie üblicherweise, wenn sie nach Hause kommt? b) Und wenn du jetzt einfach von dir sprächest? Einen imaginären Dialog mit der Mutter aufbautest? 10 Uljana Wolf, geb. 1979 in Berlin, lebt als Lyrikerin und Übersetzerin in Berlin und Brooklyn. 11 Dagmara Kraus, 1981 in Wrocław, Polen, geboren, ist eine deutsche Lyrikerin und Übersetzerin. 80 José F.A. Oliver c) Wie könnten die Schlusssätze deines Textes lauten? Hilft das für die fehlenden Gedanken weiter? d) ______________________________________________________________________ e) ______________________________________________________________________ 3 Sätze klingen, wenn sie den Vers aufsuchen. Wobei „Klang“ eine Farbpalette der jeweiligen Betrachtungsweisen beziehungsweise Eigenwahrnehmungen ausbreitet. Diese lässt Gedichte aus sehr unterschiedlichen konzeptuellen Selbstbestimmungen und Wortannäherungen oder Satzstrukturen als eigenständiges Kunstwerk entstehen. Die Entscheidung für ein Gleichmaß in der Konstruktion machte einst den Satz zum klingenden Vers (in historischen Gedichtformen) - im Deutschen die Alternation zwischen Hebungen und Senkungen, betonten und unbetonten Silben. Heutzutage sind jambische, trochäische oder daktylische Strukturen zwar durchaus aus einzelnen Versen herauslesbar, wenn es gewollt wird, die Bandbreite lyrischen Schaffens jedoch hat sich mannigfaltig davon unabhängig gemacht und hängt von der Wundperspektive der Schreibenden ab. Der Klang, der dennoch vorhanden ist, entsteht meistens durch ein inszeniertes Sprechen der Interpret* innen, nicht durch das, was als gedruckte Version auf dem Papier steht. Das hat seinen Reiz und ist eine poetische Kunst per se. Rezitieren heißt heute wieder Gegensprechen. Wider jegliche Fadheit oder Leere und den allenthalben vernehmbaren Alltagsfloskeln in einer Sprache, die keine Stellung mehr bezieht, sondern zu häufig auf Balance in ein Nichtssagendes aus ist. Die Stimme, die Stimmlage, der Stimmeinsatz sind es, die das Poetische in den Raum weiten. Es gibt Dichter* innen, die zwar auch heute noch überlieferte Metren meisterhaft aufnehmen und gekonnt ins Jetzt überschreiben, doch ist die Zahl derjenigen, die mit den kanonisierten Vorgaben zu greifen sind, überschaubarer geworden. Zumindest zur momentanen Publikationszeit. 4 Nicht jeder Satz ist ein Vers. Oder doch? Diese Frage entscheidet sich im Blick auf den Gesamttext 5 Verse bedeuten Rhythmus und Maß. Im Rhythmus eines Gedichtes kann ich mich aufgehoben verlieren, kann mich aber auch körperlich bewegt finden, sinnlich finden. Bewegung als entspanntes Atmen und Durchatmen. Der Rhythmus eines Gedichts ist die Bewegung einer Fähre, die im Ohr anlegt und aufbricht. Wie bereits in den vorangegangenen Gedanken dargelegt, sind die meisten Gedichte, die heute geschrieben werden eigenrhythmisch. Sie ergeben sich in einer persönlichen Partitur. Dieser persönliche Charakter verweist auf die Persönlichkeit der Leserin oder des Lesers, die beim Lesen hören und zuhören. In sich selbst aufhorchen, wo das Gedicht Bewegung schenkt. Ein neues Gleichmaß zwischen Autor* innen und Leser* innen. 81 Von der Notiz ins Notat; vom Notat in die Verdichtung; aus der Verdichtung ins Gedicht 6 Strophen sind maßvolle Schnitte. Wie „klassisch“ ist der Begriff der „Strophe“? Im heutigen Gedicht ist alles möglich - von der Strophe bis zur Nicht-Strophe. Auch „unstrophisch“. Und doch bleiben uns die Strophen in den meisten Publikationen, abgesehen von Teilen der visuellen Poesie, erhalten. 7 Die Länge eines Gedichts hat nichts mit seiner Qualität zu tun. Von einer Zeile bis hin zu einem ganzen Buch. Ein Gedicht hat seine eigene Längenlogik - oder seine ganz spezifische Längenordnung. Schreiblockerungsübung Stell dir eine Situation aus deinem Alltag nach der Schule vor und fasse den Augenblick in einem Satz zusammen. 8 Nicht alles, was sich reimt ist ein Gedicht. Oft ist die erste Antwort von Schülerinnen und Schülern, wenn ich sie frage, was sie mit einem Gedicht verbinden, spontan und klar. Sie lautet schlicht und einfach: „Es reimt sich! “ Der Reim hält sich hartnäckig in den Vorstellungen, wenngleich die heutige Dichtkunst sich nahezu reimlos in die Welt schreibt. Von den heutigen „Balladen“, dem Rap, einmal abgesehen. Zu ihm wäre ein eigener Materialband vonnöten. Es gilt eher, was eine alte deutsche Redewendung zum Ausdruck bringt: „Ich kann mir keinen Reim darauf machen.“ Die Welt heute ist ungereimt. 9 Inhalt und Form gehen aufeinander zu. Der Inhalt verlangt nach einer Form. Die Form kommt niemals inhaltsleer daher. Was banal klingt, ist sehr komplex zu begreifen. Das Gedicht will seine Form und findet sie beim Schreiben. 10 Eine Überschrift muss kein guter Titel sein. Ein streitbares Thema. Was sollte, was muss ein „guter Titel“ leisten? Welche Erwartungen weckt er? Die Titelgebung bedeutet sicherlich eine nicht unerhebliche Herausforderung, der sich die Dichter* innen stellen müssen. Nicht nur für das einzelne Gedicht, sondern, wo eine Publikation eines Lyrikbandes ansteht, auch für das gesamte Buch. Ein einzelnes Wort kann Titel werden, der Ausschnitt eines Verses oder ein Zitat. 82 José F.A. Oliver Schreiblockerungsübung 1. Welche Aufgaben hat ein Titel? Fasst er zusammen? Gibt er einen zusätzlichen Hinweis? Führt er in die Irre? Wirbelt er durcheinander? Ist er bloße Benennung? Schenkt er einen Namen? 2. Weshalb steht über manchen Gedichten „Ohne Titel“? Empfehlung: Es ist sinnvoll bei einer Schreibaufgabe erst einmal den Begriff „Arbeitstitel“ zu verwenden, da dieser sich in den einzelnen Schreibphasen verändern kann. Erst zum Schluss sollte eine bewusste Entscheidung für einen Titel fallen. 11 Nicht jedes „Ich“ ist ein „Lyrisches Ich“ Wer hat m: ein Gedicht geschrieben? Ich oder Ich? Wer verbirgt sich im Lyrischen Ich? Wer zeigt sich und wer nicht? Niemals zuvor sind in deutscher Sprache so viele und so spannende, so unerhörte und überraschende, so unbegreifliche und so naheliegende Gedichte geschrieben worden, wie in den letzten Jahren. Und doch: Das heutige Gedicht ist, so hört man allenthalben, schwer zu greifen. Viele schrecken davor zurück. Weshalb? Dieser Beitrag bietet Annäherungsentwürfe ins heutige Gedicht. Zentral sind die Fragen nach Inhalt und Form und die Vielfalt der Strukturen in den deutschsprachigen Gedichten, die heute geschrieben werden. Jeder Mensch birgt Poesie in sich. Davon bin ich überzeugt. Es gilt sie zu entdecken und zu fördern. Aber: Ich brauche Ihre Mitarbeit. Nicht nur die des aktiven Lesens, vielmehr die des Mitgestaltens, Erweiterns, Widersprechens oder, wo es notwendig ist, Verwerfens. Begründet, selbstverständlich. Deshalb, liebe Leserin, lieber Leser, gilt diese Aufgabe in diesem Sudelbeitrag der Poesie, Ihnen. Viel Spaß, Freude, Geduld und Mut wünsche ich Ihnen. Bleiben Sie kühn wie manche Metapher und sehen Sie das vermeintlich klischeehafte, wie dies andere Vergleiche in Sprache tun, als Material, das Sprachmaterial in andere Wahrnehmungen. Im heutigen Gedicht ist alles möglich. 83 Von der Notiz ins Notat; vom Notat in die Verdichtung; aus der Verdichtung ins Gedicht Arbeitsblatt 1. 1 (für Lehrerinnen und Lehrer) Wie sind wir Alltag? Vor allem: wer ist auf welche Art und Weise und wann Alltag? Gibt es nur einen oder mehrere Alltage für die einzelnen Menschen? Vielleicht sind es ausschließlich Fragmente, die unsere Tage bestimmen. Oder gar Fragmente von Fragmenten. Davor, dahinter, dazwischen das ICH - wer immer das sei - im KonTEXT eines immer wieder genauso anders und deshalb in Varianten neu definierten oder zumindest angedeuteten WIR. Mit dieser Erkenntnis stellt sich in der Werkstatt die Frage nach einem und nach „dem“ Ich. Dem biographischen, dem biologischen und dem „lyrischen“. Von ihm ausgehend, über die Dinge nachdenkend und das Verhältnis der Dinge zur Sprache benennend; und/ oder umgekehrt. Als Katalysator in einen Dialog ist ein Wir immer auch im Gespräch mit sich selbst. Arbeitsblatt 1. 2 (für Lehrerinnen und Lehrer) Variation einer Deutung. Schritt eins: Wer bin ich lyrisch? Schritt zwei: Ermögliche ich es meinen Schülerinnen und Schülern, meine lyrische Seele zu begreifen? Beides herauszufinden ist nicht einfach, aber es muss sein, wenn ich Erfolg haben will. Und dann Schritt drei: Sprache adjustieren: Sprache, die das zum Ausdruck bringt, was ich sagen möchte. Folglich schenke ich Ihnen m: ein Gedicht: d: ich im du ein ich ist wir die zeit bist du im ich ist wir ist zeit José F.A. Oliver Ich wünsche uns Kommunikation und Dialog, Antworten und Fragen, die Antworten sind. 84 José F.A. Oliver Arbeitsblatt 1. 3 (für Lehrerinnen und Lehrer) Wer bin ich „lyrisch“? _________________________________________________________________________ _________________________________________________________________________ _________________________________________________________________________ _________________________________________________________________________ _________________________________________________________________________ _________________________________________________________________________ _________________________________________________________________________ _________________________________________________________________________ _________________________________________________________________________ _________________________________________________________________________ Ermögliche ich es meinen Schülern, meine lyrische Seele zu begreifen“? _________________________________________________________________________ _________________________________________________________________________ _________________________________________________________________________ _________________________________________________________________________ _________________________________________________________________________ _________________________________________________________________________ _________________________________________________________________________ _________________________________________________________________________ _________________________________________________________________________ _________________________________________________________________________ Sprache gestalten: _________________________________________________________________________ _________________________________________________________________________ _________________________________________________________________________ _________________________________________________________________________ _________________________________________________________________________ _________________________________________________________________________ _________________________________________________________________________ _________________________________________________________________________ _________________________________________________________________________ _________________________________________________________________________ 85 Zu den Grundlagen der Didaktik des Dialogs Zu den Grundlagen der Didaktik des Dialogs Jörg Roche, Gesine Lenore Schiewer Im zweiten der bisher drei verfügbaren Lese- und Unterrichtsbände zur Didaktik des Dialogs, dem Band Emotionen - Dialoge im Deutschunterricht. Schreiben - Lesen - Lernen - Lehren (Roche/ Schiewer 2018, 7 ff.) sind ihre Grundlagen folgendermaßen beschrieben: Sich auf das Abenteuer Sprache einzulassen sollte einerseits eine Selbstverständlichkeit sein, andererseits ist es jedoch auch eine kontinuierlich herausfordernde Aufgabe. Es geht darum, Worte zu finden, diese miteinander zu verbinden und Sätze zu bilden, die einen Text ergeben. Die einen tun sich damit leichter, den anderen fällt es schwerer, sich auszudrücken. Geschweige denn, das zu Papier zu bringen, was erzählend oft direkter und damit vermeintlich leichter klingen mag. Beiden Charakteren ist jedoch sicherlich (bewusst oder unbewusst) eine Erkenntnis gemeinsam, dass sie nämlich die Notwendigkeit erahnen, sich mitteilen zu müssen. Oder um sie wissen. Letzten Endes ist dies eine Freiheit, um Mensch bleiben zu dürfen, zu können. Das macht Sprache und Sprachvermittlung so spannend und einzigartig. Wie viel Sprache bin ich? Wie viel Sprache trage ich nach außen? Wie viel Sprache(n) mehre ich in mir, indem ich in einen Dialog mit anderen trete? Dieser Ansatz will Türen in die Wahrnehmung von Sprache und in die Auseinandersetzung mit Sprache in Sprache öffnen. Erzählend, dichtend, klärend, nicht erklärend. Oft eigenwillig, niemals eigenbrötlerisch. Oft phantasiegeladen, niemals an den Haaren herbeigezogen. Manchmal direkt benennend, bisweilen in zärtlich-poetischer Annäherung an das, was zu sagen ist. Die in den Bänden zusammengestellten Texte wurden von Literatinnen und Literaten geschrieben, die sich auf ihre jeweils sehr eigenständige Art und Weise mit der Sprache beschäftigen, um Literatur entstehen zu lassen. Sprache schafft dort Sprache, wo sie ernst genommen wird. Selbst in und mit jenen Texten, bei denen es nicht auf den ersten Blick ersichtlich ist, was es zu entdecken gilt. Auch das kann eine Faszination erzeugen. Rätselhaftes im Raum stehen zu lassen, ist der erste Schritt hin zur Poesie und diese zu begreifen. Indem sie angenommen wird als das, was sie ist. Eine andere, individuelle, äußerst eigene und eigenwillige Sicht auf die Dinge, die Verhältnisse, das Leben. (Roche/ Schiewer 2018, 7 ff.) Konkrete Schreibanlässe führen zu konkreten Schreibversuchen. Die angebotenen Texte und Textfragmente können und sollen daher dazu führen, eigene zu schreiben oder schreiben zu lassen. Dies geschieht unter dem Dach von Themen, die junge Menschen elementar beschäftigen, berühren, oft leider auch quälen, wie zum Beispiel über die Familie oder einen Menschen, den man verloren hat und liebte; über eine Wohnung, ein Haus oder einen Garten, wo man Geborgenheit und Zuflucht geschenkt bekam oder bekommt; oder über eine Reise, in der man mit Menschen in Kontakt kommt, auf die man - etwa mit ihrer für einen 86 Jörg Roche, Gesine Lenore Schiewer selbst vielleicht fremden Sprache - reagiert und die auf einen reagieren, weil das und jenes geschieht. Im Sinne des Dialogprinzips, das sowohl Gegenstand und Lernziel als auch ihr didaktisches Konzept selbst ist, sind die Kapitel der drei bereits vorliegenden Bände handlungs- und aufgabenorientierten Ansätzen der Didaktik verbunden, die das eigene entdeckende Schreiben der Schülerinnen und Schüler im Fokus haben. Für den Deutsch- und Literaturunterricht, aber auch die öffentliche Wahrnehmung, ist es zudem wichtig, die Werke der bedeutenden Gegenwartsautorinnen und -autoren, die an diesen Bänden mitgewirkt haben, zu vermitteln. Aus den Poetiken der Autorinnen und Autoren und auch aus ihren didaktischen Ansätzen, die ohne Frage auch für Leserinnen und Leser von Interesse sind, die nicht unterrichten, ergeben sich unverzichtbare Einblicke in ihre Strategien des literarischen Schreibens, in das jeweilige Verständnis ihres „Handwerks“, ihre Motive, künstlerischen und gegebenenfalls gesellschaftlichen Anliegen und nicht zuletzt in ihre Biographien. Das erhöht die Affinität der Bände zu curricularen Rahmenbedingungen, nicht nur des Deutschunterrichts (zum Beispiel in Bezug auf die Vermittlung von literarischen Formen, Themen und Motiven, Gattungen und Genres, Epochen, Klassikern, von Literaturgeschichte, Medialität, Autorschaft), sondern fächer- und schulartübergreifend zu anderen Gegenstandsfeldern, die in modernen Lehrplänen gerne als „Lernbereiche“ ausgewiesen werden. Das können auch von Literatur zunächst entfernt erscheinende Lernbereiche wie die Wirtschaft, einschließlich der Ökonomisierung von Gesellschaften und Bildungssystemen, Klimawandel und Umweltschutz, Verkehrserziehung, Medien, Gesundheitserziehung, Familie, angewandte Sozialkunde etc. sein. Diese Bereiche sind für die Schülerinnen und Schüler dadurch mit Literatur verbunden, dass sie hier lernen, die jeweilige Relevanz für ihr Leben kritisch zu reflektieren und im Dialog auszuloten. Zu den Lernzielen gehören demnach unter anderem die folgenden: ▶ Dialogfähigkeit unter Bedingungen von Mehrsprachigkeit und kultureller Unterschiede, ▶ kritische Kompetenzen im Sinne von qualifizierten Wertungen und Relevanzbewertungen, von Reflexion und politischer Mündigkeit, ▶ Sprach-, Kommunikations- und Dialoghandlungskompetenzen, interkulturelle Kompetenzen, unter anderem im Sinne der Vertrautheit in der Begegnung mit Menschen unterschiedlicher Sprachen und Kulturen („kulturelle Übersetzung“) und im Sinne der Sensibilisierung für Differenz und des dialogischen Umgangs mit Differenzen (wie der Aushandlung von kommunikativer „Transdifferenz“), ▶ eine generelle Sensibilisierung für Sprachen und Sprache, für Semantiken und damit möglicherweise verbundene kommunikative und gesellschaftliche Asymmetrien (wie Dominanz- und Machtgefüge), ▶ der kompetente Umgang mit Handlungsäquivalenzen von Sprachverwendung sowie sprach- und dialogmotiviertes Handeln, ▶ Mehrsprachigkeit (individuelle eigene und/ oder individuelle Mehrsprachigkeit anderer; kollektive Mehrsprachigkeit in Deutschland, im deutschsprachigen Raum und im internationalen Raum) als Sprachsensibilisierung, 87 Zu den Grundlagen der Didaktik des Dialogs ▶ Sensibilisierung für die Wahrnehmung, die Kommunikation und die gesprächs- und dialogbezogene Dynamik des Ausagierens von Emotionen (bei sich selbst und anderen), ▶ der Erwerb von Grundlagen im Umgang mit poetischen Konzepten der Literaturgeschichte und der (interkulturellen) Gegenwartsliteratur, mit Sprachästhetik, literarischen Themen und Motiven, ▶ Wert- und Relevanzbewusstsein von Kunst und ästhetischer Bildung, ▶ fächerübergreifendes Lernen, Verstehen und Denken. Fachkomponente 1: Handlungsdidaktik Sprachliche Handlungsfähigkeit bestimmt als die Fähigkeit eines Individuums sich grundlegend in der eigenen Lebenswelt zu orientieren und alle relevanten Situationen kommunikativ erfolgreich zu meistern, umfasst eine ganze Reihe von physiologischen und kognitiven Voraussetzungen sowie linguistischen, sozialen und methodischen Kompetenzen. Sehr verkürzt gesagt bedeutet dies, dass neben der Fähigkeit, Laute wahrzunehmen und zu artikulieren, auch jene gegeben sein muss, Konzepte auszubilden und Nachrichten zu entwerfen und zu formulieren. Dies allein befähigt Individuen allerdings noch nicht dazu, sprachlich angemessen zu handeln: Benötigt wird dazu auch Welt- und Situationswissen, prozedurales Wissen, kulturspezifisches Wissen zum Ablauf von Diskurspraktiken sowie Interesse am Kommunizieren. Das wiederum erfordert sowohl sprachliche als auch soziale Kompetenzen. Letztere beinhalten ihrerseits auch die Fähigkeit zu erkennen, wann das eigene sprachliche Handeln nicht jenem der Gesprächspartner beziehungsweise ihren Erwartungen entspricht. In einer solchen Situation müssen strategische (metakognitive, kritische) Kompetenzen aktiviert werden, die zur Anpassung der eigenen Handlungskompetenz beitragen, zum Beispiel, indem fehlendes Wissen als solches erkannt und in Erfahrung gebracht wird. Menschen eignen sich Sprache über Erfahrungen in der Welt an und mittels Sprache Wissen über die Welt. Sie spielen und lachen, streiten aber auch und verteidigen sich. Sie lernen und hinterfragen, vergleichen und debattieren. Neben der oder den Familiensprache(n) werden so weitere Register entwickelt: Jugendsprache, Bildungssprache, Fach- und Berufssprachen. Genauso werden Zweit- und Fremdsprachen gelernt und zwar durch das Meistern von authentischen Situationen, die für das eigene Wohlbefinden und jenes der Familienangehörigen und nahestehenden Personen, kurz für den Lebensalltag, von zentraler Bedeutung sind. In der authentischen Kommunikation besitzt das sprachliche Zeichen immer mehrere unterschiedliche Funktionen: In der Regel mindestens eine Senderfunktion, eine Adressatenfunktion und eine Abbildungsfunktion der Gegenstände und Sachverhalte. Sprache kommt üblicherweise in dieser Dreieckskonstellation vor. Selbst bei Einträgen in ein Tagebuch stellen sich Schreiber einen realen oder fiktiven Adressaten vor (zum Beispiel ihr zukünftiges Ich). Auch in literarischer Sprache gibt es Sprecher beziehungsweise Schreiber (Autorinnen und Autoren beziehungsweise Erzähler, Lyrisches Ich sowie Figuren) und Adressaten (Publikum, Leser beziehungsweise implizite Leser sowie Figuren, Protagonisten). Demnach repräsentiert das sprachliche Zeichen (Sprache) als Symbol Gegenstände und Ereignisse, kurz die Welt. Diese Symbolfunktion ist aber nicht objektiv oder neutral gegeben, 88 Jörg Roche, Gesine Lenore Schiewer sondern besteht als subjektiver Ausdruck der Perspektive eines Sprechers oder Schreibers, kurz eines Senders. Diese entspricht nicht immer jener des Empfängers, beziehungsweise die Perspektive des Adressaten wird vom Sender nicht immer gleich stark berücksichtigt oder geteilt. Sprache ist also ein Instrument, um unterschiedliche Wissensbestände auszugleichen und unterschiedliche Lesarten der Welt auszuhandeln und zu vermitteln. Sprachliches Handeln als Prinzip der Unterrichtsgestaltung In modernen Lehrplänen sind Handlungsprinzipien und Handlungskompetenzen feste Bezugsgrößen. Allerdings fehlt es bei deren Umsetzung häufig an Fantasie, Konsequenz, Zeit und Interesse. Schon im 18.-Jahrhundert finden sich in Jean-Jacques Rousseaus ganzheitlichem Bildungsideal Ansätze der Handlungsorientierung: Bei der „Erziehung“ von Menschen sollen relevante aufgabenhaltige Situationen geschaffen werden, in denen Schülerinnen und Schüler dazu ermuntert werden […] vermeintliche Lösungsangebote oder vorschnelle Urteile zu unterlassen und stattdessen zunächst auf der Ebene sinnlicher Wahrnehmung unterschiedliche Versuche zum Finden einer Lösung vorzunehmen und dann die Wahrnehmungsresultate so lange aufeinander zu beziehen […] (zitiert nach Hansmann 2006, 37), bis sie zu einer angemessenen Lösung gelangen können. Nach Rousseau bilden solche Lernarrangements die Grundlage, um „die Bildung des logischen, des moralischen und des religiösen Urteils unabhängig von den Meinungen, Launen oder Vorurteilen anderer zu initiieren und umsichtig zu leiten“ (zitiert nach Hansmann 2006, 46). Der Gedanke, dass die kombinierte Entwicklung sprachlicher, fachlicher, sozialer und demokratischer Kompetenzen eine zentrale Bildungsaufgabe darstellt, wurde zu einem späteren Zeitpunkt unter anderem von Johann Heinrich Pestalozzi, Adolph Diesterweg und der deutschen Arbeitspädagogik des beginnenden 20.-Jahrhunderts aufgenommen. Da Erkenntnis durch Wahrnehmung und Erfahrung entstehe, müsse im Unterricht induktiv vorgegangen werden. Die Theorie folgte aus den Tatsachen; sie führte vom Sinnlichen zu den Ideen, vom Experiment zum Axiom, vom geistig Nahen zum Entfernten, von der Mannigfaltigkeit zur Einheit. Der Lehrer ist dabei der Anregende, der Schüler der Selbsttätige, der Forschende und Entdeckende. (Geißler 2006, 142) Durch Selbsttätigkeit werden Schülerinnen und Schüler zu eigenen Überlegungen und der Erprobung unterschiedlicher Lösungsversuche motiviert. Dies fördert Problembewusstsein und Selbständigkeit im Denken, Handeln und Urteilen. In dieser Tradition steht in der Fremdsprachendidaktik auch das Prinzip, mit Szenarien handlungs- und aufgabenorientiert Sprachen und Sprache zu lernen und eine ausgeprägte Bewusstheit für Sprache zu entwickeln. Seit der „Kommunikativen Wende“ in den 1970er bis 1980er Jahren galt kommunikative Kompetenz bereits als das oberste Lernziel des Unterrichts. 89 Zu den Grundlagen der Didaktik des Dialogs Da sich ihre Umsetzung im Unterricht und im Lehrmaterial meist auf die Authentizität und Angemessenheit von Materialien zum Hör- und Leseverstehen sowie zu Sprech- und Schreibanlässen beschränkte und von den Schülerinnen und Schülern viel zielsprachenkulturelles Wissen voraussetzte (das sie aber ja erst erwerben sollten), konnte sich die kommunikative Didaktik jedoch oft nicht ausreichend durchsetzen oder weiterentwickeln. Dieser Engpass sollte dann mit Hilfe der Szenariendidaktik vermieden oder umgangen werden (Hölscher/ Piepho/ Roche 2006). In der dargestellten Tradition steht auch die Berufspädagogik, die in den 1970er Jahren im Rahmen der Handlungsregulationstheorie von den Arbeitspsychologen Winfried Hacker und Walter Volpert entworfen wurde. Hieraus hat sich vor allem das Modell der vollständigen Handlung als operatives Prinzip des Unterrichts ergeben, auf dem auch die Entwicklung der Leittextmethode (Riedl 2011, 244) basiert. Szenariendidaktik und Berufspädagogik kommen in jüngster Zeit vor allem in den Deutsch-als-Zweitsprache-Lehrplänen für die Grundschule und in den Deutschlehrplänen für Berufsschulen und Berufsfachschulen in verschiedenen Bundesländern zusammen. Den Lehrplänen liegt ein pragmalinguistisches, integriertes und handlungsorientiertes Konzept zugrunde (siehe die Empfehlungen der Kultusministerkonferenz 2019). Die handlungsorientierte, gebrauchsbasierte Didaktik zeichnet sich durch eine Lernumgebung aus, die den Lerner im konstruktivistischen Sinne anleitet, sich handelnd mit der Wirklichkeit auseinanderzusetzen. Dies geschieht im Idealfall in einer authentischen Lernumgebung, in der Lernende aktiv mit dem Lerngegenstand Sprache agieren und ihr Wissen durch handelndes Auseinandersetzen stetig erweitern. Ein handlungsorientierter Sprachenunterricht erfordert demnach komplexere, problembasierte, ganzheitliche Aufgabentypen, die einen eindeutig identifizierbaren kommunikativen Zweck innerhalb einer authentischen Handlung erfüllen. Ausgangspunkt für eine Aufgabe beziehungsweise eine Unterrichtssequenz ist stets eine konkrete Handlungssituation, die für die Beteiligten von Relevanz ist. Die folgenden Schritte gilt es demnach bei der Umsetzung eines Handlungsszenarios in der Sprachvermittlung zu beachten, wobei für jeden Schritt Teilaufgaben gestellt werden. Eine fordernde Aufgabenstellung stellt dabei stets ein geeignetes Mittel dar, um sprachliches Handeln anzuregen und das Vorwissen der Schülerinnen und Schüler miteinzubeziehen. Orientieren Das Vorwissen der Schüler und Schülerinnen wird aktiviert. Was ist zu tun? Was wissen wir schon darüber? Wo finden wir zusätzliche Informationen? Informieren Die Schüler und Schülerinnen informieren sich anhand verschiedener Materialien bezüglich der zu bearbeitenden Aufgabe und Inhalte. Worum geht es, was ist das Ziel? Planen und analysieren Für ein Anliegen oder eine Aufgabe gibt es immer verschiedene Lösungen und verschiedene Wege, die zur Lösung führen. Was könnten wir machen? Wer hat so etwas schon einmal gemacht? Wer kann das am besten? Aufgaben sind zu bestimmen und zu verteilen, Arbeitsabläufe zu planen. Hilfsmittel sind auszuwählen, relevante Vorlagen zu analysieren. Durchführen Nun wird am Produkt gearbeitet, das umfasst mehrere Abstimmungs-, Arbeits- und Optimierungsdurchläufe. Präsentieren Auf die Phase der Erarbeitung folgt die Vorstellung des Arbeitsvorhabens. Davor wird alles nochmals sorgfältig überprüft und erprobt. Jeder ist schließlich stolz auf die geleistete Arbeit. 90 Jörg Roche, Gesine Lenore Schiewer Bewerten Anhand gemeinsam festgelegter Kriterien werden die erarbeiteten Produkte konstruktiv bewertet. Reflektieren Eine Phase der Reflexion schließt das Szenario ab: Was ist gut gelungen? Was könnte man auch in anderen Situationen anwenden? Was würde man wann anders machen? Prinzip der vollständigen Handlung zur Didaktisierung von Handlungssituationen (übernommen aus Roche/ Terrasi-Haufe 2016, 29) Für jeden der Schritte können zahlreiche Teilaufgaben und Übungsangebote vorgeschlagen werden, so wie es die Autorinnen und Autoren in den genannten Bänden der Dialogdidaktik getan haben. Sie dienen der Differenzierung und Motivierung. Das bedeutet, dass nicht jeder Lerner alle Angebote wahrnehmen muss, sondern dass er sich zum Teil selbst aussuchen kann, womit er sich beschäftigen sollte. Natürlich sollen Schülerinnen und Schüler auch von der Lehrkraft dazu angeregt werden, bestimmte Aufgaben durchzuführen. Das sollte aber vom Interesse der Schülerinnen und Schüler aus gesteuert sein, nicht von Text oder Lehrplan. Ähnliches gilt für die Zusammensetzung von Arbeitsteams. Um die einzelnen Schüler und Schülerinnen zu fördern und das Potenzial von Differenzen zu nutzen, ist es wichtig, die Arbeits- und Kommunikationskonstellationen möglichst häufig - aber sinnvoll, nicht aktionistisch - zu variieren. Ein Lernszenario umfasst danach die gemeinsame Bestimmung eines Kernthemas durch Schülerinnen und Schüler und Lehrkräfte und die Auswahl einer Aufgabe. Der Unterricht sollte an die authentische Welt außerhalb des Unterrichts (Lebenswelt) angebunden werden. Dadurch steigt in der Regel das Interesse der Schülerinnen und Schüler. Je nach Interesse und individuellen Fähigkeiten können sie selbst entscheiden, ob sie allein, mit einem Partner beziehungsweise einer Partnerin oder in der Gruppe arbeiten. Bei der Auswahl der Aufgaben werden sie von ihrem Vorwissen geleitet und greifen zu einer Aufgabe, die ihren Interessen, ihrer Persönlichkeit und ihren Fähigkeiten entspricht, und führen sie mit unterschiedlichen Arbeits- und Lerntechniken aus. Durch Thema und Aufgabenstellung werden sie zwar gesteuert, sie können die Sprache aber (trotz Steuerung) in ihrer Lerngruppe frei und kreativ anwenden. Durch ein vielfältiges Angebot an Arbeitsformen werden mittels Methoden- und Medienvielfalt unterschiedliche Persönlichkeiten und Lerntypen berücksichtigt. Arbeitspartner finden sich sehr oft über die Wahl der Aufgabe. Diese immer wieder neuen Gruppenzusammensetzungen bewirken auch immer neue dialogische Konstellationen in anderen sprachkulturellen Schattierungen, das heißt, angesichts der vorhandenen und zunehmenden demographischen Vielfalt, auch mit anderem kulturellen Hintergrund. Darauf folgt die Erarbeitungsphase, in der sich Schülerinnen und Schüler im Team organisieren und über die Gestaltung der Arbeit austauschen. Sie sammeln Informationen und planen und gestalten ihre Sprachprodukte aus. Diese werden in der Präsentationsphase vorgestellt und in der Optimierungsphase überarbeitet. Eine Reflexion schließt das Szenario ab. 91 Zu den Grundlagen der Didaktik des Dialogs Wissenskonstruktion durch sprachliches Handeln Aus Roche/ Reher/ Simic (2012, 21 f.) sowie Hölscher/ Piepho/ Roche (2006) lassen sich hieraus folgende didaktische Unterrichtsprinzipien zusammentragen: Kommunikative Relevanz Sprachliches Handeln durch Redeanlässe und Themen, die der Lebens- und Erfahrungswelt der Lerner entsprechen, motivieren und sind effektiv. Authentische Kommunikation Sprachliches Handeln im Unterricht muss die Bedingungen der Kommunikation nach Bühler (1934) erfüllen. Nur so ist für den Lerner ein kommunikativer Zweck erkennbar und es erfolgt eine Auseinandersetzung mit dem Thema. Lernerzentriertheit Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht der Lerner, auf den eingegangen werden muss, damit sein Vorwissen eingebracht und individuelle Progression gefördert werden kann, indem individuelle Zugänge zum Thema ermöglicht werden. Aktives Handeln Kein unidirektionaler (lehrerzentrierter) Unterricht, sondern interaktiver Austausch durch aktives sprachliches Handeln in authentischen Situationen. Erprobendes Handeln Grammatik und Wortschatz resultieren aus dem Sprachgebrauch, weshalb erprobendes Handeln der Weg zur sprachlichen Korrektheit ist. Nachhaltigkeit Nur durch konkretes sprachliches Handeln können abstrakte Konstruktionen aufgebaut werden, die einen nachhaltigen Nutzen für den Spracherwerb bringen. Funktionsorientiertheit Gegenstand im Sprachunterricht sind nicht Flexionstabellen oder Valenzgrammatik, sondern der funktionale Gebrauch der Grammatik in der praktischen Sprachanwendung. Form-Bedeutungs- Kontinuum Da sich Grammatik aus Wörtern entwickelt, liegt der Fokus auf dem Wortschatzerwerb. „Gebt den Schülern Wortschatz, die Grammatik finden sie von allein! “ (Hölscher/ Piepho/ Roche 2006, 14). Situativität Wenn Sprache in Situationen genutzt wird, dann ergeben sich daraus sprachliche Differenzierungen und kulturelle Handlungsfähigkeit. Entwicklung durch Fehler Fehler sind als natürlicher Prozess des Hypothesentestens des Lerners einzustufen, der aktiv versucht, Konstruktionen zu erweitern und kreativ auszuprobieren. Sie dienen der Lehrkraft als Diagnoseinstrument. Motivation Fehler zu machen Aufgabe des Unterrichts ist es, ideale Bedingungen zum Hypothesentesten bereitzustellen. Individuelles und angstfreies erprobendes Handeln muss sichergestellt werden. Weiterentwicklung durch Feedback Wissen kann nur konstruiert und modifiziert werden, wenn eine Auseinandersetzung mit der Umwelt stattfindet. Die Rückmeldungen der Umgebung helfen dem Lerner dabei, Konstruktionen zu analysieren und zu testen. Selbstgesteuertes Lernen Interessensgesteuerter Unterricht basiert auf der Einbindung der Lerner in die Entwicklung von Zielperspektiven und die Erarbeitung von Materialien/ Produkten/ Ergebnissen. Didaktische Unterrichtsprinzipien für gebrauchs- und handlungsorientiertes Sprachenlernen (nach Roche et al. 2012, 21 f. und Hölscher/ Piepho/ Roche 2006) Wichtig ist demnach eine Einbettung der Inhalte in authentische Handlungskontexte. Hierdurch wird eine Relevanz hergestellt, die häufig in Schulbüchern mit stark reduzierten und pseudo-authentischen Materialien nicht zustande kommt. Beschäftigen sich Lerner mit authentischen Aktivitäten und Kontexten, die auch in der realen Lebenswelt von Bedeutung sind, wird zudem die affektive Ebene angesprochen, die den Lernerfolg maßgeblich beeinflussen kann (zur affektiven Komponente siehe auch Papert 1980, 1993). 92 Jörg Roche, Gesine Lenore Schiewer Fachkomponente 2: Das Konzept der Transdifferenz Das Konzept der Transdifferenz ist aus einer intensiven Auseinandersetzung mit den Kernproblemen trans- und interkultureller Kommunikation entstanden, nämlich der eigentlich nicht-auflösbaren Binarität von dem vermeintlich Eigenen und dem vermeintlich Fremden. Was ist eigentlich das „Eigene“, was ist das „Fremde“? Wie lange bleibt es fremd? Wie soll der vielbeschworene Perspektivenwechsel zwischen Eigenem und Fremdem stattfinden, wenn das nötige Wissen fehlt und der kognitive Apparat der gleiche bleiben muss? Vieles, was zum Fremdverstehen gesagt und (zum Beispiel in Lehrplänen) geschrieben wurde, mag interessant und wichtig klingen, seine Umsetzung ist meist ernüchternd. Dabei stehen natürlich Bekanntes und Neues immer im Wechselspiel, wenn Lernen passieren soll. Es ist daher eher davon auszugehen, dass das Neue und Fremde zum Lernen dazugehören und etwas ganz Normales sind. So gehen moderne Ansätze einer interkulturellen Sprachdidaktik auch von der Normalität des Fremden als Katalysator für Lernen aus. Am Anfang der Entwicklung des Konzeptes der Transdifferenz lag der Fokus noch auf dem Verstehen, mit dem ähnlich dem Gadamerschen Konzept der Horizontverschmelzung (Gadamer 1960; Birk 2008) eine „Verflüssigung der Differenzen“ (Allolio-Näcke/ Kalscheuer 2005, 21) einherging. Damit rückten nach der Kritik an der Fokussierung auf das ‚Verstehen‘ auch ‚Nichtverstehen‘ und ‚Missverstehen‘ ins Blickfeld. So wurde es möglich, „die Aufmerksamkeit auf die Differenzen zu legen, womit wiederum eine wichtige Voraussetzung für den Zugang zu einer ‚produktiven Transdifferenz‘ gegeben war“ (ebd.). In einem allgemeinen Sinn - und im Anschluss an die Bedeutung ‚quer hindurch‘ der Vorsilbe ‚trans‘ - bezeichnet Transdifferenz all das Widerspenstige, das sich gegen die Einordnung in die Polarität binärer Differenzen sperrt, weil es gleichsam quer durch die Grenzlinien hindurch geht und die ursprüngliche eingeschriebene Differenz ins Oszillieren bringt, ohne sie jedoch aufzulösen. (Lösch 2005, 27) Differenzen sind also vorübergehende Erscheinungen, die instabil werden. Sie haben eine orientierungsstiftende Funktion, sollen in dieser Funktion erhalten bleiben und durch eine Komponente Transdifferenz ergänzt werden (siehe Allolio-Näcke/ Kalscheuer 2005, 17). Insgesamt erfolgt hierbei eine „Umstellung auf ein dynamisches Identitätskonzept, in dessen Zentrum die Frage danach steht, ‚wer ich werde‘“ (ebd., 18), und nicht, ‚wer ich bin‘. Zu den Übergängen von Fremdsprachenunterricht und Deutschunterricht In allen deutschsprachigen Gesellschaften spielt die Thematik von Fremde und Fremdheit zunehmend eine zentrale Rolle im schulischen Alltag. Das liegt in erster Linie an der Zusammensetzung der Schüler- und Lehrerschaft und dem steigenden Anteil an Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund. Es liegt aber auch an der verstärkten internationalen Ausrichtung des Bildungswesens (siehe die internationale Orientierung an Bildungsstudien) und hängt mit der allgemeinen Globalisierung durch Wirtschaft, Politik und Medien zusammen. 93 Zu den Grundlagen der Didaktik des Dialogs Der Deutschunterricht soll und kann sich diesen Realitäten nicht entziehen, denn es geht dabei nicht nur um vordergründige ethnographische Zuschreibungen, sondern vor allem um den Umgang mit dem Fremden schlechthin. Dieser Umgang aber wird vorwiegend durch Sprache, genauer durch Sprachen, gestaltet. Der Deutschunterricht kann also gar nicht umhin, sich den neuen Herausforderungen zu stellen und sich damit in Richtung eines Unterrichts fremder Sprachkulturen, im Sinne von elaborierten kommunikativen Zielsetzungen, zu öffnen. Dabei ist die Vermittlung grammatischer Formeigenschaften von Sprache und Sprachen allenfalls ein erster Schritt; im Kern geht es um die Förderung des Vermögens, sich in unterschiedlichen Situationen und verschiedenen thematischen Zusammenhängen differenziert auszudrücken, Stellung zu nehmen und zum Beispiel in Argumentationen seinen Standpunkt deutlich zu machen, unter Umständen sich auch öffentlich zu äußern und sich gegebenenfalls an gesellschaftlich relevanten Diskursen mit fremden Themen zu beteiligen. Ziel des Deutschunterrichts ist es, hierfür eine ausgesprochene Dialogfähigkeit ausbilden zu helfen (Didaktik des Dialogs, vgl. Roche/ Schiewer 2017, 16). All dies erfordert ein entwickeltes Bewusstsein für semantische „Feinarbeit“, das heißt für Denotationen ebenso wie für Konnotationen und sogenannte Bedeutungshöfe. Man spricht in diesem Zusammenhang in der Diskursanalyse und Diskurslinguistik auch von „Deutungshoheit“ (vgl. hierzu zum Beispiel Spitzmüller/ Warnke 2011), das heißt dem erfolgreichen Besetzen von Semantiken. Es kommt mit anderen Worten darauf an, in alltäglichen und anderen Situationen, in Zweiergesprächen (in der Soziologie als Mikro-Ebene bezeichnet) oder auch in Unterrichtsgesprächen (die der soziologischen Meso-Ebene angehören) ▶ solche Deutungshoheiten zu erkennen und zu benennen, ▶ sich gegebenenfalls mittels semantischer Differenzierung dazu Stellung nehmen oder auch sich dagegen wehren zu können und ▶ eigene Positionen zu vertreten. Konkret erfolgt dies in kommunikativen Prozessen. Einseitiger „semantischer Bedeutungshoheit“, das heißt, einseitiger Weltdeutungshoheit soll entgegengewirkt werden durch kommunikative Arbeit im Sinne dessen, was als „Aushandlung von Bedeutungen“ bezeichnet wird. Die Berücksichtigung der „Aushandlung von Bedeutungen“ ist auch ein wichtiger Aspekt in solchen Modellen des Dialogs der Kulturen, die sowohl kommunikationstheoretisch als auch interkulturell angemessen und das heißt hier zugleich anspruchsvoll fundiert sind. Kaum jemals werden dabei reine Informationen „verschoben“. Vielmehr handelt es sich um Bemühungen darum, sich verständlich zu machen, zu angemessenen Deutungen zu gelangen, sich durch Rückfragen zu vergewissern, mittels Paraphrasen das bereits Gesagte in anderer Formulierung des gemeinten beziehungsweise aufgefassten Inhalts erneut begreiflich zu machen und dergleichen mehr (Roche/ Schiewer 2017, 16). Diese Überlegungen haben zur Entwicklung der Didaktik des Dialogs für den Literatur- und Sprachunterricht geführt, die sich nicht nur mit ethnokultureller Fremdheit befasst, sondern vielfältige Perspektivierungen im Zusammenhang von relevanten Themen der Lebenswelten der Schülerinnen und Schüler erlaubt. Sie teilt viele der Prämissen und Methoden interkulturellen Unterrichts, unterscheidet sich aber von interkulturell-hermeneutischen 94 Jörg Roche, Gesine Lenore Schiewer Ansätzen am ehesten in der weniger ausgeprägten Zielgerichtetheit auf ein „besseres“ Verstehen eines fremden Textes. Die Dialogdidaktik bezieht sich auf den gesamten Prozess des Literarischen, angefangen bei den Autorinnen und Autoren über diejenigen, die in Verlagswesen, gegebenenfalls Übersetzung, Literaturkritik, Literaturhäusern und Buchhandel beteiligt sind, bis hin zu den Leserinnen und Lesern. Sie umfasst also alle an der Literatur Beteiligten und ist ein Beispiel dafür, wie sich die Anliegen der „interkulturellen Literatur“ und der interkulturellen Sprachdidaktik unter Berücksichtigung stetiger kommunikativer Veränderungsprozesse weiterentwickeln und beleben lassen. Die Literaturdidaktik des Dialogs nimmt unter anderem biographische Erfahrungen und literarische Produktionen von Autorinnen und Autoren aus dem Umfeld des jahrzehntelang verliehenen Chamisso-Preises, aber auch anderer interkultureller Schriftsteller als Ausgangspunkt. Dieser Preis wurde ursprünglich an Autorinnen und Autoren vergeben, die sich im Umgang mit Fremdheit dadurch ausgezeichnet haben, dass sie virtuos in die fremde Sprache Deutsch gewechselt sind. Später ging es aber nicht mehr nur um diesen Wechsel der Sprachen, sondern viel mehr um das literarische Werk dieser Autorengruppe, die sich ohnehin dagegen verwahrte, als Autorinnen und Autoren von manchenorts so genannter „Migrantenliteratur“ ausgegliedert zu werden. Die Kompetenzförderung im Deutschunterricht ist daher Grundlage für ein methodisch und theoretisch anspruchsvolles Verständnis interkultureller Kommunikations- und Dialogfähigkeit, die sich auch in schwierigen Situationen mit Konfliktpotenzial bewährt. Die didaktisch orientierte Arbeit im Kontext der Didaktik des Dialogs schließt eng an die gezielte Förderung des Bewusstseins für semantische Differenzierungen an, die insbesondere von dem entscheidend an der Erstellung der vier Bände dieser Reihe beteiligten José F.A. Oliver in seinen Schulveranstaltungen und didaktischen Beiträgen vertreten wird. Formen sprachlicher Verfremdung sind dabei besonders geeignet, den Umgang mit semantischer Differenzierung zu schulen, indem ein ‚Denken wie üblich’ hinterfragt und eindimensionale Sprachformen aufgebrochen werden. Auf diese Weise kann ein Beitrag zur Befähigung zum multiperspektivischen Denken geleistet werden, das ein ‚Durchspielen von Optionen’ erlaubt und somit reflektierte Haltungen fördert, die differenziert geäußert und vertreten werden können. Dies soll in diesem Band an Hand ausgewählter Unterrichtsentwürfe für die Lehrerfortbildung illustriert und erprobt werden. Fachkomponente 3: Historische Semantik Der nächste Schritt besteht darin, das wichtige Feld der Begriffsgeschichte und der Historischen Semantik einzubeziehen. Überzeugende Grundlagenarbeit wurde hierfür zunächst in der Philosophie mit der Erstellung des „Historischen Wörterbuchs der Philosophie“ und in der Geschichtswissenschaft, insbesondere von dem bedeutenden Historiker Reinhart Koselleck, geleistet. In der Linguistik sind die Arbeiten von Dietrich Busse maßstabsetzend, in der Literaturwissenschaft und der Ästhetik wurde das Konzept ebenfalls adaptiert, so zum Beispiel in der unter anderem von Harald Fricke konzipierten Neuauflage des „Reallexikon der Literaturwissenschaft“. Auch in 95 Zu den Grundlagen der Didaktik des Dialogs der Soziologie finden sich wichtige Anregungen, etwa mit der „Zeitschrift für Soziologie“, die 2005 ihr erstes Sonderheft vorgelegt und der Thematik der ‚Weltgesellschaft’ gewidmet hat; seinen einleitenden Beitrag beginnt Hartmann Tyrell mit einer charmanten Episode, die er mit „I Begriffi“ betitelt (Tyrell 2005, 2 ff.): In den 1980er Jahren fand in Italien […] ein international besuchter sozialwissenschaftlicher Kongreß statt, an dem auch eine Reihe deutscher Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler teilnahm. Im Verlauf des Kongresses fiel den italienischen Gastgebern an den deutschen Teilnehmern (oder doch an einigen von diesen) etwas auf, das sie als deutsche intellektuelle Eigentümlichkeit wahrnahmen, nämlich ein vordringliches Interesse an Begriffsbildung und Begriffsklärung, überhaupt die Tendenz, Begriffliches vorrangig wichtig zu nehmen. […] Die italienischen Teilnehmer nannten die deutschen Kollegen „i begriffi“. Diese Namensgebung, die den deutschen ‚Begriffsklang’ unversehrt ins Italienische hineinnimmt und ihn dabei in ein Personalsubstantiv (im Plural) verwandelt, bündelte aufs Schönste die Unterschiedserfahrung, die man mit und an den ‚ultramontanen’ Kollegen gemacht hatte, und ‚hielt sie fest’. Sie tat es in Form einer Sammelbezeichnung mit nationaler Adressierung und freundlich-bedenklichem Unterton. Hartmann Tyrell bekennt sich dann in seinem Beitrag nicht nur selbst - in sympathischer Selbstironie --als ein „begriffo“ (also ein Anhänger der Begriffsarbeit), sondern in dem gesamten Band findet dieser Zugang aus guten Gründen Berücksichtigung. Hervorzuheben ist im Hinblick auf die Grundlagen der Dialogdidaktik ein Beitrag von Theresa Wobbe, bevor auf den erwähnten Aufsatz von Hartmann Tyrell zurückzukommen ist. Denn Wobbe, die sich mit dem hochinteressanten Thema der historischen Europasemantik und der Identitätspolitik der Europäischen Union befasst, unternimmt es, „den Begriff der kollektiven Selbstbeschreibung Europas in einem globalen Horizont zu verorten“ (Wobbe 2005, 349) und macht dabei zugleich anschaulich, was unter der Untersuchung von Begriffen zu verstehen ist: [Wenige] Hinweise zeigen bereits, dass sich im Zuge des Wandels von Europa in einem weltweiten Gefüge die Bedeutung des Europabegriffs selbst ändert sowie auch die Vorstellung, die Europa sich von der Welt macht. Europa hat eine Geschichte, und in deren Verlauf haben sich die Bezugsebenen, die Trägergruppen und die räumlichen Reichweiten der Selbstbeschreibung verschoben. Im späten 15.- Jahrhundert ist das Europaverständnis noch weitgehend synonym mit dem des Christentums. Im 19.-Jahrhundert wird Europa an der Spitze des kulturellen Entwicklungsprozesses gesehen und beansprucht eine weltweite Expansion, die sich faktisch nahezu über ein Viertel der Erdoberfläche erstreckt. Die EU repräsentiert demgegenüber ein räumlich geschrumpftes Europa, dessen Selbstverständnis sich regionalisiert hat und das keine universalistische Geltung mehr beansprucht. Diese Differenz zwischen der Europasemantik und der europäischen Selbstbeschreibung der EU ist es, die im Folgenden interessiert. Auf welchen Klassifikationen beruht die Abgrenzung zwischen Europa und Nicht-Europa jeweils? (Wobbe 2005, 349) Diese Vorgehensweise ist interessant, da sie sich gut mit dem zentralen Anliegen der Dialogdidaktik vereinbaren lässt, die auf ein gut geschultes Bewusstsein für Sprache mit ihren semantischen Differenzierungen als Grundlage der Dialogarbeit aufbaut: Denn Theresa Wobbe bettet, wie dem längeren Zitat oben zu entnehmen ist, sorgfältige Begriffsanalysen in 96 Jörg Roche, Gesine Lenore Schiewer übergreifende Zusammenhänge von Innen- und Außenperspektiven sowie mögliche Wechselwirkungen ein. Jede Dialogführung und jede überzeugende Argumentation im Zusammenhang dieser - ebenso wie auch jeder anderen - Thematik muss von einem solchermaßen klar differenzierten Begriffsverständnis Ausgang nehmen. Anhand des Beitrags von Hartmann Tyrell, auf den an dieser Stelle zurückzukommen ist, lassen sich diese grundlegenden Annahmen weiter konkretisieren. Und zwar macht Tyrell deutlich, dass seine Einleitung zum genannten Themenheft „ein rundum semantikbezogenes Unternehmen“ sei (Tyrell 2005, 2). Sie handle nur von den Begriffen, in diesem Fall von der Begrifflichkeit ‚Globalisierung’, ‚Weltgesellschaft’ und Verwandtem, von begrifflichen Vorläufern und Begleitern (vgl. Tyrell 2005, 2). Damit meint Tyrell - und das macht sein Konzept für die Dialogdidaktik so interessant --„Sprachgebrauchsbeobachtung“ und hebt dabei unter anderem diese Aspekte hervor: ▶ im Zentrum seiner Beobachtung der Sprachverwendung stehen Begriffe und ihr Gebrauch. ▶ außerdem macht man sich selbst in seinem eigenen Sprachgebrauch beobachtbar, was Tyrell aufzeigen will. Dies ist so zu verstehen, dass der Blick geschärft wird für a. die Pluralität von Sichtweisen, die sich in Begriffen und Semantiken abbildet, b. die Tatsache, dass unser eigenes Sprechen und Schreiben in seiner sprachverhafteten Perspektivität anderen offen liegt; manchmal sogar - aufgrund des gewohnten und nicht selten impliziten Wissens (vgl. hierzu auch den nächsten Abschnitt mit Fachkomponente 4: Textbegriff, Textsorten und Gattungsmischungen in diesem Vorwort) - mehr als uns selbst, von anderen also unter Umständen klarer erkannt wird als von uns selbst. Hartmann Tyrell betont richtig, dass es gelingende wie misslingende Globalisierung geben könne und dass es sich beim Prozess der Globalisierung genau genommen um Prozesse der Globalisierungen handle (vgl. Tyrell 2005, 22): […] natürlich macht die Heterogenität der Zivilisationen, macht die Pluralität der Weltreligionen oder die Diversität der Kulturen - jede jeder anderen eine Fremdkultur - einen Unterschied, was die jeweilige interne Rezeption und semantische Anschlußfähigkeit der Globalisierungsbegrifflichkeit angeht. […] ‚Zivilisation’, ‚Kultur’, ‚Religion’, und ‚Nation’ besagen ja - im Hinblick auf die jeweils anderen Zivilisationen, Kulturen, Religionen und Nationen - allesamt zuerst Differenz, nämlich Grenzbildung und, wenn nicht Kommunikationsunterbrechung, so doch Reduktionen der Kommunikationsdichte mit Übersetzungsproblemen im Gefolge. Und was aber die interkulturelle semantische Diffusion von ‚Globalisierung’ und die sich damit verbindenden Übersetzungsnotwendigkeiten angeht, so dürfe hier erst recht gelten: „many globalizations“! […] 97 Zu den Grundlagen der Didaktik des Dialogs Gemeint ist […], daß wir es einstweilen für ganz unwahrscheinlich ansehen, daß die Globalisierungssemantik ihren Weg um die Welt (d. h. in die Sprachen der Welt) ‚ungebrochen’ und bedeutungskonstant nimmt bzw. genommen hat. (Tyrell 2005, 25 f.) Tyrell vertritt also mit überzeugenden Gründen - und das Thema der Globalisierung ist hier nur eins von unendlich vielen möglichen Beispielen - die Auffassung semantischer Differenzierung und damit der Pluralität. 12 Semantische Differenzierung und folglich Pluralität sind Grundlagen für die Analyse dessen, wie mit Sprache in der Gegenwart in unterschiedlichen - sozialgeschichtlichen und weiteren - Kontexten etwas getan wird. Die Arbeit mit literarischer Sprache und literarischen Texten ist aufgrund ihrer semantischen Offenheit und zugleich Differenziertheit besonders geeignet, um das Konzept der Dialogdidaktik unter Berücksichtigung von mehrsprachigen Gegebenheiten und kulturellen Unterschieden zu vermitteln. Fachkomponente 4: Textbegriff, Textsorten und Gattungsmischungen Es besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass Sachwissen und abstrakte Gegenstände mit maximal expliziten und vorzugsweise formalisierten Darstellungsformen in standardisierten Textsorten und -mustern einhergehen. Dem wird der Bereich des ‚subjektiven Wissens’ gegenübergestellt, der durch die Merkmale der Individualität sowie einer eher informellen Sprachlichkeit charakterisiert ist. Dieser grundsätzlichen Sicht wurde jedoch schon um 1800 von Friedrich Schlegel eine andere gegenübergestellt: Eine strikte Trennung verschiedener Wissensbereiche und ihrer Vermittlungsweisen in sachlich-wissenschaftliche Textsorten einerseits und nicht-wissenschaftlich-informelle Textsorten andererseits hält Schlegel nicht nur für undurchführbar, sondern - mit Blick auf eine dynamische Wissensentwicklung - sogar für unproduktiv. Die Mischung von Textsorten, Gattungen und Stilen macht sich Friedrich Schlegel, dem Konzept der Epoche der Romantik folgend, daher zur Aufgabe. Die Grundlegungen der modernen Textlinguistik sind angesichts solcher unterschiedlichen Sichtweisen insofern hilfreich, als die sprachlichen Gegebenheiten ▶ sowohl im Sinn der klaren Abgrenzung von Sach-, Fach-, und Wissenschaftssprachen gegenüber anderen Textsorten aufgezeigt werden können ▶ als auch der Mischung von Stilen, Registern und Gattungen, wenn dies angemessen ist. Einzelne konkrete Textsorten wie die Gerichts- oder Lobrede wurden aus einem pragmatisch orientierten Interesse schon in der antiken Rhetorik hinsichtlich ihrer besonderen Merkmale beschrieben. Eine systematische Darstellung der Textsortenthematik hat sich aber erst die moderne Textlinguistik zur Aufgabe gemacht. Grundlegend ist auch hier die Beobachtung, dass im Hinblick auf spezifische kommunikative Verwendungszusammenhänge bestimmte Textstrukturen mit regelhaften Rekurrenzen auftreten. Es wird daher von einer prinzipiellen 12 Für einen umfassenden Überblick vgl. Müller, Ernst/ Schmider, Falko: Begriffsgeschichte und historische Semantik. Ein kritisches Kompendium. Frankfurt am Main, 2016. 98 Jörg Roche, Gesine Lenore Schiewer Textsortengeprägtheit aller Texte gesprochen; jeder Text weist also spezifische Merkmale auf, die er mit anderen Texten gleichartiger Funktion und Verwendung - mehr oder weniger - teilt. Es werden dabei insbesondere deskriptive, narrative, argumentative und instruierende Texttypen unterschieden. Im Kontext der Fachsprachenforschung hat dies zu einer detaillierten Beschreibung von entsprechender Sprachverwendung geführt. Es werden in der Textlinguistik somit solche Textmuster beschrieben, die sich bei der Lösung bestimmter Kommunikationsaufgaben im „kommunikativen Haushalt einer Gesellschaft“ als erfolgreich erwiesen haben (vgl. Luckmann 1992). Sie dienen als allgemeine Orientierungsrahmen für das kommunikative Handeln der Individuen, sind aufgrund ihres prototypischen Charakters allerdings auf stereotype Handlungsformen oder „kommunikative Routinen“ (Adamzik 1995, 28; vgl. Heinemann 2000, 518) beschränkt. Schon die „Registertheorie“ nach Michael A. K. Halliday geht davon aus, dass ein Sprecher in der Regel das einer Situation angemessene „Register“ wählen wird. Sie berücksichtigt jedoch, dass unter Umständen auch ganz bewusst unangemessene Register verwendet werden, sodass die Normen also unterlaufen werden können. Hier liegt somit ein Ansatz vor, der abweichende und innovative Variationen der Registerwahl zumindest am Rande einbezieht (Halliday/ Hasan 1990). Der Soziologe Thomas Luckmann hebt darüber hinaus auch die Relativität und Historizität von Textmustern und Gattungen hervor, wenn er betont: Was aber in der einen Gesellschaft wichtig ist, braucht in einer anderen nicht ebenso wichtig zu sein, und was in einer Epoche wichtig ist, braucht in einer anderen Zeit nicht wichtig zu sein. […] Die kommunikativen Gattungen einer Epoche mögen sich zum Teil in locker geregelte kommunikative Vorgänge auflösen (oder sogar ganz verschwinden), während bisher „spontane“ kommunikative Vorgänge zu neuen Gattungen gerinnen können. (Luckmann 1988, 284) Damit rücken im Hinblick auf die Prozesse der Variation bestehender Muster die „kommunikativen Vorgänge“ und d. h. die Pragmatik der Sprachverwendung in den Blick. 13 Eine Diskussion der Textsortenlinguistik bezieht sich denn auch auf die Frage, ob Fachtexte ▶ entweder expliziter, logischer und systematischer als Alltagstexte seien, was insbesondere auf eindeutige Begriffsdefinitionen zurückzuführen sei ▶ oder im Gegenteil impliziter als andere Texte seien und mehr an deduktiv-inferentieller Eigenaktivität - d. h. Verstehensleistung - beim Rezipienten voraussetzten (vgl. Knobloch 1998, 447). Diese beiden Auffassungen verweisen tendenziell auf zwei unterschiedliche Konzeptionen der Textlinguistik: Während die Annahme besonderer Explizitheit von Fach- und Wissenschaftstexten eher in einer Auffassung von Texten gründet, welche auf eine so genannte „transphrastische Grammatik“ hinausläuft (TEXTLINGUISTIK I), verknüpft sich mit der Annahme ausgeprägter Implizitheit eine „Textlinguistik des Sinns“, die auf den bedeutenden 13 Aus der Perspektive der kulturellen Geprägtheit sprachlichen Handelns hat Ulla Fix die Frage von Traditionen und Entwicklungen von Textsorten akzentuiert (vgl. Fix 2006). 99 Zu den Grundlagen der Didaktik des Dialogs Linguisten Eugenio Coseriu zurückgeht (TEXTLINGUISTIK II). Klar definierte Begriffe und Terminologien reduzieren die „Feldabhängigkeit“, d. h. feststehende Inhalte bedürfen geringer semantischer Präzisierung durch den Kontext, sodass Textualität weitgehend durch grammatische Kohäsion hergestellt werden kann (vgl. Knobloch 1998, 452 ff.). Eine „Linguistik des Sinns“ akzentuiert mit dem Verhältnis des Sinns zum jeweiligen (Fach-)Wissen des Rezipienten die pragmatische Ebene mit der variablen Rolle einer Leserin oder eines Lesers mit mehr oder weniger individuell geprägtem Interesse, Verständnis und Relevanzsystem. Mit diesen Hinweisen auf den Sinn rückt die Frage des Expliziten und des Impliziten von Texten in den Blick. Angelika Linke und Markus Nussbaumer unterscheiden das Implizite als nicht ausdrücklich Gesagtes - im Unterschied zum ausdrücklich Gesagten - von der Dichotomie wörtlicher versus nichtwörtlicher Bedeutung. Hierbei weisen sie darauf hin, dass Implizitheit ein textsortenspezifisches Merkmal darstellt: Es besteht ein systematischer Zusammenhang zwischen spezifischen Textgattungen und Graden des Impliziten (vgl. Linke/ Nussbaumer 2000, 447). Erwähnt werden hier von Linke und Nussbaumer einerseits literarische Texte als Beispiel von Textsorten, die in besonderem Maß zur eigenständigen Auseinandersetzung anregen, und andererseits Gesetzestexte, in denen eine maximale Ausformulierung angestrebt wird und die Interpretationen nur in möglichst geringem Umfang zulassen sollen. Textlinguistische Ansätze müssen sich also der Frage nach dem Verhältnis von Text und Wissen stellen. So hat Wolfdietrich Hartung auf den Zusammenhang der Geläufigkeit von Wissenselementen mit der entlastenden Funktion formelhaften Kommunizierens und verfestigter Textorganisationsmodelle hingewiesen: Für das, was wir oft denken und worüber wir oft kommunizieren, und für das, was in der Gemeinschaft als besonders wichtig gilt, bilden sich solche fertigen oder halbfertigen Äußerungsstücke heraus. Sie erleichtern das unverzögerte, flüssige Kommunizieren. Aber sie engen es auch auf Gewohntes ein. (Hartung 1991, 227) Hartung spricht hier das Phänomen der Automatisierung gewohnter Prozesse an, die mit der Geläufigkeit in ihrer Ausführung an Bewusstheit verlieren. Ungewohntes und nicht Standardisiertes bedarf demgegenüber der vollen Aufmerksamkeit. Diese Beobachtung, die unter dem Stichwort „Desautomatisierung“ (oder „Entautomatisierung“) insbesondere in der berühmten Prager Schule diskutiert wurde, kann in den Zusammenhang der Textsortenthematik eingebunden werden. Die Wechselverhältnisse zwischen 1) explizitem respektive implizitem Wissen, 2) explizitem sprachlichem Ausdruck, beziehungsweise den vielfältigen Formen andeutenden, impliziten Sprechens sowie schließlich 3) gewohnheitsmäßig automatisiertem Sprechen einerseits und dem bewussten Suchen nach sprachlicher Formulierung andererseits müssen hierbei beleuchtet werden. Der zentrale Terminus des hier umrissenen Forschungsfeldes, der Begriff des ‚impliziten Wissens’ geht zurück auf die wissenschaftstheoretischen Untersuchungen Michael Polanyis. Wesentlich gekennzeichnet ist es dadurch, dass es als sprachlich schwer zu fassen gilt. Während das explizite Wissen, welches die moderne Gesellschaft etwa im formalen Recht und den exakten Wissenschaften besonders auszeichnet, mit den oben angesprochenen maximal 100 Jörg Roche, Gesine Lenore Schiewer expliziten Formen der Darstellung und standardisierten Textformen einhergeht, kommt es mit der Gewöhnung an diese festen Vorgaben zugleich zu einem Verlust an Aufmerksamkeit in ihrer Verwendung. Die Sprachverwendung selbst wird zu einem Teil des besonders im Falle von Fach- und Wissenschaftstexten sicher nicht unbewussten Sprachverhaltens, jedoch des insofern nicht reflektierten Sprachgebrauchs als die Vorgaben nicht in Frage gestellt, sondern mehr oder weniger strikt befolgt werden. Mit dem Begriff der ‚Entautomatisierung’ wird in linguistischem Umfeld demgegenüber auf ein Phänomen der Durchbrechung der gewohnten Sprachmuster und Darstellungsformen aufmerksam gemacht: Abweichende und hier vor allem literarische Sprache erlaubt es, verfestigte Strukturen der Sprachverwendung erneut ins Bewusstsein zu rücken. Abweichung ist insofern verbunden mit ausdrücklicher Sprachverwendung, da hier bewusst nach neuen oder individuell angepassten Ausdrucksformen gesucht werden muss. Besonderes Interesse verdient jedoch, dass diese Form bewusster Sprachverwendung mit einem weiteren Aspekt verbunden ist: nicht-standardisiertes, unter Umständen zunächst noch halbbewusstes, ungeklärtes und implizites Wissen kann selten unverfälscht unter Verwendung vorgefertigter Formulierungen zum Ausdruck gebracht werden. Es ist angewiesen auf eine authentische Formulierung, die erst gefunden werden muss und daher der vollen Aufmerksamkeit bei dem Prozess der Versprachlichung bedarf. Diese ausdrückliche, das heißt bewusst gestaltete und abweichende Varianten ausprobierende Art der Sprachverwendung ist in besonderem Maß geeignet, Impulse zur Hinterfragung geläufiger Muster und zur Suche nach neuen innovativen Ansatzpunkten und Fragestellungen zu vermitteln. Demgegenüber sichern soziale Normen aller Art den reibungslosen Fortbestand bestehender Strukturen, denn normorientierte Organisationsformen spiegeln sich in den Strukturen einer Sprachgemeinschaft, die sich an bewährte kommunikative Gattungen hält (Williams 1992, 74). Kommunikation setzt hier geteilte Haltungen in stillschweigender Übereinstimmung eher voraus als dass sie sie schafft (vgl. Williams 1992, 204). Vor dem Hintergrund einer solchen „konsensorientierten“ Perspektive in Gesellschaft und Sprachgebrauch kommt Abweichungen eine entscheidende Funktion zu. Damit kann an dieser Stelle unserer Ausführungen wiederum der Bogen zur Dialogdidaktik gespannt werden. Denn: Lernprozesse, die die Kompetenz zum Dialog oder auch zur interkulturellen Kommunikation fördern wollen, müssen Bedingungen herstellen, die die Selbstreflexion auf das eigene Verhalten in Situationen des Kulturkontaktes möglich machen. Die Verunsicherung des eigenen Identitätskonzepts in der Begegnung mit Angehörigen einer anderen Kultur […] verbunden mit der Begrenzung des sprachlichen Ausdrucksvermögens durch die fremdsprachliche Situation schaffen einen hohen Bedarf an Klärung des Gemeinten und Verstandenen in der interpersonalen Kommunikation. (Treber/ Burggraf/ Neider 1997, 21) Vor diesem Hintergrund ist es erforderlich, die eigenen ebenso wie die jeweils anderen linguistisch-rhetorischen Relevanzsysteme sorgsam beobachten und relativieren zu können. Instrumente der Sprachregelung, Formen der strategischen Nutzung von Äußerungsformen, von Rhetorik und beispielsweise gerade auch von Nichtgeäußertem, die Steuerung 101 Zu den Grundlagen der Didaktik des Dialogs der überhaupt verwendeten Gattungsformen mit ihren jeweiligen Rahmenbedingungen wie Gesprächsort und -zeit, die Spektren der kommunikativen Gattungen, subtile Formen des Gesprächsmanagements, wie zum Beispiel das Forcieren von Entscheidungsprozessen, Argumentationsstrategien, die in erster Linie von der Wirkungsabsicht gesteuert sind - alle diese sowohl konstruktiv als auch einseitig strategisch einsetzbaren Formen der Sprachverwendung müssen den Teilnehmern in ihrer kulturellen Variabilität geläufig sein. Dann besteht die Chance, Tendenzen der Kontrolle, Versuche der Manipulation und Unterdrückung zu erkennen, zu benennen und ihnen auch zu begegnen. Es sind solche Dialogbedingungen zu unterstützen, welche Asymmetrien - das heißt die unhintergehbare Perspektivik jedes Teilnehmers mit ihren lebensweltlichen und historischen Bedingungen sowie die Schwierigkeit, das Gelingen von Verständigung zu überprüfen - nicht zu überdecken suchen, sondern vielmehr offenkundig werden lassen. Das Wissen um das potentielle Misslingen von Kommunikation ist konstruktiv zu nutzen, trägt es doch bei zu einer Sensibilisierung hinsichtlich der Vielfalt möglicher Ursachen von Missverständnissen und des Scheiterns von Verständigung insbesondere infolge von Divergenzen im Feld der Semantik. Die Rahmenbedingungen eines solchen Dialogs sind gekennzeichnet durch zumindest diese Aspekte: ▶ Zunächst muss eine grundsätzliche freiwillige Gesprächsbereitschaft auf allen Seiten vorhanden sein, die auch jederzeit für alle Beteiligten erkennbar sein sollte. ▶ Vor diesem Hintergrund muss es in einem Dialog Optionen geben, nicht nur für Konsens, sondern auch für Dissens, Vertagung und nicht zuletzt den Abbruch der Verhandlungen. Konsens ist nicht mit Freundschaft zu verwechseln, Dissens nicht mit Feindbildern zu identifizieren. ▶ Erforderlich sind fundierte Kenntnisse verschiedener Gesprächsstile und kulturell geprägter Dialogformen und -typen, um über Kriterien zu verfügen, die es erlauben, sowohl das Bestehen kulturell bedingter Wissensasymmetrien als auch Formen der verdeckten Kooperationsverweigerung zu erkennen. Die literarische Dialogdidaktik bereitet mit der Sensibilisierung für sprachlich-kulturelle Differenzen, die Einübung in kommunikative Prozesse der Transdifferenz insbesondere mit der Befähigung zu semantischem Bewusstsein und semantischer Subtilität gerade im Bereich des Impliziten auf die Erfordernisse sprach- und kulturübergreifender Dialogarbeit vor. Fachkomponente 5: Interkulturelle Literatur im Deutschunterricht 14 Gegenstand des folgenden Abschnitts ist ein Blick auf die vielfach diskutierte Thematik der Bedeutung von Literatur für den Deutschunterricht. Im Anschluss an aktuelle Fachdiskussionen in der Interkulturellen Germanistik, Literaturwissenschaft und Deutschdidaktik 14 Die folgenden Abschnitte beziehen sich auf den Beitrag von Schiewer, Gesine Lenore (2015): „Die Nomadisierung der Moderne (Ilija Trojanow) als sprachpoetisches Programm. Interkulturelle Literaturwissenschaft und Fremdsprachenunterricht am Beispiel von ‚Chamisso-Literatur’. In: Drumbl, Hans/ Hornung, Antonie (Hg.): IDT 2013, Bd. 1, Hauptvorträge. Bozen: bu,press, 149-171. 102 Jörg Roche, Gesine Lenore Schiewer wird dieses Thema hier mit einigen Überlegungen zu neuen Impulsen für die Einbindung literarischer Texte verbunden. Wenn in jüngerer Zeit die Einbeziehung literarischer Texte in den Deutschunterricht - wieder - verstärkte Aufmerksamkeit findet, wird oft ein Verständnis von Literatur und ihres kulturvermittelnden Potentials angestrebt, bei dem die Funktion von Literatur in sprach- und kulturbezogenen Lehr- und Lernprozessen betont wird. Hier sollen zwei Leitfragen behandelt werden, die auf das angesprochene Verständnis von Literatur und ihres kultur- und sprachvermittelnden Potentials abzielen: 1. Welche Art von Literatur kann für die Arbeit mit literarischen Texten im Deutsch- und Fremdsprachenunterricht als besonders geeignet betrachtet werden? 2. Wie kann mit dieser Literatur im Deutsch- und Fremdsprachenunterricht gearbeitet werden? Zur ersten Frage: Welche Literatur ist für den Deutsch- und Fremdsprachenunterricht besonders geeignet? Prämisse ist, dass die Arbeit mit literarischen Texten: ▶ die gezielte Schulung deutscher Sprachkompetenz im Erst-, Zweit- und Fremdsprachenunterricht auf verschiedenen Schulstufen und Kompetenzniveaus erlauben kann, ▶ das sprachliche Ausdrucksvermögen zu fördern vermag, ▶ das Verständnis semantischer Differenzierung unterstützt, ▶ der Kommunikations- und Gesprächsfähigkeit sowie der Dialogfähigkeit unter anderem im Sinn interkultureller Vermittlungsarbeit zugutekommen kann, ▶ u. U. auch einen angemessenen und kritischen Umgang mit gesellschaftsbezogenen Fragen zu fördern erlaubt. In der Auseinandersetzung mit dieser ersten zentralen Fragestellung soll zunächst auf die Besonderheit interkultureller Literatur eingegangen werden. Die interkulturelle Literatur ist im Deutschen eng verbunden mit der Anerkennung der Leistung solcher Autorinnen und Autoren, die vor dem Hintergrund ihres eigenen Sprach- und Kulturwechsels auf Deutsch schreiben - man spricht dabei auch von ‚Chamisso-Literatur’. Diese Bezeichnung ist in Anlehnung an den französischen Autor Adelbert von Chamisso geprägt worden, der 1796 nach Berlin übersiedelte und bedeutende Werke wie „Peter Schlemihls wundersame Geschichte“ (1814) in deutscher Sprache publiziert hat. Auf Initiative des Instituts für Deutsch als Fremdsprache der LMU München und mithilfe der Robert Bosch Stiftung wurde 1985 ein viel beachteter Literaturpreis ins Leben gerufen, der Adelbert-von-Chamisso-Preis. Ergänzt wurde der jährlich bis 2017 vergebene Preis um jeweils bis zu zwei Förderpreise, seit 1997 um eine Ehrengabe, sodass etwa achtzig Chamisso- Autorinnen und -Autoren ausgezeichnet wurden. Heute werden diese Preisträgerinnen und Preisträger ebenso wie zahlreiche andere interkulturelle Autorinnen und Autoren als besonders bedeutende Impulsgeber für die neueste deutsche Literatur betrachtet. Zum Beispiel die Werke von Rafik Schami, SAID, Feridun 103 Zu den Grundlagen der Didaktik des Dialogs Zaimoglu, Zehra Cirak und vielen weiteren werden immer weiter zunehmend in den Lektürelisten der Schulen, in Hochschulseminaren und in der internationalen Forschung behandelt. Zu den betreffenden Autorinnen und Autoren gehören insbesondere solche, die im deutschsprachigen Raum leben, aber auch solche, die in verschiedenen Ländern der Welt beheimatet sind. Insofern ist hier keineswegs von „Migrantenliteratur“ oder ähnlichem zu sprechen, zumal bei diesem Begriff in der Regel an die eingeschränkte Begriffsauffassung der Arbeitsmigration nach Deutschland gedacht wird. Gemeinsam ist interkulturellen Schriftstellerinnen und Schriftstellern eher, dass in ihren Texten Aspekte der interkulturellen Existenz und des Kulturkonflikts thematisiert beziehungsweise sprachkünstlerisch gestaltet werden. Inhaltlich-thematisch und in sprachlich-formalästhetischer Hinsicht wird in diesen Texten gerne die Auseinandersetzung mit sprach- und kulturübergreifenden Gegebenheiten ausgestaltet: Denken, Sprechen, Kommunizieren, Verständigung, aber auch Aspekte des Lebens, Arbeitens, Forschens, Lehrens und Lernens und so weiter werden unter der Prämisse sprach- und kulturübergreifender Bedingungen literarisch bearbeitet. Interkulturelle Literatur ist daher für schulische Curricula gerade auch wegen der gesellschaftlichen Relevanz der Themen (zum Beispiel individuelle Migrationserfahrungen und weltweite Migrationsdimensionen, Flucht, Mehrsprachigkeit, Prozesse urbaner Entwicklungen und der Integration) fächerübergreifend besonders wertvoll. Dies kann an einem Beispiel illustriert werden, und zwar anhand eines kurzen Ausschnitts aus einem der besonders bekannten interkulturellen Texte, dem Band „Kanak Sprak“ von Feridun Zaimoglu, zuerst 1995 erschienen. Der einheimische hat für’n kümmel ja zwei reservate frei: entweder bist du’n lieb-alilein, ’n recht und billiger bimbo eben, der doch wunderschön seine kopfsteuer an’n staat blecht und pranken in’n schoß bettet, ’n blechkamerad mit’m kopp in der schlinge, und denn warten auf ’n magischen akt, auf ’n madonnenwunder. Da kommen denn die förderfreunde und geben dir’n klaps auf die schulter, und die sagen dir: mann, das betrifft mich jetzt volle kante, dass du’n armes schwein bist. […] Dann gibt’s noch’n zweites reservat, in dem der fremdländer den part des verwegenen desperados übernimmt, ein richtiger mannskerl eben, der wie’n blitz aus der hüfte schießt, und sonst auch’n feiner stecher is, und in diesem reservat lümmeln sich die goldkettchen-bimbos und die schneuzerkümmel und machen jagd auf blonde weibchen, weil die krücke brauchen und jede menge stützgeräte, um auf den beinen zu bleiben. In beiden fällen, bruder, wirst du als luschengaul ins tote rennen geschickt, und du musst da auch nicht die zielgerade erreichen, wichtig ist nur, dass du deine meilen lahm abtrabst, und dann steckt man dir mürbe zuckerwürfel ins maul und krault dich herrisch an der mähne. (Zaimoglu, 1995, 31 f.) Dieser frühe Text Zaimoglus hat sehr polarisiert, aber das soll an dieser Stelle nicht vertieft werden. Vielmehr dient er hier als ein Beispiel für die inhaltliche und formal-sprachliche Reflexion von Leben und Sprechen unter sprach- und kulturübergreifenden Gegebenheiten. Insofern handelt es sich auch um einen literarischen Text, der durch eine bewusste Gestaltung des Deutschen gekennzeichnet ist. 104 Jörg Roche, Gesine Lenore Schiewer Die Lektüre von Texten wie „Kanak Sprak“ fördert die Voraussetzungen für eine interkulturelle Kommunikationsfähigkeit und Dialogbereitschaft, weil und indem sie dafür nötige Einblicke - in diesem Fall - in die Art des möglichen Sprechens von türkischen Menschen in Deutschland und Formen der Selbstwahrnehmung ihrer möglichen gesellschaftlichen Rollen vermitteln können. In diesem Zusammenhang stellt sich eine weitere Frage, die in der Formulierung eines weiteren interkulturellen Autors, Ilija Trojanow, zum Ausdruck kommt: Integration sollte nicht Anpassung, sondern Anreicherung bedeuten. Wenn also unser Wortschatz und unsere Idiomatik erweitert werden durch die Anteilnahme von Redenden und Schreibenden, die ursprünglich aus anderen Regionen stammen, handelt es sich in keiner Weise um ‚Überfremdungstendenzen‘, sondern um einen natürlichen und notwendigen Prozess der Vermischung, um ein Grundgesetz kultureller Entwicklung, in dessen großen Fluß und Zusammenfluss jeder von uns nur einen kleinen Wirbel darstellt. (Trojanow, 2008, 82) Trojanow sieht in einer so verstandenen „Anreicherung“ eine positive Chance für die Literatur und die Literatursprache des Deutschen. „Anreicherung“ bedeutet für Trojanow vor allem die Arbeit im Bereich der Wortbildung, die Schaffung neuer Komposita, die im besten Fall nicht nur neue Metaphern, sondern darüber und zugleich wohlklingend sind: Ich richte mein Ohrenmerk auf mögliche Komposita, ergötze mich an Flammenschrift oder Schwebestil oder Kabelsalat oder Engelszungen. Die beiden letzteren kennen Sie gewiß, denn erfolgreiche Komposita setzen sich durch. Ein jedes hat die faire Chance, in den Kanon des Wörterbuches gewählt zu werden. Gewiß, manche Komposita sind schrullig und uns daher lieb wie die Eigenheiten einer Geliebten, […]. Wir kennen ein ‚derweil‘ und ein ‚dieweil‘, stolpern allerdings über ‚dasweil‘. (Trojanow 2008, 81 f.) Sprachliche Anreicherung, die Trojanow durchaus positiv wertet, ist jedoch keineswegs zu verwechseln mit konfliktlosen Prozessen kulturellen Austauschs beziehungsweise interkultureller Harmonie. Der Literaturwissenschaftler Gregor Streim betont, dass Trojanows Texte stets „die Szene des konfliktreichen Aufeinandertreffens verschiedener Sprachen, Verhaltensweisen und Techniken, die Vermischungen und Verwerfungen im Moment des Zusammenpralls der Kulturen“ fokussieren. Die „naive Vorstellung, solch ein „kultureller Wandel“ könne sich konfliktfrei vollziehen“ werde kritisiert: Zeiten „regen kulturellen Austauschs“ seien „nicht unbedingt von Heiterkeit und gegenseitigem Verständnis“ geprägt und oft die Folge gewaltsamer Umbrüche, von „Krieg, Invasion, Versklavung“ gewesen (Trojanow/ Hoskoté 2007, 22 f.; vgl. auch Streim 2010, 75). Trojanow schlägt so die Brücke von der kontaktlinguistischen Perspektive sprachlicher „Anreicherung“, die in der Literatur „aus Liebe zu einer Sprache“ erfolgen kann, zur gesellschaftlichen Ebene mit den unterschiedlichen historischen Voraussetzungen kulturellen Austauschs (die auch in den individuellen Schriftstellerbiographien keineswegs immer einfach und harmonisch verlaufen) und den auch keineswegs immer konfliktfreien Folgen. Der Blick auf die Sprache als solche verbindet sich hier zu Recht mit den gesellschaftlich-pragmatischen Aspekten der Sprachverwendungsbedingungen. Auf diesen Punkt ist im Zusammenhang der zweiten zentralen Frage dieses Beitrags zurückzukommen. 105 Zu den Grundlagen der Didaktik des Dialogs Als kurz gefasstes Zwischenfazit zur hier erörterten ersten, oben genannten Leitfrage kann festgehalten werden, dass die kreativen Schreibweisen vieler interkultureller Autorinnen und Autoren, die vielfach eigene zwei- und mehrsprachige Kompetenzen sprachkünstlerisch fruchtbar machen können, die Basis für die Ausbildung eines stilistisch sensibilisierten Ausdrucks bilden und das Bewusstsein für die Vielfalt der Textsorten in Literatur und Alltag schärfen. Neben literarischen Gattungen wie Erzählungen, Romanen, Gedichten, Kinderbüchern geht es daher auch um die Textsorten des Essays, des journalistischen Schreibens und verschiedener Gebrauchstexte des Alltags. Zu den Merkmalen interkultureller Literatur gehört auch, dass die Autorinnen und Autoren insofern für ihre Werke einstehen, als sie eine Vorbildrolle ausüben, Stellung nehmen und mit ihrer Persönlichkeit ein offenes, lernbereites Bewusstsein für die maßgebliche gesellschaftliche Rolle von Sprachen verkörpern. Diese Rolle wird unter anderem durch das IFC an der LMU München und durch den Lehrstuhl für Interkulturelle Germanistik an der Universität Bayreuth gezielt durch eine Förderung von Lesungen und Workshops an Schulen unterstützt. Die meisten der Autorinnen und Autoren haben es sich deswegen zur Aufgabe gemacht, ihre schriftstellerischen Talente in Lesungen, Workshops, Seminaren, Meisterklassen und Lehrerfortbildungen zu vermitteln, darunter insbesondere auch Schülerinnen, Schüler, Studierende, Lehrerinnen und Lehrer. Gepaart mit ihrer schriftstellerischen Prominenz und literaturvermittelnden Erfahrung leisten die Chamisso-Autoren damit einen wichtigen Beitrag zur Förderung von Text- und Schreibkompetenz junger Menschen sowie zu ihrer Hinführung zur Literatur. Damit steht jetzt die zweite Frage im Raum: Wie kann mit Literatur im Deutsch- und Fremdsprachenunterricht gearbeitet werden? Zunächst ist zu betonen, dass bereits didaktische Konzepte einzelner interkultureller Autoren in Publikationen für Lehrkräfte verfügbar sind. Besonders hervorzuheben ist der Band von José F.A. Oliver, der 2013 im Verlag Klett-Kallmeyer unter dem Titel Lyrisches Schreiben im Unterricht. Vom Wort in die Verdichtung erschienen ist. Wichtig ist, sich hier zunächst mit den Grundauffassungen Olivers vertraut zu machen, der keineswegs eine Standarddidaktik für kreatives Schreiben vorlegt. Vielmehr überträgt er seine Einsichten in sprachlich-linguistische Prinzipien in seine gezielte Förderung des Umgangs von Schülerinnen und Schülern mit Sprache. Literatur ist für Oliver erst einmal so etwas wie eine allgemein menschliche Anlage oder eine anthropologische Gegebenheit: „[…] ich will behaupten, dass jeder Mensch Poetisches und dessen Gesten in sich birgt. Die beste Voraussetzung, sich einem unbeschriebenen Blatt Papier anheim zu geben. Sich zuzutrauen“ (Oliver 2013, 11 f.). Im Zentrum steht für ihn die Arbeit am Wort und am individuellen Wortschatz: Das Vermögen, zu sagen, was der Einzelne erlebt, fühlt und denkt, hängt unmittelbar mit dem Wortmaterial zusammen, das ihm zur Verfügung steht. Oft wird - wenn es um die (deutsche) Sprache geht - bei Schülern das ‚Defizitäre‘ im Umgang mit ihr hervorgehoben […]. 106 Jörg Roche, Gesine Lenore Schiewer Ich stelle mich in meinen Schreib- und Textwerkstätten […] lieber auf eine bejahende Art und Weise den Gegebenheiten: Jede scheinbar noch „mangelhaft“ wahrgenommene und als solche sanktionierte Sprache birgt Schönheit und die Qualität des Abenteuers. Wie schön, dass der Ausdruck „Wortschatz“ auch andere Blickweisen zulässt als lediglich die der rohen Quantität der Fehler. Ein einzelner Wortfund kann ein Schatz sein. (Oliver 2013, 12) Angestrebt wird ein verfeinertes Bewusstsein für den Umgang mit Sprache und auf diese Weise eine Fortentwicklung des Bewusstseins für sich selbst beziehungsweise die eigene Person: Ausgangspunkt meiner Anregungen […] ist immer das Wort und die wahr: nehmungen, ihrer [der Schülerinnen und Schüler] wahr: nehmungen, die das Wort begleiten. Das eigene Wort und das andere. Das fremde, das fremdgebliebene, das fremdgemachte, das fremdgewordene. […] Wird das Wort hernach […] bedachter vernommen, erfahren und gewählt, schenkt Sprache dem Menschen eine simultane Beziehung zu den Wörtern und eine bewusstere Identität, so meine Hoffnung. (Oliver 2013, 12 f.) Die sprachtheoretische Basis der Arbeit Olivers konzentriert sich auf die Sensibilisierung für Konnotationen, die Bedeutungen neben der eigentlichen Wörterbuchbedeutung, beziehungsweise „Bedeutungshöfe“. Er geht von dem Beispiel des Wortes „Tafelsüße“, einer Form des Zuckerersatzes, aus und beschreibt seine persönliche Assoziation: die Schultafel, die ihm näherliegt als der ihm ebenfalls in den Sinn kommende Tafelspitz. Da in seinem Buch das lyrische Schreiben im Schulunterricht beschrieben wird, stellt er in den Raum, ob „Tafelsüße“ in diesem Zusammenhang eine mögliche Metapher sei. Dies lässt er zunächst offen, sieht darin aber durchaus eine Option (vgl. Oliver 2013, 11). Hieran schließt er folgende Reflexion an: Zumindest steht die eigenwillige Konnotation [der Schultafel] gleichnishaft vor einer offenen Tür. Ein Zugang in die erste flüchtige Draufschau dessen, wie inspirierend Bedeutungshöfe sind, wenn sich Wörter aufs Unerwartete mit den ungestümen oder selbstverständlichen Bedürfnissen und Notwendigkeiten der Alltagsrealien verbinden. In meinem Fall „Frühstück“ und „Tafelsüße“ oder „Zuckerersatz“ und „Schule“. Seien die Wörter nun aus dem Alltäglichen entnommen, quasi eins zu eins abgebildet, oder auf eine scheinbar rätselhafte Weise sprachlich aus ihnen ins Entlegene verschoben. Das Ziel seiner Arbeit im Unterricht besteht hierin: Seit Jahren versuche ich bei Schülern aller Schularten, den feinsinnigen und experimentierfreudigen Umgang mit Sprache zu fördern und nehme deshalb die jungen Menschen beim Wort. […] Deshalb wäre mein Vorschlag, die Sprache jedes Einzelnen im Deutschunterricht mit einfachen Übungen und Methoden nicht ‚abzurufen‘, sondern zu erkunden: Vom w: ort in den Satz. Vom Satz in die Verdichtung. Aus der Verdichtung in den Vers. Vom Vers vielleicht in ein Gedicht. (Oliver 2013, 12 f.) Im Folgenden sind deswegen die fachübergreifenden und gesellschaftlichen Dimensionen von José F.A. Olivers eigener Arbeit im Unterricht und seiner Anregungen für Lehrkräfte für das lyrische Schreiben zu skizzieren. Worin bestehen mit anderen Worten die fachübergrei- 107 Zu den Grundlagen der Didaktik des Dialogs fenden und gesellschaftlichen Dimensionen einer solchen Einübung in das lyrische Schreiben mit der Ausbildung eines vertieften Bewusstseins für Konnotationen und Bedeutungshöfe? Die Erklärung dieses Punktes verlangt, an dieser Stelle ein wenig auszugreifen und dabei auch auf theoretische Fragen zu verweisen. Es geht - in aller Kürze zusammengefasst - um das oben erwähnte Vermögen, sich in unterschiedlichen Situationen und verschiedenen thematischen Zusammenhängen differenziert auszudrücken, Stellung zu nehmen und zum Beispiel in Argumentationen seinen Standpunkt deutlich zu machen, ohne sich durch rhetorische Winkelzüge des Gegenübers irritieren zu lassen, unter Umständen sich auch öffentlich zu äußern und gegebenenfalls an gesellschaftlich relevanten Diskursen zu beteiligen. All dies erfordert, wie oben erläutert, ein entwickeltes Bewusstsein für semantische „Feinarbeit“, d. h. für Konnotationen und Bedeutungshöfe. Es sei daran erinnert, dass man unter anderem in der Diskursanalyse und Diskurslinguistik in diesem Zusammenhang auch von „Deutungshoheit“ spricht (vgl. hierzu zum Beispiel Kuße 2012; Spitzmüller/ Warnke 2011), worunter man das erfolgreiche Besetzen von Semantiken versteht. Auch der unter anderem sowohl soziologisch als auch kommunikationswissenschaftlich bestimmte Begriff der „Macht“ ist in diesem Zusammenhang sehr präsent - so spricht man auch von „Kommunikationsmacht“ (vgl. Reichertz 2009). Besonders anschauliche Beispiele findet man dafür im Zusammenhang von Translationen, seien es Übersetzungen oder gedolmetschte Texte: die Entscheidung, die baskische ETA entweder als „Befreiungsorganisation“ oder als „Unabhängigkeitsorganisation“ oder als „Terrororganisation“ zu bezeichnen, geht mit dem einher, was man als Ausübung von „Deutungshoheit“ bezeichnet (vgl. Valdeón 2007). Die Eignung von Literatur und insbesondere von interkultureller Literatur im Deutschunterricht steht damit außer Frage. Die entsprechende Arbeit im Deutschunterricht kann grundlegend sein für die Vermittlung des Verständnisses von Dialog und interkultureller Kommunikation, die sich auch in schwierigen Situationen mit Konfliktpotential bewährt. Die didaktisch orientierte Arbeit schließt eng an die gezielte Förderung des Bewusstseins für semantische Differenzierung an, dass insbesondere von José F.A. Oliver akzentuiert wird. Formen sprachlicher Verfremdung sind dabei besonders geeignet, den Umgang mit semantischer Differenzierung zu schulen, indem ein Denken wie üblich hinterfragt und eindimensionale Sprachformen aufgebrochen werden. Auf diese Weise kann ein Beitrag zur Befähigung zum multiperspektivischen Denken geleistet werden, das ein Durchspielen von Optionen erlaubt und somit reflektierte Haltungen fördert, die differenziert geäußert und vertreten werden können. Solche Formen der Spracharbeit können auch in Deutsch als Fremd- und Zweitsprache fruchtbar gemacht werden. Sowohl die persönliche Präsenz der Autorinnen und Autoren im Deutschunterricht als auch die entsprechenden Arbeitsmaterialien erlauben die sinnvolle und gezielte Einbindung dieser Literatur in den Unterricht. 109 DialogischeLiteratur-undSprachdidaktikimFortbildungsportfolioderAkademiefürLehrerfortbildungundPersonalführungDillingen Dialogische Literatur- und Sprachdidaktik im Fortbildungsportfolio der Akademie für Lehrerfortbildung und Personalführung Dillingen Tatiana Neugebauer, Tobias Akira Schickhaus Zur Ausgangslage Ungeachtet des jeweiligen Bildungszweigs sind alle Schulen dazu verpflichtet, den in den Verfassungen der Bundesländer verankerten Bildungs- und Erziehungsauftrag zu verwirklichen. So kommt beispielsweise gemäß Art. 2 des Bayerischen Gesetzes über das Erziehungs- und Unterrichtswesen (BayEUG) Schulen die Aufgabe zu, „im Geist der Völkerverständigung zu erziehen und die Integrationsbemühungen von Migrantinnen und Migranten sowie die interkulturelle Kompetenz aller Schülerinnen und Schüler zu unterstützen“. 15 Zudem gehören bildungssprachliche Kompetenzen im Umgang mit der deutschen Sprache für alle Schülerinnen und Schüler - mit oder ohne Migrationshintergrund - zur wesentlichen Voraussetzung des Schulerfolgs. Sprachliche Teilfertigkeiten wie Lesen, Schreiben, Zuhören und Sprechen „dienen der Persönlichkeitsentwicklung und bilden die Grundlage für erfolgreiches Lernen in Schule, in beruflicher Aus- und Weiterbildung oder im Studium.“ 16 Darüber hinaus ermöglichen sie die „Teilnahme an demokratischen Aushandlungsprozessen und sind der Schlüssel zur gesellschaftlichen Teilhabe.“ 17 Dies gilt nicht nur für junge Geflüchtete, sondern für alle Schülerinnen und Schüler, die eine zusätzliche individualisierte Sprachförderung benötigen. Berufliche Schulen stellen oftmals die letzte schulische Bildungsinstanz vor dem Berufseinstieg dar. Dementsprechend kommt ihnen die besondere Verantwortung zu, allen Schülerinnen und Schülern die gleichberechtigte und selbstbestimmte Teilhabe an einer globalisierten Lebens- und Arbeitswelt zu ermöglichen. Im Alltagsverständnis mögen Qualitäten solcher Werte als selbstverständlich und einleuchtend erscheinen, aber auch in hohem Maße als generalisiert. An Vielschichtigkeit und Komplexität gewinnen sie spätestens mit ihrer wissenschaftlich begründeten Vermittlung, zum Beispiel im Rahmen von Fortbildungen und literaturdidaktischen Lehrgängen. 15 Vgl.- Bayerisches Gesetz über das Erziehungs- und Unterrichtswesen (BayEUG); bereitgestellt durch die Bayerische Staatskanzlei, online unter: www.gesetze-bayern.de/ Content/ Document/ BayEUG/ true [Stand: 16. 1. 2020]. 16 Vgl.-Empfehlung der KMK für sprachsensiblen Unterricht an beruflichen Schulen, Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 05. 12. 2019, online unter: www.kmk.org/ fileadmin/ Dateien/ veroeffentlichungen _beschluesse/ 2019/ 2019_12_05-Sprachsensibler-Unterricht-berufl-Schulen.pdf [Stand 26. 02. 2020]. 17 Ebd. 110 Tatiana Neugebauer, Tobias Akira Schickhaus Dieser Beitrag folgt dem Verständnis von Literaturen als „Medien kultureller Selbstauslegung“ 18 und stellt die Lehrprinzipien einer ‚Dialogischen Literatur- und Sprachdidaktik‘ vor. 19 Der Wiedergabe dieser Prinzipien folgt eine Präsentation und didaktische Kommentierung des Fortbildungsprogramms „Berufsvorbereitung und Berufsintegration“, das aus der Kooperationsarbeit zwischen der Akademie für Lehrerfortbildung und Personalführung in Dillingen (Organisationseinheit 1. 4. 3, ALP), dem Institut für Deutsch als Fremdsprache (LMU München) und dem Lehrstuhl für Interkulturelle Germanistik (U Bayreuth) entstanden ist. Die Vermittlung von Spracharbeit unter Anleitung von literarischen Autorinnen und Autoren im Deutschunterricht bildet hierbei den Kern des Projekts, das mit drei exemplarischen Stichproben der einzelnen Lehrgangseinheiten vorgestellt wird. Dialogische Literatur- und Sprachdidaktik Die von Lehrplänen vielmals eingeforderte Vermittlung von Werten wie beispielsweise der „Freiheit“, „Toleranz“, „friedlichen Gesinnung“ oder eben auch der „Interkulturellen Kompetenz“ und „Sprachsensibilität“ muss spätestens in der Unterrichtspraxis dialogisch umgesetzt werden. Zu differenzieren ist dann grundsätzlich zwischen dem, was ein Wert oder eine Einstellung ist und der Art und Weise, wie seine kommunikative Umkodierung im didaktischen Zusammenhang zu gestalten ist. Dies mag freilich für alle lehrphilosophischen Zusammenhänge gelten. Für die Literatur- und Sprachvermittlung im Besonderen geht es konkret um Handlungen und Interaktionen, die zur kulturellen, sprachlichen und literarischen Bildung anleiten. Die literaturwissenschaftlich interessante Relation von Text und Lesen wird dabei überlagert durch jene von Lehrkraft und Schülerinnen und Schülern. Unter dieser Spezifik sind Methoden und die ihnen zugrundeliegenden Theoriemodelle für Literatur- und Sprachfortbildungen fachlich und didaktisch angemessen anzusetzen. Es handelt sich daher nicht allein um einen Lerninhalt, sondern auch um eine -form, die sich auf die verschiedenen Dialogdimensionen in Schulen und anderen Bildungseinrichtungen beziehen muss. Das betrifft insbesondere ▶ den Austausch unter Schülerinnen und Schülern im Unterricht und außerhalb des Klassenraums, ▶ das Unterrichtsgespräch zwischen Lehrkraft und Schülerinnen und Schülern, ▶ die Kommunikation außerhalb des Unterrichts zwischen Lehrkraft und Schülerinnen und Schülern, ▶ die Kommunikation zwischen Lehrkraft und Eltern beziehungsweise Bezugspersonen, 18 Bachmann-Medick, Doris (1996): Einleitung. In: Dies. (Hg.): Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft. Frankfurt/ M: Fischer, 7-64, hier S. 9. 19 Roche, Jörg/ Schiewer, Gesine Lenore mit Beiträgen von Hebatallah Fathy: Grundlagen einer dialogischen Literaturdidaktik. In: Roche, Jörg/ Venohr, Elisabeth (Hg.): Kultur- und Literaturwissenschaften. Tübingen: Narr, 170-185. Roche, Jörg/ Schiewer, Gesine Lenore (Hg.) (2017): Identitäten - Dialoge im Deutschunterricht. Schreiben - Lesen - Lernen - Lehren. Tübingen: Narr Francke Attempto, 1-21. 111 Dialogische Literatur- und Sprachdidaktik in der Lehrerfortbildung ▶ die Kommunikation mit den Institutionen (Schulen, ISB, Bildungsbehörden, Verlagen) und ▶ die Verständigung in der Gesellschaft. 20 Das Fortbildungsportfolio ‚Dialogische Literatur- und Sprachdidaktik‘ wendet sich zum Beispiel an alle Lehrkräfte an Beruflichen Schulen mit und ohne Facultas in Deutsch oder DaZ beziehungsweise DiDaZ. Das Angebot wird seit dem Schuljahr 2018/ 19 in den Lehrgängen der ALP Dillingen durchgeführt und gibt Antworten auf die bildungspolitischen Zielsetzungen. Bildungspolitischer Hintergrund: Sprachsensibles Arbeiten mit Literatur Gemäß den KMK-Empfehlungen vom 5. Dezember 2019 sind sprachliche und literarische Bildung sowie Sprachsensibilität als zentrale Basiskompetenzen im didaktischen Portfolio jeder Lehrkraft zu verankern. Unabhängig von Fach und Vorbildung werden bayerische Berufs- und Berufsfachschulen aufgefordert, nach dem Fünfjahresplan „ab Schuljahr 2019/ 2020: [ein] schulinternes, durchgängiges Konzept zur berufssprachlichen Förderung und Bildung“ 21 zu entwickeln, das im Schuljahr 2023/ 2024 in das Schulprofil integriert werden soll. Wenn man die Beschreibung des Faches Deutsch als Zweitsprache im Lehrplan Plus und seinen Beitrag zur Bildung ernst nimmt, sind Lehrkräfte aller weiterführenden Schulen in ihrem jeweiligen Fach aufgefordert, sich dieser Aufgabe zu stellen: „Das Fach fördert den Lernfortschritt in der Kommunikation zur Bewältigung der Alltagssprache und trägt zur Herausbildung der grundlegenden fach- und bildungssprachlichen Kenntnisse der jeweiligen Unterrichtsfächer bei.“ 22 Noch expliziter wird auf diese Aufgabe im Bereich der fächerübergreifenden Kommunikation hingewiesen: Da der Spracherwerb des Deutschen eine fächerübergreifende Aufgabe ist, finden sich im Serviceteil der jeweiligen Fächer Hinweise für den Unterricht in Deutsch als Zweitsprache. Lehrkräfte sind im Sinne eines schülergerechten Unterrichts angehalten, diese zu nutzen, um die Fachinhalte sprachstandsgerecht und ggf. entlastend zu vermitteln. 23 Entlastung ist dabei in vielfacher Hinsicht notwendig, denn die Lehrkräfte sehen sich nicht selten mit interkulturellen mehrsprachigen Konflikten, traumatischen Erfahrungen, diversen Lernstörungen sowie mit einem sprachlichen und zum Teil mathematischen Analphabetismus konfrontiert. Das von der Organisationseinheit 1. 4. 3 der ALP entwickelte Fortbildungskonzept für bayerische Lehrkräfte bietet daher allen Lehrkräften möglichst individuelle Unterstützungsangebote: 20 Roche/ Schiewer (Anm. 5), S. 19. 21 Vgl.-KMS VI.-1 - BS94.-D3-1/ 4/ 1 vom 22. 07. 2019, bereitgestellt durch die OE-1. 4. 3 der ALP Dillingen. 22 Vgl.-Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung München, online unter: www.lehrplanplus. bayern.de/ fachprofil/ mittelschule/ daz [Stand: 24. 2. 2020]. 23 Ebd. 112 Tatiana Neugebauer, Tobias Akira Schickhaus Abb. 1: Fortbildungskonzept Berufsvorbereitung und Berufsintegration, erstellt von der OE 1.4.3 der ALP Unterstützt werden die dafür eingeplanten Lehrgänge unter anderem durch diejenigen Autorinnen und Autoren, deren Beiträge in dem vorliegenden Band versammelt sind. Ihre schriftstellerische Expertise und didaktische Erfahrung gaben den Impuls für ein mehrjähriges Fortbildungsportfolio. Insgesamt sind im Rahmen des gesamten Fortbildungskonzepts „Berufsvorbereitung und Berufsintegration“ acht Module entstanden, in denen die Aspekte der dialogischen Literatur- und Sprachdidaktik allen Lehrkräften zugutekommen. Diese sind auf dem oberen Schaubild mit roten Sternchen gekennzeichnet. Eine Übersicht der bereits durchgeführten und eingeplanten Lehrgänge vermittelt einen Eindruck über die fachliche Breite des Angebots: Lehrgangsthema Lehrgangsdaten Trainer* innen Strategien der Wortschatzerweiterung beim Schreiben 16. 10. 2019 - 18. 10.-2019/ 20. 4. 2020 - 22. 4.-2020* 24 Akos Doma Wortteppichgeschichten zur Förderung des kreativen Schreibpotenzials 3. 6. 2019 - 07. 6. 2019 José F.A. Oliver Produktorientierte Schreibförderung mit literarischen Texten 29. 1. 2020 - 31. 1. 2020 José F.A.Oliver 24 Die mit Asterisk gekennzeichneten Lehrgänge wurden coronabedingt auf einen späteren Zeitpunkt verschoben. 113 Dialogische Literatur- und Sprachdidaktik in der Lehrerfortbildung Lehrgangsthema Lehrgangsdaten Trainer* innen Binnendifferenzierter und interkultureller Zugang zu literarischen Texten 22. 1. 2020 - 24-1.-2020 23. 3. 2020 - 25. 3.-2020* Sudabeh Mohafez Textoptimierung in verständlicher Sprache 20. 4. 2020 - 22. 4.-2020* 11. 5. 2020 - 13. 5. 2020 Lena Gorelik Sprachsensible Unterrichtsaktion / Mikro- Scaffolding 4. 3. 2020 - 6. 3. 2020 Tobias Schickhaus Interkulturalität: Lebenswerte Lebenswelten 17. 6. 2020 - 19. 6. 2020 Tobias Schickhaus Didaktik des Deutschen als Zweitsprache: Nutzung digitaler Medien für die integrierte Sprachförderung 5. 6.-2019/ 11. 5. 2020 - 13. 5.-2020/ 24. 6. 2020 Isabel Hofmann Tab. 1: ALP-Fortbildungen Literatur - Sprache - Kultur im Dialog der Lebenswelten (2019/ 20) Diese Lehrgänge sind überwiegend zweibis dreitägig angelegt und nehmen im jährlichen Gesamtprogramm zur Berufsvorbereitung und Berufsintegration 35-Prozent ein. Beispiele für derartige Lehrgänge sind 96/ 275 ‚Berufssprache Deutsch für Ausbildungsberufe des Bereichs Ernährung: Integrierte Sprachförderung im Fachunterricht‘, 96/ 432 ‚Didaktik des Deutschen als Zweitsprache: Aufbaukurs - Nutzung digitaler Medien für die integrierte Sprachförderung für Schülerinnen und Schüler nichtdeutscher Muttersprache‘ oder 97/ 597 ‚Effektive und binnendifferenzierte Schreibförderung im Deutsch- und DaZ-Unterricht an weiterführenden Schulen‘, wobei größere Lehreinheiten von literarischen Autorinnen und Autoren übernommen werden. Ihre Beiträge erfuhren bei den einzelnen gemeinsamen Lehrgängen überwiegend positive Resonanz. 25 25 Alle Lehrgänge werden an der ALP Dillingen von den Teilnehmern anonym und digital evaluiert. Einige dieser Rückmeldungen gewähren wichtige Einblicke in die Wertschätzung dieser literarischen Ausrichtung: (i) „Der Lehrgang war außerordentlich professionell aufgebaut und durchgeführt […] sehr informationsdicht - hohes Niveau - Konzept durchdacht, vielseitig, anspruchsvoll, hilfreich“ (ii) „Insgesamt war die Fortbildung sehr komprimiert durchgetaktet. Wenn man die vielen und vielfältigen Punkte im Sinne einer Vollständigkeit abhakt, wurde viel erreicht, so dass ich die Weiterbildung insgesamt als gewinnbringend erlebt habe. […] Weiterentwicklungen ergeben sich aus der Komplexität.“ (iii) „Lena Gorelik: Unverstellter Blick „von außen“ mit vielen guten Ideen, praktisch umsetzbar.“ (iv) „Alle Referenten und die Lehrgangsleitung haben ein breitgefächertes Wissen auf dem Gebiet aufgewiesen, was dazu beigetragen hat, dass viel Austausch zwischen den Teilnehmenden und ihnen erfolgen konnte. Alle Fragen und Anregungen wurden von allen stets aufgegriffen und sehr zufriedenstellend erklärt oder ausdiskutiert. Literarisches Schreiben mit Akos Doma und Schreibtaktiken geschahen auf einem sehr hohen fachlichen Niveau.“ (v) „Stolpersteine in der Fachsprache [..] sind einem ‚Native speaker‘ oft nicht bewusst und sind in dem Workshop schön praxisnah erläutert worden.“ (vi) „Poetisches Sprechen (José Oliver) (inkl. Begleitmaterial) war sehr kreativitätsfordernd, ansprechend und-… und-…“ (vii) „José F. A. Oliver: hohes literarisches Fachwissen, anregender und erfrischender Umgang mit (moderner) Lyrik, bezogen auf literarisches Schreiben und seine Methoden, Zugänge zu diesen Texten zu schaffen“ (viii) „Es war insgesamt eine sehr gelungene Mischung! - José Oliver als kreativer Teil ganz ohne Medien, sehr individuell - Thiemo Rebhan, sehr praxisorientiert und die Wimmelbilder werden sicherlich gut 114 Tatiana Neugebauer, Tobias Akira Schickhaus Exemplarische Einblicke Beispiel I: Dialoge gestalten Lehrgangsthema Lehrgangsdaten Wortteppichgeschichten zur Förderung des kreativen Schreibpotenzials 3. 6. 2019 - 7. 6. 2019 Eine besondere Art der poetischen Zusammenfassung der dialogischen Literatur- und Sprachdidaktik dokumentiert das mit José F. A. Oliver und den Teilnehmerinnen aller weiterführenden Schularten entstandene Gedicht Schreiben schul: arten: über: greifend. 26 Dieses Gedicht hat sich aus direkten Zitaten während des dreitägigen Lehrgangs ‚Effektive und binnendifferenzierte Schreibförderung im Deutsch- und DaZ-Unterricht an weiterführenden Schulen‘ entwickelt und verdeutlicht das Dialogpotenzial literarischer, formbetonter sowie produktionsorientierter Sprachvermittlung. Mehrsprachige Schülerinnen und Schüler erfahren gerade durch die Einbeziehung ihrer Erstsprachen eine Wertschätzung ihrer vielfältigen sprachlichen Ressourcen vor allem mit Blick auf den Zweitsprachenerwerb Deutsch. Explizites Ziel sei es nach Oliver deshalb, den Lernenden eine Stimme zu verleihen. Vorgaben zu Form und Textsorte stehen dabei nicht in Widerspruch zur Kreativität, sie ermöglichen diese erst durch die Mittel wie der freien Assoziation und der Ideenverknüpfung. Jedoch ist literarisches Schreiben umgekehrt keineswegs mit kreativem Schreiben gleichzusetzen, denn ersteres unterliegt klaren Kriterien und Regeln. Lyrik sei beispielsweise die „knappste, am stärksten verdichtete Mitteilungsweise menschlicher Erfahrung“. Sie sei zweitens abstrahiertes Sprechen, das vom Bedürfnis nach Mitteilung zunächst nicht wesentlich bestimmt ist. Sie stellt vielmehr den Inhalt Satz für Satz sprechend her und steht somit für die prinzipielle „Unauflöslichkeit von Form und Inhalt“. Während des Seminars wurden die Lehrkräfte an verschiedene Aufgabenformate herangeführt; unter anderem an generative Schreibaufgaben, die Lernende einladen, nach klassischen Mustern zu schreiben und sich somit deren Regeln bewusst zu machen. In assoziativen Schreibübungen können Halbsätze wie „Lernen heißt für mich- …“ in Analogtexten fortgeführt werden. Weitere Formen des literarischen Schreibens finden sich im Verfassen von ankommen - Multilingua Akademie als modernes Element und theoretischer Austausch - INSL Konzept! Top! - Audacity zum Kennenlernen, interessant! “ Die Präsentation ausgewählter und durch die OE- 1. 4. 3 (ALP Dillingen) bereitgestellter Rückmeldungen aus den Lehrgängen dienen hier weniger den eigenen Werbezwecken. Sie gewährt vielmehr einen Einblick in das Dialogpotenzial der Lehrgänge. Eine Lernkultur des Dialogs, die den Dialog von Lehrkulturen ermöglicht, setzt auf den produktiven Austausch diverser Lebenswelten (interkulturelle Dimension) und erprobt dialogische Formen der Literatur- und Sprachvermittlung (interdisziplinäre Dimension). 26 Der Abdruck des Gedichts erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors. Besonders hervorzuheben ist hier vor allem der Band des Adelbert-von-Chamisso-Preisträgers, der 2013 im Verlag Klett/ Kallmeyer unter dem Titel Lyrisches Schreiben im Unterricht. Vom Wort in die Verdichtung erschienen ist und dessen Autor auch am vorliegenden Band federführend mitgewirkt hat. 115 Dialogische Literatur- und Sprachdidaktik in der Lehrerfortbildung Paralleltexten, bei denen Lernende eine Szene oder den ganzen Text in eine andere Zeit oder Region übertragen; in Ketten- oder Echotexten, mit deren Hilfe eine Person einen Gedanken aufschreibt, der dann von einer weiteren Person entweder ergänzt oder kommentiert wird: Schreiben Schul: arten: über: greifend „Unendliche Annäherung“ „Jeder Mensch hat einen eigenen Schreibcharakter.“ „Aber“ „Den Artikeln misstrauen“ „Wir SIND in den Texten! “ „100-Wörter-Romane“ „Sprachlosigkeit aufgrund der Wirkung des Textes“ „Es läuft! “ „Muster verlangen“ „Was passiert mit meinem Text? “ „Meine Geschichten werden rot.“ […] „An Mittelschulen praktiziert man gar kein freies Schreiben.“ „Muss es unbedingt einen Spannungsbogen geben? “ „Empathie der Ratlosigkeit“ „Den Text bearbeiten? Nö! “ „Wörtermassage“ „Kann es gelingen? “ „W: orte“ „Eigentlich hätte ich glücklich sein können, aber mir fällt nichts ein.“ „Bilder mit Wörtern malen“ „Wunderbar. Wunder ohne Strümpfe und Schuhe.“ „Fingerabdruck hinterlassen“ „Poetische Etymologie“ „Meine Schüler haben die Aufmerksamkeitsspanne eines Eichhörnchens! “ „Rettung! “ Hinzu kommen mündliche Aufgaben für die literarische Gesprächsführung. Hierbei handelt es sich um eine Gruppendiskussion, die unmittelbar nach der Lektüre einsetzt und in Form von Blitzlichtrunden die vorläufigen Kommentare, Wertungen und Eindrücke aufnimmt. Die Wertschätzung der Mehrsprachigkeit und Multiperspektivität fördert die Akzeptanz der Lebenssituationen aus dem Einflussbereich anderer Kulturen. 116 Tatiana Neugebauer, Tobias Akira Schickhaus Beispiel II: Dialoge ausdrücken Lehrgangsthema Lehrgangsdaten Sprachsensible Unterrichtsaktion/ Mikro-Scaffolding 4. 3. 2020 - 6. 3. 2020 Neben diesem produktionsorientierten Zugang wurden in den Lehrgängen auch die performativen theatralen Mittel literarischer Sprache diskutiert. Inspirierend sind in diesem Zusammenhang Zsuzsanna Gahses 27 Texte zur Übersetzungsproblematik, Identitätensuche und kulturellen Grenzüberschreitung. Instabile Texte lautet die 13 Prosakapitel umfassende Sammlung. Darin merkt die Heldin im Text Sammlungen beispielsweise alarmiert: „Ich muß mich unbedingt sammeln.“ Der eine Wortsinn (das Sammeln) ist durch den anderen (der Konzentration) ersetzt, das Wortmaterial hat eine neue Bedeutung gewonnen. Und so fließt und mäandert ein Fluss sprachlicher Umkodierungen und leuchtender Erinnerungssplitter durch das, was Ideen und Konzepte namens Europa sein könnten. Das ist Gahses Verfahren: Sie vollzieht die Reflexion zur materialen Realität literarischer Sprache, indem sie den verblassten Wortkernen von Wörtern nachspürt. Zudem wird mittels mehrsprachiger Wortexperimente der Ortswechsel des Denkens zum Medium gemacht - wie im folgenden Beispiel: Er (wer auch immer) wurde in Hamburg geboren und lebte dann in München, er wurde in Hamburg geboren, lebte dann zwei Jahre in Paris, später in Rom; ein Hamburger. Er war in Hamburg auf die Welt gekommen, lebte jedoch in Kiew, später in Mělník, so dass er ein Tscheche war, er lebte eine Weile dort, der Hamburger war ein Tscheche, einige Jahre danach war er in Rom angelangt. Dort traf er eines Abends jenen Mann, der in Zürich auf die Welt gekommen war und in Genf lebte, der Genfer kam an, und es wurde ein wichtiger Abend, für beide Römer. Sie verabredeten sich und trafen sich in Graz wieder, wo auch die Frau des einen der beiden Römer hinzukam, sie war keine Römerin, war nie in Rom gewesen, nie in Hamburg, hingegen wurde sie in Baar geboren, war im Tessin aufgewachsen, nun fuhr sie mit den beiden Römern nach Graz, sie waren drei Grazer. (Gahse 2005 : 8) Das alles kann passieren, wenn man einen Menschen fragt: „Woher kommst du? “ Den Lehrkräften war nach der visuellen Präsentation dieses Ausschnittes zuerst nicht bewusst, wie hiermit eine unterrichtliche Gestaltung fruchtbar gemacht werden könnte. Anfängliche Irritation gehört gewiss zur ästhetischen Wirkungsabsicht; rasch aber wurde die rhythmische Eigenart dieses Textes deutlich, wenn „Er“ immer wieder von Hamburg aus erneut startet und Identitätsfigurationen mittels Grenzüberschreitungen gestaltet. Texte wie der von Gahse leben indessen auch ein Stück weit von ihrer Performance und hiervon könnte im Unterricht Gebrauch gemacht werden: Zahlreiche Poetry Slams setzen sich in ähnlichen Kompositionen 27 Gahse, Zsuzsanna (2005): Instabile Texte: zu zweit. Mit 6 Textzeichnungen der Autorin. Wien: Korrespondenzen. Geboren wurde Zsuzsanna Gahse 1946, mitten in Budapest. Nach den Ereignissen von 1956 - der Chamisso-Preisträger György Dalos hat sie in der Chronik 1956 - Der Aufstand in Ungarn detailliert beschrieben - emigrierte ihre Familie nach Wien. 117 Dialogische Literatur- und Sprachdidaktik in der Lehrerfortbildung mit dem Umgang von Herkunft und der Prozesshaftigkeit von Zugehörigkeiten auseinander. 28 Ähnlich in der Funktion - wenn auch mit einer ganz anderen Darbietung - verhält es sich mit dem dritten Beispiel. Beispiel III: Dialoge hinterfragen Lehrgangsthema Lehrgangsdaten Sprachsensible Unterrichtsaktion/ Mikro-Scaffolding 4. 3. 2020 - 6. 3. 2020 In Senthuran Varatharajahs Roman Vor der Zunahme der Zeichen (2016) 29 sind es zwei Namen, die sich in einem fiktiven Chat bei facebook per Zufall begegnen: Senthil Vasuthevan und Valmira Surroi. Er ist Promovend der Philosophie in Berlin, sie studiert Kunstgeschichte in Marburg. Es beginnt ein siebentägiger Chat, in dem die ähnlichen Familiengeschichten, Senthils Flucht aus Sri Lanka und Valmiras aus dem Kosovo thematisiert werden. Weitere Themen der Unterhaltung bilden die vielfältigen Erfahrungen mit der stigmatisierenden Zuschreibung als Nicht-Deutsche. Erfahrungen des Sprachverlusts der Erstsprache sind ebenfalls Gegenstand der Gespräche. Die folgende Kurseinheit eignet sich, um Fachwissen zu literarischen Gattungen anhand exemplarischer Textgerüste zu vermitteln. Voraussetzung ist jedoch, dass sich Lernende im Vorfeld eine ungefähre Vorstellung machen können, wie gattungsspezifische Textmuster von Drama und Roman aufgebaut und zu beschreiben sind. Den Lehrkräften wurde zuerst der Buchumschlag präsentiert. Mit dem Titel Vor der Zunahme der Zeichen ruft die zeitliche und räumliche Mehrdeutigkeit der Präposition „Vor“ - ähnlich wie in Kafkas Kurzgeschichte Vor dem Gesetz (1915) - ein irritierendes Leseerlebnis hervor. Teilnehmerinnen und Teilnehmer einer solchen Kurseinheit können dann in einem vorentlastenden Lesergespräch das Phänomen anhand beispielhafter Alltagserlebnisse diskutieren und sich anschließend Auszüge aus dem Roman durchlesen, wie etwa den folgenden: 28 Yasmin Hafedh zeigt in ihrem Auftritt bei einem Poetry Slam, wie die Frage „Wo kommst du her? “ eindeutige Antworten nahelegt, die der Komplexität von Identität und den Mehrfachzugehörigkeiten vieler Menschen nicht gerecht wird. Vgl. Hafedh, Yasmin (2014): Wo kommst du her? Online unter: www. youtube.com/ watch? v=9Zl3fNQmiCo [Stand: 11. 3. 2020]. 29 Varatharajah, Senthuran (2016): Vor der Zunahme der Zeichen. Frankfurt/ M.: Fischer. 118 Tatiana Neugebauer, Tobias Akira Schickhaus Valmira Surroi (04 : 59) Im Zusatzunterricht, den die Kinder von Asylbewerbern und Spätaussiedlern besuchen mussten, saß ich neben einem Mädchen, sie hieß Marina. Sie sagten, wer uns berühre, werde sich mit einer Krankheit anstecken, und wenn uns jemand versehentlich anfasste, lief er im Hof zu den anderen, und mit einer Berührung gab er unsere Erreger weiter. Sie rannten vor ihm davon. Marina und ich beschlossen, in der Bäckerei, die vor unserer Schule lag, Süßigkeiten von dem Geld zu kaufen, das wir manchmal von unseren Eltern für das Pausenbrot erhielten und zwei oder drei Wochen lang sammelten wir die Münzen, die sie uns gaben, und wir haben Duplos, Hanutas und Kinder Country, Chupa Chups, Gummibären und Esspapier davon gekauft. Wir wollten sie in der Hofpause verschenken. Wir wussten noch nicht, dass auch sie unsere Erreger übertragen können. Senthil Vasuthevan (05 : 06) einige kinder sagten, wir seien die söhne des schwarzen mannes. Sie sagten, dass auf unserer haut schmutz liegt, der abfärbt, wenn man uns berührt. […] Senthil Vasuthevan (05 : 12) wenn wir im kindergarten menschen mit dunkler haut malten, nahmen uns die erzieherinnen, die wir tanten nannten und die weder die schwestern unserer mutter noch unseres vaters waren, den stift aus der hand, und sie nahmen einen hellrosanen aus der buntstiftdose vor uns und sie legten ihn zwischen unsere finger, ihren mund zu uns gewandt, so nah, dass die atemwärme noch auf der wange zu spüren war, selbst als sie nicht mehr hinter uns standen, diese farbe nennt man hautfarbe, sie wiederholten es, diese farbe nennen wir hier hautfarbe, und wir sprachen es ihnen nach. Varatharajah (2016 : 94 f.,-Herv. i. O.) 119 Dialogische Literatur- und Sprachdidaktik in der Lehrerfortbildung Es erfolgte im nächsten Schritt eine Beschreibung des Inhaltes. Die Fragen sind dabei einfach formuliert, aber mitnichten unterkomplex und können grundsätzlich auch in Gruppenarbeit erörtert werden: ▶ Wer spricht? ▶ Was wird gesagt? ▶ Wo wird das gesagt? Zum Ergebnis: Lesende werden Zeugen einer additiven Reihung vereinzelter Migrationserfahrungen in Gestalt gesendeter und verschickter Nachrichten im facebook-Chat. Manchmal werden Nachrichten ganze Nächte hindurch und ohne Pause verschickt. Und: es gibt als Haupttext nur die direkte Rede der dramatischen Figuren, also das, was beide Figuren gegenwärtig äußern. Dabei sind die Figuren Senthil und Valmira jedoch mehr mit der Erzählung und Reflexion ihrer eigenen Geschichten beschäftigt, als auf jene des Gesprächspartners zu reagieren. Was hierbei entsteht, ist weniger die Verflechtung als eine Reihung, die es nicht zulässt, dass ein erzählendes Ich dem hörenden Du - und umgekehrt - gegenübersteht. Die Frage nach dem Dialogmotiv bleibt indessen im gesamten Roman unbeantwortet, begleitet aber latent die Lektüre des Textes und wird mit regelmäßig erscheinenden Fragen neu erinnert. Dieser Umstand verschärft sich, denn der Beginn des Romans fällt mit der Initiierung des Gesprächs zusammen und wirft sofort die Frage auf, warum man sich anspricht, mit welcher Vertrautheit, und durch welche Technologien hier eigentlich vermittelt wird. Der Text problematisiert Distanz und Nähe zeit- und ortungebundener Medienkommunikation, indem er a) im vordergründigen Kleide eines dramatischen Dialogs und b) unter der irritierenden Betitelung „Roman“ c) die Funktion einer archivarischen Ansammlung rückverweisender Online-Kommentare zu Fragen kollektiv geteilter Andersheit übernimmt. Mit den Lehrkräften wurden im Anschluss weitere Diskussionsthemen formuliert, die sich für die literarische Diskussion im Unterricht anwenden lassen: ▶ Welche sprachlichen Elemente tragen im Text zur Nähe einer mündlichen Kommunikation bei, welche zur Distanz schriftlicher Kommunikation? ▶ Charakterisieren und bewerten Sie die dialogische Beziehung zwischen Valmira und Senthil. ▶ Erörtern Sie, ob der Text eher ein Roman ist oder ein Drama. Fazit Fachunterricht erfordert Fachwissen und spezifische sprachliche Kenntnisse, um dieses Wissen zu formulieren. Dieser Beitrag hat versucht, möglichst passgenau die inhaltlichen Schnittmengen zwischen dem literarischen und sprachlichen Lernen aufzuzeigen. Das Fortbildungsportfolio begreift Literatur als ein geeignetes Medium, das die Schwierigkeiten und Hindernisse auf dem Wege zum gelingenden Dialog keineswegs schmälert oder verkleinert, wohl aber deren vielseitige Facetten zum Ausdruck bringt. Auf Literatur stößt man bekanntlich dann, wenn man sich an ihr stößt. 120 Tatiana Neugebauer, Tobias Akira Schickhaus Die sprachlich fiktionale Gestaltung individueller Lebenswelten unter Berücksichtigung vielfältiger Erfahrungen sozialer Differenzen, Macht- und Diskriminierungsformen birgt ein Potenzial, auch fächerübergreifendes Wissen einzubinden, das im Geschichts-, Sozialkunde-, Ethik- und Religionsunterricht vermittelt wird. Spätestens dann wäre mit den Zeuginnen und Zeugen der Gegenwartsliteratur ein Befund von kultureller Wirklichkeit jenseits des Lehrbuches gegeben. Und genau aus diesem Grund wird die Fortsetzung des Projekts ausdrücklich angestrebt. 121 Literaturverzeichnis Literaturverzeichnis Adamzik, Kirsten (1995): Aspekte und Perspektiven der Textsortenlinguistik. In: Adamzik, Kirsten (Hg.): Textsorten - Texttypologie. Eine kommentierte Bibliographie. Münster: Nodus, 11-40. Allolio-Näcke, Lars/ Kalscheuer, Britta (2005): Wege der Transdifferenz. 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In welchem Verhältnis stehen Literatur und Gesellschaft heute beziehungsweise wie kann die kritische Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Gegenwart im Umgang mit Literatur entwickelt werden? Wie lässt sich im Austausch mit Mitschülerinnen und Mitschülern anderer Muttersprachen und Kulturen Dialogverhalten ausprobieren? Wie lassen sich dabei gerade Fremdheitserfahrungen, zum Beispiel mit anderen Sprachen, zur Reflexion - und kritischen Hinterfragung - der eigenen, oftmals allzu selbstverständlich erscheinenden Lebenswelten zielführend einsetzen?