1 Problemaufriss

Die Feststellung, dass heute kaum ein Arbeitsbereich nicht vom digitalen Wandel betroffen zu sein scheint, ist schon ein Allgemeinplatz, dessen Aussage wenig über den wirklich stattfindenden Wandel preisgibt. Denn die Arbeitsfelder sind höchst heterogen von dem Wandel, den immer neue digitale Technologien mit sich bringen, betroffen: Während einige Sektoren radikale Veränderungen erfahren, gilt die personenbezogene Dienstleistungsarbeit „als kaum standardisierbar und automatisierbar, nicht zuletzt wegen ihres interaktiven und wissensintensiven Charakters sowie wegen der zentralen Bedeutung der Einbindung der Konsumenten für das Zustandekommen der Leistung“ (Seelmeyer und Waag 2020, S. 180).

Doch seit einigen Jahren scheint sich auch diese Gewissheit zu verflüchtigen. Weite Teile der Sozialen Arbeit bleiben nicht unberührt vom Einsatz digitaler TechnologienFootnote 1. „[N]eben der sozialisatorischen Prägung von Fachkräften und Adressat_innen durch digitale Medien“ (Seelmeyer und Kutscher 2017, S. 229) wandelt sich „zunehmend auch der Kern interaktiver Dienstleistungserbringung“ (Seelmeyer und Waag 2020, S. 180). Hinzu kommt, dass sozialpädagogische Organisationen ebenfalls tiefgreifenden Veränderungen unterliegen, wie etwa in der Standardisierung von Fällen durch Fallsoftware. Demnach stehen sowohl Organisationen, als auch Professionelle und Adressat*innen vor der Herausforderung, sich gegenüber der Transformation, die die Gesellschaft in den letzten Jahren durch die Einführung digitaler Informations- und Kommunikationstechnologien erfahren hat, zu verhalten. Um dabei nicht zu passiven Statist*innen degradiert zu werden, müssen sie sich dem Wandel stellen und aktiv mitgestalten.

Einige Handlungsfelder der Sozialen Arbeit haben die technologischen Veränderungen zum Anlass genommen, um innovative Neuerungen zu diskutieren und einzuführen, während wiederum in anderen Feldern eine deutliche Skepsis gegenüber Digitalisierungsentwicklungen erkennbar wird. Die Behindertenhilfe gehört wohl zu letzteren (Kreidenweis 2018). Nicht allein die Webseiten der Einrichtungen sind oft unübersichtlich und in unverständlicher Fachsprache verpackt, sondern auch die Tätigkeit der Behindertenhilfe gilt für viele der darin Arbeitenden als ausschließlich menschliche Praxis (Kreidenweis 2018). Gleichzeitig deutet aber vieles darauf hin, dass neue Assistenztechnologien, Dokumentationssysteme oder Serviceroboter auch in Einrichtungen der Behindertenhilfe früher oder später eingesetzt werden. Diesen Prozess gilt es aktiv durch das Einbringen eigener Vorstellungen zu gestalten.

Aber nicht allein die Praxis hat so ihre Schwierigkeiten mit den sich rasant vollziehenden Veränderungen. Auch im Kontext der empirischen Forschung spielen neue technologische Artefakte und deren Bedeutung nur eine marginale Rolle. In Anbetracht des stattfindenden Wandels und der geringfügigen Forschung dazu existiert ein „dringender Forschungsbedarf bezogen auf die Transformationsdynamiken, die sich im Zusammenspiel von digitaler Technik, Akteuren, organisationalem und wohlfahrtsstaatlichem Kontext ergeben“ (Seelmeyer und Kutscher 2017, S. 235).

2 Projektzielsetzung und -design

Genau an dem Schnittbereich von aktiver Technikgestaltung, Implementierung und Transformationsforschung setzt das Forschungsprojekt Personalized Augmented Guidance for the Autonomy of People with Intellectual Impairments (PAGAnInI) an, das u. a. an Vorarbeiten zur Implementation von neuer Technologie im Feld der Behindertenhilfe anknüpft (Becking und Vaudt 2014). Von besonderem Interesse für PAGAnInI sind die veröffentlichten Ansätze von João Ramos et al. (2013) und Robbie Fryers et al. (2018), die ein Navigationssystem für Smartphones für Menschen mit kognitiven Einschränkungen entwickelten, welches die Mobilität im öffentlichen Raum erleichtern soll. Bei den bestehenden Systemen handelt es sich allerdings um reine Navigations-Apps. PAGAnInI geht mit seinem adaptiven Ansatz weit über die bisherigen Systeme hinaus. Denn es werden drei Ziele im Rahmen des Projektes verfolgt:

  1. a)

    Zum einen wird in partizipativer Zusammenarbeit mit Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen ein Smartphone-gestütztes Lernsystem entwickelt, mit Hilfe dessen sich diese Personengruppe möglichst selbstständig im öffentlichen Raum bewegen können soll. Durch Funktionen für ein individuelles Trainings-Arrangement ist das System PAGAnInI weit mehr als eine Navigations-App. Ausgehend vom individuellen Lernstand und den Bedürfnissen wird das System eingerichtet und lernt mit. Es ist das Ziel, dass Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen ihre Wege – wie etwa den Arbeitsweg – autonom zurücklegen können; am Ende auch ohne die App.

  2. b)

    Zum Zweiten geht es darum, auf organisationaler und professioneller Ebene den Implementierungsprozess der App in die Praxis der Sozialen Arbeit kritisch zu begleiten und zu analysieren. Ziel ist es, Fragen im Laufe der Forschung zu beantworten wie: Wie wird die App in (bestehende) fachliche Strukturen eingebettet? Welche dominanten Muster ergeben sich auf der Ebene der Organisation? Wie verändern sich sozialpädagogische Organisationen im Kontext der Einführung digitaler Technologien?

  3. c)

    Schließlich besteht ein weiteres Arbeitsziel darin, über die Evaluation der Zusammenarbeit zwischen Fachkräften, Wissenschaftler*innen und Adressat*innen aussagekräftige Informationen zu gewinnen, wie eine partizipative Forschung mit Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen gestaltet werden kann.

Insgesamt verortet sich das Projekt damit auch im Feld der Teilhabeforschung. Dazu gehört, dass der Projektverbund (verschiedene Disziplinen der FH Bielefeld) eng mit den Praxispartner*innen bei der Entwicklung, Durchführung und Auswertung zusammenarbeitet. Zudem wird, um die Belange von Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung vollumfänglich zu berücksichtigen, ein Gremium mit Vertreter*innen der genannten Personengruppe eingerichtet, das kontinuierlich alle Schritte des Prozesses begleitet.

3 Forschungsmethodik

In einem ersten Schritt werden zunächst die Ausgangsbedingungen und bisherigen Mobilitätspraktiken der Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen mittels leitfadengestützter Interviews und teilnehmender Beobachtung rekonstruiert. Erhoben werden sowohl die individuellen Mobilitätspraktiken der Menschen im öffentlichen Raum (im Sinne eines MitgehensFootnote 2) wie auch deren Praktiken im Umgang mit Smartphone und anderen digitalen Technologien. Ebenfalls sollen mit Hilfe von Interviews Fachkräfte und Expert*innen in den Einrichtungen zu den rahmenden organisationalen Abläufen befragt werden.

Während die App in die Praxis eingeführt wird, werden wir in einem weiteren Schritt die durch die Einführung eines solchen Systems einhergehenden Anpassungen vorhandener Prozesse und eventuell auch Strukturen teilnehmend beobachten und in Gruppendiskussionen reflektieren lassen. Zeitgleich werden Interaktionen zwischen Fachkräften und Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen mittels Videokamera aufgezeichnet und ausgewertet.

4 Perspektiven

Ziel ist es, in dem geplanten Projekt sozialwissenschaftliche Grundlagenforschung, Praxisentwicklung und die informationstechnische Entwicklung des Systems eng zu verzahnen. Im Ergebnis soll nicht nur ein Smartphone-gestütztes Lernsystem zur Verfügung stehen, das die individuelle Teilhabe am gesellschaftlichen Leben effektiv unterstützt und bei deren Entwicklung die Menschen, für die es gedacht ist, umfassend mit eingebunden wurden, sondern auch eine neue Praxis in der Behindertenhilfe hergestellt und kritisch analysiert werden.