I.

Der gerade einmal 6 Strophen umfassende finale Dialog zwischen Kriemhild und Hagen in der Schlussszene der 39. Aventiure im Nibelungenlied, in dessen unmittelbarer Folge die nächste Strophe die Enthauptung Hagens schildert, ist bis heute Gegenstand einer Forschungskontroverse.Footnote 1

Dô gie diu küneginne, dâ si Hagenen sach.   2367

wie rehte fîentlîche si zuo dem helde sprach:

»welt ir mir geben widere, daz ir mir habt genomen,

sô muget ir noch wol lebende heim zen Burgonden komen.«

Dô sprach der grimme Hagene: »diu rede ist gar verlorn,   2368

vil edeliu küneginne. jâ hân ich des gesworn,

daz ich den hort iht zeige, die wîle daz si leben

deheiner mîner herren, sô sol ich in niemene geben.«

»Ich bringez an ein ende«, sô sprach daz edel wîp.   2369

dô hiez si ir bruoder nemen den lîp.

man sluoc im ab daz houbet; bî dem hâre si ez truoc

für den helt von Tronege. dô wart im leide genuoc.

Alsô der ungemuote sînes herren houbet sach,   2370

wider Kriemhilde dô der recke sprach:

»du hâst iz nâch dînem willen z’einem ende brâht,

und ist ouch rehte ergangen, als ich mir hête gedâcht.

Nu ist von Burgonden der edel künec tôt,   2371

Gîselher der junge unde ouch her Gêrnôt.

den schaz den weiz nu niemen wan got unde mîn:

der sol dich, vâlandinne, immer wol verholn sîn.«

Si sprach: »so habt ir übele geltes mich gewert.   2372

sô will ich doch behalten daz Sîfrides swert.

daz truoc mîn holder vriedel, dô ich in jungest sach,

an dem mir herzeleide von iuwern schulden geschach.«

Si zôh iz von der scheiden, daz kund er niht erwern.   2373

dô dâhte si den recken des lîbes wol behern.

si huob ez mit ir handen, daz houpt si im ab sluoc.

daz sach der künec Etzel: dô was im leide genuoc.

Die Ambiguität dieses Dialogs wird schon in den ersten Worten Kriemhilds deutlich und hat eine ganze Reihe von Fragen aufgeworfen. Zunächst klingen sie tatsächlich wie ein Angebot an Hagen, doch noch davonkommen zu können. Gibt es für Kriemhild tatsächlich eine Alternative zum Rachevollzug an Hagen? Kann diese aus ihrer Goldgier resultieren, als Ausdruck bedingungslosen Machtstrebens? Fordert sie tatsächlich zum zweiten Mal von Hagen den Hort? Ist damit der Versuch verbunden, Hagen auch als Verräter an seinem Herrn vorzuführen? Und was kann Hagen motivieren? Die Hoffnung auf ein Davonkommen? Sich um des Nachruhms willen als Vollstrecker und Treuhänder des Burgundenuntergangs zu gerieren und sein Ende möglichst eindrucksvoll zu inszenieren? Oder sucht er selbst im letzten Augenblick – und sei es auch nur mit Worten – Kriemhild noch zu übertrumpfen?

Schließlich geht es um die Frage nach der Intention des Epikers, wie er das Epos in seiner sich dramatisch steigernden Spannungskurve in einem letzten Gipfel zu Ende führt.

Dieser Beitrag will mit einer modifiziert psychologisierenden, die »Grenzen des Wahrscheinlichen«Footnote 2 wahrenden Interpretation des letzten Dialogs der beiden Antagonisten zeigen, dass Hagen mit einer letzten Finte Kriemhild zu einem finalen Racheexzess verleitet, der sie endgültig um eine rechtmäßige Genugtuung für das ihr zugefügte leit bringt. Dabei zeigt die Figur Kriemhilds eine besondere Wirkmächtigkeit im unmittelbaren Geschehen. Der Epiker hat an ihr erste Protoformen von Subjektivität und individueller Reflexion entwickelt und handlungsmotivierend eingesetzt.Footnote 3 Anhand der Schlussszene kann gezeigt werden, wie sich diese individualpsychologische Disposition mit dem finalen Geschehen verbindet und damit verifiziert wird.

Dazu sollen zunächst die diese Szene determinierenden Vorgaben präsentiert werden (II), um daran eine Deutung zu entwickeln, in der die Szene nicht mehr als »scharfer Handlungsbruch« erscheint (III). Gleichzeitig soll gezeigt werden, dass das Epos ein zeitgenössisches Rechts- und Werteverständnis widerspiegelt (IV), was im Scheitern Dietrichs als instrumentalisierter Friedensbote einen ganz besonderen Ausdruck findet (V).

II.

Um den finalen Dialog zwischen Kriemhild und Hagen im Gipfelpunkt des Geschehens deuten zu können, sind die ihn bestimmenden Fakten zu rekapitulieren. In der Forschung wird die Frage diskutiert, wem die Hauptrolle in dieser verbalen Konfrontation zufalle.Footnote 4 Dies zu entscheiden, ist nicht leicht. Auf der einen Seite die vom Triumph über den verhassten Mörder Siegfrieds erfüllte Kriemhild mit scheinbar unbegrenzter Handlungsfreiheit, auf der anderen Seite der verwundete und gefesselt am Boden liegende Königsvasall Hagen, den Tod vor Augen. Doch die Szene trügt: Noch ist die Handlung nicht vollzogen, das Ringen zwischen den beiden nicht entschieden, und wenn der Epiker tatsächlich die Frage Kriemhilds als »kalkulierte Unbestimmtheit« erscheinen lassen wollte, so lässt die damit verbundene Ergebnisoffenheit das letzte persönliche Kräftemessen beider Schlüsselfiguren auf Augenhöhe geschehen.Footnote 5 Es geht um nichts Geringeres als die Gestaltung des sich lange anbahnenden und dramatisch zuspitzenden Rachevollzuges. Was wird mit den beiden letzten burgundischen Helden geschehen und vor allem wie wird es geschehen?

Der szenische Ablauf wird erzählstrategisch auf das Wesentliche reduziert.Footnote 6 Unvermittelt stellt der Erzähler fest, dass Kriemhild Gunther das Leben nehmen lässt, von wem auch immer, und dass sie das abgeschlagene Haupt Gunthers an den Haaren vor Hagen bringt. In wenigen Strichen wird die Szene in einem kaum zu überbietenden Erzähltempo skizziert und dem Höhepunkt der Rachehandlung, der Enthauptung Hagens, zugetrieben.Footnote 7 Mitgerissen von der rasanten Abfolge im Duell der beiden Zentralfiguren sind die Details für das Auditorium weder wahrnehmbar noch entscheidend. Der Epiker fokussiert die Aufmerksamkeit kompromisslos auf das jetzt stattfindende »Machtspiel mit kalkulierten Doppeldeutigkeiten«Footnote 8, das in ein furioses Finale führt.Footnote 9

Damit sind nochmals die Bedingungen aufzurufen, die für diesen letzten Schlagabtausch der beiden Hauptfiguren ausschlaggebend sind. Das gilt zunächst für Hagen. Er ist der Einzige, der von der Gewissheit erfüllt ist, dass die Burgunden habent den tôt an der hant,Footnote 10 als sie sich zum Fest im großen Saal der Etzelburg versammeln. Ihm ist der bevorstehende Untergang von den merwîp nicht nur unmittelbar offenbart, sondern auch ausführlich erläutert worden. (NL 1541,4)

Er verinnerlicht diese Prophezeiung geradezu und zerschlägt schon an der Donau demonstrativ die einzige verfügbare Fähre.Footnote 11 Hagen handelt von nun an als Heros, der im unabwendbaren Untergangsgeschehen nur noch höchsten Ruhm und Ehre zu gewinnen sieht.Footnote 12 Zwar ist die Forschung von dem Gedanken eines hier zur Wirkung gelangenden »germanischen Schicksalsglaubens«, der die Katastrophe unabwendbar erscheinen lässt, abgerückt, der »Anschein von Schicksal« wird aber durch eine Vielzahl unterschiedlichster Vorausdeutungen zweifelsohne geweckt und lebendig gehalten.Footnote 13

Wenn wir Hagens Gesprächstaktik gegenüber seiner Widersacherin nachvollziehen wollen, ist diese Wahrnehmung nicht unbeachtlich: Hagen handelt jedenfalls in der Gewissheit, dass Gunthers und sein eigenes Ende besiegelt ist.Footnote 14 Jeglicher Gedanke, noch mit dem Leben davonzukommen, wäre für Hagen als Erster Kronvasall weder vorstellbar noch angesichts der in der Ablehnung von Kriemhilds Schonungsangebot ihm gegenüber demonstrativ gezeigten triuwe durch die Burgundenkönige vor dem Saalbrand möglich. Im letzten Akt der Auseinandersetzung kann es ihm also nur darum gehen, seiner Todfeindin das Konzept ihres Rachevollzuges so weit wie möglich zu durchkreuzen.

Kriemhild ist von Anfang an von dem Wunsch beseelt, den Tod Siegfrieds an seinem Mörder zu rächen: wesse ich, wer iz het getân, ich riet im immer sînen tôt. (NL 1012,4)Footnote 15 Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass dies zu Kriemhilds zentralem Lebensmotiv wird. Lange ist sie darum bemüht, Hagens Schuld zu offenbaren, was mit der Bahrprobe beginnt und in seinem öffentlichen Bekenntnis gipfelt, derjenige zu sein, der Sîfriden sluoc. (NL 1790,2)Footnote 16 Er hat zu allererst ihre Rache zu fürchten und dessen ist er sich auch durchgängig bewusst. Sie sind zu Todfeinden geworden, zwischen denen es keinen Ausgleich geben kann.Footnote 17 Kriemhilds Aussöhnung mit Gunther ist Teil ihrer bis dahin rechtskonformen Rachekonzeption und fokussiert diese auf Hagen.Footnote 18

Mit ihrem Aufstieg zur Hunnenkönigin gelangt sie in die Position, diese Rachehandlung zu vollziehenFootnote 19, und diesem Ziel ordnet sie alles unter. Kriemhild ist die Zentralfigur des Liedes und bleibt es bis zur letzten Szene. Das wird auch in der Ausgestaltung der Figur mit einer »individuellen Innensphäre« deutlich, worin »eine Ablösung einer subjektiven Sphäre von der objektiven Form« Ausdruck findet, wie es sie in der mittelalterlichen Literatur bis dato nicht gegeben hat.Footnote 20

Dem widerspricht es nicht, dass Hagen als das personifizierte Ziel ihrer Rache vor allem in der finalen Dialogszene, selbst noch in Fesseln, als der aller beste degen mit Kriemhild um den Ausgang ihres tödlichen Duells in vergleichbar zentraler Position zu ringen vermag.Footnote 21 Das zeigt sich besonders darin, dass es ihm gelingt, die Gesprächsführung inhaltlich an sich zu ziehen.

Damit kommt der Nibelungenhort ins Spiel.Footnote 22 Diese einstige Morgengabe Siegfrieds für Kriemhild symbolisiert vor allem ihre emotionale Bindung. Nur einmal geht es um den materiellen Wert, als Kriemhild damit in Worms Rachehelfer anzuwerben begann und so eine erhebliche Gefahr für die Burgunden zu werden drohte. Mit der Versenkung im Rhein durch Hagen verschwindet der Hort als reales Objekt für alle Zeit aus dem geschilderten Geschehen und ist somit »handlungslogisch entbehrlich«.Footnote 23 Kriemhild ist mit ihrem Aufstieg zur mächtigsten Königin ihrer Zeit auf den Nibelungenschatz nicht mehr angewiesen. Er bleibt aber symbolisch präsent in Erinnerung an die ihr von Hagen mit dessen Wegnahme im Konsens mit ihren Brüdern zugefügte »demütigendste Erfahrung.«Footnote 24 Für Hagen immer nur ein Mittel, nie das Ziel seines Handelns, symbolisiert seine Wegnahme für Kriemhild in der damit für sie verbundenen Ohnmacht zur Rache die tiefste, jemals persönlich erfahrene Schmach.

Darin zeigt sich der seelische Innenraum Kriemhilds, der ihre Affekte zu Handlungsantrieben ihres Tuns hervorbringt. Dieser »seelische Freiraum« lokalisiert sich in ihrem herze. Dort ist ihr unerbittliches Rachestreben verankert, das sich aus ihrer herzensliebe zu ihrem holden vriedel speist. Zwischen Kriemhild und Siegfried wird eine Liebesbeziehung gezeigt, die sich deutlich von den gesellschaftlich normierten Bindungen zwischen Brünhild und Gunther, Kriemhild und Etzel und auch Dietlinde und Giselher unterscheidet. Auch wenn das ursprüngliche Werbungsbegehren Siegfrieds aus einer dynastischen Konvenienz und einem höfischen Comment entspringt, verwandelt sich dies höfische ritualisierte Minnegeschehen schon bald in eine tiefempfundene herzensliebe, die zuerst an der Figur Siegfrieds aufscheint und sich bis zur Hochzeit auch bei Kriemhild nachhaltig ausprägt.Footnote 25 Entsprechend stark ist dann auch ihr herzen jâmer und herzeleit, das weit über die höfischen Trauerkonventionen hinausgeht.Footnote 26 Die Kriemhildfigur weist somit eine ihr vom Epiker zugewiesene individualpsychologische Dimension auf, die das Geschehen wirksam motiviert und die von Hagen in nahezu allen persönlichen Begegnungen mit ihr kühl kalkulierend immer wieder instrumentalisiert wird.Footnote 27

So wird der Hort exemplarisch zum »Vehikel«, Kriemhild über ihre affektive Innerlichkeit zu fassen und sie einer rationalen Selbstkontrolle zu entziehen.

III.

Das umreißt die Determinanten, unter denen die Rächerin und der Mörder in die finale Auseinandersetzung eintreten. Dass Dietrich die beiden letzten Burgunden Kriemhild und nicht Etzel ausliefert, ist vom Epiker bewusst motiviert und konsequent auf den dramatischen Gipfelpunkt der tragisch sich auflösenden Rachehandlung ausgerichtet,Footnote 28 und wird von ihm vorausdeutend anmoderiert:

   daz ir sît dewedere den andern nie gesach,

   unz si ir bruoder houbet hin für Hagenen truoc.

   der Kriemhilde râche wart an in beiden genuoc. (NL 2366, 2. f.)

Damit ist das Geschehen vom Ergebnis her zwar beschrieben, aber die Spannung wird damit nicht wesentlich vermindert, denn was geschehen wird, ist dem Publikum längst vor Augen. Offen ist das Wie und darauf sind die letzten Strophen fokussiert.

Die lancræche verfügt jetzt über scheinbar unumschränkte Handlungsfreiheit und ist so aus ihrem herzen heraus affektiv dominiert, dass sie ihre Gier nach Genugtuung und ihr damit einhergehendes Überlegenheitsgefühl kaum zu bändigen vermag, als sie Hagen rehte fîentlîche voll Ironie und Häme anspricht:

   welt ir mir geben widere, daz ir mir habt genomen,

   sô muget ir noch wol lebende heim zen Burgonden komen. (NL 2367,3 f.)

Nach so vielen Jahren muss sie ihr Anliegen nicht deutlicher fassen, und nach dem öffentlichen Schuldeingeständnis Hagens, der Mörder Siegfrieds zu sein (NL 1790, 2), kann auch nicht mehr der geringste Zweifel bestehen, was Kriemhild zum Ausdruck bringen will: Es ist Siegfried, der ihr genommen wurde, und seinen Tod zu rächen ist ihr einziges Begehren.Footnote 29 Kein Gedanke an einen Hort, weder offen noch verdeckt.Footnote 30

Wie ist also Kriemhilds Aussage zu deuten? Schon früh hat Werner Schröder dazu die Antwort geliefert, wenn er feststellt, Kriemhild fordere ausschließlich ihren ermordeten Gatten zurück und »damit etwas absolut Unmögliches.«Footnote 31 Joachim Heinzle sieht darin die zweifellos »eleganteste Lösung«, zeigt sich aber von ihrer Substantiierung durch Schröder im Verweis auf die von Dietrich ins Spiel gebrachte Möglichkeit, Hagen könne Kriemhild doch noch ergetzen, nicht überzeugt.Footnote 32

Folgt man aber Schröders Interpretation von Kriemhilds Aussage, ergeben sich aus dieser Prämisse neue Perspektiven für eine Deutung der Szene. Kriemhild provoziert Hagen aus ihrer Position der Stärke demonstrativ ironisierend: Da du mir Siegfried nicht wiedergeben kannst, wirst du sterben!Footnote 33 Hagen vermag das nicht zu überraschen, denn damit rechnet er längst. Deshalb setzt er dieser Racheansage seinerseits eine Provokation entgegen, deren Wirksamkeit er sich sicher sein darf: die Erinnerung an den Nibelungenhort. Schon bei der ersten Begrüßung im Hunnenland hatte er Kriemhild dazu gebracht, die Sprache auf ihn zu bringen und letztlich seine Rückgabe zu fordern,Footnote 34 worauf Hagen mit dem Hinweis,

   den hiezen mîne herren senken in den Rîn

   dâ muoz er wærliche unz an daz jungeste sîn, (NL 1742,3 f.)

Kriemhild eine vil manigen trûrigen tac bereiten konnte. Hagen vitalisiert damit gezielt die in dieser Figur angelegte Sphäre subjektiver Empfindlichkeit. Er akzentuiert nicht nur den Hortraub als wirksamsten Reiz in Kriemhilds herzen jâmer, sondern steigert diese Provokation zusätzlich mit dem Verweis auf Siegfrieds Schwert, das aus diesem Schatz stammt und das er als Trophäe des Sieges über Siegfried für sich behalten hatte:

   daz swert an mîner hende des enbringe ich iu nieht. (NL 1744,4)

Daran anknüpfend pariert Hagen Kriemhilds Eröffnung nicht nur höchst hintersinnig, sondern ergreift zugleich geschickt nüchtern kalkulierend die Gesprächsinitiative.

Zunächst leitet er seine Replik in der Anrede ironisch konterkarierend und ebenso offen mit der Feststellung ein:

   diu rede ist gar verlorn, vil edeliu küneginne. (2368, 1 f.)

Er antwortet so durchaus noch im Sinne ihrer Fragestellung Siegfried betreffend, wenn er damit andeutungsweise zugibt, diesen sicherlich nicht Kriemhild wiedergeben zu können. Raffiniert wechselt er unvermittelt den Gesprächsgegenstand und thematisiert den Nibelungenhort, verbunden mit der ebenso unvermittelt in den Raum gestellten provokativen Bedingung, ihr den Hort nicht zu entdecken, solange einer seiner Herren noch lebe.

Hagen hat seinen Pfeil absichtsvoll ins subjektive Zentrum von Kriemhilds herzen jâmer gesetzt.Footnote 35 Nicht mehr die Mordtat an Siegfried steht jetzt im Mittelpunkt, sondern die mit dem Hortraub verbundene persönliche Demütigung Kriemhilds. Und hier setzt Hagen den Hebel an, indem er Kriemhild suggeriert, es könnte noch dazu kommen, dass sie erführe, wo der Hort verborgen sei. Hagen weckt so bei ihr die unerwartete Perspektive – nicht nach dem GoldFootnote 36 – sondern über die Preisgabe des Hortverstecks, ihm ihre Morgengabe wieder abzujagen und damit – zumindest in fiktiver Form – auch diese subjektiv empfundene Schmach zu tilgen. Diesen Affekt sucht Hagen mit seinem fingierten Vorstoß zu bedienen, um Kriemhild von einer »geradlinigen Rachehandlung« abzubringen.Footnote 37 Von der vage in Aussicht gestellten Preisgabe des Hortverstecks und von der damit verbundenen Vorstellung einer Wiedergutmachung der ihr zugefügten Schmach verführt, übersieht sie, affektiv überwältigt, die damit verknüpfte Bedingung, Gunther, mit dem sie einen Sühneausgleich beschworen hatte,Footnote 38 töten zu müssen. Darüber hinaus mag sie die Vorstellung zusätzlich angestachelt haben, Hagen mit seinem eigenen »Angebot« dreifach zu treffen. Zum einen mit der Offenbarung des Hortverstecks den Schatz preisgebend sie diesbezüglich doch noch zu ergetzen, zum anderen den Tod seines Königs zu verschulden, um schließlich, statt mit dem Leben davonzukommen, doch noch für den Mord an Siegfried den Tod zu finden. In ihrem subjektiv übersteigerten Rachebegehren vermag sie die Falle nicht zu sehen, die ihr Hagen stellt: die Tötung Gunthers und der damit verbundene »Bruch der mit dem heiligen Kuss besiegelten Sühne.«Footnote 39

Kriemhild handelt im von Hagen provozierten Bewusstsein, nicht nur ihre Rache an dem Mörder Siegfrieds zu vollziehen, sondern mit der Preisgabe des Hortverstecks, sich die persönliche Genugtuung zu verschaffen, Hagen vollständig überwunden zu haben.Footnote 40 Mit den Worten Ich bringez an ein ende (NL 2369,1) lässt sie Gunther töten, und als bedürfe es noch eines Beweises ihrer emotionalen Überwältigung, trägt sie dessen Kopf an den Haaren vor die Augen Hagens.

Dieser sieht seine Finte von Erfolg gekrönt und offenbart ihr, sie jetzt herabsetzend auch noch duzend, höchst ironisch, dass sie – nach ihrem »eigenen« Willen (NL 2370,3) – genauso handelte, wie er es sich vorgestellt habe. Hagen ist es erneut gelungen, sie zu instrumentalisieren. Mit den passivischen Worten ist ouch rehte ergangen, (NL 2370,4) macht er Kriemhild deutlich, dass ihr von ihm etwas widerfahren ist und keineswegs ihre eigene rationale Willensentscheidung zugrunde lag.

Zugleich erneuert er triumphierend die Demütigung der Hortwegnahme, wobei er sich im Wissen um den Schatz mit dem Höchsten gleichstellend ein weiteres Register zieht.

   den schaz den weiz nu niemen wan got unde mîn:

   der sol dich, vâlandinne, immer wol verholn sîn. (NL 2371,3 f.)

Schaz und hort werden vom Epiker synonym gebraucht und meinen bis zu dieser Szene den reinen materiellen Wert als varnde guot.Footnote 41 Indem Hagen sich im Wissen um den Aufbewahrungsort des Schatzes mit Gott verbindet, wird auch eine sakrale Dimension insinuiert, die sich im Wort vom himelhort ausprägt.Footnote 42 Dieser »himmlische Schatz«, den Walther von der Vogelweide in seinem Spruch über den stuol ze Rome (L33,21) zur Beute des Papstes erklärt, ist als »Schatz der kirchlichen Gnadenmittel«,Footnote 43 und in toto als »ewige Seligkeit«Footnote 44 zu deuten. Hagen ist nun niemand, dem es um religiöse Werte geht. Er dient keinem Gott, sondern nur seiner weltlichen Verpflichtung als erster Vasall der Krone. In der bedingungslosen Erfüllung dieser höchsten Pflicht der Tronegære sîte, NL 699,2 sieht er sein »Seelenheil«. Und das ist die Ebene, auf der er glaubt, vor Gott bestehen und sich mit ihm verbünden zu können. Damit macht er deutlich, dass sein Verhalten in dieser Rolle nur als wahrhaftig und ohne Falsch zu werten ist, während Kriemhild als »teuflisch«, d. h. »verschlagen und falsch« Handelnde erscheint, der er, sie so von sich abgrenzend, gotes hulde absprechen kann. Hagen personifiziert Kriemhild also nicht als Teufelin, sondern unterstreicht ihr »als Christin, die nie eine Frühmesse versäumt« (NL 1004,3) habe, höchst unchristliches Verhalten. Im gleichen Sinne hat auch Dietrich als Erster Kriemhild so bezeichnet, die sich darin auch genauso wiedererkannte und deshalb schamte sich vil sêre daz Etzelen wîp. (NL 1749,1)Footnote 45

Hagen verschafft sich damit einen weiteren Trumpf im Ringen mit Kriemhild, der höchst subtil zur Wirkung gelangt. Müllers Charakterisierung der Szene als »Machtspiel kalkulierter Doppeldeutigkeiten« findet hier einen weiteren rhetorischen Höhepunkt.Footnote 46

Damit trifft er Kriemhild mit Blick auf den Hortraub zum wiederholten Male tief, diskreditiert sie zugleich in ihrem übersteigerten Rachebegehren als christlich-moralisch Verkommene und geriert sich so in der totalen persönlichen Niederlage noch als Sieger.Footnote 47 Indem Kriemhild für Hagen absehbar emotional auf die ihr zugefügten maßlosen und provozierenden Demütigungen reagierte, trat sie »den Triumph, den sie in den Händen hielt, an ihren Todfeind ab.«Footnote 48

Kriemhild scheint zu ahnen, dass dem so ist, als sie ihre letzten Worte spricht:

   so habt ir übele geltes mich gewert. (NL 2372,1)

Gelt bedeutet nach Benneke-Müller-Zarnke mit Verweis auf diese Stelle »eine zahlung die man leistet, in hinsicht sowohl auf den der zahlt, als auf den der empfängt.«Footnote 49 Damit kann sie auch ausdrücken: Ihr habt es mir übel heimgezahlt!Footnote 50

Ernüchtert besinnt sie sich auf ihr eigentliches Recht zur Rache für ihren geliebten Siegfried. Ein einziges ihn repräsentierendes Symbol, Balmunc, ist für sie noch greifbar. Indem sie Siegfrieds Schwert aus der Scheide zieht, bemächtigt sie sich doch noch ihrer Morgengabe. Im finalen Streich des Rachevollzugs vereinen sich Siegfried, der Hort und Kriemhild ein letztes Mal. Im Schwert Balmunc, das in der Schwertleite mit seinem Träger zu einer unauflöslichen Einheit verschmolz, »ist es – modo allegorice – Siegfried, der Hagen tötet« und der damit metaphorisch endgültig seinen Lebenskreis von Sonnenwende zu Sonnenwende beschließt.Footnote 51

Hagens Tod durch Siegfrieds Schwert ist damit nicht mehr Kriemhilds gerechte Rachetat, sondern demonstriert in ihrer blutrünstigen Unmittelbarkeit zum letzten Mal ein rechtsverletzendes Übermaß, sodass selbst Etzel feststellen muss:

   swie vîent ich im wære, ez ist mir leide genuoc. (NL 2374,4)

Mit dieser letzten Unmäßigkeit bringt Kriemhild sich endgültig um ihr legitimes Racherecht und motiviert so im »Zusammenbruch der höfischen und rechtlichen Ordnung« im völligen Untergang ihres burgundischen Personenverbandes ihre physische Vernichtung durch Hildebrant ohne jegliche Rechtsbefugnis.

IV.

»Recht in der Dichtung« steht im Dienst einer dichterischen KonzeptionFootnote 52 und spiegelt im Nibelungenlied die aktuellen Rechtsvorstellungen um 1200 wider.Footnote 53 In diesem Recht verstricken sich seine Protagonisten und werden in einem Maße schuldig, dass sie darüber dem Tod anheimfallen müssen. Hagen handelt nach vasallischem Recht, wenn er das Leid seiner Königin an Siegfried rächt.Footnote 54 Dass er dabei zwangsläufig zum Meuchelmörder wird, ist unvermeidlich, da er Siegfried auf andere Weise nicht beikommen kann. Damit wird er seinerseits Ziel einer Rachehandlung, welche Kriemhild in so unerbittlicher Konsequenz verfolgt, dass sie selbst wiederum im Übermaß ihres Rachevollzuges zur Rechtsbrecherin mutiert. Gleichzeitig werden beide Antagonisten zu einer ganzen Reihe weiterer Rechtsbrüche, besonders gegen die triuwe, gezwungen, worin sich letztlich alle Beteiligten verstricken.Footnote 55 Der Epiker thematisiert so implizit »Aspekte des zeitgenössischen Rechts zu Fehde und Rache« und ihrer Reglementierung im Aufriss vorstellbarer personeller, temporärer und gewaltbegrenzender Alternativen einer praktikablen Landfriedensordnung.Footnote 56

Und dieses Recht wird in der Schlussszene nochmals fokussiert, um die tödlichen Folgen unkontrollierbar gewordener Rechtsverletzungen final zu motivieren.Footnote 57

Darum ist Hagen bemüht, wenn er Kriemhild zu verleiten sucht, den Tod Gunthers zu veranlassen, um dadurch endgültig und für alle sichtbar zur vâlandinne zu werden.

Kriemhild hatte sich noch in Worms gegenüber ihren Brüdern zur Versöhnung bereitgefunden, die offenkundig nur unter großen Schwierigkeiten vollzogen werden konnte.Footnote 58 Erst auf inständiges Bitten Giselhers ist Kriemhild willens, Gunther zu empfangen, der ihr dann auch mit seinen engsten Vertrauten gegenübertritt. Aber er wagt es nicht, Kriemhilds Bereitschaft zum Sühneausgleich mit dem Versöhnungskuss entgegenzukommen, wære ir von sînem râte leide niht getân. (NL 1114,3) Dieses Zögern scheint nochmals alle Wunden bei ihr aufzureißen, denn nur unter vielen Tränen gelingt, dass si verkôs ûf si alle wan ûf den einen man. (NL 1115,3) Kriemhild ist es schließlich, die die Initiative in dieser Zeremonie ergreift und ihrerseits Gunther mit dem Versöhnungskuss entgegenkommt (NL 1393,3) und so die Ernsthaftigkeit ihrer Sühnebereitschaft unterstreicht, worauf Gunther dies seinerseits eidlich bekräftigt.Footnote 59 (NL 1131,1) Hans Kuhn hat schon darauf hingewiesen, dass dem Epiker die auf »diese Weise abgeschlossene Versöhnung als etwas so Heiliges« gegolten haben müsse, »dass er sich den Gedanken oder Vorsatz, sie zu brechen, nur aus einer Einmischung des Satans zu erklären vermochte.«Footnote 60 Kuhn verweist dabei auf die Nähe zum Friedenskuss aus der katholischen Messeliturgie – osculum pacis, mhd. pæce – als ein besonderes »Zeichen der brüderlichen Liebe und des Versöhntseins in Gott« von nahezu sakramentalem Charakter.Footnote 61 Damit ist mit dem in »geheiligter Form geschlossene Frieden«Footnote 62 ein »neuer Rechtszustand« geschaffen,Footnote 63 dessen Bruch Kriemhild schließlich außerhalb jedes »göttlichen und menschlichen Rechts« stellen wird.Footnote 64

Damit motiviert der Epiker die tragische Selbstvernichtung Kriemhilds in jenem grandiosen HöhepunktFootnote 65, als Meister Hildebrant spontan, von Dietrich und Etzel geduldet, in einer »Richtung ohne irdisches Gericht und Richter« die ihres Racherechts verlustig gegangene Kriemhild in Stücke haut.Footnote 66

Ihr beider Ende ist in der Schlussszene der 39. Aventiure damit handlungslogisch durchgängig vom Epiker motiviert und lässt die Handlung bruchlos schließen.Footnote 67

V.

Die Schlussszene zeigt sich so gedeutet weder als »Scheingefecht« oder »böser Missklang« und »beabsichtigter Bruch« (Kuhn), noch als Verschmelzung von Hort- und Rachemotiv (Nagel). Auch bestätigt sich die Annahme nicht, Kriemhild solle als maßlos goldgierig diskreditiert werden (Schröder), und ist somit auch nicht als »erzähltechnischer Defekt« (Heinzle) zu identifizieren. Eine vermeintliche Hortforderung durch Kriemhild ergibt sich nur aus der ihr von Hagen »gestellten Falle«,Footnote 68 in die sie blindlings hineintappt, in affektiv übersteigertem Glauben, Hagen nicht nur für seine Mordtat büßen zu lassen, sondern ihm auch die ihr mit dem Hortraub zugefügte persönliche Demütigung zu vergelten. Dazu hat der Epiker Kriemhild eine völlig neu dimensionierte Figurenrolle zugeschrieben, die ihr eine »individuelle Innensphäre«, einen Raum subjektiver Innerlichkeit schafft, aus dem heraus das Geschehen vor allem auch in der Schlussszene motiviert ist.Footnote 69 Sie wird so wiederum zum Beleg für Kriemhilds psychologisierte Figurenrolle, denn Hagen erkennt nicht nur diese innerliche Seite, sondern versteht sie auch äußerst erfolgreich für sich auszuschlachten.

Dies vitalisiert bei Kriemhild eine außerordentliche Emotionalisierung, die Hagen schon beim ersten Wiedersehn im Hunnenland erfolgreich gegen sie verwendet. Hier wie auch in der finalen Dialogszene vermag er Kriemhild subjektiv zu instrumentalisieren, was ihr jedes Mal eine schmerzliche Niederlage bereitet. Insofern erscheint die in der Forschung eingeführte und akzeptierte Bezeichnung als 1. und 2. Hortforderungsszene irreführend, denn Kriemhild hatte als Hunnenkönigin kein materielles Interesse mehr an dem Schatz. Es geht ihr lediglich um eine sie befriedigende Wiedergutmachung für den maßlos demütigenden Übergriff, der sie einst in Worms in ihrem Rachebegehren nachhaltig lähmte.

Der Epiker offenbart darin auch seine Intention, zum einen die Folgen kalkulierter Rechtsverstöße dramatisch zu entwickeln und eine daraus erwachsende ins Übermaß abgleitende Rachehandlung bis zum kollektiven Untergang zu problematisieren. Diese Negation eines Ausgleichsgedankens lässt sich zweifellos als ein Verstoß gegen die gesellschaftlichen Normen, die sich mangels einer umfassenden Kodifizierung als Gewohnheitsrecht ausbildeten, in einem eklatanten Bruch der »Spielregeln« konstatieren.Footnote 70 Hinsichtlich der Figurenkohärenz von Kriemhild und Hagen ergibt sich daraus eine deutliche Stimmigkeit.Footnote 71

Damit gewinnt die Rolle Dietrichs von Bern als Repräsentant einer auf Versöhnung und Ausgleich abzielenden Grundhaltung ihr eigentliches Gewicht. »Er ist nicht eng und daher konfliktreich an beide Seiten gebunden, sondern wird trotz sensibler Diplomatie und fortgesetzter Bemühungen, eine Position jenseits der polaren Logik des Konflikts einzunehmen, in den Mechanismus der Eskalation hineingezogen.«Footnote 72. Dietrich erscheint so als die einzige Figur mit dem Potenzial eines Friedensstifters, erhält vom Epiker dafür aber keine Gelegenheit. Jedes Mal, wenn er sich als Alternative zur sich absehbar eskalierenden Ereignisfolge zeigt, hat er die Bühne zu verlassen bzw. wird er vom Epiker aus dem Geschehen herausgenommen. Das geschieht insgesamt fünf Mal. Seinen ersten Auftritt im Nibelungenlied hat Dietrich in der 28. Âventiure bei der Begrüßung der Burgunden im Hunnenland. Seine Warnung an die Ankömmlinge vor Kriemhild (NL 1723 – 1730) ist nach der Markgraf Eckewarts (NL 1635,3 f.) die zweite aus einer realen Gegenwärtigkeit und die erste unmittelbar vor Ort am Hunnenhof und deshalb von bedeutungsvollerem Gewicht. Kriemhilds geradezu panische Reaktion darauf unterstreicht dies ebenso wie ihre offenkundige Furcht vor dem Berner, der sie ungestraft als vâlandinne bezeichnet. (NL 1748) Dietrich trennt sich danach von den Burgunden mit den Worten »daz iuwer komen zen Hiunen daz ist mir wærliche leit« (NL 1750,4), ohne weitere Maßnahmen für eine Begrenzung der zu erwartenden Eskalation zu ergreifen. Etzel, der niene wesse vil manigen argen list, den sît diu küneginne an ir mâgen begie, (NL 1754,2 f.) wird von ihm über seine Befürchtungen nicht in Kenntnis gesetzt. So spitzt sich das vorgezeichnete Geschehen in der Konfrontation zwischen Hagen und Kriemhild weiter zu.

Den nächsten Auftritt Dietrichs schiebt der Epiker in der 31. Aventiure kommentierend ein, indem er berichtet, dass der Berner eine Teilnahme seiner recken am bûhurt und gegen die Burgunden untersagte, denn er vorhte sîner manne, des gie im sicherlîchen nôt. (NL 1874,4) Damit setzt er ein weiteres Zeichen für ein alternatives Verhalten, ohne dass damit ein Eingreifen seinerseits verbunden wäre. Das Geschehen endet mit dem Tod des rîchen Hiunen (NL 1889,3) und mündet letztlich im Ausbruch der Saalschlacht.

Hier tritt Dietrich zum dritten Mal in friedenstiftender Weise auf, erreicht einen kurzzeitigen Waffenstillstand und kann so das hunnische Königspaar, seine Amelungen sowie Rüdiger mit seinen Bechelaren aus dem Schlachtgetümmel herausbringen. (NL 1981–1998) In der Folge dieser Intervention verkündet Rüdiger

   sô sol ouch vride stæte guoten vriunden gezemen, (NL 1996,4)

was durch Giselher bekräftigt wird. Wieder ist durch die Figur des um Deeskalation bemühten Berners eine Alternative präsentiert, die aber ebenso ins Leere laufen wird und den Tod Rüdigers nicht zu verhindern vermag.

Bis dahin wird Dietrich wieder aus dem Geschehen herausgehalten, und zwar mit dem deutlichen Verweis auf seinen Friedenswillen: daz ich mînen fride bôt. (NL 2238,4) Um Aufklärung über das Geschehene zu erhalten, erscheint er zum vierten Mal und schickt beispielhaft besonnen Helpfrîch statt Wolfhart und schließlich auch Hildebranden zu den verbliebenen Burgunden. Er selbst wird vom Epiker auf einen Fensterplatz verwiesen und erneut in die Zuschauerrolle versetzt. So kommt es zu einer weiteren Katastrophe, die den Berner zu einem elenden (NL 2342,4) macht. Erstmals bekennt Dietrich mit den Worten:

   Sît daz es mîn unsælde niht langer wolde entwesen (NL 2321,1)

eine Verantwortung für das blutige Schlachten. Der Epiker emanzipiert ihn aus seiner bisherigen Figurenrolle als instrumentalisierter Friedensbote und macht ihn in der Überwindung und Auslieferung der beiden letzten Burgunden so zum tragischen Wegbereiter für Kriemhilds Rache. Sein letzter Versuch, die Unmäßigkeit der Eskalation doch noch zu durchbrechen, scheitert, muss seiner Rolle gemäß als »Personifizierung der Idee, die Katastrophe hätte verhindert werden können«,Footnote 73 scheitern. Mit weinenden ougen (NL 2365,2) verlässt er das Geschehen, um als hilfloser Beobachter neben Etzel das Unvermeidliche, an Grässlichkeit nicht zu überbietende Ende von Hagen und Kriemhild zu beklagen.

Das ist ›der Nibelunge nôt‹, die im Kontext einer zeitgenössischen Gewalteskalation im Thronstreit zwischen Staufern und Welfen, neben der Frage nach vride unde reht – wie sie auch Walther in seinem Reichston stellte – das höfische Publikum mit der »Normenkonkurrenz« von einer »gottgewollten Ordnung der Welt« und den »Gewohnheiten einer ranggeordneten Kriegergesellschaft« konfrontiert.Footnote 74 Das Epos offenbart sich damit auch als ein politisches Zeugnis, in welchem die aktuelle Problematik von politischer Stabilität und dem Bestand traditioneller Wertvorstellungen als Basis für den staufischen »honor imperii« ihren literarischen Niederschlag findet.