Kindheit ohne Liebe in Heinrich von Kleists "Der Findling"

Nicolos Verführungsversuch seiner Stiefmutter Elvire als Resultat emotionaler Vernachlässigung


Hausarbeit, 2020

15 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Forschungsüberblick

3 Nicolos Sehnsucht nach Zuneigung
3.1 „Verwildertes Herz“: Nicolos emotionale Vernachlässigung
3.2 Fehlgeleitete Erziehungsmethoden
3.3 Sprache durch Symbolik: Die Rolle der Buchstabenklötze

4 Fazit

5 Literaturverzeichnis

1 Einleitung

„Und dies Gefühl (...) zeriss (...) sein verwildertes Herz“1 - also plant der Adoptivsohn, die eigene Mutter zu vergewaltigen, und endet tot zwischen den Knien des Vaters. Heinrich von Kleists Der Findling erschien 1811 im zweiten Band der Erzählungen und dreht sich um das Waisendkind Nicolo, dessen Adoption in die Familie Piachi eine Kettenreaktion lostritt, die mit dem Tod aller Beteiligten endet. Die Erzählung gilt als eine der düstersten des Autors. Da es keine Quellen zur Entstehungsgeschichte gibt, wird angenommen, dass der Text von Kleist kurz vor dessen Selbstmord verfasst wurde. Bis heute wird Der Findling in der Forschung kontrovers rezipiert.2

Im Rahmen dieser Hausarbeit soll auf psychoanalytischer Ebene untersucht werden, inwiefern Nicolos Plan, in der Rolle seines Doppelgängers Colino seine Adoptivmutter Elvire zu verführen, als Ergebnis eines durch fehlende Mutterliebe verstärktes Kindheitstrauma gesehen werden kann. Ziel ist es, zu beweisen, dass der ,,abscheulichste[n] Tat“ (KF 61) des „höllischen Bösewichts“ (KF 63) Nicolo die vergebliche Suche nach Zuneigung zugrunde liegt.

Nach einem Überblick über die aktuelle Forschungslage, soll zunächst das Verhalten Elvires gegenüber dem Adoptivsohn näher beleuchtet werden, um den Einfluss einer mangelhaften emotionalen Bindung als Ursache für dessen späteres Verhalten zu beweisen. Wie sich auch Piachis Erziehungsmethoden negativ auswirken und den Grundstein für die geplante Verführung Elvires legen, wird anschließend untersucht. Darauf folgend soll mithilfe von Kleists Sprachsymbolik untermauert werden, wie aus der vermeintlich sexuellen Begierde Nicolos ein bis in die Kindheit zurückreichender Wunsch nach Liebe abgelesen werden kann.

2 Forschungsüberblick

Lange Zeit wurde sich in der Forschung auf die Aussagen von Kleists auktorialem Erzähler verlassen und Nicolo freiweg als der so beschriebene „Bösewicht“ (KF 63) in die Deutung übernommen. Auch wenn man sich mittlerweile zum Großteil einig ist, dass „jenseits aller parteilichen Lektüre, [...] die Fakten der Erzählung die Wertungen des Erzählers konterkarieren“3, gibt es auch unter gegenwärtigen Rezipient*innen solche, die Nicolo als „Parasiten“4 ansehen, der mit Verstellung in die Familie Piachi gelangt und dort sein Potential als Böser entfaltet5 - dem gegenüber stehen jene Stimmen, die Nicolos Rolle des Verbrechers zu der eines psychisch labilen Egoisten, der bloß durch Wechselwirkungen zum Täter wird, abschwächen6, Elvire und auch Piachi eine Teilschuld einräumen wollen7, sowie das Pendant zum Erstgenannten: Forschungsansichten wie die von Jürgen Schröder, der Nicolo als Opfer einer elektrisch aufgeladenen Dynamik zwischen Stellvertretertum und ausbleibender Kommunikation der Familienmitglieder liest.8 Ingeborg Harms stimmt dieser „negativen Identitätsgeschichte“9 zu, erkennt in der Erzählung jedoch eine „Terminologie des Marktes“10, die somit wesentlich vom Verhalten des Güterhändlers Piachi bestimmt ist.

Benigna Gerisch geht mit ihrem psychoanalytischem Ansatz einen Schritt weiter und erfragt sowohl die Gründe für die „Beliebigkeit dieses Replacement-Geschehens“11 als auch dessen psychologische Auswirkungen auf das Kind Nicolo. Wo Schröder in seinem Pläydoyer für Nicolo diesen zu einem „geborenen Stellvertreter“12 ohne eigene Hintergrundgeschichte verkennt, erklärt Gerisch dessen kindliche Erfahrungen als einen wesentlichen Ursprung für seine Traumatisierung - Howe, der ebenfalls die Hintergrundgeschichte des Findlings betont, sieht in der Erzählung eine zwischenmenschliche „Versuchsanordnung“13.

Bei der Diskussion um die Schuldfrage wird Elvire oft eine bloß passive Rolle zugedacht. Moore hingegen stellt in ihrer Deutung die Adoptivmutter auf die Anklagebank und behandelt den auch für diese Hausarbeit sehr relevanten Aspekt der fehlenden Mutterliebe Elvires.14 Schröder sieht in der versuchten Verführung Elvires eine biblisch anmutende „dreifache Auferstehung“15, mit der Nicolo Elvire aus ihrem „toten Leben“16 und sich selbst aus seiner „Nicht-Existenz“17 auferwecken will.

Auffällig ist, dass in den Kurzzusammenfassungen der Erzählung meist jene Zeitspanne ausgelassen wird, während derer Nicolo noch glaubt, mit Elvires angebetetem Colino sei eigentlich er selbst gemeint.18 Dabei finden sich, wie in folgenden Kapiteln ausgeführt, in den Passagen zwischen der Entdeckung des Colino-Gemäldes und der Aufklärung durch Xaviera wesentliche Textstellen, mit denen sich die These dieser Hausarbeit schlüssig begründen lässt.

3 Nicolos Sehnsucht nach Zuneigung

3.1 Verwildertes Herz

Wer Nicolo als bloße Ersatzfigur ohne eigene Hintergrundgeschichte deutet, vernachlässigt damit den Umstand, dass der Findling kein als Säugling adoptiertes Waisenkind ist, sondern seine Eltern durch die Pest verloren hat - Nicolo ist also keine „Unperson“19 ohne Herkunft, sondern ein kürzlich verwaister und gerade erst wieder genesener Junge, der genau so wie die erwachsenen Mitglieder der Familie Piachi einen Verlust zu verarbeiten hat (vgl. KF 47 f.). Genauer gesagt liegt bereits im Titel der Erzählung somit ein semantischer Fehler vor: es handelt sich nicht um einen Findling, sondern um ein Waisenkind. Nicolos Verhalten in der Kutsche wird von Schröder als ausbleibendes ,,erwartbare[s] Mitgefühl“20 beklagt, Howe geht noch weiter und überdeutet das stille Nüsseknacken (vgl. KF 49) zu einem ,,latente[n] Potential für Gewalt“21. Beide versäumen jedoch, eine Ursache für dieses Auftreten Nicolos zu ergründen - eine „posttraumatische Schockreation“22 in Anbetracht der Vergangenheit des Findlings ist dafür die schlüssige Erklärung. Piachi stellt dem Jungen zwar Fragen, scheint aber nicht in der Lage, emotionale Unterstützung leisten zu können, sodass Nicolo auf sich selbst und seine eigenen Ressourcen - die mitgebrachten Nüsse - zurückfällt (vgl. KF 48 f.).

Trotz der tränenreichen Aufnahme des Kindes wird dieses vom „guten Alten“ (KF 47) nicht aus Mitgefühl mitgenommen, sondern aufgrund einer in der Familie schon traditionell anmutenden Substitutionslogik23 - der Findling ist im wahrsten Sinne ein gefundener Ersatz für den toten Paolo. Vom Erzähler werden die zu füllenden Leerstellen mehrmals betont: da ist der symbolisch wie auch wortwörtlich freie Platz neben Piachi und die junge Frau Elvire, die Nicolo nicht um seiner selbst Willen vorbehaltlos akzeptiert, sondern weil sie von ihrem Mann „keine Kinder mehr zu erhoffen braucht“ (KF 49). Der Eindruck Nicolos als Lückenbüßer und Trostspender wird verstärkt, als die über ihren Stiefsohn weinende Elvire, ungeachtet der widersprechenden Körpersprache Nicolos, diesen einfach umarmt (vgl. KF 49). Gerisch stellt zurecht fest, dass Elvires schnelle Akzeptanz der neuen Situation auf den Leser verstörend wirkt.24

Die neue Adoptivmutter ist auch diejenige, die den Findling durch Bett und Kleidung in die Rolle des Paolo weist. Hinter der vermeintlichen Großzügigkeit der Piachis versteckt sich ein System. Die Mitglieder der Familie versuchen ihre eigene „Unfähigkeit zu trauern“25 durch menschliche Ersätze zu kompensieren - so liest sich auch Elvires Umarmung bei näherer Betrachtung nicht wie das Trösten eines Kindes, sondern wie der Versuch, das eigene Loch der Trauer möglichst schnell mit Ersatz zu füllen, ungeachtet dessen, ob dieser hinein passt oder nicht. Nicolo bekommt so wenig einen individuellen, eigenen Platz in der Familie wie er ein eigenes Bett oder eigene Kleidung bekommt (vgl. KF 49). Er wird weder als eigene Persönlichkeit, noch in seiner Kindlichkeit anerkannt.26

Die Betonung der großzügigen Güter- und Geldgeschenke der Eltern gegenüber dem adoptierten Sohn im stark gerafften Bericht über Nicolos Erwachsenwerden, lassen bei flüchtiger Lektüre schnell übersehen, dass an dieser Stelle ebenso wenig von Zuneigung gesprochen wird. Zwar hat Piachi den Jungen „in dem Maße lieb gewonnen, als er ihm teuer zu stehen gekommen war“ (KF 49), in jenem Fall wird aber lediglich Nicolos „Tauschwert“27 geschätzt. Auch die spätere Zufriedenheit der Eltern bezieht sich auf die Leistung und somit den Nutzen des Adoptivsohns (vgl. KF 49 f.).

Elvire hat in ihren Mädchenjahren selbst einen traumatischen Verlust erleiden müssen, den sie auch als Erwachsene nicht verarbeiten kann: den Tod ihres Retters und Angebeteten Colino (vgl. KF 50 f.). Interessanterweise gilt ihre einzige, erzieherische Sorge von Beginn an Nicolos Frauengeschichten - nachdem Verbote seitens Piachis erfolglos bleiben, benutzt sie, anstatt mit ihrem Adoptivkind zu reden, ihre eigene Nichte, um durch eine Hochzeit „das letzte Übel an der Quelle“ (KF 50) zu verstopfen; belohnt wird Nicolo auch hier wieder mit Geschenken, die in ihm wohl Pflichbewusstsein und Dankbarkeit wecken sollen (vgl. KF 50). Gesorgt wird sich nicht um Nicolo als moralische Person oder um seinen emotionalen Zustand, sondern lediglich darum, ob dieser die an ihn gestellten Erwartungen auch erfüllt. Dies führt zu einer Wechselwirkung aus emotionaler Unnahbarkeit und gleichzeitig permanenter Überwachung Nicolos durch Elvire, unter der er schwerlich eine autonome Persönlichkeit entwickeln kann.28

Später, nach dem Tod von Nicolos Frau Constanze sowie deren gerade erst geborenen Kindes - was durchaus als symbolische Vernichtung Nicolos eigener Kindlichkeit gesehen werden kann29 -, nutzt dieser die Trostsuche als Vorwand, um sich wieder ins Karmeliterkloster zu begeben (vgl. KF 53). Dass dies als Ausrede von den Eltern akzeptiert wird, verdeutlicht erneut, dass jener Trost innerhalb der unkommunikativen Familie nicht zu finden ist; unabhängig davon, ob ein geheimes Treffen mit seiner Geliebten und die Gesellschaft der korrupten Mönche der Suche nach Trost nun widersprechen mögen oder nicht. Elvire, die von Nicolos Plan, Xaviera zu treffen, bloß erfährt, weil sie „in Geschäften des bevorstehenden Begräbnisses“ (KF 53) in sein Zimmer tritt und nicht etwa, um ein persönliches Wort mit ihm zu wechseln, verlässt beim Anblick der Zofe schweigend den Raum; eine Aussprache gibt es nicht. Im späteren Verlauf deutet der Text darauf hin, dass Elvire genau so wie Nicolo im Kloster über jene Dinge spricht, über die im Hause Piachi bloß geschwiegen wird - „da seine Mutter in diesem Kloster zur Beichte ging“ (KF 60).

Abgesehen von Elvires Missfallen an Nicolos sexuellem Umgang erfährt der Leser von keinerlei anderer emotionaler Reaktion, die ihrem Adoptivsohn gilt. Vielmehr wird dieser im Laufe der Geschichte immer wieder Opfer unbewussten und bewussten Ignorierens seitens seiner Adoptiveltern - sei es auf dem Begräbnis Constanzes, auf dem mit Absicht getan wird „als ob Nicolo gar nicht gegenwärtig wäre“ (KF 54), oder im Flur, auf den Elvire mit „ganz gleichgültigen und ruhigen Blick“ (KF 56) tritt, nachdem Nicolo ihr dort aufgelauert hat. Auch als der sehnsüchtige Findling, der am Familienausflug nicht teilnehmen durfte, sich beim Wiedersehen mit der Adoptivmutter besonders um Freundlichkeit bemüht, hat diese nur einen „flüchtigen nichtsbedeutenden Blick“ (KF 58) für ihn übrig.

Seine anschließende Hoffnung auf ein Gespräch mit Elvire wird erneut durch ihr Schweigen enttäuscht und der Gedanke, ihre Liebe könne einem anderen Unbekannten gelten, zerreißt „sein verwildertes Herz“ (KF 58). Dieser Ausdruck ist sinnbildlich für die emotionale Vernachlässigung Nicolos durch seine Adoptiveltern und seinem Defizit an (mütterlicher) Liebe.30 Verwildern kann beispielsweise ein herrenloser Garten, aber ebenso auch ein domestiziertes, in die Natur entlassenes Tier - bei letzterem Vergleich wird verständlich, warum der jugendliche Nicolo mit dem verwildertem Herzen so schnell die „Beute“ (KF 50) von Xaviera Tartini werden konnte. Mit letzterer versucht sich der Sohn die Zuneigung zu holen, die ihm von Mutter und Vater verwehrt bleibt. Ein „warmes menschliches Verhältnis“31 ist innerhalb der Familie nie zustande gekommen. Elvire bringt durch ihr eigenes, unbearbeitetes Colino-Trauma „statt Liebe, Wärme, Vertrauen, [...] Geheimnis, Unzulänglichkeit und kaltes Schweigen in Piacchis Haus“32.

Abgesehen vom kurzen emotionalen Ausbruch Elvires bei der Nachricht über den Tod Paolos (vgl. KF 49), sind Nicolos Affären sowie Elvires eindeutig sexuell konnotierter Umgang mit dem Colino- Gemälde (vgl. KF 55 f.) die einzigen Berührungspunkte, in deren Kontext der Sohn Regungen wie Scham, Erröten bis hin zu Worten der Liebe an der Ersatzmutter wahrnimmt. So wird der erhoffte Weg aus seiner emotionalen Nichtbeachtung von Beginn an verknüpft mit Sexualität. Wie aus dieser körperlichen Begierde dennoch der kindliche Wunsch nach mütterlicher Zuneigung gelesen werden kann, wird im Folgenden noch näher erläutert werden. Zunächst aber wird es um Piachis Erziehungsweise gehen, die einen weiteren Grundstein für Nicolos spätere Rachsucht darstellt.

3.2 Fehlgeleitete Erziehungsmethoden

Um die Bedeutung und Wirkung von Piachis Beerdigungslist auf Nicolo zu ergründen, ist es wichtig, zuerst seine Beziehung zu Xaviera Tartini zu beleuchten. Diese stellt seit dem fünfzehnten Lebensjahr eine Konstante in Nicolos Leben dar und ist mehr als eine bloß auf Körperlichkeiten basierende Affäre - sie ist in Zeiten großer emotionaler Unruhe seine erste Ansprechpartnerin (KF 53, 57) und auffälligerweise auch diejenige, die in der Erzählung im direkten Dialog mit Nicolo dargestellt wird.33 Später wird Nicolo sie sogar ehelichen, da „der Bischof [sie] los zu sein wünschte“ (KF 63), doch zunächst spielt er in Xavieras Leben keine Ersatzrolle, sondern wird als Individuum wahrgenommen. Die Eltern, die Nicolo nicht um seiner selbst Willen anerkennen und bloß das Substitut in ihm sehen können, erfahren hier zum ersten Mal seinen Widerstand, als sich dieser in pubertär anmutendem Trotz über die Besuchverbote hinwegsetzt (vgl. KF 52). Berücksichtigt man den Stellenwert, den Xaviera in Nicolos Leben einnimmt, so muten die folgend beschriebenen Erziehungsmethoden vom alten Piachi retraumatisierend an.

Tawada spricht von Nicolo als einem „Psychopathen“34, der skrupellos seine Mitmenschen manipuliere. Hält man sich jedoch an die Chronologie der Erzählung, ist es Piachi, der als Erster Züge der emotionalen Gewalt und Manipulation aufweist. Schon vor der Beerdigungslist deutet sich immer wieder an, dass Nicolo die direkte Konfrontation mit dem Ziehvater möglichst meiden will (vgl. KF 53); es scheint in dieser Beziehung eine „lange Kette unangenehmer Verhöre, Nörgeleien und Strafgerichte“35 zu existierten. Fügt man Piachis Verhalten gegenüber der Zofe Xavieras hinzu, der er „halb mit List, halb mit Gewalt“ (KF 54) den Brief abnimmt, und seine spätere Intention, Nicolo wie einen Hund mit der Peitsche zu bestrafen (vgl. KF 63), drängt sich der Verdacht auf, dass es auch schon früher Gewalt in der Erziehung gegeben haben mag. Nicolos Wunsch, seine Vertraute Xaviera weiterhin zu sehen und gleichzeitig die väterliche Bestrafung zu umgehen (vgl. KF 55), ist somit nur allzu verständlich und nicht als rücksichtslos manipulativer Akt zu bewerten.

Den Höhepunkt dieser falsch laufenden Erziehung stellt Piachis Beerdigungsschauspiel dar. Constanze, die schon einmal als Mittel zum Zweck benutzt wurde, wird als Leichnam wie ein Gegenstand vom alten Vater missbraucht, um Nicolo zu erziehen.36 Piachi stellt zwar den Inzenator dieser Szene dar, doch da der Leser von keinerlei Einwänden oder Äußerungen seitens Elvire erfährt, kann man davon ausgehen, dass sie einverstanden ist. Anstelle eines klärenden Gespräches innerhalb der Familie, wird der langjährige Adoptivsohn vor den Augen der Öffentlichkeit gedemütigt (vgl. 54 f.). Nicolo, der schon im Kindesalter mit dem Tod nahestehender Menschen konfrontiert wurde, wird vorgegaukelt, seine engste Vertraute liege tot im Sarg. Auch wenn der Findling diese Lüge schnell durchschaut, wird er doch darum gebracht, sich angemessen von seiner tatsächlich toten Ehefrau zu verabschieden. Nach dieser schockierenden Begebenheit hüllen sich die Eltern Piachi wieder einmal in Schweigen (vgl. KF 55), das Erlebte wird nicht zusammen reflektiert, es bleibt dem Sohn selbst überlassen, welche Lehre er daraus zieht.

Nicolo hat während seines Lebens bei den Piachis eine Erziehung der Wortlosigkeit genossen und gelernt, dass Menschen und menschliche Rollen Zweckmittel sind und Gefühle nicht durchlebt, sondern verdrängt werden.37 Er ist einem Teil von Elvires Geheimnis - und damit ihrer emotionalen Verstellung - auf den Grund gekommen und hat dadurch außerdem erfahren, dass der äußere Schein nicht der inneren Wahrheit entspricht.38 Nicolo, der Elvire für die Verantwortliche seiner Bestrafung hält, wendet deshalb später eine ähnliche Strategie an, um sein Ziel zu erreichen: Wo Piachi die lebendige Geliebte Nicolos mit einer Toten tauscht, wandelt Nicolo die List um, indem er den toten Geliebten Elvires mit einem Lebenden - sich selbst - auswechselt (vgl. KF 62).

[...]


1 Heinrich von Kleist: Der Findling. In: Ders.: Die Verlobung in St. Domingo. Das Bettelweib von Locarno. Der Findling. Erzählungen. Anmerkungen von Christine Ruhrberg. Ditzingen: Reclam 2002 (RUB 8003), S. 47-65, hier: S. 59.1m Folgenden zitiert mit der vorangstellten Sigle „KF“ und Seitenzahl in Klammem direkt im Fließtext.

2 Vgl. Günter Biamberger: Der Findling. In: Ingo Breuer (Hrsg.): Kleist-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung. Stuttgart, Weimar: J. B. Metzler 2009, S. 133-136, hier: S. 133.

3 Vgl. ebd., S. 134.

4 Mathias Weißbach: Natürliche und rhetorische Irrtümer. In: Biamberger, Günter u. a.(Hrsg.): Kleist-Jahrbuch 2016. Stuttgart: J. B. Metzler 2016, S. 82-99, hier S. 82.

5 Vgl. Yoko Tawada: Rede zur Verleihung des Kleist-Preises 2016. In: Allerkamp, Andrea u. a. (Hrsg.): Kleist- Jahrbuch2017. Stuttgard: J. B. Metzler2017, S. 11-16, hier S. 12.

6 Vgl. Erna Moore: Heinrich von Kleist „Der Findling“. Psychologie des Verhängnisses. In: Colloquia Germanica 1974 (8), S. 275-297, hier S. 282.

7 Vgl. Manfred Durzak: Zur utopischen Funktion des Kindesbildes in Kleists Erzählungen. In: Colloquia Germanica 1969 (3), S. 111-129, hier S. 127.

8 Vgl. Jürgen Schröder: Kleists Novelle „Der Findling“. Ein Plädoyer für Nicolo. In: Kreutzer, Hans Joachim (Hrsg.): Kleist-Jahrbuch 1985. Berlin: Erich Schmidt Verlag 1985, S. 109-127.

9 Ebd., S. 127

10 Ingeborg Harms: Kleists Findling zwischen Krypta und Handelsgewölbe. In: Lubkoll, Christine und Oesterle, Günter (Hrsg.): Gewagte Experimente und kühne Konstellationen. Kleists Werk zwischen Klassizismus und Romantik. Würzbmg: Königshausen & Neumann 2001, S. 150-167, hier S. 153

11 Benigma Gerisch: ...und unter ihr die weite, öde entsetzliche See. Psychoanalytische Anmerkungen zur Adoptionstragödie und Desymbolisierung in Kleists Erzählung Der Findling. In: Gutjahr, Ortrud (Hrsg.): Heinrich von Kleist. Jahrbuch für Literatur und Psychoanalyse. Band 27. Würzburg: Königshausen & Neumann 2008, S. 227 -247, hier: S. 233.

12 JürgenSchröder: EinPlädoyer für Nicolo, S. 113.

13 Steven Howe, Ricarda Schmidt, Allan Sean: Unverhoffte Wirkungen. Erziehung und Gewalt im Werk Heinrich von Kleists. Würzburg: Königshausen & Neumann 2014, S. 91.

14 Vgl. Erna Moore: HeinrichvonKleist„DerFindling“, S. 294-295.

15 JürgenSchröder:EinPlädoyer für Nicolo, S. 119.

16 JürgenSchröder: EinPlädoyer für Nicolo, S. 119.

17 Ebd., S. 119.

18 Vgl. Günter Biamberger: Der Findling, S. 134

19 Ebd., S. 113.

20 Ebd., S. 123.

21 StevenHowe: Unverhoffte Wirkungen, S. 94.

22 Benigma Gerisch: ...undunterihr die weite, öde, entsetzliche See, S. 236.

23 Vgl. Jürgen Schröder: EinPlädoyer für Nicolo, S. 114.

24 Benigma Gerisch: ...undunterihr die weite, öde, entsetzliche See, S. 234.

25 Ebd., S. 230.

26 Klaus-Christoph Scheffels: Rückzug. Zur Negierung von Raum- und Körperordnungen im Werk Heinrich von Kleists. Frankfurt am Main: Lang 1986, S. 163.

27 Ebd., S. 162.

28 Vgl. EmaMoore: HeinrichvonKleists „Der Findling“, S. 282, 284.

29 Vgl. Manfred Durzak: Zur utopischen Funktion des Kindesbildes in Kleists Erzählungen, S. 128.

30 Vgl. EmaMoore: HeinrichvonKleists „DerFindling“, S. 287.

31 Ebd.,S.283.

32 Ebd., S. 294 f.

33 Benigma Gerisch: ...undunterihr die weite, öde, entsetzliche See, S. 235.

34 Yoko Tawada: Rede zur Verleihung des Kleist Preises 2016,S. 12.

35 Erna Moore: HeinrichvonKleists„Der Findling“, S. 284.

36 Vgl. Ingeborg Harms: Kleists Findling zwischen Krypta und Handelsgewölbe, S. 157.

37 Vgl. Gertrud Maria Rösch: Die „logogriphische Eigenschaft“. Kryptographie als Symbol für die Wiederkehr des VerdrängteninDerFindling(1811). In: Literatur fürLeserO4/25 (2002), o. O.: PeterLang2002, S. 217—226, hier: S. 223.

38 Vgl. Benigma Gerisch: ...undunterihr die weite, öde, entsetzliche See, S. 240.

Ende der Leseprobe aus 15 Seiten

Details

Titel
Kindheit ohne Liebe in Heinrich von Kleists "Der Findling"
Untertitel
Nicolos Verführungsversuch seiner Stiefmutter Elvire als Resultat emotionaler Vernachlässigung
Hochschule
Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover
Note
1,3
Autor
Jahr
2020
Seiten
15
Katalognummer
V974679
ISBN (eBook)
9783346324580
ISBN (Buch)
9783346324597
Sprache
Deutsch
Schlagworte
kindheit, liebe, heinrich, kleists, findling, nicolos, verführungsversuch, stiefmutter, elvire, resultat, vernachlässigung, kleist, nicolo, colini, trauma, piachi
Arbeit zitieren
Laura Neunast (Autor:in), 2020, Kindheit ohne Liebe in Heinrich von Kleists "Der Findling", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/974679

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