Einleitung

Am 13.05.2020, 20:00 Uhr, „eastern standard time zone“, hielt die weltumspannende Fangemeinde der Rockmusik den Atem an. In einem Interview mit Dan Irivin Rather, einem für AXS TV tätigen Journalisten, erklärte Ian Anderson, Kopf der britischen Gruppe Jethro Tull: „… my days are numbered“ (dt. meine Tage sind gezählt). Grund dafür sei eine seit einigen Jahren bei ihm diagnostizierte chronisch obstruktive Lungenerkrankung (COPD). Zwar, so merkte der 72-jährige Frontmann an, habe er in jüngeren Jahren geraucht, die letzten 30 Jahre jedoch nicht mehr. Er führe seine Lungenerkrankung auf den häufigen Einsatz von Verdampfer-Nebelmaschinen während der Konzerte zurück. Nachdem eine Welle von Beileidsbekundungen sich nicht abschwächte, stellte Anderson klar, dass er gemeint habe, dass seine Tage als Sänger gezählt seien. Zwar beeinträchtige die COPD seine Stimme, aber er lebe relativ gut damit; in den letzten 18 Monaten sei es zu keiner Exazerbation gekommen.

Nur gelegentlich wurde bisher über die Verwendung von Elementen der Popkultur zur Vermittlung medizinischen Fachwissens publiziert [2,3,4,5,6,7,8,9]. Dieser Beitrag soll einen Blick über den Tellerrand der naturwissenschaftlich geprägten Medizin werfen. Wissen aus Musik, Literatur, Kultur, Psychologie wird in einen Kontext mit medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen gestellt. Es öffnet sich die Sicht auf elementare menschliche Sorgen und Nöte und die notwendige, nicht nur medizinische Hilfe. In diesem Essay soll nun ein berühmter Song von Jethro Tull („Aqualung“) als Impulsgeber zur Vermittlung folgender, für die Geschichte der Rockmusik und für die Anästhesie und Intensivmedizin relevanter, Sachverhalte dienen:

  • Biografie von Jethro Tull,

  • Entstehungsgeschichte und Interpretation des Songs „Aqualung“ (1971) im Hinblick auf:

    • diskriminierendes Verhalten von Mitarbeitern des Gesundheitswesens gegenüber Wohnungslosen,

    • Epidemiologie von typischen, schweren Erkrankungen von Wohnungslosen,

    • klinische Bedeutung des „Todesrasselns“ („death rattle“).

Die Rockband „Jethro Tull“ spielte im Jahre 1971 ihr viertes Album mit dem Titel Aqualung ein und schrieb damit Musik- und Zeitgeschichte (Chrysalis Records, 1971). Zur Einstimmung auf den Artikel empfehle ich das Audio-Video des live gespielten Stückes „Aqualung“, z. B. auf YouTube, anzusehen und -hören. Verfolgen Sie den Liedtext auf www.songtexte.com (QR-Code zum Lied in Abb. 1). Die Abb. 2 illustriert die Handlung des Liedes. Jennie Anderson, damalige Ehefrau von Ian Anderson, inspirierte ihren Mann mit Fotografien von Wohnungslosen aus dem Londoner Süden zu der Figur des Aqualung und zum gesamten Text des Liedes [10].

Abb. 1
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QR-Code: Songtext „Aqualung“

Abb. 2
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Ein Wohnungsloser namens Aqualung sitzt im Winter auf einer Bank im Park und beobachtet spielende kleine Mädchen. Nach einer Weile sucht er eine öffentliche Toilette auf, um seine Füße aufzuwärmen. Auf diesem Weg bückt er sich nach einer Zigarettenkippe, dabei schmerzt sein Bein sehr stark. Nach der Rückkehr setzt er sich wieder auf die Bank, die Heilsarmee kommt vorbei und bietet ihm heißen Tee an. Schließlich versucht ein Mädchen mit Namen „cross-eyed Mary“ ihn anzusprechen. Aqualung jedoch fürchtet sich und flüchtet. Später kehrt er wieder zu seiner Parkbank zurück und beginnt zu sterben. Dabei atmet er schwer und geräuschvoll – so wie ein Tiefseetaucher in seine „aqualung“ (Taucherlunge). (© die Künstlerin, all rights reserved. Mit freundlicher Genehmigung)

Ian Scott Anderson und Jethro Tull

Ian Scott Anderson erblickte am 10.08.1947 in Dunfermline, Schottland, das Licht der Welt. Bekannt wurde er als Sänger, Komponist, Texter, Querflötist und Gitarrist, besonders in seiner Rolle als Frontmann der britischen Band Jethro Tull. Sein großer Verdienst war die Einführung der Querflöte in das Rockgenre. Erst ab ca. 1967 hatte er sich diesem Instrument zugewandt und das Spiel autodidaktisch bis zur Virtuosität erlernt. Die Band, benannt nach dem englischen Agronomen Jethro Tull (*1674–†1741) [11], gründete er Weihnachten 1967 in Blackpool. Er ist das einzige verbliebene Gründungsmitglied.

Interessanterweise hat sich Anderson auch mit medizinischen Themen intensiv auseinandergesetzt: Nachdem er in den 1990er-Jahren bei einem Langstreckenflug eine Beinvenenthrombose erlitten hatte, veröffentlichte er 2001 auf seiner Homepage praxistaugliche Ratschläge zur Prävention [12].

Andersons musikalische Leistungen fanden nicht nur bei Rockfans Anerkennung: Königin Elisabeth II. ehrte ihn 2007 mit der Ernennung zum „Member of the Order of the British Empire“ (MBE). Die Edinburgher Heriot-Watt University verlieh ihm 2006 die Ehrendoktorwürde für Literatur; eine weitere Ehrendoktorwürde („Doctor of Letters“) erhielt er 2011 von der University of Abertay Dundee.

Medizinische Aspekte des Liedes „Aqualung“

Das Meilensteinalbum Aqualung erschien am 19.03.1971 bei Chrysalis als Vinylschallplatte. Es erzählt die Geschichte eines älteren Wohnungslosen namens Aqualung, der im Winter auf einer Parkbank in London sitzt (Abb. 2). Man könnte denken, dass er junge Mädchen beim Spiel beobachtet, möglicherweise auch mit sexuellem Verlangen. Vielleicht aber versuchen auch junge Mädchen, den alten Mann durch aufreizendes Verhalten zu irritieren. Die englische Formulierung bleibt hier zweideutig: „Eying little girls with bad intent“ kann heißen „Starrt mit bösen Absichten junge Mädchen an“ oder „Schaut dabei zu, wie junge Mädchen sich aufreizend verhalten“. Es ergeben sich hier Anklänge an die Szene in James Joyces großen Roman Ulysses, in der Leopold Bloom die attraktive Gerty MacDowell am Strand von Sandycove beobachtet [13].

Aqualung flüchtet, als ein Mädchen namens „cross-eyed Mary“ (dt. schielende Mary) auf ihn zugeht. Der Name des Mädchens ist auch der Titel eines weiteren Liedes auf der Langspielplatte Aqualung (Chrysalis Records, 1971). „Cross-eyed Mary“ ist ein Schulmädchen, das sich der Prostitution mit älteren Männern hingibt. Die Figur des Aqualung hat im Lied „Cross-eyed Mary“ einen Cameo-Auftritt: „Or maybe her attention is drawn by Aqualung“. Möglicherweise flüchtet Aqualung vor cross-eyed Mary aus Angst vor Gewalt. Wohnungslose sind besonders häufig von gegen sie gerichteter Gewalt betroffen [14]. Auch aus der Bundesrepublik Deutschland werden erschütternde Zahlen zur Gewaltanwendung gegen Wohnungslose berichtet: Die Zahl der angezeigten Straftaten gegen Wohnungslose hat sich in den vergangenen Jahren deutlich erhöht. Im Jahr 2017 waren es bereits 1389, mehr als doppelt so viele wie im Jahr 2011 [15]. In den Jahren 1989–2019 gab es 250 Todesfälle von Wohnungslosen durch Gewalt von nichtwohnungslosen Tätern, 305 Todesfälle durch Gewalt von wohnungslosen Tätern [16]. Unter einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) leiden 35–53 %. Das ist ein Vielfaches der Prävalenz, die bei Nichtwohnungslosen gefunden wurde (2–3 %) [17, 18].

Im weiteren Verlauf bückt sich Aqualung nach einer Kippe, dabei tut ihm das Bein sehr weh, danach wandert er mühsam zu einer öffentlichen Toilette, um sich die Füße zu wärmen. Wohnungslose zählen zu den durch Nikotinmissbrauch mit am stärksten gefährdeten Populationen [19].

Ian Anderson war in jungen Jahren fasziniert von der US-amerikanischen Fernsehserie Sea Hunt (dt. Abenteuer unter Wasser), die von 1958 bis 1961 regelmäßig im Fernsehprogramm der USA und später auch in der Bundesrepublik Deutschland lief. Geschildert werden die Unterwasserabenteuer von Mike Nelson, einem ehemaligen Taucher („Froschmann“) der Marine der USA, der im Auftrag von Versicherungsgesellschaften, Bergungsunternehmen und Regierungsstellen gegen Verbrechen ankämpft und dabei oft von Bösewichten oder gefährlichen Meerestieren bedrängt wird. Ian Anderson hatten sich die charakteristischen Geräusche eingeprägt, die entstehen, wenn ein Taucher unter Wasser mit seinem „self-contained underwater breathing apparatus“ (SCUBA; dt. Drucklufttauchgerät) atmet [20]. In der Audiodatei: Unterwassertauchergeräusche (Zusatzmaterial online, Hinweisbox am Anfang des Beitrags) ist ein solches Geräusch zu hören (die Aufnahme wurde freundlicherweise von Herrn Matthias Schiffer, Tauchschule Kupferdreh, Essen, zur Verfügung gestellt).

Der Intensivmediziner wird die Textzeile „… And you snatch your rattling last breaths / with deep-sea-diver sounds“ assoziieren mit dem akustisch sehr ähnlichen Death rattle der während nichtunterstützter Spontanatmung Sterbenden. Unter Death rattle (dt. „Todesrasseln“) versteht man gurgelnde Atemgeräusche, die in In- und Exspiration vernehmbar sind. Atemwegssekrete sind an ihrer Entstehung beteiligt [21]. Todesrasseln tritt bei 25–92 % der Patienten in der finalen Phase ihres Lebens auf [22,23,24]. Angehörige reagieren oft verstört auf diese für sie beunruhigenden, als bedrohlich empfundenen Geräuschphänomene und erinnern sich oft noch Jahre später daran [25, 26]. Zur symptomatischen Behandlung werden Umlagerung des Patienten, endobronchiale Absaugung und Anticholinergika mit wechselndem Erfolg eingesetzt [27]. Die Überlebenswahrscheinlichkeit wird durch Anticholinergika nicht beeinflusst [28]. Eine Metaanalyse kam zu dem Ergebnis, dass es keine Evidenz dafür gibt, dass irgendeine der heute bekannten nichtpharmakologischen oder pharmakologischen Interventionen der Verwendung von Placebo überlegen ist [27]. Es ist wichtig zu wissen, dass Todesrasseln nicht mit Atemnot des Patienten gleichzusetzen ist: Bei Patienten mit und ohne Todesrasseln zeigte sich das gleiche Ausmaß von Atemnot. Die Lautstärke des Todesrasselns ist nicht mit dem Ausmaß der Atemnot korreliert [29]. Todesrasseln ist also als Vorbote des nahenden Todes anzusehen, und die Angehörigen am Krankenbett sollten einfühlsam und adäquat über seine Bedeutung unterrichtet werden [30].

In der Audiodatei: Todesrasseln (Zusatzmaterial online, Hinweisbox am Anfang des Beitrags) ist das Todesrasseln einer 98-jährigen Karzinompatientin, aufgenommen 2 h vor ihrem Tod, zu hören. Der Wert auf der „Death Rattle Intensity Scale“ betrug 3, d. h., die Geräusche waren in einem Abstand von 10 m deutlich vernehmbar [29].

Anhänger des Western Filmgenre werden die über achtminütige Duellszene zwischen dem Namenlosen (gespielt von Charles Bronson) und „Frank“ (dargestellt von Henry Fonda) in Sergio Leones Epos Once Upon a Time in the West (dt. Spiel mir das Lied vom Tod) aus dem Jahr 1968 kennen. Während sich die Gegner in Vorbereitung auf den Showdown taxieren, läuft klagende, von Franco de Gemini gespielte, Mundharmonikamusik. Beim Schusswechsel verwundet er Frank schwer und steckt dem Sterbenden, der sich nicht mehr dagegen wehren kann, eine Mundharmonika zwischen die Zähne. Die im Film teilweise von anderen Instrumenten begleitete Mundharmonikasequenz trägt auf dem Soundtrack den Titel „Death Rattle“. Sie kündigt den nahenden Tod des angeschossenen Frank an.

Und alles Leben nur ein vorübergehender Seufzer / Ein schwacher Wind, der die Totenruhe entfacht.

Dieser Gedanke ist mehr als 1000 Jahre alt. Er stammt aus der Feder des persischen Philosophen und Dichters Hakim Omar Khayyam (*1048 n. Chr.–†1131 n. Chr.). Khayyam hatte beobachtet, dass bei sterbenden Tieren und Menschen, in den letzten Momenten häufig sehr tiefe Atemzüge auftreten. Diese könnte man als „Seufzer“ bezeichnen, bei denen etwa das 2,5-fache des normalen Atemzugvolumens bewegt wird. Solche tiefen Atemzüge können zu einer Verlagerung des interventrikulären Septums und konsekutiv zu einer Reduktion des Herzzeitvolumens führen. Die Seufzer läuten den Tod ein. Im englischen Sprachgebrauch wird daher die vertiefte Atmung Moribunder „death knell“ (dt. Totengeläut) genannt [31]. Und so mag auch Aqualungs letzter rasselnder Atemzug tief gewesen sein, und sein geschwächtes Herz hörte dann auf zu schlagen (Abb. 3).

Abb. 3
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Aqualung saugt rasselnd, mit Tiefseetauchergeräusch, den letzten Atem ein (© die Künstlerin, all rights reserved. Mit freundlicher Genehmigung)

Gesundheitliche Probleme von Wohnungslosen

Jede Nacht sind in den USA fast 570.000 Menschen wohnungslos, 37,2 % davon verbringen die Nacht ungeschützt [32]. Wohnungslosigkeit ist laut dem US Department of Housing and Urban Development (HUD) wie folgt definiert [33]:

Einzelne oder eine Familie, die nicht über eine feste, regelmäßige und adäquate Übernachtungsmöglichkeit verfügen, d. h.:

  • Übernachtung auf einem öffentlichen oder privaten Platz, der nicht zur Unterbringung von Menschen vorgesehen ist;

  • Leben in öffentlichen oder privaten Unterkünften, die auf eine temporäre Unterbringung ausgerichtet sind (inklusive Gemeinschaftsunterkünfte, Übergangsunterkünfte, Hotels oder Motels, die von Wohltätigkeitsorganisationen oder Behörden bezahlt werden);

  • sie verlassen eine Einrichtung, wo sie zuvor ≤90 Tage gewohnt haben. Vorher hatten sie in einer Notunterkunft oder an einem Ort gelebt, der nicht zur Unterbringung von Menschen vorgesehen ist.

Für Europa wird die Zahl der Wohnungslosen pro Nacht auf ca. 400.000 Menschen geschätzt. Eine einheitliche Definition existiert nicht. Es wird nicht unterschieden, zwischen denen, die ungeschützt auf der Straße nächtigen oder z. B. bei Bekannten, in von der öffentlichen Hand bereit gestellten Unterkünften, in Pensionen oder Hotels [18].

Im Jahr 2018 gab es in Deutschland 678.000 wohnungslose Menschen; das ist, im Vergleich zum Vorjahr, ein Anstieg um 4,2 % [34]. Geschätzte 50.000 Personen leben kontinuierlich auf der Straße und nächtigen in Parks, in Hauseingängen, unter Brücken oder in leer stehenden Gebäuden [35]. Diese werden als Obdachlose bezeichnet und bilden eine Untergruppe der Wohnungslosen.

In einer von der Berliner Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales in Auftrag gegebenen Untersuchung wurde die Zahl der Obdachlosen in der Nacht vom 29. auf den 30.01.2020 bestimmt. Sie betrug 1976. Details zum Aufenthaltsort sind in Abb. 4 dargestellt [36]. Die Temperaturen lagen zwischen 3 °C und 5 °C [37].

Abb. 4
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Aufenthaltsorte von 1976 Obdachlosen in Berlin in der Nacht vom 29. auf den 30. Januar 2020. (Modifiziert nach [36])

Wohnungslose sind durch Einsamkeit, fehlende Möglichkeit zum Rückzug, mangelnde Möglichkeit zur Körperpflege, Mangelernährung, ungünstige Witterungsbedingungen, Substanzmissbrauch, Infektionen und Gewalterfahrungen extrem gefährdet, an Seele und Körper zu erkranken [38]. Der Zugang zu medizinischer Versorgung ist oft schwierig. Häufig empfinden Wohnungslose, dass sie von Mitarbeitern des Gesundheitswesens diskriminierend behandelt werden [39,40,41,42,43].

In mehreren Untersuchungen ist dokumentiert, dass die Gesamtsterblichkeit von Wohnungslosen deutlich über der der Allgemeinbevölkerung liegt. Die standardisierte Mortalitätsrate (das Verhältnis von beobachteten Todesfällen in der Studiengruppe zu den erwarteten Todesfällen in der Allgemeinbevölkerung, stratifiziert nach Alter und Geschlecht) ist bei Wohnungslosen 2‑ bis 5‑mal höher [18]. Dazu tragen neben der weiter oben dargestellten Gewaltexposition auch die bei ihnen häufiger als in der Normalbevölkerung auftretenden Infektionskrankheiten, neuropsychiatrische Störungen und Substanzmissbrauch bei (Abb. 5; [18, 44]).

Abb. 5
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Vergleich der Häufigkeiten chronischer Erkrankungen von wohnungslosen und nichtwohnungslosen Veteranen. (Modifiziert nach LePage et al. [44])

Wohnungslose sind während der COVID-19-Pandemie einem hohen Infektionsrisiko ausgesetzt. In den US-amerikanischen Städten Seattle, Boston und San Francisco wurden von Ende März 2020 bis Mitte April 2020 in Unterkünften für Wohnungslose insgesamt 730 Bewohner und 148 Betreuer getestet. Von den Bewohnern waren 17–66 % positiv, von den Betreuern 16–30 % [45].

Immer wieder hat sich die Rock- und Popkultur mit dem Problem der Wohnungslosen auseinandergesetzt; zahlreiche Lieder wurden darüber geschrieben. Zu den bekanntesten zählen: Bob Dylan, „Like a Rolling Stone“ (1965); Ralph McTell, „Streets of London“ (1969); Tom Waits, „Waltzing Matilda“ (1976); Paul Simon, „Homeless“ (1986); Melanie C, „If that were me“ (1999). In diesen Liedern wird von Hunger, Einsamkeit, verlorenem Stolz und Selbstmord der Betroffenen erzählt.

Anästhesie bei Wohnungslosen

Wohnungslose müssen sich am häufigsten wegen Traumafolgen Narkosen und Operationen unterziehen (64–80 %), gefolgt von Eingriffen an den Harnwegen (9 %), Beseitigung von infektiösen Herden (9 %) sowie zur Behandlung von gastrointestinalen Störungen, wie Darmperforation, Ileus und akuter Cholezystitis (6 %). Wegen der charakteristischen Begleiterkrankungen sollten die in Tab. 1 aufgelisteten Maßnahmen perioperativ erwogen werden [46]. Schon bei der präoperativen Evaluation sollte geklärt werden, wo der wohnungslose Patient sich nach Krankenhausentlassung aufhalten wird. Auch muss bedacht werden, dass 9,3–14,3 % der Wohnungslosen das Krankenhaus gegen ärztlichen Rat verlassen [46].

Tab. 1 Perioperativ empfohlene Maßnahmen bei Wohnungslosen. (Modifiziert nach Swisher et al. [46])

Intensivtherapie bei Wohnungslosen

Die Intensivtherapie von Wohnungslosen wird wenig beforscht. Gründe hierfür sind: (1) Wohnungslose zählen zu den vulnerablen Patientenpopulationen und werden von Ethikkommissionen oft nicht zur Teilnahme an Studien zugelassen. (2) Aufgrund ihrer intensivmedizinischen Erkrankungen und ihrer Komorbiditäten sind sie oft nicht einwilligungsfähig. Sie pflegen meist keine familiären Kontakte, und so steht zunächst kein Bevollmächtigter zur Verfügung. Behördlich eingesetzte Bevollmächtigte lehnen Studienteilnahmen typischerweise ab. (3) Studienleiter befürchten, dass Termine für Untersuchungen nach Entlassung aus dem Krankenhaus nicht wahrgenommen werden. (4) Wohnungslose sind mit einem Stigma behaftet und somit nicht „attraktiv“ für Untersucher und Sponsoren. (5) Die Häufigkeit von Wohnungslosigkeit variiert geografisch; oft findet man eine Ballung in Großstädten. Dies würde spezielle Studiendesigns erfordern [47].

Allerdings konnten in den letzten Jahren einige Besonderheiten der Intensivtherapie von Wohnungslosen im Vergleich zu Nichtwohnungslosen erarbeitet werden. In der auf diesem Gebiet bisher größten Untersuchung wurden in den USA die Daten von 781.540 auf die Intensivtherapiestationen (ITS) von 417 Krankenhäusern aufgenommenen Patienten retrospektiv analysiert (Januar 2010 bis Juni 2011). Von allen Patienten waren 2278 wohnungslos. Wohnungslose kamen häufiger aus städtischen Regionen, waren jünger und häufiger männlichen Geschlechts und hatten öfter einen ungeklärten Versicherungsstatus. Neurologische Störungen, Lebererkrankungen, AIDS, Gerinnungsstörungen, Alkohol- und Drogenmissbrauch, Gewichtsverlust, Störungen des Wasser- und Elektrolythaushalts, Psychosen und Depressionen fanden sich bei ihnen als Komorbiditäten statistisch signifikant häufiger. Die mittlere Verweildauer auf der ITS unterschied sich nicht, jedoch war die mittlere Verweildauer im Krankenhaus signifikant länger. Die Krankenhaussterblichkeit der Wohnungslosen war 1,75-fach niedriger (4,8 % vs. 8,4 %, p < 0,001) [48].

Etwas andere Zahlen ergeben sich aus einer Untersuchung auf einer einzelnen internistischen ITS in einem französischen Krankenhaus [49]. Daten von 421 Aufnahmen Wohnungsloser wurden mit Daten von 9353 Nichtwohnungslosen verglichen. Die Sterblichkeitsraten auf der ITS und im Krankenhaus waren bei Wohnungslosen und Nichtwohnungslosen statistisch nicht signifikant unterschiedlich (ITS: 19,1 % vs. 18 %, p = 0,62; Krankenhaus 20,8 % vs. 20,6 %, p = 0,95). Die Sterblichkeitsraten auf der ITS und im Krankenhaus waren am höchsten bei Patienten, die auf der Straße lebten. Die mittlere Verweildauer der Überlebenden auf der ITS und im Krankenhaus war bei Wohnungslosen signifikant länger als bei Nichtwohnungslosen (ITS: 6,5 Tage vs. 5,6 Tage, p = 0,036; Krankenhaus: 19,1 Tage vs. 14,7 Tage, p = 0,0015).

Die Aufnahmediagnosen unterschieden sich statistisch nicht signifikant voneinander: Koma und Bewusstseinsstörungen waren am häufigsten bei Wohnungslosen (34,4 % bei Wohnungslosen vs. 20,9 % bei Nichtwohnungslosen, p < 0,001). Hypothermie wurde bei 3,1 % der Wohnungslosen und bei lediglich 0,1 % der Nichtwohnungslosen diagnostiziert (p < 0,001).

Diskussion

Ian Andersons Lungenerkrankung und der berühmte Rocksong „Aqualung“ werden herangezogen, um dem Anästhesisten und Intensivmediziner medizinisch relevante Charakteristika von Wohnungslosen zu vermitteln und auf deren prekäre psychische Situation hinzuweisen. Wohnungslose zählen zu den vulnerablen Kollektiven unserer Gesellschaft und benötigen daher dringend die fürsorgliche Betreuung von allen Mitarbeitern des Gesundheitswesens.

Bisher wurde in medizinischen Fachzeitschriften nur gelegentlich die Idee aufgegriffen, Elemente der Popkultur zur Wissensvermittlung einzusetzen, ausgewählte Beispiele hierfür sind: (1) Analyse der psychophysischen Extremleistungen des Comic-Helden „Batman“ [2, 3], (2) Einsatz von Rocksongs zur Sensibilisierung von Ärzten für seelische und körperliche Belastungen nach Autounfällen [4], (3) Beschreibungen und Analyse sämtlicher Schädel-Hirn-Traumen, die in 34 Exemplaren der Comic-Zeitschrift Asterix und Obelix geschildert wurden [5], (4) auf dem Optimus Alive Oeiras Music and Art Festival in Portugal können Besucher einen fünfminütigen Termin mit einem Wissenschaftler ihrer Wahl vereinbaren und sich komplexe Zusammenhänge aus dessen Fachgebiet erläutern lassen [6], (5) Erläuterung der Pathophysiologie der Atmung und des Bewegungsapparates von Darth Vader aus der Star-Wars-Saga [7], (6) Produktion und mehrfache Aufführung einer Rock-Oper zur ethischen Problematik von gentechnologischen Manipulationen [8], (7) der 2016 mit dem Nobelpreis für Literatur geadelte Folk-Rock-Sänger Bob Dylan inspirierte die Titel von bisher 213 wissenschaftlichen Fachaufsätzen [9].

Die Theorie, dass Elemente der Popkultur effektiv als Vehikel zur Wissensvermittlung in der Anästhesiologie und Intensivmedizin herangezogen werden können, harrt noch ihrer wissenschaftlichen Bestätigung. Seit Jahrzehnten hat sich allerdings das interdisziplinäre Fach der „medical humanities“ (dt. medizinische Geisteswissenschaften) zum Ziel gesetzt, den Blickwinkel der stark naturwissenschaftlich geprägten Medizin durch die Einbeziehung von Musik, Literatur, Ethik, Philosophie, Soziologie, Medien etc. zu erweitern. Während das Fach Medical humanities z. B. in den USA und Kanada an vielen medizinischen Fakultäten Pflichtfach ist, etabliert es sich in Deutschland nur zögerlich. Immerhin wurde aber an der Berliner Charité ein erster Lehrstuhl mit einem freiwilligen Kursangebot etabliert, und die Universität Nürnberg bietet das Fach für Studierende im zweiten Jahr als Wahlfach an [50].

Pharmakologische und psychosoziale Interventionen, Fallmanagement, Prävention von Krankheiten, Wohnraumbeschaffung, Beschäftigungstherapie und geförderte Berufspraktika sind gesicherte oder zumindest potenziell geeignete Maßnahmen zur Linderung der Auswirkungen von Wohnungslosigkeit. Auch der Kurzzeit-Wiederherstellungspflege, computergestützten Interventionen, Bewegungstherapie, Spiritualität und Religion werden günstige Effekte zugeschrieben [51]. Die Expertise des Anästhesisten/Intensivmediziners ist besonders bei der Akutbehandlung der in Abb. 5 dargestellten medizinischen Erkrankungen gefragt. Ein besonderes Augenmerk sollte auf in Deutschland in der Normalbevölkerung nicht so häufige, aber dennoch typische Erkrankungen wie z. B. Tuberkulose oder Hypothermie gerichtet werden. Vielfach wird sich eine Kooperation mit psychiatrischen Kollegen und dem Sozialdienst ergeben. Von größter Wichtigkeit ist es, dass schon während der Behandlung auf der ITS der weitere Verbleib des wohnungslosen Patienten nach Entlassung von der ITS oder der Normalstation geplant wird. Auch sind ein einfühlsamer Umgang und die Verwendung einer professionellen, nichtdiskriminierenden Sprache notwendig. Und schließlich kann ein aus medizinischer Sicht „überflüssiges“ Aufsuchen der Rettungsstelle einen Hilferuf aus seelischer Not heraus bedeuten. Dieser sollte nicht ungehört verhallen.

Es erstaunt, dass in der Untersuchung von Bigé et al. die ITS- und Krankenhaussterblichkeit von Wohnungslosen und Nichtwohnungslosen statistisch nicht signifikant unterschiedlich war [49]. Man könnte diesen Sachverhalt als „homeless paradox“ bezeichnen. Über die Ursachen kann nur spekuliert werden: Das Kollektiv der Wohnungslosen ist statistisch signifikant jünger (49 Jahre vs. 62 Jahre, p < 0,0001). Wohnungslose leiden weniger an chronischen Krankheiten (Abb. 5; [44]) und haben andere ITS-Diagnosen [49]. Die Autoren geben jedoch zu bedenken, dass möglicherweise im Kollektiv der Wohnungslosen aufgrund jahrelanger unzureichender medizinischer Betreuung nicht alle Diagnosen bekannt waren. Es scheint für den Schweregrad einer kritischen Erkrankung keine Rolle zu spielen, ob Wohnungslosigkeit vorliegt oder nicht.

Therapiebegrenzungen aufgrund von Patientenwillen oder -verfügung werden in Zukunft häufiger als bisher erwartet [52]. Der Intensivmediziner sollte in diesem Zusammenhang mit dem „Todesrasseln“ als Ausdruck des natürlichen Sterbeprozesses vertraut sein. „Todesrasseln“ tritt bei 25–92 % aller spontanatmend Sterbenden auf. Es ist ein natürliches Phänomen, und weit wichtiger als seine ohnehin oft nichterfolgreiche Behandlung ist es, Angehörigen und medizinischem Personal seine Bedeutung zu vermitteln. Gleichzeitig dürfen Mediziner Angehörige nicht überfordern. Manche Sterbesituationen sind schwer oder nicht ertragbar, und es kann hilfreich sein, zu ihrer Betreuung Seelsorger oder Mitglieder eines Palliative-Care-Teams hinzuzuziehen. Auch Zimmernachbarn sollte informiert und gefragt werden, ob die Situation für sie zumutbar ist. Wenn möglich, sollte dem Wunsch nach einer Verlegung nachgekommen werden.

In den letzten Momenten des Sterbeprozesses tritt eine tiefe Seufzeratmung, das „Totengeläut“ oder Death knell ein, bevor es zum finalen kardiovaskulären Versagen kommt. Ein Seufzer ist ein langer, tiefer Atemzug, der häufig mit Traurigkeit, Sehnsucht, Erschöpfung oder Erleichterung einhergeht. Seufzer treten auch spontan auf, beim Menschen mehrere Male pro Stunde. Während normaler Atmung verbessern Seufzer den pulmonalen Gasaustausch über eine Eröffnung teilweise oder vollständig kollabierter Alveolen [53].

Die physiologischen Effekte der Seufzer machte man sich vor schon längerer Zeit bei der lungenprotektiven Beatmung von Patienten mit akutem Lungenversagen zunutze: Applikation von 3 Atemzügen/min mit einem Plateaudruck von 45 cm H2O verbesserten alveoläres Recruitment und Oxygenierung [54]. Das Verfahren der „Seufzerbeatmung“ wird seither in tierexperimentellen und klinischen Studien beforscht. Für eine endgültige Beurteilung des Verfahrens ist es noch zu früh.

Durch Recruitment-Manöver, bei denen es zu einer plötzlichen ausgeprägten intrathorakalen Druckerhöhung kommt, kann über den gleichen Mechanismus ein kardiovaskuläres Versagen auftreten. Verzicht auf oder Modifikation solcher Manöver ist oft möglich: So können beispielsweise Veränderungen von Atemzugvolumen, positivem endexspiratorischem Druck, dem Verhältnis von Inspiration zu Exspiration, Lagerungswechsel oder sogar eine Abführmaßnahme (über die Senkung des intraabdominellen Drucks) zu alveolärem Recruitment führen.

Fazit

Der Rocksong „Aqualung“ sensibilisiert für das Problem der Wohnungslosigkeit mit seinen medizinischen Implikationen. Anästhesisten und Intensivmediziner sollten mit dem besonderen Krankheitsspektrum dieses vulnerablen Bevölkerungskollektivs vertraut sein. Das garantiert eine optimale Akutbehandlung, die beim Wohnungslosen jedoch von einer angemessenen poststationären Weiterbetreuung supplementiert werden sollte. Anästhesisten und Intensivmediziner können damit die gesamtgesellschaftliche Verpflichtung zur Sorge und Betreuung der Randgruppe der Wohnungslosen effektiv unterstützen.