Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Der mythische Ort Shangri-La wird verschiedentlich als Paradies des Buddhismus bezeichnet. Dies ist faktisch falsch, da das Ziel der Buddhisten nicht das Paradies, sondern nur das Nirwana (wörtlich: Erlöschen) sein kann, der Zustand völliger Ruhe. Nirwana ist gleichbedeutend mit dem Freisein von aller Unruhe des Geistes, von allen Wünschen und von der ewigen Wiedergeburt (Samsara), dem Übergang in die ewige Ruhe.

Der Begriff Shangri-La steht für einen sagenhaften Ort in Tibet, wo Menschen in Frieden und Harmonie leben, er ist eine Erfindung des britischen Schriftstellers James Hilton und erscheint erstmals 1933 in seinem Roman „Lost Horizon“, deutscher Titel: Der verlorene Horizont. Seither gilt Shangri-La als Synonym für das Paradies, als idealer Rückzugsort aus dem Weltgeschehen. Die Bezeichnung für Hiltons Fiktion setzt sich zusammen aus shang (tibetisch für Zentraltibet) und ri (tibetisch für Berge) sowie la (tibetisch für Pass). Vor dem Erscheinen von Hiltons Buch 1933 existierte der Begriff Shangri-La noch nicht, jedoch basiert Hiltons Roman auf der alten buddhistischen Legende von Shambala, einem sagenhaften Königreich des tibetischen Buddhismus und verborgenen Paradieses, dem geistigen Zentrum der Erde. Eine hervorragende Kennerin Tibets war die 1868 in Paris geborene Alexandra David Néel. Auf ihrer zweiten Asienreise ab 1911, die 14 Jahre dauerte, wurde sie vom 13. Dalai Lama persönlich nach Tibet eingeladen. Sie lebte ein Jahr lang als Einsiedlerin im Himalaya und wurde in den Stand eines Lama (das Femininum dazu heißt Lamina) erhoben. Sie wurde in die Geheimlehren des tibetischen Buddhismus eingeweiht, sie verfasste ein Französisch-Tibetisches Wörterbuch und adoptierte einen jungen Lama namens Aphur Yongden aus Sikkim. Im Jahr 1923 erreichte sie in ihrem 57. Lebensjahr vermutlich als erste Europäerin die verbotene Stadt Lhasa, verkleidet als bettelnde Pilgerin in Begleitung ihres Adoptivsohnes Yongden. Um nicht als Ausländerin erkannt und des Landes verwiesen zu werden, tarnte sie sich mit Ruß und Schmutz und hielt sich zwei Monate unentdeckt in Lhasa auf. 1946 kehrte die bloß 1,56 Meter große Tibetforscherin über Indien nach Frankreich zurück. Sie publizierte 25 Bücher, hielt unzählige Vorträge und wurde für ihr Lebenswerk zum Ritter der Ehrenlegion ernannt. Kurz nachdem sie ihren Reisepass nochmals verlängert hatte, verstarb sie 1969 in Südfrankreich im Alter von 101 Jahren. Testamentarisch hatte sie verfügt, dass ihre Asche (und die ihres Adoptivsohnes) in Benares (heute Varanasi) in den heiligen Fluss Ganges gestreut werden soll.

James Hilton lebte von 1900–1954, er studierte in Oxford und arbeitete als Journalist in London. Seinen ersten Büchern war kein großer Erfolg beschieden, bis zur Publikation seines Romans Lost Horizon (auch „Irgendwo in Tibet“ oder „Verworrener Horizont“ genannt). Dieses Buch verkaufte sich 8 Millionen Mal und machte Hilton und Shangri-La weltweit bekannt. Das Buch wurde in 34 Sprachen übersetzt und 1937 von Frank Capra verfilmt und mit einem Oscar prämiert. Hilton emigrierte in die USA nach Hollywood und wurde ein erfolgreicher Drehbuchautor. 1939 erschien der Roman als erstes Paperback-Taschenbuch der Welt und kostete damals 25 Cent, es wurde mehr als 2,5 Millionen Mal verkauft.

Völlig fasziniert vom Mythos Shangri-La war der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt, der den Familiensitz der Roosevelts in Kalifornien und 1942 sogar den Landsitz der US-Präsidenten Shangri-La taufte. Seit 1954 heißt dieser Camp David.

Es dauerte bis zum Jahr 2001, bis die Fiktion Shangri-La vollends zur Realität wurde, indem chinesische Tourismus- und Marketing-Experten die im Nordwesten der Provinz Yunnan gelegene Ortschaft Zhongdian offiziell in Shangri-La umbenannten. Die vorwiegend von Tibetern und Naxi bewohnte Stadt liegt auf einer Höhe von 3500 Metern und ist Hauptort des autonomen Bezirkes Diqing. Wer beispielsweise aus persönlichen Gründen nicht in die „autonome“ Region Tibet reisen möchte, findet in Zhongdian sehr viel tibetische Atmosphäre.

Beeindruckend ist das von weitem sichtbare Songtsam Kloster, das 1679 vom 5. Dalai Lama persönlich eingeweiht wurde. Während der Kulturrevolution wurde das Kloster weitgehend zerstört, wurde aber auf Anweisung von Deng Xiao Ping mitsamt den goldenen Dächern wieder aufgebaut. Heute leben dort wieder mehr als 600 tibetische Mönche (Gelbmützen Lamas), es soll das größte buddhistische Kloster Chinas sein. Das rund 1300 Jahre alte Zentrum von Shangri-La war ein wichtiger Etappenort auf der südlichen Seidenstraße (der Tee-Pferde-Karawanenstraße) und heißt auf Tibetisch „Dukezong“ (Mondstadt). Traditionelle Holzhäuser säumen die kopfsteingepflasterten engen Strassen, in welchen sich tibetische Kunstgalerien, Souvenirläden und Imbissstuben aneinander reihen. Von der Altstadt erreicht man über im wahrsten Sinne des Wortes atemberaubende steile Treppen den Guishan Park mit seinem kleinen Tempel. In diesem Park steht auch die mit 22 Metern größte vergoldete Gebetsmühle der Welt (Abb. 1). Das Drehen der Gebetsmühle dient dazu, gutes Karma anzuhäufen — so die buddhistische Überzeugung — und erinnert an das Ingangsetzen des Rades der Lehre (Dharma-chakra) durch Buddha selbst. Das Besondere an der monumentalen Gebetsmühle von Shangri-La ist, dass sie niemand allein in Bewegung setzen kann, dies gelingt nur durch gemeinsame Anstrengung. So sieht man lokale Tibeter, chinesische Touristen, amerikanische Backpackers und europäische Individualreisende, wie sie sich zusammen ins Zeug legen, um ihr Karma zu verbessern.

Abb. 1
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Karma-suchende Gebetsmühlen-Dreher

Am 11. Januar 2014 zerstörte eine gewaltige Feuersbrunst 343 tibetische Holzhäuser im historischen Stadtkern von Dukezong, 2600 Bewohner mussten evakuiert werden. Die Löscharbeiten der 2000 Feuerwehrleute, Polizisten, Soldaten und Freiwilligen waren durch das trockene Wetter und heftige Winde erschwert, auch konnten die Löschfahrzeuge nicht in die engen Gassen hineinfahren. 10 Stunden wütete das Feuer, bis es unter Kontrolle gebracht werden konnte. Hoffentlich blieb das Museum für Tibetische Medizin mit seinen wertvollen alten Schriften unversehrt. Unter anderem werden dort zahlreiche Bildtafeln mit jahrhundertealten Miniaturen aus der Abhandlung Blauer Beryll von Sangye Gyamtso (1653–1705) aufbewahrt. Sangye Gyamtso wurde bereits im Alter von 8 Jahren von den besten Lehrern seiner Zeit in Astrologie, Grammatik und Medizin unterrichtet. Mit 26 wurde er „Desi“ (Minister, Regent) des 5. Dalai Lama. 1696 gründete er die erste Schule für tibetische Medizin auf dem eisernen Berg Cagpori südlich des Potala, wo erstmals ein illustriertes Lehrbuch der tibetischen Medizin zu Ausbildungszwecken entstand, der blaue Beryll. Immer wieder erstaunlich ist das Detailwissen in der alten tibetischen Medizin: zum Beispiel in der Embryologie, wo Entwicklungsstadien von der zweizelligen Zygote, über das Vierzellstadium bis zur Morula und weiter detailliert dargestellt werden. Offenbar besaßen die tibetischen Priester-Ärzte die Fähigkeit, auch ohne technologische Ausrüstung auf spirituellem Weg Erkenntnisse zu gewinnen. Eine prächtige, kommentierte Faksimile-Ausgabe von Gyamtsos medizinischem Lehrbuch Der blaue Beryll erschien in zwei Bänden im Jahr 1996 im Verlag Paul Haupt. Das Vorwort stammt vom jetzigen 14. Dalai Lama Tenzin Gyatso: Er schreibt: „Ich hoffe sehr, dass diese Bände einen positiven Beitrag zum Fortschritt im fruchtbaren Dialog zwischen moderner und praktischer Anwendung der medizinischen Wissenschaften leisten werden. Mit Gebeten, dass dieses Unterfangen allen Wesen zum Wohl gereichen möge: Der Dalai Lama.“

Ihr

A.Wirz-Ridolfi

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Dr. med. Andreas Wirz-Ridolfi