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Textkompetenz

2007
978-3-8233-7360-5
Gunter Narr Verlag 
Sabine Schmölzer-Eibinger
Georg Weidacher

Textkompetenz ist eine Schlüsselkompetenz in der modernen Kommunikations- und Wissensgesellschaft. Man braucht sie, um Texte verstehen, schreiben und anhand von Texten lernen zu können. Das gilt für den Wissenserwerb in der Schule und im Studium, aber auch für die Auseinandersetzung mit Texten in Beruf oder Wissenschaft. In diesem Band sind Beiträge versammelt, welche die Zusammenhänge von Textkompetenz, Sprachlernen und Unterricht aus der Perspektive der Linguistik, der Kognitionswissenschaften, der Literalitätsforschung und der Didaktik beleuchten.

Textkompetenz Eine Schlüsselkompetenz und ihre Vermittlung Sabine Schmölzer-Eibinger Georg Weidacher (Hrsg.) Gunter Narr Verlag Tübingen Textkompetenz Europäische Studien zur Textlinguistik herausgegeben von Kirsten Adamzik (Genf) Martine Dalmas (Paris) Jan Engberg (Aarhus) Wolf-Dieter Krause (Potsdam) Arne Ziegler (Graz) Band 4 Sabine Schmölzer-Eibinger Georg Weidacher (Hrsg.) Textkompetenz Eine Schlüsselkompetenz und ihre Vermittlung Gunter Narr Verlag Tübingen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. © 2007 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.narr.de E-Mail: info@narr.de Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen Printed in Germany ISSN 1860-7373 ISBN 978-3-8233-6360-6 Festschrift für Paul R. Portmann-Tselikas zum 60. Geburtstag Inhaltsverzeichnis Einleitung ............................................................................................ 9 Textwelten und Literalität Ingo Thonhauser (Genf) Die Erfindung der Textwelten. Ein dramatisches Protokoll .................. 15 Helmuth Feilke (Gießen) Textwelten der Literalität ....................................................................... 25 Georg Weidacher (Graz) Multimodale Textkompetenz .................................................................. 39 Maximilian Scherner (Münster) „Interpretationskompetenz“: ein text- und textverarbeitungstheoretischer Rekonstruktionsversuch ....................... 57 Peter Klotz (Bayreuth) Lücken, Risse, Brüche - zumVerhältnis von Text und Kontext. Reflexionen zu den Konstituenten eines Systems .................................. 69 Entwicklung und Manifestationen von Textkompetenz Annemarie Peltzer-Karpf (Graz) Kreativität in der Produktion von Texten. Ein Blick hinter die Kulissen .................................................................. 89 Hanspeter Ortner (Innsbruck) Die (schriftliche) Darstellung von Sachverhalten als Stimulus für die Denk-, Sprach- und Schreibentwicklung .................................... 113 Christoph Sauer (Groningen) Umformung, Umwandlung, Umgestaltung: Die Bearbeitung und Optimierung von Texten als „Sehflächen“ ..................................... 141 Piotr Dobrowolski (Graz) Woran erkenne ich einen Boulevardjournalisten? Zur spezifischen Textgestaltungskompetenz in unterschiedlichen Berufsfeldern des Printjournalismus ........................ 159 8 Förderung von Textkompetenz Daniel Perrin/ Eva-Maria Jakobs (Winterthur/ Aachen) Training beruflicher Textkompetenz ...................................................... 181 Hans-Jürgen Krumm (Wien) Von der Gefährlichkeit der Schlangen oder: Textkompetenz im Bildungsgang von MigrantInnen ................... 199 Sabine Schmölzer-Eibinger (Graz) Auf dem Weg zur Literalen Didaktik ..................................................... 207 Claudio Nodari (Zürich) Sprachprofile - ein Konzept zur stufen- und fächerübergreifenden Sprachförderung an den Schulen Basel-Stadt ........................................ 223 Antonie Hornung (Modena/ Zürich) Verhinderte Textkompetenz? .................................................................. 239 Christian Fandrych (Leipzig) „Aufgeklärte Zweisprachigkeit“ in der Germanistik außerhalb des deutschsprachigen Raums ...................................................................... 275 Hans Drumbl (Bozen) Sprachunterricht und Ausbildung zur Mehrsprachigkeit. Bilder, Gedanken, Erinnerungen ............................................................ 299 Verzeichnis der AutorInnen ........................................................... 313 Tabula gratulatoria ............................................................................ 319 Einleitung Mit den Arbeiten zur Textkompetenz, die Paul Portmann-Tselikas seit Mitte der 90er Jahre durchgeführt bzw. angeregt hat, wurde ein Forschungsbereich begründet, der mittlerweile breite Anerkennung gefunden hat. Die in diesem Band versammelten Beiträge versuchen, der Vielschichtigkeit seiner Forschungsarbeiten Rechnung zu tragen, und diskutieren daher sowohl grundlegende Aspekte des Themas „Textkompetenz“ als auch dessen Relevanz im Kontext des Zweitsprachenerwerbs und der Erst- und Fremdsprachdidaktik. In ihrer Gesamtheit geben sie einen breit gefächerten Überblick über dieses neue und lebendige Forschungsfeld, in dem sich auch für die Zukunft fruchtbare Entwicklungen abzeichnen. (1) Die Beiträge des ersten Abschnittes beschreiben Textwelten und definieren Textkompetenz als eine Fähigkeit, über die man verfügen sollte, um sich in einer literalen Kultur kommunikativ erfolgreich bewegen zu können. Einen essayistischen Einblick in diese Thematik und zugleich in die Forschungsarbeit von Paul Portmann-Tselikas gewährt Ingo Thonhauser, der mit Verweis auf die neuere Literalitätsforschung die Bedeutung soziokultureller Dimensionen von Textwelten hervorhebt und für deren vermehrte Beachtung plädiert - speziell auch in Hinblick auf individuelle Textkompetenzen, d.h. auf bereits erworbene Fertigkeiten im Umgang mit Texten in soziokulturell diversen Kontexten. Helmuth Feilke beschreibt literale Textwelten und Diskurstraditionen und fokussiert sich verändernde und ausdifferenzierende Textsortenschemata, also „Texttraditionen“ und ihre Wandlungen. Eine der sich aktuell abzeichnenden Veränderungen und die sich daraus ergebenden neuen Anforderungen an die Kompetenzen von Schreibenden und Lesenden behandelt Georg Weidacher in seinem Beitrag. Er schlüsselt die für textuelles Handeln notwendigen Teilkompetenzen von Textkompetenz auf und erweitert das dabei entwickelte Modell in Hinblick auf multimodale Textualität im Sinne von Sprache-Bild-Kombinationen, die auf Grund sich ändernder technisch-medialer „affordances“ in unserer „Textwelt“ zunehmend an Terrain und Bedeutung gewinnen. Vor einem text- und textverarbeitungstheoretischen Hintergrund skizziert Maximilian Scherner das Modell einer (metatextuellen) Interpretationskompetenz, d.h. der Befähigung, Texte - im schulischen Kontext insbesondere literarische Texte - schriftlich interpretieren zu können. Peter Klotz betrachtet das „System Text“ und im Speziellen die „Lücken, Risse und Brüche“, die die Lesenden zu Kontextualisierungen veranlassen und die ihnen das „Eindringen in den Text“ und die systemisch bedingte Relationierung von Text und Kontext ermöglichen. (2) Im ersten Beitrag des zweiten Abschnitts, „Entwicklung und Manifestationen von Textkompetenz“, beschäftigt sich Annemarie Peltzer-Karpf mit 10 „neuronalen Textwelten“, der Entwicklung von Textkompetenz in verschiedenen Erwerbssituationen und dem Zusammenhang von Kreativität und Textkompetenz. Sie beschreibt die neuronalen Mechanismen, die an der Verarbeitung von Texten beteiligt sind und die multidimensionale Produktion von Texten beim Schreiben in der Zweitsprache steuern. Hanspeter Ortner skizziert die ontogenetische Entwicklung der Befähigung zur schriftlichen Darstellung von komplexen Sachverhalten und plädiert für eine auf Schreibaufgaben gestützte „Sachverhaltsdidaktik“, die die sprachliche Konstituierung komplexer Sachverhalte erfordert und damit nicht nur die Entwicklung der Sprach- und der Schreibkompetenz, sondern auch die kognitive Entwicklung der Lernenden fördert. Christoph Sauer behandelt die Thematik der Textevaluierung und -optimierung. In seinem Beitrag geht es um die multimodale Gestaltung von Texten, wobei er Texte einerseits als „Sehflächen“ und andererseits als funktionale Visualisierungen betrachtet. Aufbauend auf einer Diskussion von Text- und Bildverständlichkeit schlägt Sauer ein Modell zur evaluierenden Analyse multimodaler Texte vor, in dem die Prozesse der Umformung, Umwandlung und Umgestaltung eine zentrale Rolle spielen. Einem speziellen Ausschnitt unserer modernen Textwelt, dem Boulevardjournalismus, wendet sich Piotr Dobrowolski in seinem Beitrag zu, wobei sein Fokus auf der Gestaltung und dem Aufbau multimodaler Textcluster in der Boulevardpresse liegt. (3) Textkompetenz als ein zentrales Instrument des Wissenserwerbs im Unterricht ist das Thema der Beiträge von Hans-Jürgen Krumm, Sabine Schmölzer-Eibinger, Claudio Nodari, Antonie Hornung und Christian Fandrych. Das Scheitern vieler Migrantenkinder und -jugendlicher in der Schule bildet den Hintergrund der Beiträge von Hans-Jürgen Krumm, der die Leistungsfähigkeit derzeit gängiger Instrumente zur Beurteilung von Sprachkompetenzen im Unterricht analysiert, und von Sabine Schmölzer-Eibinger, die ein didaktisches Modell zur Förderung der Textkompetenz in mehrsprachigen Klassen präsentiert, das einen integrierten Sprach- und Wissenserwerb ermöglicht. Claudio Nodari stellt die in der Schweiz entwickelten „Sprachprofile“ vor, die auf eine durchgängig koordinierte Sprachförderung aller Schülerinnen und Schüler vom Kindergarten bis zum 9. Schuljahr in allen Fächern abzielen. Im Beitrag von Antonie Hornung wird die Frage nach den Möglichkeiten einer Förderung von Textkompetenz durch das Lesen literarischer Texte ins Blickfeld gerückt und die Textsorte der „Easy Readers“, die Texte in simplifizierter Form darbieten, in ihrem Vermittlungspotential von Textkompetenz in der Schule kritisch analysiert. Christian Fandrych beschäftigt sich mit der Vermittlung sprachlich-akademischer Handlungsfähigkeiten im Studium und plädiert für eine konzeptuelle Neuausrichtung der Fach- und Sprachvermittlung im akademischen Kontext. Daniel Perrin und Eva-Maria Jakobs präsentieren ein Trainingsprogramm zur Förderung der berufsbezogenen Textkompetenz von Erwachsenen, in dem rezeptive und produktive Kompetenzen im Rahmen von Textproduktionsaufgaben geschult werden. Hans Drumbl schließlich reflektiert Gides Metapher vom 11 „Abstoßen“ als einem fundamentalen Prinzip des Sprachenlernens, das die Eigenschaften und Merkmale von Sprachen beim Lernen transparent macht und ins Zentrum der Wahrnehmung von Lernenden rückt. Vor diesem Hintergrund werden fundamentale Fragen wie etwa jene nach dem Ursprung der Sprachen oder der Rolle der Idiomatik beim Sprachenlernen aufgeworfen und reflektiert. Ein besonderer Dank der HerausgeberInnen gilt Frau Mag. Gerlinde Stock für die graphische und technische Aufbereitung der Beiträge für den Druck. Graz, im Sommer 2007 Sabine Schmölzer-Eibinger, Georg Weidacher Textwelten und Literalität Ingo Thonhauser Die Erfindung der Textwelten Ein dramatisches Protokoll 3 Personen Draußen scheint die Sonne, die Akteure sitzen schon einige Zeit in einem kahlen Raum rund um einen Tisch. Es ist ein angeregtes Gespräch im Gang. Im Hintergrund eine Thermoskanne Kaffee, Nusskipferln & Topfenstrudel - das ganze wäre aber auch in einer Art Weinbar denkbar. ... und es ist uns das Soziale in der Linguistik verloren gegangen - völlig untergegangen, da hast du recht! Nun, da ist schon noch die Varietätenforschung ... ... ja, ja, aber wenn es ums Schreiben geht, um die Texte, wo bleibt die Perspektive auf ... das Bedingungsgefüge die Normen und darauf, woher sie kommen, wer sie macht? Die Textwissenschaften beschreiben - und das tun sie mit einer nicht unbeachtlichen Perfektion, aber eben wieder nur das - resultativ! … und der Prozess? In der Schreibforschung ... ja, aber die Schreibforschung bleibt wieder beim Prozess, bei den Abläufen, bei der Modellierung dessen, was in den Köpfen vorgeht; das ist schon wichtig, nur ... Es geht um die Welt, in der sich die Texte befinden … und die Schreiber ... die sich in dieser Welt zurechtfinden müssen, die in diese Welt hineingeformt werden. Das ist gut! Ja, das hat was. (Pause) Kaffee? (zustimmendes Nicken) Wo sind wir? Wir suchen noch immer eine Formulierung, die es auf den Punkt bringt ... Aber uns fehlt noch gänzlich der Aspekt des Lernens - etwas Aktives und Passives zugleich, das vielleicht noch deutlicher wird, wenn man in einer anderen Sprache schreiben lernt oder einfach schreiben muss ... ... man lernt eine andere Textwelt kennen. Es ist eine Art ... Textwelt - Welt der Texte ... … eine Art textuelle Sozialisation! Ingo Thonhauser 16 und das, was wir tun, wenn wir schreiben … und lesen ... und lesen, ja sicher, ist vor allem Praxis, Handeln ... eine Praxis, die eine Kompetenz erfordert Textkompetenz! ... passt mir hier nicht so ... Literalität? Schon eher, auch wenn die Nähe zu Literarischem zu stark hervortritt ... was ja auch wichtig ist, darüber sprechen wir noch zu wenig! Und die Engländer nennen das seit je literacy - vielleicht literale Kompetenz, literat? Literat ist gut aber wieder sehr literarisch? vielleicht wir brauchen nach wie vor eine ... (kurze Pause) Was macht er? Er schreibt ... (tippt mit spitzen Fingern, murmelt) Ich muss das schreiben, ich muss das sehen (und hält darauf den anderen triumphierend seinen Psion unter die Nase): Da! „Textwelten und literale Praxis im soziokulturellen Bedingungsgefüge“ (die beiden staunen sprachlos, bevor das Gespräch wieder seinen Lauf nimmt) 1 Wirklichkeitssinn und Möglichkeitssinn So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ebenso gut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen, als das, was nicht ist. (Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften) Paul Portmann-Tselikas habe ich von Anfang an als jemanden kennen gelernt, der mit dem musilschen Möglichkeitssinn ausgestattet ist und ich habe mir oft überlegt, ob er nicht gerade deshalb in Österreich am richtigen Ort ist, weil ich den Eindruck habe, dass der Möglichkeitssinn der Lehr- und Lernkultur in diesem Land etwas abhanden gekommen ist. Deshalb kann ich die Interpretation des voran stehenden dramatischen Protokolls 1 eigentlich nur mit einem Kommentar dazu beginnen. Wissenschaftliche Diskurse haben die Tendenz, sich wie Planeten in ihren Bahnen zu bewegen und wie bei den Planeten ist die Stabilität dieser 1 Es handelt sich um einen mit der poetischen Lizenz der Verknappung wiedergegebenen Ausschnitt aus den vorbereitenden Gesprächen für die Tagung „Textwelten - Literale Praxis - Soziokulturelle Kontexte“ auf Kloster Banz (10.-12.2.2006). Die dramatis personae sind Peter Klotz, Paul Portmann-Tselikas und der Verfasser dieses Beitrags. Die Erfindung der Textwelten 17 Bahnen gut begründbar. Das Phänomen der schriftlichen Sprache ist hier etwas Besonderes, weil es im Brennpunkt zahlreicher, heterogener Diskurse steht. Textlinguistik und Schreibforschung sind für LinguistInnen die augenfälligsten Beispiele, mühelos lassen sich aber weitere, wie die Literaturwissenschaften, die Leseforschung, die Psychologie, die Sprachdidaktik hinzufügen. Hinter der Erfindung der Textwelten steckte ein Ungenügen an jenen etablierten Bahnen, für die Begriffe wie Schriftlichkeit, Literalität, Textwissenschaft oder Textlinguistik symptomatisch sind; die Frage, welche Blicke auf Texte „ebenso gut sein könnten“ und der vage Eindruck, dass sich hier etwas Interessantes verbergen könnte, waren der Angelpunkt jener Gespräche, aus denen das Protokoll einen - zugegeben etwas kondensierten - Ausschnitt wiedergibt. Die Formulierung „Textwelten und literale Praxis im soziokulturellen Bedingungsgefüge“ brachte dies auf den Punkt und entstand in einem „schriftsprachlichen Moment“ des Gesprächs; sie ist das Ergebnis des Versuchs, das Besprochene auf den Punkt zu bringen - eine kommunikative Handlung, die für Paul Portmann-Tselikas nur im Schreiben bewältigbar schien. 2 Begriffe: Textkompetenz und literale Praxis Begriffsklärungen gehören zur literalen Praxis wissenschaftlicher Diskurse und dieser Text ist keine Ausnahme, ist er ja wenigstens teilweise ein Kommentar zur Erfindung der Textwelten. Daher konzentriere ich mich in diesem Abschnitt zunächst auf den Terminus Textkompetenz, der erklärt, eigentlich gerechtfertigt werden muss. Warum einen neuen Begriff prägen? Eine gute Antwort lautet: weil „das, was terminologisch ist“, das, was man meint, eben nicht beschreibt. In diesem Determinativkompositum wird eine Kompetenz und nicht der Text näher bestimmt; interessant sind also die kommunikativ Handelnden, die etwas mit Texten tun und sich in diesem Handeln auf ihre Kompetenz verlassen und diese weiter entwickeln. Sie müssen dazu verstehen, was Texte sind, wie sie gemacht sind und wozu man sie in jenen Welten, in denen sie vorkommen, normalerweise braucht. Textkompetenz charakterisiert als Terminus daher einen Diskurs, in dem sich der Blick vom Text als Beschreibungsobjekt, als Lerngegenstand und als Demonstrationsobjekt für erworbene Fertigkeiten und Kompetenzen zu denjenigen hin verschiebt, die in soziokulturell diversen Kontexten mit Texten umgehen. Zwei weitere Begriffe gehören in diesen Zusammenhang: Literalität und literale Praxis. Diese Begriffe reflektieren die Rezeption der englischsprachigen Forschung im deutschen Sprachraum. Literacy (frz. littératie) signalisiert hier häufig einen weiten Kontext, in dem vor allem gesellschaftliche Konsequenzen im Zusammenhang mit der Entwicklung von Schriftsystemen und schriftsprachlichen Kommunikationsformen diskutiert werden. Spekulationen über mögliche kognitive Konsequenzen von Ingo Thonhauser 18 Literalität und die Kritik an diesen Spekulationen haben Studien zu literacy practices inspiriert, in denen die „Praxis im Umgang mit Texten“ im Vordergrund steht. Individuelle Kompetenzen interessieren diese Ansätze häufig weniger als philosophische, psychologische und diskursanalytische Dimensionen. Daher stehen die Begriffe Literalität und literale Praxis nicht im Gegensatz zu Textkompetenz, sie sind gewissermaßen die terminologische und konzeptuelle Kehrseite derselben Medaille (vgl. Goody 2000; Portmann- Tselikas/ Schmölzer-Eibinger 2002; Günther/ Ludwig 1994 und 1996) . 3 Handeln: die Konstruktion von Textwelten Die Dekonstruktion von kommunikativen Routinen kann in Situationen, in denen diese Routinen problematisch werden oder gar versagen, Handlungsspielraum schaffen. Dies ist in besonderem Maße eine Zielsetzung der Forschung im Bereich Literalität und literale Praxis, wie vor allem die englischsprachige Feldforschung der letzten Jahrzehnte in sehr unterschiedlichen soziokulturellen Kontexten gezeigt hat. Vielleicht konzentrierte sich die überwiegend in westlich-industrialisierten Ländern initiierte und publizierte Forschung sogar zu sehr auf diese sehr differenten Kontexte. Vor Ort sozusagen wird die Problematik sich verändernder Textkompetenz häufig nicht wahrgenommen oder anekdotisch als Beweis für die anscheinend stets sinkende Leistungsfähigkeit der Auszubildenden angeführt. Dass die Lernenden „mit Texten doch einfach umgehen können sollten“, erweist sich nämlich vor allem in Einrichtungen der schulischen und höheren Bildung als äußerst hartnäckige und selten explizierte Minimalerwartung. Dies scheint eine solche Selbstverständlichkeit zu sein, dass Lernangebote zum Erwerb dieser Kompetenz unvollständig bleiben: zum einen nämlich als deklaratives Wissen über Textualität (savoir) und dann im Bereich der Schreib- und Lesedidaktik als fertigkeitsbezogenes savoir faire in Bezug auf die Herstellung und Rezeption von Texten. Nur ganz selten wird Textkompetenz auf eine Weise zum Lerngegenstand, die es erlaubt, Texte in ihren Textwelten zu situieren und ihre kommunikativen und symbolischen Funktionen in spezifischen soziokulturell bestimmten Verwendungskontexten zu nutzen, sie kritisch zu analysieren und sie zu verändern. Textkompetenz lässt sich daher nicht adäquat als eine technische sprachliche Fertigkeit beschreiben. Textkompetenz kommt nicht ohne das beschriebene savoir und savoir faire aus, wird aber erst dann zu einer kommunikativen Kompetenz, die zur kritischen Teilnahme an gesellschaftlichen Diskursen befähigt, wenn sie die Fähigkeit zur De- und Rekonstruktion von Textwelten einschließt. Wir sind jedoch erst in Ansätzen dazu in der Lage, dies wissenschaftlich zu beschreiben und in einen theoretischen Rahmen zu fassen, vielleicht auch deshalb, weil die Verknüpfung wissenschaftlicher Diskurse mit Lehr- und Lernkontexten nur selten gelingt. In Abwandlung von Shirley B. Heaths’ Die Erfindung der Textwelten 19 Buchtitel „Ways with Words“ drängt sich auf, dass wir noch viel mehr Augenmerk darauf legen müssten, „Ways with Texts“ zu beschreiben (vgl. Heath 1983; Wagner 1994; Street 1995). 4 Homo legens und homo scribens im soziokulturellen Umfeld Die Popularisierung der Vorstellung einer „great divide“ zwischen literalen und oralen Kulturen in den 60er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts war das Ergebnis einer aufklärerisch orientierten Entwicklungshilfe-Politik großer internationaler Organisationen, die sich auf eine zu oberflächliche Rezeption wissenschaftlicher Publikationen stützte. Die Kritik an der Beinahe-Gleichsetzung von Literalität und politisch-ökonomischem Fortschritt im westlichen Sinne oder gar Demokratisierung überhaupt kam von wissenschaftlicher Seite aufgrund intensiver Feldforschung. Die Tatsache, dass die großen Alphabetisierungskampagnen ihre Zielsetzungen regelmäßig verfehlten, unterstützte diese Kritik auf anschauliche Weise. Zweifellos ist die Haupterrungenschaft dieser Feldforschungsphase, nämlich die empirische Absicherung der soziokulturell bedingten Vielfalt literaler Praxis, ein wesentlicher Fortschritt, der jedoch mit einem diskursanalytisch interessanten Phänomen einherging: in der englischsprachigen Forschung wenigstens schienen Hyothesen über kognitive und zivilisatorische Konsequenzen von Literalität bis Mitte der 90er Jahre geradezu tabu zu sein. Seit David Olsons „The World on Paper“ (1994) sind aber Neuansätze zu beobachten, die auf differenzierte Weise der Tatsache Rechnung tragen, dass Schriftlichkeit zunächst die Konzeptualisierung des Phänomens Sprache entscheidend verändert und dass sich, in einem zweiten Schritt, damit Kommunikationsmöglichkeiten auftun, die es zu entdecken gilt. Diese Entdeckungen mögen je nach Kommunikationskontext sehr unterschiedlich ausfallen, sie als Konsequenz von Literalität zu betrachten, eröffnet faszinierende Perspektiven, die nicht notwendigerweise zu Stereotypen nach dem Muster „orale vs. literale Kulturen“ führen. Dass diese Literalität Veränderungen auch im Bereich der Kognition impliziert, liegt nahe und muss nicht unbedingt spekulativ bleiben, wenn man dieses Erkenntnisinteresse mit der Methodologie der empirischen Studien verbindet. Hier ließen sich also interessante Fragen stellen: • Auf welche Weise formt der Erstschrifterwerb Bewusstheit für deskriptiv-relevante Aspekte von Sprache auf der Ebene der Phonologie und damit verbunden der Graphematik? In welchen sprachlichen Handlungskontexten wird dies überhaupt zum Gegenstand der Reflexion? • Welche neuen Wahrnehmungs- und Repräsentationsformen schafft Literalität und wie werden diese in spezifischen Kommunikationssituationen realisiert? Ingo Thonhauser 20 • Wie werden die Funktionen literaler Aktivitäten in kulturell diversen Kontexten konzeptualisiert? Wie verändern sich diese Konzepte in der Auseinandersetzung mit neuen Formen von Literalität, die durch Mehrsprachigkeit oder durch technologisch-materielle Innovation entstehen? • Welche Rolle spielt Textkompetenz für die Modellierung mehrsprachiger Kompetenz, z.B. im Bereich des mentalen Lexikons? (UNESCO 2000; Canieso-Doronila 1996; Olson 1994; Brockmeier 1997; Stein 2006). 5 Das soziokulturelle Bedingungsgefüge: Macht und Kontrolle Die Frage nach Macht und Kontrolle eröffnet eine weitere Dimension: der Gebrauch schriftlicher Sprache ist in vielen Kulturen hoch reglementiert und sanktioniert. Nun sind Textwelten ohne Normen nicht denkbar - es fragt sich nur, bis zu welchem Grad diese Normen explizit sind. Sicherlich handelt es sich hier um Phänomene, die mehrheitlich im Kommunikationsprozess entstehen und ausgehandelt werden. In komplexen Bürokratien mögen explizite Textnormierungen zwar geradezu der Regelfall sein, wie etwa das „ United Nations Correspondence Manual. A guide to the drafting, processing and dispatch of official United Nations communications“ (United Nations 2000) illustriert. Schon der Titel verrät, dass nicht die Form der Texte, sondern auch die mit diesen Texten verbundenen Handlungsroutinen spezifischen Regeln unterliegen. Viel häufiger sind diese Regelwerke jedoch weniger explizit. Dies erklärt aus meiner Sicht, warum Textualitätsmerkmale für einen Großteil der Sprachverwender am ehesten prototypisch greifbar sind (Adamzik 2004). Der Mangel an Explizitheit könnte auch erklären, warum jene Konventionen, die Textwelten charakterisieren, vielfach als geradezu verselbständigte Normen zu gelten scheinen, die nur in bestimmten Situationen in Frage gestellt werden. Ein Beispiel ist die Welt der Texte an der Universität, in der sich „Uneingeweihte“ wie StudienanfängerInnen oft nur mühsam zurechtfinden. Die Frage vieler Studierender nach der Legitimität des Personalpronomens in der 1. Person Singular in wissenschaftlichen Texten ist dafür symptomatisch. Die Frage, ob „ich denn in meiner Seminararbeit noch eine eigene Meinung haben darf“, zeigt, dass die textuellen Konventionen wissenschaftlicher Meinungsäußerung eben nicht transparent sind. Natürlich kann diese Frage auch Widerstand gegen diese Reglementierungen signalisieren, der vielleicht auch nicht so einfach von der Hand zu weisen ist. Diese Beobachtungen führen zur Frage, wie Textkompetenz denn vermittelt wird oder werden könnte. Einmal kann Textkompetenz SpezialistInnen vorbehalten bleiben, und zwar in jener speziellen Ausformung, die man als Sprachmittlung bezeichnet. Viele Studien zu dominant oralen Kulturen belegen die Bedeutung der „Gatekeeper“: die Literalität Die Erfindung der Textwelten 21 dieser Schreiber und Leser stellt eine wesentliche Dienstleistung im sozioökonomischen Gefüge dar. Der Grad an Spezialisierung kann dabei höchst unterschiedlich sein. In Di- oder Polyglossie-Situationen, in denen die jeweilige H-Varietät nur sehr eingeschränkte Funktionen hat, mag ein Konsens zu solchen Rollenverteilungen nahe liegen. Wenn Textkompetenz aber den Zugang zu Kommunikationsbereichen eröffnet, die für breite Gesellschaftsschichten relevant sind, wird ein Bildungssystem erforderlich, das diesen Zugang ermöglicht und natürlich auch kontrolliert. Hier stellen sich Fragen der Macht, wenn dieser Zugang Eliten vorbehalten bleibt. In manchen Fällen mag dies offensichtlich sein, etwa wenn Bildung vorwiegend der Reproduktion sozial und ökonomisch definierter Eliten dient. Viel häufiger liegen diesen Zugangsbeschränkungen jedoch sehr subtile Selektionsprozesse zugrunde. Hier ist die beginnende Diskussion um die Rolle von Textkompetenz in der Schule aufschlussreich. Die Zweitspracherwerbsforschung hat diesen Aspekt als höchst relevant erkannt, nicht zuletzt aufgrund der Erfolge und Misserfolge in der Integration fremdsprachiger Lernender, die mit ihren so genannten „Herkunftssprachen“ auch andere Kommunikations- und Lernkulturen in monolingual konzipierte Schulsysteme brachten (Portmann-Tselikas 2003; Schmölzer-Eibinger 2006). Und daraus folgt wiederum, dass Textkompetenz wohl nicht nur eine Variable im Schulerfolg fremdsprachiger Lernender ist, sondern eine grundsätzliche Voraussetzung des schulischen Lernens darstellt. Dies erscheint auch ohne Rückgriff auf diverse Pisa-Studien nahe liegend und Erfahrungen mit dem bilingualen Sachfachunterricht bestätigen dies. 6 Schluss Es ging mir darum, einige Spuren jener Gespräche zu verfolgen, die zur „Erfindung“ der Textwelten führten. Diesen Überlegungen ist gemeinsam, dass die soziokulturellen Dimensionen der Textwelten mehr Beachtung verdienen. Teilweise hat dies die Literalitätsforschung geleistet - im Bereich der Textkompetenz, verstanden als Perspektive auf Individuen, wäre noch viel zu tun. Dies zeigt nicht zuletzt ein Blick auf den „Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen für Sprachen: lehren, lernen, beurteilen“ (Europarat 2001) sehr deutlich. Dieses Dokument hat international eine rege und häufig kontroverse Diskussion um sprachliche Kompetenzen entfacht, vor allem im Bereich der Beurteilung. In diesem Diskurs spielt eine aus meiner Sicht wichtige konzeptionelle Unterscheidung im Referenzrahmen bislang nur eine untergeordnete Rolle: den Sprachkompetenzen der Sprachverwendenden ist Kapitel 5 gewidmet, während das, was diese mit Sprache tun - die „Sprachaktivitäten“ - an anderer Stelle (Kapitel 4) beschrieben wird. Dies mag gut begründbar sein, hat aber Folgen. Die viel eher beispielhaft Ingo Thonhauser 22 skizzierten als tatsächlich beschriebenen Sprachaktivitäten (Produktion, Rezeption, Interaktion und Sprachmittlung) und kommunikativen Strategien erscheinen im Referenzrahmen aufgrund dieser getrennten Darstellung als gewissermaßen generische sprachliche Handlungsfähigkeiten. Die Anbindung an die eben an anderer Stelle behandelten „linguistischen, soziolinguistischen und pragmatischen Kompetenzen“ der Sprachverwender bleibt vage und wird zur Aufgabe der Lesenden. Dies ist das Ergebnis einer spezifischen Konzeptualisierung sprachlicher Kompetenzen: soziokulturelle Kontextualisierung ist Teil der Beschreibung kommunikativer Kompetenz und entfällt in der Darstellung kommunikativen Handelns. Diese Beobachtung bestärkt meine Überzeugung, dass es sich lohnt zu überlegen, welche Zugänge zu den in diesem Beitrag skizzierten Ausschnitten wissenschaftlicher Diskurse „auch noch möglich wären“ und was sie versprechen. Literaturverzeichnis ADAMZIK, Kirsten (2004), Textlinguistik. Eine einführende Darstellung, Tübingen: Niemeyer. BROCKMEIER, Jens (1997), Literales Bewußtsein. Schriftlichkeit und das Verhältnis von Sprache und Kultur, München. CANIESO-DORONILA, Maria Luisa (1996), Landscapes of Literacy: An Ethnographic Study of Functional Literacy in Marginal Philippine Communities, London. EUROPARAT (2001), Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen für Sprachen: lernen, lehren, beurteilen, Berlin et al. GOODY, Jack (2000), The Power of the Written Tradition, Washington et al.: Smithsonian Books. GÜNTHER, Hartmut/ Ludwig, Otto, Hrsg. (1994), Schrift und Schriftlichkeit/ Writing and Its Use. Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung/ An Interdisciplinary Handbook of International Research, 1. Halbband, Berlin et al.: de Gruyter. GÜNTHER, Hartmut/ Ludwig, Otto, Hrsg. (1996), Schrift und Schriftlichkeit/ Writing and Its Use. Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung/ An Interdisciplinary Handbook of International Research, 2. Halbband, Berlin et al.: de Gruyter. HEATH, Shirley Brice (1983), Ways with Words. Language, Life and Work in Communities and Classrooms, Cambridge: Cambridge University Press. PORTMANN-TSELIKAS, Paul (2003), „Textkompetenz und Spracherwerb. Die Rolle literater Techniken für die Förderung von Mehrsprachigkeit im Unterricht“, in: Günther Schneider, Monika Clalüna (Hrsg.), Mehr Sprache - mehrsprachig - mit Deutsch. Didaktische Perspektiven und politische Perspektiven, München: Iudicium, 101-121. PORTMANN-TSELIKAS, Paul/ Schmölzer-Eibinger, Sabine, Hrsg. (2002), Textkompetenz, Innsbruck: StudienVerlag. SCHMÖLZER-EIBINGER, Sabine (2006), „Textkompetenz und schulisches Lernen in der Zweitsprache“, in: Hans-Jürgen Krumm, Paul R. Portmann-Tselikas (Hrsg.), Theorie und Praxis. Österreichische Beiträge zu Deutsch als Fremdsprache. Schwerpunkt: Die Erfindung der Textwelten 23 Innovationen. Neue Wege im Deutschunterricht. Plenarvorträge der XIII. Internationalen Tagung der Deutschlehrerinnen und Deutschlehrer Graz 2005, Innsbruck: StudienVerlag, 179-192. STEIN, Peter (2006), Schriftkultur. Eine Geschichte des Schreibens und Lesens, Darmstadt: Primus Verlag. STREET, Brian (1995), Literacy in Theory and Practice, Cambridge: Cambridge University Press. UNESCO (2000), „The Dakar Framework for Action. Education For All: Meeting Our Collective Commitments. 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Nur die Philologie interessiert sich für Texte als Texte, das heißt für ihre sprachlich-strukturelle und sprachästhetische Konstituenz. Weil darüber aber wissenschaftlich nur etwas gesagt werden kann, wenn der jeweilige Text verstanden ist, ist der eigentliche Gegenstand das sprachliche Verstehen - vom Wortzeichen im Textkontext über das literarische Symbol bis zur intertextuellen Anspielung und ihrer Indexikalität. Dabei beginnt Philologie als metasprachliche und metatextuelle Reflexion stets in dem Moment, in dem das Verstehen sprachlich problematisch und kritisch wird, in dem es sich nicht mehr auf die Ressourcen des kulturellen Vorverständigtseins, des sprachlichen Common-Sense-Wissens und des fraglos Präsupponierten verlassen kann. Exemplarisch kritische Situationen in diesem Sinn sind • virulente Kontexte der Überlieferung, • Situationen des Kulturkontakts und der Interkulturalität sowie • Situationen der Aneignung und des Erwerbs. In dem Moment, in dem eine Textäußerung fremd ist und hinsichtlich Form, Inhalt und Kontextbezug das Verstehen fraglich ist, beginnt die philologische Arbeit als metasprachliche Reflexion schon im Alltag. Die folgende Äußerung ist ein Auszug aus dem Text eines 6-jährigen Schreibanfängers. Abb. 1 Jede/ r LehrerIn ist in diesem Sinn bereits ein Wanderer zwischen Kulturen und zwischen einander fremden Variationen derselben Sprache. Er/ sie muss philologische Arbeit leisten: Ist das überhaupt ein Text? Hat der Text Helmuth Feilke 26 eine Struktur, wer mag der Adressat, was die Intention sein? Und worum geht es eigentlich? Es geht hier um einen Brief ans Christkind, der auch nur im Auszug dokumentiert ist: „Pokemon. Tausend. Brauch ich.“ Der Schreiber wünscht sich die bei Kindern überaus begehrten Pokemon-Spielkarten. Ohne eine kompetente Kontextualisierung ist der Text nicht verstehbar: Textfunktionale, textthematische, syntaktische, morphologische und graphematische Analysen müssen ineinander greifen, wenn die anfängliche Fremdheit der Textäußerung aufgehoben werden soll. In solchen Fällen ist die Anschließbarkeit an vorgängige und etablierte Orientierungen fraglich, philologische Professionalität ist gefragt. Für das Entstehen (bzw. das nachantike Wiederentstehen) dieser Nachfragesituation im nachmittelalterlich-neuzeitlichen Kulturraum gibt es einige gut untersuchte Ausgangspunkte. In seinem Buch „Im Weinberg des Textes“ zeichnet Ivan Illich eine historische Wasserscheide zwischen dem so genannten monastischen und dem scholastischen Lesen der Heiligen Schrift. Er findet die Spuren dieses Bruchs in einer Lesedidaktik des frühen 12. Jahrhunderts, dem Didascalion Hugo von St. Victors. Im klösterlichen, noch monastischen Lesen ist das gemeinsame laute Lesen der Heiligen Schrift ein gottesdienstliches Ritual, das den Text als gegliederte und semantisch zu gliedernde Einheit gar nicht wahrnimmt und in der bestehenden Praxis auch nicht wahrnehmen kann. Illich rekonstruiert den Prozess, in dem sich historisch, wie er sagt, der Text von der Buchseite abzuheben beginnt (vgl. Illich 1991, 123 ff.). Mit veränderten Ansprüchen an das Lesen gewinnt der Text eine eigene sprachliche Gestalt und semantische Qualität. Er kann strittig werden und hier ist dann philologische Expertise gefragt. 300 Jahre später folgt in der frühen Neuzeit 1532/ 33 auf die erste deutsche Leselehre die erste Grammatik des Deutschen, geschrieben von dem Rothenburger Valentin Ickelsamer. Das Ziel dieser Arbeit ist die Begründung und Legitimation einer semantisch und pragmatisch reformierten, nun volkssprachlichen Bestimmung des Verständnisses der Heiligen Schrift. Mit der Volkssprache kommen auch die aktuelle Spracherfahrung und die virulenten Kontexte des Texthandelns als Ressource der Textdeutung und später auch der eigenen Textproduktion ins Spiel. In der Einleitung zur Grammatik schreibt der Verfasser ich glaub auch gentzlich das wie von dieser lesekunst also von allen künsten welche gaben Gottes seind kain rechter gewiser verstand oder brauch künd sein oder geschehen man wisse vnd verstehe dann jren innerlichsten vnd tieffsten grund vnd vrsprung (Ickelsamer, Teutsche Grammatica. Darauß ainer von jm selbs mag lesen lernen; o.O., o.J., wahrscheinlich Nürnberg 1532/ 33, Bl. A5r) Textwelten der Literalität 27 Auch wenn sich Ickelsamer, wie er ausdrücklich schreibt, in diesem Zusammenhang für „Einfältigkeit“ und gegen die „gelerte Theoria“ ausspricht: Der hier formulierte Anspruch ist ein Forschungsprogramm. Hier wird von ihm und vielen anderen das Tor zu einem Sprachlabor aufgestoßen, in dem die Werkzeuge der philologischen Legitimation von Lesarten ebenso wie die Auswahl und Begründung der legitimen Werkzeuge zur Textproduktion hervorgebracht werden. So wie das Textverständnis sind dabei auch der richtige Gebrauch der sprachlichen Mittel (Korrektheit) und der Gebrauch der richtigen sprachlichen Mittel (Angemessenheit) zur Textproduktion strittig. Die Textwissenschaft entsteht daher nicht nur als Deutungslehre, sie entsteht als Lehre zum eigenen Sprachgebrauch: zunächst Rat gebend, dann Normen setzend und - erst später - systematisch Normen begründend und reflektierend. Mit der Selbstreflexion der Normbegründung und Wertsetzung ist dann die wissenschaftliche Phase erreicht. Die noch in der jungen Gegenwart anhaltende Diskussion etwa über den Wissenschaftsstatus einer wertenden Literaturwissenschaft, über die normsetzenden Aufgaben der Sprachwissenschaft oder die Orthographie zeigt, dass die philologische Selbstaufklärung ein Dauerthema ist. 1.2 Was sind Texte? Kritische Selbstbefragung Zur Geschichte der Selbstaufklärung gehört auch, dass der vermeintlich selbstevidente Gegenstand „Text“ seinerseits problematisch wird. Nicht nur die Deutung der Texte, der Text selbst als philologische Größe wird in Frage gestellt. Das ist in der Philosophie bei Schleiermacher prominent, wenn er grammatisches und psychologisches Textverstehen unterscheidet, aber das Problem kulminiert i.e.S. fachgeschichtlich in unserer jüngeren Gegenwart (Knobloch 1990; Scherner 1997). Ich mache einen großen Sprung von den zitierten Anfängen der Diskussion über gut 400 Jahre in die jüngere Fachgeschichte, genauer in die so genannte pragmatische Wende der 1960er und vor allem 70er Jahre. Dass man professionell mit und an Texten arbeitet, bedeutet ja noch nicht, dass auch geklärt wäre, was Texte sind und was keine Texte sind. Und wenn diese Frage auch außerhalb der Textwelt der Philologie niemanden wirklich zu elektrisieren vermag, innerhalb hat sie mehrfach ausgereicht, um tiefgreifende Neuorientierungen zu provozieren. Diese sollen im Folgenden wenigstens kurz angedeutet werden, um von dort aus einige Überlegungen zum aktuellen Stand der Diskussion anzuschließen. In der Hochphase der Wissenschaftsentwicklung der 60er und frühen 70er Jahre - ihr verdanken wir heute die meisten linguistischen und literaturwissenschaftlichen Professuren an den deutschen Universitäten - wurde gerade die Abwendung von der philologischen Tradition zum Fokus der so genannten pragmatischen Wende in der Textlinguistik: Nicht der überkommene schriftliche Text als kanonisches oder eben nicht-kanonisches Helmuth Feilke 28 Element von Texttraditionen, sondern die hier und jetzt vollzogene sprachliche Handlung galt unvermittelt, das heißt innerhalb weniger Jahre, unbestritten als der dominante Bezugspunkt der Theoriebildung und Analyse. Der reale Hintergrund dieser Entwicklung war die Einsicht, dass es nicht gelingen konnte, die Metapher vom „textum“, vom sprachlichen Gewebe, auch theoretisch wörtlich und ernst zu nehmen. Der Versuch, den „Text“ sprachstrukturell - etwa als Pronominalisierungskette - zu definieren, war Anfang der 70er Jahre endgültig gescheitert. Berühmt wurde das so genannte Bach-Peters-Paradox: Wenn man in dem Satz „Die Frau, die ihm schrieb, sah den Mann, der sie liebte“ die für das Verstehen erforderlichen Substitutionen bei den Pronomina vornimmt, kommt es zu einem infiniten Regress. Die Rückführung der Substitution auf syntaktische Kategorien und Transformationen misslingt (vgl. Bach 1970; Völzing 1979, 32 f.). Die Verkettung ist ein bloßer Schein. Sie trägt den Text nicht wirklich. Text ließ sich offenbar nur - wie Karl Bühler formuliert hatte - „sub specie einer menschlichen Handlung“ als zeichenhafte Einheit erklären. Mit Siegfried J. Schmidt gesprochen, wurde damit zugleich gefordert, dass die Linguistik „ihre Objekte nur aus Kommunikationsintegralen ‚ausbetten’ kann und sollte“ (Schmidt 1973, 39). So konsequent diese Forderung war, man war damit auf einen rutschigen Abhang geraten. „Auch ein Text, der einen einzigen Satz enthält“, so folgerte Coseriu im gleichen Jahr, „besteht eigentlich nicht aus diesem Satz als solchem, sondern aus diesem Satz als Ausdruck einer bestimmten situationell bedingten Textfunktion“ (Coseriu 1973, 8/ 9). Textwissenschaft war nun grundbegrifflich gerade nicht mehr Philologie, sondern Textpragmatik, also Wissenschaft vom Zeichengebrauch, und an die Stelle der stets einzelsprachlich geprägten Tradition trat das Interesse an universaler grammatischer und pragmatischer Kompetenz. • Philologie vs. Textwissenschaft • Universale Kompetenz vs. partikulare einzelsprachliche Tradition • Tiefenstruktur des Satzes, der Handlung und des Textes vs. Oberfläche des Zeichens und schließlich auch • Diskurs vs. Text, das heißt situationsgebundene Sprechhandlung vs. schriftliches Sprachwerk im Sinne Karl Bühlers Dies waren die Leitorientierungen der Wendemetaphorik. Es gehört m.E. zu den Paradoxien der Wissenschaftsgeschichte, dass diese Wende noch heute gemeinhin als Geburtsstunde der Textlinguistik gefeiert wird. Gerhard Helbig, der als Wissenschaftshistoriker diese Entwicklung detailliert aufgearbeitet hat, resümiert aus der Perspektive der 90er Jahre: Die Textlinguistik hat das Schicksal, von der gleichen wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklung (der „kommunikativ-pragmatischen Wende“) Textwelten der Literalität 29 zugleich hervorgebracht und […] „aufgehoben“ zu werden (Helbig 1988/ 1990, 157). Anders ausgedrückt, die Texttheorie hat den Text als ein geordnetes Zeichengefüge selbst zum Verschwinden gebracht. Indem der Textbegriff im Gefolge der Wende fachrhetorisch gegen die philologische Tradition und gegen strukturbestimmte Zeichen- und Bedeutungskonzeptionen ausgespielt wurde, entstand praktisch eine Art Zwei-Reiche-Lehre: Hier Philologie und Grammatik, dort Pragmatik und Texttheorie, und stets konnte die Pragmatik rufen „ick bin all hier“, wenn es um Bedeutung und Verstehen ging. Tatsächlich aber hatte die Sprachwissenschaft als Textwissenschaft damit ihren Gegenstand aufgegeben. Der damit eingeleitete pragmatische Bedeutungskonstruktivismus löste weit über die Fachgrenzen hinaus erhebliche Unruhe aus: In dem 1986 erschienenen Buch „Understanding Computers and Cognition“ melden sich zwei KI-Forscher zu Wort, Terry Winograd und Fernando Flores: Selbstverständlich muß es einen Weg geben, über Bedeutung sprechen zu können, ohne die durch unscharfen Hintergrundbezug und verschwommene soziale Verpflichtungen auferlegten Fesseln! Falls der Sinn eines Textes nur bezüglich seiner Interpretation durch einen besonderen Sprecher oder Zuhörer, in einer je besonderen Situation mit je eigener Entwicklungsgeschichte beschrieben werden kann, wie können wir dann im Zusammenhang von Bedeutung überhaupt noch von Gesetzmäßigkeiten sprechen? Keine zwei Situationen sind gleich, und jede Person hat eine ureigene Geschichte. Wir laufen Gefahr, ohne Grundlage für Verallgemeinerungen dazustehen. Wenn möglicherweise jeder Aspekt einer Situation oder eines individuellen Bezugsrahmens auf der Bedeutung lastet, wie können wir dann über Gesetzmäßigkeiten sprechen, die über Situationen und Sprecher hinausgehen? (Winograd/ Flores 1989, 107). Das Zitat stammt nicht zufällig aus den 80er Jahren (Original: 1986, Übersetzung: 1989). Aus dem gleichen Buch stammen zwei weitere Zitate, die den Wandel umschreiben, der sich seit Beginn der 80er Jahre vollzogen hat und der die Beschäftigung mit Texten heute unter neue Vorzeichen stellt: „Interpretation wird durch Sprachform aktiviert“ (ebd., 102) und an anderer Stelle „Das Problem ist immer das Aufspüren des geeigneten Bereiches von Wiederholung“ (ebd., 113). Der im ersten Zitat angesprochene Punkt hat in der Philologie insgesamt unter dem Stichwort „Materialität der Kommunikation“ einen Perspektivenwandel herbeigeführt. Exemplarisch dafür steht das seit Beginn der 80er Jahre bis heute nahezu ungebrochene Interesse an der Rolle der Medialität der Sprachform. Hier ist insbesondere das Verhältnis von Schrift und Sprache, Schrift und Text angesprochen. Das zweite Zitat verweist auf die Rekurrenz der Formen in spezifischen Kontexten, also auf kognitiv schematisierte Text-Kontext-Beziehungen als ausschlaggebende Größe für das Verstehen. In dieser Perspektive ist für das Funktionieren von Texten weniger eine universale pragmatische Kompetenz, sondern ein viel eher partikulares, kulturell geprägtes Wissen relevant. Helmuth Feilke 30 Dieses Wissen ist als ein Wiederholungswissen wesentlich durch Diskurstraditionen bestimmt. 2 Die Welt der Literalität Es ist kein Zufall, dass die Mehrzahl linguistisch unbefangener Sprecherinnen und Sprecher unter einem Text etwas Schriftliches versteht. Ein einfacher Grund liegt schon darin, dass „Text“ ein metasprachlicher Begriff ist und zu seiner Anwendung in irgendeiner Form die Möglichkeit zur Vergegenständlichung des Gemeinten voraussetzt. Dafür bietet das Sprechen kaum, das Schreiben aber ideale Bedingungen. Auch „Wort“ und „Satz“ und andere metasprachliche Begriffe sind in diesem Sinn genuin literale Konzepte. Das Nachdenken über Sprache haben wir als ein Nachdenken über ihre Schriftform gelernt. Es geht dabei nicht nur um einen sprachlichen, es geht um einen soziokulturellen Zusammenhang, wie er bereits in den historischen Eingangsbeispielen angelegt war. Literal verfasst ist eine Gesellschaft, die ihr Wissen vor allem in Texten niederlegt und aus Texten bezieht, und die ihre Institutionen - Bildung, Religion, Wissenschaft, Recht - auf Texttraditionen und Textkritik aufbaut. Für Schule und Universität ist das elementar. Die Schule entsteht als Institution mit der Umstellung des Lernens von einem „learning by doing“ auf ein Lernen aus Texten. Literale Kompetenzen, das sind entsprechend die sozialen, emotionalen, kognitiven und sprachlichen Fähigkeiten, die zur Kommunikation mit Texten gebraucht werden. Literalität setzt also literacy voraus, ist aber mehr als die bloße Möglichkeit, sich schriftlich mitzuteilen. Sie schließt ein verändertes Verhältnis des Menschen zur Sprache, zu sich selbst und zur Gesellschaft ein. Schriftlichkeit ist kulturell ein spätes Produkt in der Geschichte der Menschheitsentwicklung (seit ca. 5000 v. Chr.; vgl. Ehlich 1980). Und historisch ist die Schrift in Gesellschaften schon lange entwickelt, bevor es in diesen Gesellschaften dazu kommt, dass die Angehörigen beginnen, mit (heiligen) Texten zu kommunizieren, und schließlich das gesellschaftliche Wissen über kanonische Texte reproduziert, kritisiert und erneuert wird (ca. 200 n. Chr.; Assmann 2000, 93 ff., 118 ff.). Die Umstellung der kulturellen Reproduktion auf ein in Texten niedergelegtes Wissen gibt es also - erst - seit etwa 1800 Jahren. Bis diese Texte nicht mehr nur rituell zelebriert, sondern individuell gelesen werden - ein wichtiger Punkt ist hier die Umstellung auf das leise Lesen (Ordensregel des heiligen Benedict, 6. Jh., Parkes 1999, 140) -, vergehen noch einmal ca. 500 Jahre. In dieser Phase wird die Umstellung von einer rituellen auf eine sprachliche Semantik der Texte eingeleitet. Der bei Illich weiter oben angesprochene Wandel vom monastischen zum scholastischen Lesen ist bereits ein Ergebnis dieses Prozesses. Und mit den Ansprüchen ändert sich auch die sprachliche Struktur der Texte (Parkes 1999; Saenger 1999). Damit setzen auch die Textwelten der Literalität 31 Verschriftlichung der Sprachen und die Entwicklung einer „schriftlichen Sprache“ mit eigenständigen Formmerkmalen ein (Ehlich 1994, 28 ff.). Ein weiterer historischer Schritt - im Deutschen noch einmal ca. 800 Jahre später und also gerade mal 400 Jahre her - ist der Übergang von der Literalität als Elitenbildung zur Literarisierung der Bevölkerung und der Ausbildung verbreiteter Lesekompetenz. Noch einmal deutlich später, nämlich erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts, etabliert sich der Anspruch auf verbreitete Schreibkompetenz. Ein Literalisierungsstandard, der den Anspruch an jedes Mitglied der Gesellschaft umfasst, in einem „eigenverantwortlichen Schreibprozess … ziel-, adressaten- und situationsbezogen“ eigene Texte verfassen zu können, wie es in den seit Dezember 2003 vorliegenden Bildungsstandards der KMK für mittlere Schulabschlüsse im Fach Deutsch heißt (Ständige Konferenz der Kultusminister 2003, 16 f.), ist menschheitsgeschichtlich gerade einmal 150 Jahre alt. Das muss man sich bewusst machen. Die beschriebene Entwicklung möchte ich mit drei Begriffen charakterisieren: (a) Entritualisierung bzw. komplementär Textualisierung. Eine Entritualisierung findet dort statt, wo die Heilige Schrift und religiöse Texte nicht mehr dominant als liturgischer Gegenstand - etwa in der lateinischen Messe - behandelt werden, sondern eben als Texte, die für ein stärker individualisiertes, sprachliches Verstehen geöffnet werden. Entbindung aus rituellen Kontexten heißt dann auch: Umkonstruktion der Sprache für ein weitgehend kontextunabhängiges Sprach- und Textverstehen. Aus der Sprache für das Ohr wird - von der Syntax bis zum Textdesign - eine Sprache für das Auge. Es findet gewissermaßen eine Textualisierung des Sprachwissens statt. Ich komme darauf zurück. (b) Demotisierung: Es gibt eine Entwicklung von der Expertenschriftlichkeit zur Volksschriftlichkeit und zur Chance wie zur Obligation allgemeiner Teilhabe an der Welt der Texte. (c) Aktivierung: Damit meine ich, dass es eine Entwicklung der auf Literalität gerichteten Erwartungen von der allgemeinen passiven zur allgemeinen aktiven Schrift- und Textkompetenz gibt. Die so genannte Schreibbewegung, das kreative Schreiben und ebenso die neue Aufmerksamkeit für die je besonderen Anforderungen etwa des journalistischen oder des wissenschaftlichen Schreibens sind ein Ausdruck dieser Entwicklung. Sie reflektiert die leicht nachvollziehbare Einsicht, dass Textproduktion nicht einfach als Umkehrung der Rezeption funktioniert, sondern in nahezu jeder Hinsicht schwerer und voraussetzungsreicher ist. Man sollte den Punkt nicht unterschätzen, dahinter steht auch heute in unseren Schulen so etwas wie ein Kulturkampf. Noch immer stehen - etwa im Kontext des Deutschunterrichts - das Gewicht des literarischen Kanons einerseits und die eigene Textproduktion andererseits in einem unaufgelösten Spannungsverhältnis. Es ist m.E. kein Zufall, dass die neuen Helmuth Feilke 32 Bildungsstandards für den mittleren Schulabschluss einerseits bis zum 10. Schuljahr das Gewicht der eigenen Textproduktion in einem bisher kaum vorstellbaren Umfang stärken, andererseits aber die gymnasiale Oberstufe bisher von dieser Entwicklung ausgeschlossen ist. Die Forderungen der Bildungsstandards bis zum 10. Schuljahr und die Realität des Deutschunterrichts und auch der Lehrpläne in der gymnasialen Oberstufe, das sind noch immer zwei antagonistische Textwelten. Wer heute über Literalität und Texte spricht, der kommt nicht umhin, über konzeptionelle Schriftlichkeit zu sprechen (Koch/ Oesterreicher 1985, 1995). Nicht die mediale, sondern die geistige Form einer Distanzkommunikation und Distanzsprache ist es, was Texte unter den Bedingungen von Schriftlichkeit prägt. Hauptkennzeichen konzeptioneller Schriftlichkeit ist die maximale formale (sprachstrukturelle) Absicherung des Verstehens bzw. maximale Kontextunabhängigkeit für alle sprachlichen Formebenen (Wort, Satz und Text). Das zu erreichen ist schwierig. Deshalb ist konzeptionelle Schriftlichkeit nicht einfach ein linguistisches Konzept wie viele andere, es ist ein Wertbegriff. Und in dieser Perspektive ist es ein hochgradig ambivalentes Konzept. Einerseits gibt es ein durch die historische Entwicklung schriftlicher Sprachlichkeit und Textualität eindrücklich belegtes Telos der Literalität, das auf maximale Kontextentbindung zielt. Eine explizite, grammatisch wohlgeformte syntaktische Struktur, die Aggregation von Propositionen im komplexen Satz und syntaktisch komplexen Phrasen- und Wortbildungsstrukturen, die Entwicklung des Inventars der Textkonnexion, die Explizierung der Illokution und der Texthandlung im Schrifttext und die Ausbildung entsprechender Mittel sind nur einige Anzeichen dafür. Die folgende Darstellung von David Olson (1994) spricht in dieser Hinsicht für sich. Die hier aufgeführten mental verbs explizieren zum allergrößten Teil die Illokution von Texthandlungen. Der allergrößte Teil entstammt auch im Englischen der älteren Schriftsprache, dem Latein. Die historische Entwicklung belegt die Ausdifferenzierung des Systems. Analog ließen sich sehr viele unterschiedliche Beispielbereiche anführen, die das Telos der Kontextentbindung sprachstrukturell ausbuchstabieren. Textwelten der Literalität 33 Abb. 2: Daten zum ersten bekannten Gebrauch einiger englischer Sprechaktverben (Olson 1994, 109) Auf der anderen Seite ist die Explizitheitserwartung pragmatisch problematisch, etwa wenn man mit Bachtin (1990) Dialogizität als textlich erst Sinn stiftende Kategorie einklagt. „Die Beziehung zum Sinn ist immer dialogisch“ (ebd., 479). Texte werden langweilig, wenn sie zu explizit sind, LeserInnen verlieren das Interesse, wenn sie nicht in ihrer Fähigkeit gefordert sind, selbst Zusammenhänge herzustellen und Schlüsse zu ziehen. Bachtin bringt seinen Einwand explizit gegen eine linguistische Theorie des Textes vor, und er behauptet sogar, die dialogische Sinnkonstitution löse sich ab von der Ebene der linguistisch beschreibbaren Mittel der Textbildung, ja, der Text sei gar keine i.e.S. sprachliche Ebene der Sinnkonstitution. Ohne Dialog sei der Text als bloßes sprachliches Gebilde tot. Was fängt man mit einer solchen Ambivalenz an? Helmuth Feilke 34 Es ist m.E. unfruchtbar, die scheinbare Polarität in einer Antinomie erstarren zu lassen. Ich möchte zwei Thesen formulieren, die die Polarität auflösen sollen: (a) Dialogizität in der Schriftlichkeit ist eine Dialogizität zweiter Ordnung, eine - mehr oder weniger gut, mehr oder weniger bewusst vollzogene - simulierte Dialogizität, die wiederum eigene konzeptionell schriftliche Sprachmittel ausbildet. Man beachte hierzu etwa das Spektrum der - genuin literalen - Techniken zur Redewiedergabe. Dabei geht es keineswegs um so etwas wie konzeptionell Mündliches im Schriftlichen. Die schriftliche Redewiedergabe ist konzeptionell durch und durch literal. So antwortet etwa Daniel Kehlmann in der FAZ vom 9.2.2006 auf die Frage, warum er in „Die Vermessung der Welt“ Humboldt und Gauß in indirekter Rede zu Wort kommen lässt, sinngemäß, es gehe ihm um die Authentizität der literarischen Fiktion. Es lohnt sich, darüber etwas nachzudenken. Für gewöhnlich ist es ja die direkte Rede, die das Signum des Authentischen trägt. Das heißt: Die wörtliche Rede mag unmittelbarer wirken, aber sie ist eben gerade nicht authentisch. Kehlmann rechnet hier - quasi dialogisch - mit der Authentizitätserwartung des/ der Lesers/ Leserin. Die indirekte Rede (und ebenso die von Kehlmann auch gebrauchte direkte Rede ohne Anführungszeichen) verweisen im literarischen Kontext auf den Autor als Fiktionalisierer. Anders gesagt: Die Idee vom Kontinuum zwischen konzeptioneller Schriftlichkeit und konzeptioneller Mündlichkeit ist falsch. Ein Schrifttext muss in jedem Fall den Bedingungen konzeptioneller Schriftlichkeit genügen, wenn eine Form der Distanzkommunikation vorliegt. Genügt er diesen Bedingungen nicht, ist er einfach ein schlechter Text. Er wird im Extremfall unverständlich. (b) Die Antinomie löst sich auf in unterschiedliche Diskursbereiche oder Domänen der Schriftlichkeit, die konzeptionelle Schriftlichkeit lässt sich je spezifisch und orientiert an domänenspezifischen Zielen ausbuchstabieren. Über den Zusammenhang von Diskursbereich, Diskurstradition, Texttyp und Textsorte wird damit auch sprachlich eine große Dynamik der Ausdifferenzierung von Textformen in Gang gesetzt. 3 Literale Textwelten und literale Diskurstraditionen Ansprüche an konzeptionelle Literalität sind vielfach im Wandel. Dieser Wandel ist als ein Differenzierungsprozess zu beschreiben. Der Prototyp des konzeptionell schriftlichen Textes wird nicht etwa aufgegeben. Im Gegenteil, es gibt Funktionsbereiche, man denke etwa an das erst in der Entwicklung befindliche internationale Recht, da ist begriffliche Dignitität, propositionale Explizitheit, Kohäsion der Textoberfläche usw. heute mehr denn je gefordert. Dass sich auch nahe Verwandte über ein den Ansprüchen konzeptioneller Literalität nicht entsprechendes Testament entzweien können, ist Textwelten der Literalität 35 bekannt und ist nur ein Beispiel für die ungebrochene Alltagsrelevanz der entsprechenden Kompetenz. Es geht also nicht darum, dass wir es etwa unter Schlagworten wie Informalisierung oder Reoralisierung mit einem Verlust ehedem stilbildender Merkmale konzeptionaler Literalität zu tun hätten. Vielmehr steigen die Ansprüche an ein nach Diskursbereichen, Texttypen und Textsorten zunehmend differenziertes Inventar. Dabei zeigen sich einerseits in Abhängigkeit von der Stabilität einer Diskurstradition und einem entsprechend stabilen kulturellen Umfeld für eine Textsorte und ihre Domäne klare Verfestigungen: So finden wir etwa im Bereich der Wissenschaft eine fortschreitende Standardisierung der Textsorte des wissenschaftlichen Artikels, der ähnliche Gestaltungsmerkmale zeigt. Aber wir haben auch hier, etwa im Verhältnis von Linguistik, Literaturwissenschaft und Geschichtswissenschaft je eigenständige Diskurstraditionen. So ist etwa im Bereich linguistischer Artikel empirisch ein deutlich höherer Anteil des Gebrauchs der ersten Person Singular zur Verfasserreferenz feststellbar, als in literaturwissenschaftlichen Texten. Am restriktivsten ist der Gebrauch in der Geschichtswissenschaft. Interessant ist, dass sich dies - wie Steinhoff (2007) in einer Untersuchung belegt - nicht nur in Expertentexten, sondern auch in den Texten der jeweiligen nachwachsenden Fachstudierenden zeigt. Interessant ist auch, dass diese Unterschiede nicht nur für den deutschen Sprachbereich feststellbar sind, sondern sich, wie Kresta (1995) gezeigt hat, vergleichbar auch für englischsprachige Artikel nachweisen lassen. Auch in der Dissertation von Kaiser (2002) zu Arbeiten venezolanischer StudentInnen zeigt sich ein deutlich höherer Ich-Gebrauch in den linguistischen als in den literaturwissenschaftlichen Arbeiten, wobei quantitativ ingesamt die erste Person Plural dominiert. Dies sind Schlaglichter auf die Wirksamkeit von Diskurstraditionen oder, wie Schlieben-Lange (1988) formuliert hat, Texttraditionen: Texttraditionen sind „überindividuell“, ja, sie sind sogar der primäre Ort, an dem gesellschaftliche Identitäten, Normen und Werte sprachlich konstitutiert werden. Es ist allerdings zu beachten, dass Textgemeinschaften (d.h. die Gruppe derjenigen, die eine Texttradition weitertragen und über die entsprechende Textkompetenz verfügen) und Sprachgemeinschaft in der Regel nicht zusammenfallen (Schlieben-Lange 1988, 1209). Diskursgemeinschaften bilden Kulturen, die als Kommunikationszusammenhänge unterschiedlichen Umweltbedingungen ausgesetzt sind. Dabei geraten traditionale Erwartungen durchaus auch unter Druck: Schröder (2003) hat sich vor dem Hintergrund einer zunehmend verschärften Wettbewerbssituation im publizistischen Bereich in seiner Tübinger Habilitationsschrift eingehend mit Zeitungsberichten befasst: Er bestätigt das zunehmende Abgehen vom an der Informationshierarchie orientiertem Leadstil, stellt eine Zunahme von wörtlicher Rede und des so genannten „slipping“, d.h. des grammatischen Einbaus direkter in indirekte Rede, fest; Helmuth Feilke 36 dazu kommen ausgeprägte narrative und szenische Sequenzen und eine entsprechend angepasste Tempusverwendung, die mit einem starken Rückgang des Präteritum einhergeht. Alle Mittel zielen auf eine stärkere Einbindung des/ der Lesers/ Leserin und eine eingeschränkte Hegemonie der distanzsprachlichen Merkmale. Dazu kommt die stärkere Integration von Information und Unterhaltung sowie Information und Meinung. Dies löst in Redaktionen nicht weniger Diskussionen aus, als in Universitätsfachbereichen das Problem der Bewertung von Portfolios oder der Antrag, statt einer Seminararbeit die Entwicklung einer Website als wissenschaftliche Arbeit anzuerkennen. Was in der Perspektive etablierter Textsortenschemata und Literalitätserwartungen als problematisch erscheinen muss, ist pragmatisch betrachtet die Folge veränderter, und das heißt in aller Regel zunehmend differenzierter Erwartungen an Texte. Ich möchte hier abschließend Schröder zitieren, der in der erwähnten Schrift resümiert: Ziel muss sein, einen Beschreibungsansatz zu entwickeln, der einerseits den historisch verfestigten Formen gerecht wird, der aber andererseits auch den Prozess der Typenbildung und Ansatzpunkte für neue Verfestigungsprozesse nicht aus dem Blick verliert. Gefordert ist deshalb ein Zugriff, der verfestigte Formen nicht voraussetzt, sondern ausgehend von einer Analyse der Praxis nach ihnen fragt (Schröder 2003, 263). 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Georg Weidacher Multimodale Textkompetenz 1 Einleitung Wir texten […] Sie möchten, dass Ihr Text gelesen wird - mit Interesse und vom ersten bis zum letzten Satz. Wir kümmern uns um einen logischen Aufbau und treffende Formulierungen und sorgen dafür, dass dem Lesevergnügen keine Orthografie- und Grammatikfehler oder stilistische Unstimmigkeiten im Wege stehen. Wir haben immer den potenziellen Leser im Auge und achten darauf, dass der Text genau das zum Ausdruck bringt, was Sie sagen möchten - so wie es für den Leser besonders interessant ist. Wir sind darin geübt, komplizierte Themen rasch zu erfassen und Wege zu finden, auf denen Ihre Botschaft ankommt. Dieses Angebot findet sich unter dem Titel „Textkompetenz“ auf der Website der Kommunikationsberatungsfirma „science communications“ 1 . Zwei Annahmen liegen diesem Angebot zugrunde: Erstens wird ein Bedarf an funktionierender, effektiver Kommunikation mittels Texten in Firmen und Organisationen vorausgesetzt, zweitens ein Manko an Schreibfähigkeit angenommen, sodass professionelle Autoren 2 benötigt werden, die diese Kommunikationsprobleme lösen. Weiters werden einige Aspekte von Textkompetenz - wie sie von der Kommunikationsberatungsagentur gesehen wird - genannt: Kenntnisse der Orthografie und der Grammatik, Formulierungskompetenz und Stilsicherheit sowie die Fähigkeit adressaten- und situationsadäquat zu kommunizieren. Offensichtlich sind dies die Punkte, die den meisten Kunden der Agentur Probleme bereiten, weshalb sie auch als essentiell für Textkompetenz empfunden werden, während anderes nicht so ins Bewusstsein dringt. Im Folgenden soll jedoch der Begriff der Textkompetenz weiter gefasst werden, indem einerseits auch Rezeptionskompetenzen fokussiert werden, andererseits nicht nur rein schriftlicher, sondern auch multimodaler textueller Kommunikation zugrunde liegende Kompetenzen einbezogen werden. Zugleich erfolgt eine differenziertere und linguistisch abgesicherte Definition von Textkompetenz und im Speziellen multimodaler Textkompetenz. 1 http: / / www.zangger.org/ textkompetenz/ index.html. 2 Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird das generische Maskulinum verwendet. Georg Weidacher 40 2 Der Begriff der Textkompetenz Textkompetenz ermöglicht es, Texte selbständig zu lesen, das Gelesene mit den eigenen Kenntnissen in Beziehung zu setzen und die dabei gewonnenen Informationen und Erkenntnisse für das weitere Denken, Sprechen und Handeln zu nutzen. Textkompetenz schließt die Fähigkeit ein, Texte für andere herzustellen und damit Gedanken, Wertungen und Absichten verständlich und adäquat mitzuteilen (Portmann-Tselikas 2005, 1 f.). In dieser Definition von Portmann-Tselikas ist die oben angesprochene Erweiterung des Textkompetenz-Begriffs in Hinblick auf Rezeptionskompetenzen bereits erfolgt, ja diese werden sogar an den Anfang der Definition gestellt und damit stärker betont. Textkompetenz wird hier jedenfalls als Lese- und Schreibkompetenzen umfassend betrachtet, wobei sie sich aber mit keinen von beiden - und auch nicht mit beiden zusammengenommen - deckt. Vielmehr stellt die Fähigkeit zum produktiven wie rezeptiven Umgang mit Schriftzeichen eine Voraussetzung für das Verarbeiten von Texten dar, jedoch eine, die parallel zur Textkompetenz im engeren Sinn vorhanden sein muss und keineswegs mit dieser identisch ist. Man könnte diese Fähigkeiten als Medienkompetenz - in unserem Fall zunächst das Medium Schrift betreffend - bezeichnen. Definitorisch abzugrenzen von der Textkompetenz sind weiters die Sach- und die Sprachkompetenz (vgl. Portmann-Tselikas 2005, 2 und 2007, 275 f.), 3 wobei erstere sich auf das (Sach-)Wissen bezieht, das man benötigt, um einen Text zu einem bestimmten Thema schreiben oder lesen und verstehen zu können, letztere dagegen auf lexikalisches und grammatisches Wissen. Wiederum kann ein Verarbeiten von Texten ohne diese Kompetenzen nicht erfolgen, weshalb sie von einer Textkompetenz im weiteren Sinn nicht völlig abgetrennt werden können. Dennoch ist der Kern der eigentlichen Textkompetenz ein anderer: Sie ist „[…] die Fähigkeit schlechthin, komplexe und rein sprachlich vermittelte Sinnkontexte selbständig durch die Konstruktion mentaler Modelle aufzubauen, zu prüfen und zu verändern“ (Portmann-Tselikas 2007, 275). Dieser Aufbau mentaler Modelle (vgl. dazu auch Portmann-Tselikas 2005, 10) erfolgt sowohl bei der Rezeption als auch bei der Produktion von Texten, und zwar derart, dass Informationen, die einem vorliegenden Kommunikat entnommen werden bzw. in dieses eingebaut werden sollen, zu einer komplexen Vorstellung integriert werden, sodass man auch von einer kognitiven Repräsentation des Textes (vor allem seines Inhalts, aber auch formaler oder pragmatischer Aspekte) sprechen kann. Man könnte auch sagen, es geht dabei um die „Textualisierung“ von 3 Anzumerken ist hier, dass Portmann-Tselikas diese Unterscheidung speziell in Hinblick auf diese Kompetenzen im akademischen Kontext, vor allem beim studentischen Schreiben, trifft. Sie kann aber auch für andere Kommunikationssituationen schriftlicher Natur übernommen werden, da immer Sach- und Sprachkenntnisse, wenn auch unterschiedlichen Grades, notwendig sind. Multimodale Textkompetenz 41 Informationen, also die Konstruktion einer gestalthaften, kohärenten Vorstellung von dem, worum es in einem Text geht und - meist zu einem geringeren Grad - wie er formuliert ist. Was bei diesem Kern der Textkompetenz noch beachtet werden muss, ist das Faktum, dass eine solche Konstruktion eines mentalen Modells sowie die Relationierung desselben mit einer Textur 4 im Allgemeinen immer ein Aspekt kommunikativen Handelns ist. Das heißt, dass diese Form der Kognition nicht zum Selbstzweck geschieht, sondern immer in eine Kommunikationssituation eingebettet ist, mit der das mentale Modell auch verrechnet werden muss. Konkreter gesagt erfolgt solch eine Modellkonstruktion in Hinblick auf einen Kommunikationspartner, auf den hin eine kommunikative Handlung in Form einer Textformulierung dann auch ausgerichtet ist bzw. dessen Kommunikationsintentionen - darunter auch das aufgrund der Textur zu erschließende, vom Autor zur Vermittlung intendierte mentale Modell - im Zuge der Rezeption imaginiert werden. Damit wird die Notwendigkeit einer weiteren Kompetenz offenbar, die für Kommunikation mittels eines Textes unerlässlich ist, ohne jedoch Teil der Textkompetenz im engeren Sinn zu sein. Vielmehr handelt es sich hierbei um eine allgemeine Kommunikationskompetenz, an die aufgrund der Besonderheiten schriftlicher Kommunikation größere und zum Teil andere Anforderungen gestellt werden als in einem als kommunikative Ur-Szene zu betrachtenden Face-to-Face-Gespräch. Wie nun Textkompetenz im engeren Sinn und Kommunikationskompetenz sowie auch die anderen genannten Kompetenzen zusammenspielen, wenn mittels Texten kommuniziert wird, soll im Folgenden kurz erläutert werden, wobei den Ausgangspunkt eine nähere Definition dessen bildet, was wir hier unter einem Text verstehen. 3 Zur Definition von „Text“ „Texts are artifacts apt for interpretation“, so die Definition von Joseph Margolis (1993, 193), der hier jedoch den Textbegriff auf das materielle Kommunikat reduziert und damit zu kurz greift. Dass nämlich ein Text vorliegt, ergibt sich erst aus einer erfolgreichen Interpretation, die dem Kommunikat einen Sinn zuschreibt und somit erst eigentlich den Text als Text (re-)konstruiert und sein Potenzial aktiviert. Margolis berücksichtigt also in seiner Definition nur den Nussbaumerschen „Text auf dem Papier“, der allerdings nur ein solcher sein kann, wenn es auch einen dazu gehörenden „Text im Kopf“ gibt (vgl. dazu Nussbaumer 1991, 142 ff.). Einen anderen terminologischen Weg, um diese beiden Ebenen klar abzugrenzen, geht Christian Stetter mit folgender Unterscheidung: „Text ist dasjenige, was geschrieben und verstanden wird, die Textur das, was 4 Der Begriff der Textur wird im Zuge dieser Arbeit noch näher erläutert. Georg Weidacher 42 geschrieben ist und gelesen wird“ (Stetter 1999, 294). Damit wird das Phänomen „Text“ begrifflich auf die Ebene der Kognition verschoben und beschränkt, während die Textur, die wir auf dem Papier vorfinden, nur der „tote Buchstabe“ ist, der erst durch den Prozess des Verstehens erweckt werden muss, bzw. gefriert - umgekehrt betrachtet - der Text zur Textur, sobald er schriftlich festgehalten wird (vgl. Stetter 1999, 294). Und weiter: „Daß die Metapher vom toten Buchstaben spricht, nicht vom toten Text, hebt jenes Charakteristikum der Textur hervor, daß sie Text vor oder nach der Bearbeitung ist und somit das Substrat der Bearbeitung des Textes“ (Stetter 1999, 294). Dies bedeutet, dass ein Text, um wieder Text zu werden, im Zuge der Rezeption erst mit kohärentem Sinn versehen werden muss, wobei die Sinnzuschreibung allerdings nicht von der Textur, also indirekt vom Autor, ungesteuert verläuft. Dennoch gilt: „Die fragmentarische, in disparaten Zeichen und Partien ausgelegte Textur muß durch die Arbeit an ihr je wieder zur semantischen, logischen, stilistischen Konsistenz und Kontinuität des Textes aufbereitet werden“ (Stetter 1999, 296). Nun sollte man aber Vorsicht walten lassen, wenn man den Begriff „Text“ auf eine kognitive Ebene verschiebt, was Stetter offensichtlich tut, da wir im eigentlichen Sinn keine Texte im Kopf haben, sondern mentale Modelle, die sich auf Texturen beziehen. Andererseits muss man ihm zustimmen, dass sich auch „auf dem Papier“ kein Text befindet, da der Sinn eines Textes nicht zusammen mit den einzelnen Signifikanten zum „toten Buchstaben“ gefriert, um in Stetters Bild zu bleiben. Zwar sind die Wörter, so scheint es, konventionell mit einer Bedeutung versehen, aber diese muss erstens im mentalen Lexikon des Rezipienten gespeichert sein und von dort aufgerufen und dem jeweiligen Signifikanten zugeordnet werden. Zweitens muss der Rezipient die einzelnen Bedeutungen zu einem kohärenten Sinn verbinden, da erst dieser einen Text zu einem Text macht. Als Ausweg aus diesem terminologischen Dilemma wird hier vorgeschlagen, den nussbaumerschen Text I als „Textur“ im Sinne Stetters zu bezeichnen und den Text II als „textuelle Repräsentation“. Der Begriff „Text“ selbst geht damit nicht verloren. Vielmehr wird „Text“ als (nicht eindeutig, aber mehr oder weniger vorstrukturiertes und perspektiviertes) Sinnpotenzial verstanden, das der Textur eingeschrieben ist und qua Rezeption als textuelle Repräsentation kognitiv aktualisiert wird. Ein Text ist somit im Grunde die flüchtige, weil zeitlich auf die kognitive Textverarbeitung beschränkte Verbindung einer Textur mit einer textuellen Repräsentation, sei es im Zuge der Produktion, sei es im Zuge der Rezeption (vgl. dazu Weidacher 2007, 88 ff.). Nun bedeutet diese Bestimmung zunächst nur eine Ausdifferenzierung des Textbegriffs. Nur angedeutet bzw. implizit mitgemeint sind hier jedoch andere zur Textdefinition - und für unsere Beschreibung der Textkompetenz im engeren Sinn - unerlässliche Aspekte, die ausgehend von der folgenden Definition Jens Brockmeiers (1998, 155 f.) kurz diskutiert werden sollen: Multimodale Textkompetenz 43 Mit „Text“ meine ich […] einen sprachlichen Zusammenhang, der sich aufgrund seiner Schriftlichkeit durch ein solches Maß innerer und äußerer Kohärenz auszeichnet, daß er - tendenziell - kontextunabhängig Bestand haben kann. Das schließt die Notwendigkeit der Interpretation nicht aus, wozu gehört, daß der Kontext im Prozeß der Rezeption zumindest teilweise wieder hergestellt oder neu gebildet werden muß. Zwar kann, wie aus dem zuvor Festgestellten klar geworden sein dürfte, nur die Textur, nicht der Text tatsächlich kontextunabhängig Bestand haben, zumal letzterer erst dadurch entsteht, dass Rezipienten die einer Textur entnommenen Informationen mit ihrem eigenen Wissen und ihrer eigenen Vorstellung der „Wirklichkeit“ relationieren (vgl. Seidlhofer/ Widdowson 1999, 209) und damit kontextualisieren. Dennoch beinhaltet Brockmeiers Definition mit diesem Punkt ein entscheidendes Kriterium von Textualität, nämlich die sprechsituationsüberdauernde Stabilität von Texten (vgl. Ehlich 1983, 32) und ihre Funktionalisierung als sprachlich formulierte - und damit überlieferungsfähige und immer wieder aktualisierbare - Sinnpotenziale, deren Rezeptionsoffenheit, die ihre „Stabilität“ untergraben würde, durch die als Artefakt (vgl. Urban 1996, 2) gefrorene Textur - eine und vielleicht die wichtigste „Grenze der Interpretation“ (vgl. Weidacher 2004) - eingeschränkt wird. Damit Texte diese Funktion als Mittel der Kommunikation in „zerdehnten Sprechsituationen“ (Ehlich 1983, 32) erfüllen können, müssen sie allerdings, abgesehen von ihrer durch die Textur gewährleisteten Stabilität, auch dem ebenfalls von Brockmeier angesprochenen Kriterium der Kohärenz in ausreichendem Maße entsprechen, das mit einer weiteren Eigenheit von Texten in Zusammenhang steht: Texte sind „Konstitutionsformen von Wissen“ (Antos 1997), da in ihnen Informationen selektiert und perspektivierend strukturiert und organisiert werden, sodass ein gestalthaftes Sinngebilde entsteht, das sich durch eine „Übersummativität des Ganzen“ (Ortner 2000, 42) auszeichnet, das also als Gestalt über ein Mehr an Sinn verfügt als die Summe seiner Teile (der Einzelinformationen). Dazu muss es sich aber jeweils tatsächlich um eine (potenziell) „gute Gestalt“ handeln, der von Rezipienten ein innerer Zusammenhang und damit Kohärenz zugeschrieben werden kann. Nur in diesem Fall kann man von konstituiertem und in der Textur gespeichertem Wissen sprechen, nur dann kann man das Gebilde auch einen Text nennen. 4 Textdefinition und Textkompetenz Was ergibt sich nun aus diesen Überlegungen zur Textdefinition für den Begriff der Textkompetenz? Zentral erscheinen in dieser Hinsicht drei Aspekte, die sowohl für die Kompetenz auf Produzentenals auch auf Rezipientenseite, wenn auch jeweils auf unterschiedliche Weise, relevant sind: Georg Weidacher 44 • Konstituierung von Wissen als gestalthaftem Sinngebilde und Kohärenzbildung • Kontextualisierung • Stabilisierung des Textes als Sinnpotenzial in Form einer Textur Zunächst muss ein Textproduzent befähigt sein, ein kohärentes Sinngebilde in Form eines mentalen Modells zu konstituieren, d.h. Informationen zu einem geordneten und strukturierten Wissenskomplex zusammenzufassen. Weiters muss dieses Sinngebilde kontextualisiert werden in dem Sinn, dass eine Anbindung an andere Wissensbestände und Wirklichkeitsvorstellungen erfolgt bzw. erfolgen kann. Schließlich muss dieses Sinngebilde in Form einer Textur, eines sprachlichen Artefakts, für die diskursive Weitergabe von Wissen in „zerdehnten Sprechsituationen“ stabilisiert und damit verfügbar gemacht bzw. auf diese Weise für die sozio-kognitive Erfahrbarkeit bereitgestellt werden. Dabei ist zu beachten, dass es sich bei der Anwendung dieser Kompetenzen in einer Kommunikationssituation nicht um eine chronologische Abfolge von Prozessen handelt, da z.B. die Konstituierung des Sinngebildes häufig erst im Zuge der Formulierung der stabilen Textur erfolgt und die Kontextualisierung zumindest zum Teil aus dem Einbau indexikalischer Kontextualisierungshinweise in die Textur besteht und somit zur Stabilisierung des Sinnpotenzials beiträgt. Textkompetenz im engeren Sinn - man könnte sie vielleicht auch als „Textualisierungskompetenz“ bezeichnen - besteht also darin, dass jemand kohärente Sinngebilde erzeugen und diese in Form einer Textur ausformulieren kann, wobei diese Befähigung alleine jedoch nicht ausreicht, da ein Produzent zusätzlich auch über die oben genannten Medien-, Sprach- und Sachkompetenzen verfügen muss. Alle gemeinsam sind daher als notwendige Voraussetzungen einer produzentenseitigen Textkompetenz im weiteren Sinn zu betrachten. Rezipientenseitige Textkompetenz im engeren Sinn kann zwar nicht einfach als Spiegelbild der für die Produktion erforderlichen Kompetenz angenommen werden, aber die genannten drei Aspekte sind hier ebenfalls zentral: Auch der Rezipient muss befähigt sein, eine komplexe Sinngestalt aufbauen und sie mit relevanten Kontexten relationieren zu können. Er muss sich dabei aber bewusst sein - und auch dies ist ein Teil seiner Textkompetenz -, dass ihm dabei durch die jeweilige Textur Grenzen vorgegeben werden, die es zu beachten gilt. Anders ausgedrückt muss er sein mentales Textmodell mit den in der Textur „gefrorenen“ Informationen verrechnen und so ein Sinnpotenzial aktualisieren, dass mit diesen kompatibel ist. Um seine rezeptive Textkompetenz zu beweisen, genügt es also nicht, ein kohärentes Sinngebilde oder einen Wissenskomplex aufbauen zu können, sondern man muss auch die Intention hinter der Textproduktion erkennen können und sich zumindest bis zu einem gewissen Grad in seiner Rezeption danach ausrichten. Multimodale Textkompetenz 45 Damit überschreiten wir jedoch wiederum die Grenzen der Textkompetenz im engeren Sinn und wenden uns einer anderen, schon in der Einleitung kurz angesprochenen Kompetenz zu: der Kommunikationskompetenz. 5 Kommunikationskompetenz Texte werden im Allgemeinen nicht selbstzweckhaft produziert. Sie dienen zwar wie oben beschrieben der Konstituierung und Stabilisierung von Wissen, jedoch zumeist in Hinblick auf dessen kommunikative Vermittlung. Das bedeutet, dass es dem Textproduzenten nicht nur darum geht - und nicht nur darum gehen darf -, einen kohärenten Text zu kreieren, sondern er muss bei der Konstitution des Textes und bei der Ausformulierung der Textur stets einen Adressaten im Visier haben, auf den hin der Text als kommunikativer Akt ausgerichtet ist. Dazu benötigt er neben der Textualisierungskompetenz im eigentlichen Sinn auch Kommunikationskompetenz. Eine wichtige Voraussetzung für diese Kompetenz bildet eine kognitive Strategie, die in der kognitionswissenschaftlichen Literatur - etwas unglücklich - unter der Bezeichnung „theory of mind“ abgehandelt wird (vgl. Pinker 1999, 329 ff.). Darunter versteht man die Fähigkeit zur Fremdzuschreibung kognitiver Zustände, wie zum Beispiel Einstellungen, Meinungen oder Intentionen, also „[o]ur ability to explain and predict the behaviour of others in terms of their mental states (beliefs and desires)“ (Fletcher et al. 1995, 110). Solche Fremdzuschreibungsleistungen scheinen nun vielleicht selbstverständlich und geschehen auch zumeist so unbewusst, dass wir uns nicht immer im Klaren sind, dass diese Fähigkeit erst im Zuge unserer kognitiven Ontogenese entwickelt werden muss und wie entscheidend sie für alltägliche menschliche Kommunikation ist. Fälle von Autismus, deren Erscheinungen - so eine kognitionswissenschaftliche Theorie - durch ein Fehlen von „theory of mind“ verursacht sind (vgl. Pinker 1999, 331 u. Fletcher et al. 1995), zeigen jedoch, wie sehr kommunikative Akte be- oder gar verhindert werden können, wenn jemand zu derartigen Fremdzuschreibungen nicht im Stande ist. Diese wechselseitigen Zuschreibungen kognitiver Zustände und im Falle von Kommunikationsprozessen darunter auch die Zuschreibungen kommunikativer Intentionen sowie die mit dem Kommunikat verbundenen Sinnzuschreibungen müssen bei den an einer Kommunikationssituation Beteiligten jedenfalls hinreichend übereinstimmen, damit ein äquilibrierter Zustand entsteht, der als ideales Ziel jedweder Art offener, d.h. nicht mit Georg Weidacher 46 irgendeiner Art von Täuschungsabsicht vollzogener Kommunikation anzustreben ist. 5 Grundlegend für die Erreichung eines solchen Äquilibres in einem Kommunikationsprozess ist die Befähigung und zugleich Bereitschaft des Senders mit Hilfe von Zeichen eine Äußerung zu produzieren, die es dem Rezipienten ermöglicht bzw. ihn dazu anregt, eine für den Sender wünschenswerte Interpretation in Form eines mentalen Modells zu entwickeln. Anders ausgedrückt versucht der Sender den Rezipienten zu beeinflussen, d.h. ihn bei seiner Interpretationsarbeit in eine gewisse Richtung zu steuern. Oder, wie Steven Pinker es im Hinblick auf mündliche Kommunikation formuliert: „Simply by making noises with our mouths, we can reliably cause precise new combinations of ideas to arise in each other’s minds“ (Pinker 1995, 1). Das hier angesprochene Modell von Kommunikation kann demnach als „Beeinflussungsmodell“ im Sinne der Zeichentheorie von Rudi Keller bezeichnet werden (vgl. Keller 1995, 105), denn das Grundproblem der instrumentalistisch begründeten Kommunikationstheorie Kellers ist ein Beeinflussungsproblem: „Wie kriege ich dich dazu, zu erkennen, was ich denke, was ich von dir möchte, was du tun oder glauben sollst? “ (Keller 1995, 72). Der Produzent muss also, anders ausgedrückt, durch eine gezielte Gestaltung der Textur die „theory-of-mind“-Fähigkeit des Rezipienten unterstützen, wobei er umgekehrt auf seine eigene „theory-of-mind“- Fähigkeit zurückgreift, um die kognitiven Dispositionen des anvisierten Adressaten zu antizipieren. Dies ist nun offensichtlich im Falle schriftlicher Kommunikation schwieriger, da im Allgemeinen Produzent und Rezipient Teil einer „zerdehnten“, nicht jedoch einer aktuellen Kommunikationssituation sind und daher eine Abgleichung der wechselseitigen Einschätzungen, wie auch der mit der Textur relationierten mentalen Modelle im Verlauf des Kommunikationsprozesses (z.B. über direkte Feedback-Handlungen) nicht möglich ist. Andererseits wird gerade in schriftlicher Kommunikation diese hier angesprochene Antizipations- und adressatenbezogene Formulierungskompetenz besonders beansprucht, denn „[d]er wesentlich monologische Produktionsprozeß bei der schriftsprachlichen Kommunikation erfordert auch bei dem Entwurf der Kommunikationsstrategie eine höhere Intensität antizipierender Reflexion“ (Giesecke 2007, 116). Da die Strategie während des Kommunikationsaktes kaum aufgrund von Interventionen des Rezipienten entwickelt und geändert werden kann, muss sie „[…] vorher so festgelegt werden, dass sie mögliche Verständnisschwierigkeiten und Einwände vorwegnimmt“ (Giesecke 2007, 117). Zur Kommunikationskompetenz gehört allerdings nicht nur die Fähigkeit, die Gestaltung der Textur an den intendierten Adressaten 5 Zum von Piaget übernommenen und für die Linguistik adaptierten Begriff des Äquilibre in der Kommunikation vgl. Ortner/ Sitta (2003, 42 ff.). Multimodale Textkompetenz 47 anzupassen. Vielmehr gilt es noch weitere „Widerstände“ zu überwinden, die einen kommunikativen Erfolg erschweren, zuweilen sogar verhindern könnten. Der Rhetoriker Joachim Knape (2000, 58 ff.) postuliert in seiner Rhetorik-Theorie, dass ein Orator, sobald er seine kognitiven Einstellungen kommunizieren und dazu semiotisch kodieren will, mit kommunikativem Widerstand auf fünf verschiedenen Ebenen rechnen muss, und zwar mit kognitivem Widerstand, Sprachwiderstand, textuellem, medialem und situativem Widerstand. Der kognitive Widerstand besteht darin, dass der Orator auf den Rezipienten einwirken will, der jedoch ein an sich autonomes kognitives System darstellt, welches dem Orator nicht direkt zugänglich ist. Daher muss der Orator ein projektives Adressatenkalkül (Knape 2000, 59) unter Zuhilfenahme seiner „theory-of-mind“-Fähigkeit erstellen, auf das hin er sein Kommunikat ausrichtet. Zu diesem in etwas anderer Terminologie schon oben angesprochenen Widerstand kommt laut Knape (2000, 59 f.) der Sprachwiderstand, der dadurch entsteht, dass kein Orator und auch kein Textproduzent frei über eine Sprache oder ein anderes Kommunikationsmittel verfügen kann (vgl. Knape 2000, 60). Er muss sich an die konventionalisierten Regeln des jeweiligen Sprachsystems und an die überkommenen Bedingungen des Sprachgebrauchs halten, wodurch bis zu einem gewissen Grad seinem individuellen Ausdruckswillen Grenzen gesetzt sind. Natürlich kann der Orator versuchen zum Beispiel im Bereich konnotativer Bedeutungen, neuer Kollokationen und Wortschöpfungen oder durch die Nutzung von Metaphern innovativ zu sein, aber er ist dabei gezwungen seine Version sprachlichen Ausdrucks mit dem sprachlichen Wissen und den Konventionen der Adressaten abzugleichen. Auf textueller Ebene eröffnen sich dem Orator oder Textproduzenten besondere Möglichkeiten der Rezipientensteuerung, da er hier die Bedeutungen sprachlicher Zeichen in seinem Sinn kontextualisieren und determinieren kann. Allerdings läuft dem wiederum der mögliche Eigensinn des Rezipienten zuwider, der die Interpretation von Texten, auch wenn sie vom Autor noch so konsequent und deutlich perspektiviert wurden, unvermeidlich kontingent macht. Außerdem lassen sich Texte nicht nach Belieben gestalten. Wiederum muss man die Formulierung der Textur an Erwartungen des intendierten Adressaten ausrichten und sich zum Beispiel an konventionalisierte Textmuster halten, auch wenn sie nicht in jeder Hinsicht den eigenen Kommunikations- und Gestaltungsabsichten entsprechen. Auf diese Weise werden Textmuster, wie Köller (841 ff.) meint, zu Perspektivierungsmustern, die bestimmte, vielleicht zum Teil vom Produzenten nicht beabsichtigte Interpretationen nahe legen, was wiederum einen Aspekt des textuellen Widerstands ausmacht. Medien im Sinne von sozial-distributiven Tragflächen von Texten werden für den Textproduzenten zu kalkuliert eingesetzten kommunikativen Instrumenten, wobei allerdings auch Widerstand entstehen kann, Georg Weidacher 48 wenn das optimale Medium nicht vorhanden ist oder wenn Medium oder Mediensysteme durch ihre materiell und systemisch bedingten Strukturdeterminiertheiten dem Textproduzenten und seiner Vorgehens- und Gestaltungsweise ihr Gesetz aufzwingen (vgl. Knape 2000, 62 f. und Knape 2005, 235). Der situative Widerstand schließlich liegt in möglicherweise störenden bzw. den Textproduzenten in seiner Kommunikationsintention behindernden Aspekten des jeweiligen kommunikativen Settings, also z.B. in einem erwartbar „feindlich“ gesinnten oder auch schon in einem relativ unbekannten und damit in seinen Reaktionen schwer auszurechnenden Rezipienten (vgl. Knape 2000, 63). Diese Widerstände erkennen und ihnen adäquat entgegentreten zu können, stellt bereits einen Teil der Kommunikationskompetenz dar. Ein weiterer besteht in der (zum Teil sicher unbewussten) Kenntnis von bereits erprobten Lösungsansätzen für die sich aus den Widerständen ergebenden Probleme, und zwar von Lösungsansätzen in Form von Textmustern. 6 Textmuster- und Stilkompetenz „Textmuster sind Handlungsmittel zur Lösung gesellschaftlicher Standardprobleme“ (Sandig 2000, 102), wobei sich die Eigenheiten des jeweiligen Textmusters bzw. die Art seiner Verbalisierung aus den je spezifischen Anforderungen des Handlungstyps ergeben, d.h. aus den situativen Bedingungen und den Handlungsintentionen der Kommunikanten. Wenn nun ein Textmuster mehrmals erfolgreich zur kommunikativen Problemlösung eingesetzt wurde, wird es sozial sanktioniert und damit in Form einer zumeist kulturspezifischen Textmusterprägung in den sozialen Wissensbestand aufgenommen. Sobald ein Textproduzent oder ein Textrezipient befähigt ist, auf diesen Wissensbestand und auf das den jeweiligen kommunikativen Anforderungen adäquate Textmuster im Speziellen zurückzugreifen, wird es zu einem Teil seiner Kommunikationskompetenz. Da es sich hierbei jedoch um einen sehr spezifischen Aspekt der Kommunikationskompetenz handelt, der noch dazu zugleich der Textualisierungskompetenz zuzurechnen ist - schließlich geht es hier um die an ein Muster angelehnte Ausformulierung einer Textur -, kann man auch von einer eigenständigen Textmusterkompetenz sprechen, die allerdings, wie dargestellt wurde, eng an andere Kompetenzen gekoppelt ist. Mit der Textmusterkompetenz in Zusammenhang zu betrachten ist auch die Fähigkeit, Texturen stilistisch adäquat, d.h. den jeweiligen Handlungszielen und anderen situativen Vorgaben entsprechend und damit kommunikativ effizient und effektiv zu formulieren. Diese Stilkompetenz ist - unserer Definition zufolge - nicht Teil der Sprachkompetenz, die nur phonologisches, lexikalisches und grammatisches Wissen umfasst, steht ihr aber durchaus nahe, weil sie die sprachliche Gestaltung von Texturen Multimodale Textkompetenz 49 betrifft. Darüber hinaus enthalten aber auch Textmuster sprachliche Routinen, die für die stilistische Prägung mitverantwortlich sind, weshalb eine scharfe Trennung dieser beiden Kompetenzen in der Praxis ebenfalls kaum möglich ist. 7 Textkompetenz im weiteren Sinn und ihre Teilkompetenzen Wenn man die getroffenen Bestimmungen der Textkompetenz im weiteren Sinn und der Kompetenzen, die, wenn sie für die Textgestaltung funktionalisiert werden, als ihre Teilkompetenzen wirken, 6 zusammenfasst, ergibt sich folgendes Modell: Textkompetenz im weiteren Sinn Textkompetenz im engeren Sinn (= Textualisierungskompetenz): • Kohärenzkompetenz • Kontextualisierungskompetenz • Stabilisierungs-/ Formulierungskompetenz bzw. Rezeptionskompetenz Textmusterkompetenz Kommunikationskompetenz Stilkompetenz Sprachkompetenz Medienkompetenz Sachkompetenz Metatextuelle Kompetenz Abb. 1 Wie aus diesem Modell ersichtlich, wurde eine Kompetenz bislang noch nicht angesprochen: die metatextuelle Kompetenz. Dies liegt daran, dass sie zwar der Textkompetenz im weiteren Sinn zuzurechnen ist, jedoch auf einer anderen Ebene angesiedelt ist, als die restlichen Teilkompetenzen, weil sie im Allgemeinen nur zum Tragen kommt, wenn die Textgestaltung bzw. die Textrezeption an sich ins Bewusstsein der Kommunikanten dringen. Dies kann geschehen, wenn Formulierungs- oder Rezeptionsprobleme auftreten, 6 Anm.: Die Kommunikationskompetenz zum Beispiel ist ja nicht nur Teilkompetenz der Textkompetenz im weiteren Sinn, sondern auch für die Bewältigung anderer kommunikativer Aufgaben notwendig. Georg Weidacher 50 wenn Texturen von Erwartungen abweichen, wenn aus verschiedenen Gründen (z.B. bei literarischen, juristischen, politischen oder anderen Texten, deren effektive Gestaltung besonders wichtig ist) ein bewussteres Umgehen mit der Textur vonnöten erscheint, wenn im Schulunterricht Texte und deren Gestaltung besprochen werden, usw. Metatextuelle Kompetenz wird demnach benötigt, um über Texte kommunizieren zu können, wobei ein Ziel dieser Kommunikation die bessere Verarbeitung eines Textes ist. Auf diese Weise trägt diese Teilkompetenz auch zur Verbesserung der Textkompetenz im weiteren Sinn bei und ist dieser daher zuzurechnen, wenn es auch bis zu einem gewissen Grad möglich sein mag, Texturen zu produzieren oder zu rezipieren, ohne über diese metatextuellen Fähigkeiten zu verfügen, was für die anderen Teilkompetenzen nicht gilt. 8 Multimodale Textkompetenz Bislang haben wir uns in dieser Arbeit nur mit Aspekten der Kompetenz, sprachlich formulierte Texte gestalten bzw. rezipieren zu können, beschäftigt. Da in vielen Bereichen auf Grund des Wandels technischmedialer „affordances“ sowie der allgemeinen Kommunikationsbedürfnisse und -anforderungen aber rein sprachliche Texte prozentuell zum Teil signifikant Terrain an multimodale Texte, speziell im Printbereich in Form von Sprache-Bild-Kombinationen, verlieren, muss eine Diskussion von Textkompetenz auch nicht-sprachliche semiotische Modi und ihre Verwendung bei der Gestaltung von Texten berücksichtigen. Als Textlinguist darf man, will man nicht relevante Entwicklungen textueller Gestaltungsmöglichkeiten ignorieren, damit nicht mehr „blind für Bilder“ sein (Schmitz 2005, 227). Dies bedeutet nun nicht, dass Bilder auch als Texte zu betrachten und zu analysieren seien, da, während das semantische Potenzial eines Textes, selbst wenn es als mentales Modell quasi holistisch vorgestellt werden kann, in einer linear zu rezipierenden Textur verankert ist, im Falle bildlicher Kommunikation schon die Wahrnehmung - die erste Stufe der Rezeption - des semiotischen Artefakts holistisch erfolgt. Es handelt sich also, wenn es auch bei der weiteren Interpretation von Bildern Ähnlichkeiten zum Lesen sprachlicher Texte gibt, um durchaus unterschiedliche kognitive Prozesse, die auf die differenten semiotischen Eigenheiten von Sprache- und Bildkommunikationen zurückzuführen sind. 7 Dennoch sollte man Bilder, so sie mit sprachlichen Formulierungen kopräsent und verknüpft auftreten, weder von der Textanalyse exkludieren, noch sie einfach als Kontext zur sprachlichen Äußerung betrachten. Vielmehr stellen solche Bilder Teile eines „Puzzle-Textes“ (Püschel 1997) dar 7 Zu dieser Diskussion vgl. Ehlich 2005. Multimodale Textkompetenz 51 und sind somit ko-textuelle Faktoren, die wesentlich Anteil an der sich im Gesamttext manifestierenden kommunikativen Handlung haben. Ohne sie wäre in vielen Fällen kein vollständiger kohärenter Text im oben beschriebenen Sinn gegeben, weil sie durch ihre Einbindung in die Gesamtkonstruktion der Textur dieser erst ihren semantischen Sinn und ihre pragmatische Wirkung verleihen bzw. beides zumindest auf relevante Weise beeinflussen. Entscheidend ist nun, inwieweit und in welcher Hinsicht solch eine semiotisch multimodale Gestaltung von Texturen andere oder erweiterte Textkompetenzen erfordert. Offensichtlich ist dabei, dass zur im oben vorgestellten Modell angeführten Sprachkompetenz eine Kompetenz den anderen semiotischen Modus betreffend, also eine „Bildkompetenz“ hinzukommen muss. Das heißt, Produzenten und Rezipienten multimodaler Texte müssen auch zur kognitiven Verarbeitung von Bildern - darunter sollen Fotos, Zeichnungen, aber auch Graphiken und Schemata etc. verstanden werden - befähigt sein, was zunächst nichts Besonderes zu sein scheint, wenn man bedenkt, dass zum Beispiel für die Werbeforschung Bilder „schnelle Schüsse ins Gehirn“ sind (vgl. Kroeber-Riel 1996, 53). Die damit angesprochene rasche, zumeist problemlose und daher in ihrer Prozessualität unbewusst bleibende Verarbeitung von Bildern gilt jedoch erstens nicht für alle Bilder und zweitens nur für den ikonischen Aspekt bildlicher Kommunikation, nicht für deren indexikalische oder - falls vorhanden - symbolische Seite. Anders ausgedrückt erkennen wir zwar im Allgemeinen, was ein Bild ikonisch repräsentiert, in vielen Fällen aber nicht bzw. zumindest nicht auf den ersten Blick, in welchen Sinnzusammenhang oder kognitiven Rahmen die bildliche Information zu stellen ist. Dieser indexikalische Objektbezug wird daher häufig, zum Beispiel in Form von Bildüber- oder Bildunterschriften schon vom Produzenten abgesichert, sodass der Rezipient mittels der so erfolgenden sprachlichen Beschreibung und Identifikation des bildlich dargestellten Objektbezugs zu einer zufrieden stellenden Kontextualisierung gelangen kann (vgl. Straßner 2002, 19 f.). Dabei ist im Übrigen bereits zu erkennen, dass es nicht nur um Bildkompetenz, also die Fähigkeit, Bilder kognitiv verarbeiten zu können, alleine geht, sondern auch um eine Fähigkeit, die einer erweiterten Kohärenzkompetenz zuzuordnen ist, nämlich darum, bildlich vermittelte Informationen bzw. die bildlichen Bestandteile einer Textur mit den sprachlich vermittelten zu verknüpfen und zugleich die multimodal gestalteten Rezeptionsangebote miteinander zu verrechnen, sodass eine gestalthafte, kohärente Interpretation des Textes konstituiert werden kann. Auf der Seite des Produzenten wiederum muss die Kompetenz vorhanden sein, eine aus Bildern und Sprache bestehende Textur so zu gestalten, dass ihr Sinnpotenzial auch potenziell kohärent ist. Dazu benötigt er neben der Kohärenzkompetenz eine multimodale Formulierungskompetenz, die man als Textdesignkompetenz bezeichnen könnte. Zu dieser Georg Weidacher 52 gehören Kenntnisse über den richtigen - im Sinne von effektiven und effizienten - Einsatz von Bildern in einer Textur, über deren Verknüpfung mit anders modalen Textteilen durch das Lay-out, aber auch über die typographische und farbliche Gestaltung der Textur. Das Textdesign 8 zeigt sich somit in der multimodalen Umsetzung einer Kommunikationsintention und damit als in Form einer multimodalen Textur stabilisiertes Resultat einer kommunikativen Handlung, das wiederum vom Rezipienten - denn auch dieser muss über eine gewisse, wenn auch im Allgemeinen weniger bewusst werdende Textdesignkompetenz verfügen - im Zuge des Interpretationsprozesses kognitiv verarbeitet wird. Dazu gehört zum Beispiel, dass er die durch die „Komposition“ (van Leeuwen 2005, 198 ff.) der Texturelemente, also die räumliche Anordnung der „Puzzle-Teile“, und die ihnen auf diese Weise oder z.B. durch Farbgebung oder Kontrast vom Produzenten verliehene Salienz angeregten Gewichtungen der von der Textur getragenen Informationen (vgl. van Leeuwen 2005, 198 u. Jewitt/ Oyama 2001, 134 ff.) adäquat im Rezeptionsprozess berücksichtigt. Dazu gehört auch ein für die Rezeption ausreichendes Verständnis davon, was ein Produzent in einem multimodalen Text mit der horizontalen Anordnung - was links erscheint, wird als „given“, also schon bekannt, oder zumindest als zeitlich früher situiert präsentiert, was rechts erscheint tendenziell als „new“ bzw. noch nicht bekannt oder zeitlich später -, der vertikalen Anordnung - was oben erscheint, ist tendenziell das „Ideale“, was unten in einer Textur zu sehen ist, sind dagegen eher die Details, ist das „Reale“ - und mit der Unterscheidung von „centre“ und „margin“ - was wird sozusagen semiotisch im Design an den Rand gedrängt - ausdrücken will (vgl. dazu van Leeuwen 2005, 201 ff.). Falls der Rezipient sich dieser multimodal-semiotischen Gestaltungstechniken auch noch bewusst wird bzw. bei Bedarf bewusst werden kann, so verfügt er zusätzlich über eine erweiterte metatextuelle Kompetenz, die ihm über die bloße Verarbeitung auch die Evaluierung und Kommentierung eines multimodalen Textdesigns erlaubt und in der Folge, wenn diese Kompetenz nicht nur eine rezeptions-, sondern auch eine produktionsbezogene ist, auch die Textoptimierung. Zusammenfassend können wir demnach das oben vorgestellte Modell folgendermaßen ergänzen: 8 Zum Textdesign vgl. auch Bucher (1996) und Antos/ Spitzmüller (2007, im Druck). Multimodale Textkompetenz 53 Multimodale Textkompetenz im weiteren Sinn Textkompetenz im engeren Sinn (= Textualisierungskompetenz): • Multimodale Kohärenzkompetenz • Kontextualisierungskompetenz • Multimodale Stabilisierungs-/ Formulierungskompetenz bzw. Rezeptionskompetenz, inkl. Textdesignkompetenz Textmusterkompetenz Kommunikationskompetenz Stilkompetenz Sprachkompetenz Bildkompetenz Medienkompetenz Sachkompetenz Metatextuelle Kompetenz (multimodal) Abb. 2 9 Schluss „Textkompetenz […] ist eine durch und durch funktionale Fähigkeit. Dies wird beglaubigt durch ihre lebensweltliche Relevanz, ihre unbestreitbare Notwendigkeit und Leistungsfähigkeit […] in vielerlei Kontexten“ (Portmann-Tselikas 2005, 12). In der von allen Seiten proklamierten modernen Wissensgesellschaft ist die Befähigung zur Verarbeitung von Texten unerlässlich geworden, zumal in beruflichen Kontexten, jedoch auch im von den modernen Medien geprägten gesellschaftlichen Alltag. Da nun diese modernen Medien - mehr noch als die althergebrachten - multimodalen semiotischen Ressourcen eine materielle Basis bieten und mit den von ihnen gebotenen „affordances“ multimodale Kommunikation nicht nur erleichtern, sondern überhaupt als die ihnen adäquate Form von Kommunikation erscheinen lassen, müssen sich auch die Kompetenzen der Mediennutzer und insbesondere deren Textkompetenz an diesen Gegebenheiten Georg Weidacher 54 ausrichten. Auch die Textkompetenz muss also multimodal werden, will man in der Wissensgesellschaft reüssieren. Literaturverzeichnis ANTOS, Gerd (1997), „Texte als Konstitutionsformen von Wissen. Thesen zu einer evolutionstheoretischen Begründung der Textlinguistik“, in: Gerd Antos, Heike Tietz (Hrsg.), Die Zukunft der Textlinguistik. Traditionen, Transformationen, Trends, Tübingen: Niemeyer, 43-63 (= RGL 188). ANTOS, Gerd/ Spitzmüller, Jürgen (2007, im Druck), „Was ‚bedeutet’ Textdesign? 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So beschränkt sich die Literaturdidaktik anlässlich der Diskussion des Begriffs „Lesekompetenz“ darauf, diesen Begriff auf eine „Deutungskompetenz“ für literarische Texte einzuengen (vgl. die „Stellungnahme des Fachverbandes Deutsch im Deutschen Germanistenverband zu den Ergebnissen der PISA-Studie Lesekompetenz“, in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 4/ 2002 u. Scherner 2006c) oder, wenn „Anschlusskommunikation“ einbezogen wird (vgl. Groeben/ Hurrelmann 2002), diese auf empirische Datensammlungen, die sozialwissenschaftlicher Methodologie zugänglich sind (z.B. Aufnahmen von Unterrichtsgesprächen oder Fragebogenantworten u.Ä.) einzugrenzen. Interpretationstexte kommen so gar nicht erst in den Blick. Auch im Rahmen der Forschungen zur Entwicklung einer „Textkompetenz“ scheint die Textart „Interpretation“ im Sammelbecken der Kategorie „argumentativer Text“ aufzugehen, sodass auch von hier aus kein besonderes Licht auf die Fähigkeit zur Produktion von Interpretationstexten fällt. Bemerkenswert ist, dass auch in der Literaturwissenschaft, die sich damit wohl von der Kritik am Wissenschaftsanspruch von Interpretationen absetzen möchte, ausdrücklich postuliert wird, dass Interpretationen „offen und argumentativ geführt“ werden (Weimar 2002, 115) und „in sich widerspruchsfrei und zusammenhängend“ sein sollen (Baasner 1997, 139). Eine Forderung dieser Art darf für den Bereich wissenschaftlicher Textproduktion per se als plausibel gelten, es fragt sich jedoch, ob die damit vollzogene Einordnung der Interpretation in die Klasse argumentativer Texte nicht zu allgemein ist. Denn ein Interpretationstext scheint doch auch spezifischeren Anforderungen als lediglich denen rationaler Argumentation genügen zu müssen. So ist etwa im Unterschied zu einem freien Argumentationsgang über ein beliebiges Thema bei einem Interpretationstext grundsätzlich davon auszugehen, dass er sich als Resultattext auf einen Maximilian Scherner 58 vorliegenden literarischen Ausgangstext bezieht. Dieses Grundmerkmal, Text über einen (literarischen) Text zu sein, geht wesentlich über das Klassifikationskriterium „argumentativer Text“ hinaus, es lässt sich sogar sagen, dass es das fundierende Kriterium für Interpretationstexte ist, dem alle anderen nachgeordnet sind. Was daraus für die Textart „Interpretation“ und für die zu ihrer Produktion notwendigen Fähigkeiten abzuleiten ist, soll im Folgenden gezeigt werden. Dass diese spezifische Interpretationskompetenz eine notwendige Voraussetzung für die Produktion von Interpretationstexten ist, wird allerdings erst vor einem texttheoretischen Hintergrund deutlich. Wenn man mit dem französischen Literaturtheoretiker Gérard Genette (1982) vom umfassenden Grundbegriff der „Intertextualität“ als dem Basisnetzwerk für alle Textvorkommen ausgeht, dann handelt es sich bei Interpretationstexten um einen typischen Unterfall von „Intertextualität“, nämlich um „Metatextualität“, weil hier mit der Interpretation als Zweittext eine „kommentierende Bezugnahme eines Textes auf einen Prätext“ (Fix 2000, 52) vorliegt. Mit dieser Einordnung ist jedoch über die Art der Text-Text-Beziehung zwischen dem literarischen Text und dem Interpretationstext noch nichts ausgemacht. Deshalb soll die Frage nach der Art des Zusammenhangs zwischen den beiden Texten, auf den sich ja die Interpretationskompetenz bezieht, den Ausgangspunkt unserer Überlegungen bilden. Der Zusammenhang, um den es dabei geht, lässt sich vereinfacht zunächst an folgendem Schema verdeutlichen: Ersttext Zweittext Linearität der sprachlichen Vertextung Metatextualität Linearität der sprachlichen Vertextung Abb. 1 Dieses Schema soll genau das veranschaulichen, was bisher zu unserer Ausgangskonstellation festgestellt wurde: es liegen zwei Texte jeweils als graphisch-physikalische Gegebenheiten vor, die durch die einseitig gerichtete Relation der Metatextualität aufeinander bezogen sind. Die zusätzliche Kennzeichnung, dass es sich dabei um linear vertextete sprachliche Gebilde in Schriftform handelt, soll darauf aufmerksam machen, dass hinter der wahrnehmbaren Linearität der Vertextung die Zirkularität eines diese Vertextung jeweils produzierenden bzw. rezipierenden Bewusstseins steht. Dies führt zu folgender Erweiterung des Schemas: „Interpretationskompetenz“ 59 Ersttext Zweittext Zirkularität der Kognition des Textproduzenten Linearität der sprachlichen Vertextung Zirkularität der Kognition des Textrezipienten Linearität der sprachlichen Vertextung Abb. 2 Die kognitiven Bereiche des/ der Textproduzenten/ Textproduzentin und des/ der Textrezipienten/ Textrezipientin sind hier gestrichelt markiert, weil es sich bei ihnen um „black boxes“ handelt, die uns nicht direkt zugänglich sind. Aus eigener Introspektion wissen wir aber immerhin soviel, dass es sich dabei im Unterschied zu den wahrnehmbaren Vertextungen nicht um linear funktionierende, sondern um zirkulär arbeitende Bereiche handelt, weshalb sie in der phänomenologischen Philosophie auch mit der Metapher vom Strom des Bewusstseins gekennzeichnet werden. Während der kognitive Bereich des/ der Autors/ Autorin des Ersttextes nicht zu unserem Thema gehört, wird aus diesem Schema immerhin deutlich, dass zwischen dem Ersttext und dem Zweittext ein mentaler Verarbeitungsprozess stattgefunden hat, der - so ist zu vermuten - für die Metatextualität des Zweittextes von erheblicher Bedeutung ist, weil er ja die mentale Ausgangsbasis für die Herstellung des Zweittextes ist. Wir dürfen also zur Ergründung der Metatextualität nicht ohne Umschweife den Zweittext mit dem Ersttext gewissermaßen an der Oberfläche vergleichen, sondern wir müssen die dazwischenliegende Phase der kognitiven Verarbeitung des Ersttextes in unsere Überlegungen einbeziehen. Damit sind wir auf Modellbildungen und empirische Ergebnisse der Kognitionsforschung verwiesen, soweit sie sich mit den Prozessen von Wahrnehmen (Lesen) und Verstehen von Texten befassen. Denn obwohl die Sprachwissenschaft in ihrer langen abendländischen Tradition bei der Beschreibung einzelner sprachlicher Phänomene (z.B. der Pronomina) immer wieder implizit auf den Verstehensprozess Bezug nimmt, wird das Textverstehen selbst bisher kaum als herausragende Forschungsaufgabe der Sprachwissenschaft angesehen. Wenn man die Themen der Jahrestagungen des Instituts für deutsche Sprache (Mannheim) als Indikatoren des Forschungsinteresses Revue passieren lässt, fällt auf, dass das „Textverstehen“ erstmalig im Frühjahr des Jahres 2005 Themenschwerpunkt gewesen ist (vgl. Blühdorn 2006). Demgegenüber beschäftigt sich die Psychologie seit ihrer kognitiven Wende bereits mehr als 25 Jahre lang mit Fragen des Textverstehens. Dabei werden in den verschiedenen Modellbildungen fast durchgängig folgende Prozessebenen des Textverstehens unterschieden (vgl. Christmann/ Groeben 1999; Christmann 2000; Schnotz 2000 u. 2006): Maximilian Scherner 60 (1) subsemantische Prozesse, die sich von der Verarbeitung des Lay-outs eines Textes bis zur Erkennung der Wortformative erstrecken, (2) semantisch-syntaktische Prozesse, die sich auf die Konstruktion des Bedeutungsgehaltes der Sätze als propositionale Einheiten („Mikropropositionen“) beziehen, (3) inferentielle und elaborative Prozesse, die sich auf die Aktivierung und Einbeziehung nicht-textualisierten Wissens beziehen und (4) reduktive Prozesse, die alle Formen der kondensierenden Verarbeitung betreffen, die üblicherweise als Transformierung vieler, mindestens mehrerer „Mikropropositionen“ zu wenigen „Makropropositionen“ beschrieben werden. Wichtig ist nun, dass diese Prozesse nur analytisch voneinander getrennt beschrieben werden können, sie im aktuellen Verstehensprozess aber insgesamt simultan wirksam sind und dass dabei ein kontinuierliches Zusammenspiel von textgeleiteten (bottom up) und wissensgeleiteten (top down) Impulsen stattfindet. In verschiedenen kognitionspsychologischen Ansätzen wird dabei die so genannte „Schematheorie“ favorisiert (vgl. Schnotz 2000, 501), die besagt, dass die Verstehensprozesse auf allen genannten Ebenen nicht über die Verarbeitung je heterogener atomistischer Elemente verläuft, sondern über die Verarbeitung von ganzheitlichen „Mustern“, die als kognitive Strukturen - eben als „Schemata“, „Frames“, „Scripts“ etc. - wirksam werden (Scherner 2004). Das beginnt bei der Erkennung der Buchstaben über die entsprechenden Buchstabenmuster und setzt sich fort im Wirksamsein von Wort- und Wortbildungsmustern, von Mustern der Satzbildung, von konzeptuellen Deutungsmustern und Illokutionsmustern bis hin zur Evokation von Emotions- und Evaluationsmustern. Insgesamt erzeugt der/ die TextrezipientIn über diese Verstehensprozesse multiple mentale Repräsentationen, die als Integral sein/ ihr jeweiliges Modell der „Textwelt“ ausmachen (vgl. Scherner 2006c). Bei der metatextuellen Bezugnahme eines Zweittextes auf einen Ersttext ist es jedoch nicht hinreichend, allein die dazwischenliegende Phase der Textrezeption zu berücksichtigen; denn es reicht ja nicht aus, dass der Zweittextautor sich im Rezeptionsprozess eine „Textwelt“ aufgebaut hat, er muss diese in einem weiteren Schritt wiederum zu einem neuen linearmanifesten Text verarbeiten. Insofern müssen wir unsere schematische Darstellung des Zusammenhanges zwischen Ersttext und Zweittext noch einmal erweitern: „Interpretationskompetenz“ 61 Ersttext Zweittext Linearität der sprachlichen Vertextung Zirkularität der Textrezeption Zirkularität der Textproduktion Linearität der sprachlichen Vertextung Abb. 3 Während sich das primäre Verhalten einem Text gegenüber in der Rezeption erschöpft, haben wir es im Fall der Metatextualität darüber hinaus mit der Produktion eines neuen Textes zu tun. Das bedeutet, dass hier der gesamte Prozess des Verfassens eines Textes mit den konzeptuellen Planungsprozessen, den satz- und textbildenden Formulierungsprozessen sowie mit den redigierenden Überarbeitungsprozessen zu durchlaufen ist (vgl. Molitor-Lübbert 1996). Ich unterscheide innerhalb der metatextuellen Beziehung also deutlich zwischen der Rezeption des Ersttextes und seiner anschließenden Verarbeitung zu einem ausformulierten weiteren Text. Allerdings - und das unterscheidet die metatextuelle von der einfachen Textproduktion - ist die metatextuelle Textproduktion in spezifischer Weise auf die voraufgehende Rezeption des Ersttextes bezogen. Das zeigt sich deutlich in einem Beschreibungsansatz, der für die Produktion von Texten über Texte unter der Bezeichnung „natürliche Textverarbeitung“ (im Unterschied zu „maschineller Textverarbeitung“, vgl. Wirrer 1976) entwickelt worden ist. Unter „natürlicher Textverarbeitung“ sind danach „alle Operationen zu erfassen, in denen durch einen natürlichen Sprecher einem Ausgangstext ein Resultattext zugeordnet wird“ (Wirrer 1976, 247), wobei der vorgängige Rezeptionsprozess implizit vorausgesetzt ist. Die zur Erstellung des Zweittextes notwendigen Operationen können in folgender Reihe (nach Wienold/ Rieser 1974 u. S. J. Schmidt 1979 von mir leicht variiert, vgl. Scherner 2006a) angegeben werden: (1) Verbalisieren der „Textwelt“: Damit ist der komplexe Prozess einer Art protokollierenden Paraphrase des (in der Rezeption gewonnenen) Verständnisses des Ersttextes gemeint. (2) Kondensieren: durch diese Operation werden die „Textwelt“ oder einige ihrer Elemente von irgendeinem Gesichtspunkt aus reduktiv verdichtet und entsprechend als Kondensat formuliert. In dieser Operation wird das Zusammenspiel zwischen Rezeption und Verarbeitung des Ersttextes besonders greifbar, weil hier alle Operationen, die während der Rezeption zur Bildung von Makropropositionen führen (z.B. das Verallgemeinern durch Zuordnung verschiedener Singularitäten unter einen Oberbegriff ), in der Ausformulierung des Zweittextes noch einmal greifbar werden. (3) Metasprachlich Beschreiben: durch diese Operation werden dem Ersttext oder seinen Elementen Beschreibungen zugeordnet, die mit Bezug auf Maximilian Scherner 62 diese sprachlichen Objekte metasprachlich funktionieren (z.B. „der Text enthält viele Adjektive“). (4) Bewerten: diese Operation ordnet der „Textwelt“ oder dem Ersttext bzw. seinen Elementen Formulierungen zu, die normative Einstellungen des/ der Verarbeiters/ Verarbeiterin ausdrücken (z.B. „es handelt sich um ein vollkommenes Sonett“ o.Ä.). (5) Erklären: diese Operation ordnet der „Textwelt“ eine Hypothese oder eine Menge von Hypothesen zu, die als Befriedigung eines Erklärungsbedarfs fungieren (z.B. „in dem Text kommt die Isolierung des modernen Menschen zum Ausdruck, weil der Protagonist sich jeder Kommunikation verschließt“). Aus dem bisher zum Verhältnis zwischen Ersttext und Zweittext Dargestellten ergibt sich nun eine wesentliche Korrektur und Präzisierung dessen, was unter „Metatextualität“ zu verstehen ist. Während wir mit Genette davon ausgegangen sind, dass jede „kommentierende Bezugnahme“ eines Zweittextes auf einen Ersttext als „Metatextualität“ zu gelten hat, komme ich nunmehr zu einer wesentlich genaueren Bestimmung dieses Begriffes: Wie wir gesehen haben, bezieht sich der Zweittext dadurch auf den Ersttext, dass er zu allererst die verstehende Verarbeitung des Ersttextes zu einer mentalen „Textwelt“ deutlich macht, d.h., dass er kenntlich werden lässt, auf welche Art und Weise der/ die AutorIn des Zweittextes die „Textwelt“ des Ersttextes konstruiert hat. Darüber hinaus erfolgt die Linearisierung dieses Verständnisses mit Hilfe der genannten Formulierungsoperationen der „natürlichen Textverarbeitung“. Oder kurz und bündig formuliert: Die „Metatextualität“ eines Zweittextes besteht in der verarbeitungsbezogenen Beschreibung der mentalen Konstruktion der Textualität des Ersttextes. Dieses Konzept von „Interpretation“ stellt allerdings im Hinblick auf das Gros der als Interpretationen umlaufenden Zweittexte eine sehr starke Annahme dar. Kennen wir doch alle Interpretationen, die die genannten Erfordernisse an „Metatextualität“ nur sehr eingeschränkt aufweisen. Um in Umrissen zu verdeutlichen, was damit gemeint ist, wähle ich als Beispiel einen 2002 bei Reclam erschienenen Band (Jahraus/ Neuhaus 2002), der zehn Modellanalysen, also „Interpretationen“, zu Franz Kafkas Erzählung „Das Urteil“ enthält, und zwar aus dem Blickwinkel der gegenwärtig angewandten Interpretationsmethoden (Hermeneutik, Strukturalismus, Rezeptionsästhetik, Sozialgeschichte, Psychoanalyse, Systemtheorie, Intertextualitätsforschung und Dekonstruktivismus). Bemerkenswert für unsere Thematik ist dabei, dass - von wenigen Einzelbezügen abgesehen - der Interpret in acht von diesen zehn Modellinterpretationen überhaupt keinen Bezug darauf nimmt, wie er auf der Basis von Kafkas Text zu der von ihm unterstellten „Textwelt“ gelangt ist. Allein die hermeneutisch und die strukturalistisch orientierten Interpretationen enthalten dazu reichhaltigere Darlegungen. „Interpretationskompetenz“ 63 Natürlich muss man bei einer solch überschlägigen Feststellung auch berücksichtigen, dass eine einheitliche literaturwissenschaftliche Gegenstandsbestimmung gegenwärtig nicht gegeben ist (vgl. Wegmann 2003), aber angesichts der Tatsache, dass hier ausdrücklich Textinterpretationen angekündigt werden, deren Bezugstext vorweg mitabgedruckt ist, sollte man doch erwarten dürfen, dass die Interpretationen wenigstens Spuren der rezeptiven und der weiteren produktiven Verarbeitung des Ersttextes enthalten. Dies feststellen zu müssen, löst schon vor dem Hintergrund der wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklung Verwunderung aus: Denn nach der Kritik, die die literarische Interpretationspraxis seit dem Ende der 60er Jahre auf sich gezogen hat, indem man ihren analytischen Anspruch in Abrede stellte und ihr lediglich „beachtliches, richtungsweisendes Nachempfinden“ attestierte (Hartmann 1966, 57; vgl. Kindt/ Schmidt 1976), wäre inzwischen zu erwarten, dass die Standards interpretatorischer Analytik nicht mehr unterschritten werden. Für den Beispielfall dieser Modellanalysen zu Kafka und darüber hinaus für eine Vielzahl von Interpretationen stellt es sich jedenfalls so dar, dass alles, was sich zwischen der Wahrnehmung des Ersttextes und dem Zweittext im mentalen Bereich der Interpretierenden abgespielt hat, als „blinder Fleck“ erscheint, weil im Interpretationstext nichts davon sichtbar wird. Wenn es demgegenüber die Aufgabe jeder wissenschaftlichen Analyse ist, nicht nur nach dem Wissen selbst zu suchen, sondern gleichzeitig die Frage zu beantworten, wie wir wissen, dass wir [es] wissen (vgl. Hartmann 1966), dann ist damit auch der Weg vorgezeichnet, den eine Interpretation als metatextuelle Bezugnahme auf einen Ersttext zu beschreiten hat. Der Interpretierende muss - das ist die sich daraus ergebende Anforderung - in seinem Zweittext jeweils die Frage beantworten, wie, d.h. über welche mentalen Verstehens- und Verarbeitungsoperationen, er zu seinen Interpretationsfeststellungen gelangt ist, um so den „blinden Fleck“ in seinem Zweittext zu vermeiden. Die hier feststellbare „Blindheit“ zeigt sich nicht nur in der Interpretationspraxis, sie ist auch in der Theorie des literarischen Interpretierens anzutreffen. Da das hier nicht auf einer breiten Referenzbasis aufgezeigt werden kann, soll dazu nur auf einige Feststellungen der schon eingangs zitierten Interpretationstheoretiker zurückgegriffen werden, um wenigstens an einigen Aspekten verdeutlichen zu können, welch verkürzte Vorstellungen von „Interpretation“ in der Theoriebildung des eigenen Faches möglich sind. So bestimmt Baasner (1997, 139) die Textinterpretation einfachhin als „sprachliche Wiedergabe einer Textauslegung“. Unter „Textauslegung“ wird dabei das Ergebnis eines mehrmaligen hermeneutischen Leseprozesses verstanden, der „eine mehr oder weniger konsistente Textaussage“ (Baasner 1997, 136) erschließen lässt. Hinter diesen knappen Formulierungen Baasners verbirgt sich mithin der gesamte Prozess der kognitiven Textverarbeitung, allerdings ohne jeden analytischen Durchblick auf verschiedene Verarbeitungsebenen und die beteiligten Einzelprozesse, wie Maximilian Scherner 64 wir sie oben dargestellt haben, zu ermöglichen und mit dem entscheidenden Unterschied, dass als Endprodukt hier nicht die mentale Repräsentation der (die ästhetische Gestalt mit dem gedanklichen Gehalt des Ausgangstextes integrierenden) „Textwelt“, sondern eine daraus abstrahierte „Textaussage“ steht, die ihrerseits thesenförmig zu fassen ist (Baasner 1997, 139). Der Formulierungsprozess der Interpretation selbst wird dann als „sprachliche Wiedergabe“, d.h. als einfache Abbildung der „Textaussage“ in Form von „Thesen“ gesehen, die zur Diskussion gestellt werden. Hinter dieser einfachen und völlig verkürzten Darstellung stehen der gesamte Produktionsprozess des Interpretationstextes (von der Planung bis zur Endredaktion) sowie seine Ausdifferenzierung in die oben beschriebenen Formulierungsoperationen. Nichts davon wird in der Beschreibung Baasners greifbar, obwohl sich der Band, der dies präsentiert, als Einführung in „Grundbegriffe der Germanistik“ versteht (vgl. den Untertitel und das Vorwort auf Seite 7). Wesentlich genauer kommt der Interpretationsprozess bei K. Weimar in den Blick, der folgende Definition anbietet: „Interpretation soll heißen die zweite [...] Verarbeitung eines schon einmal (und anders) verarbeiteten Textes - der Schrift (d.h. des Gesehenen), der Sprache (d.h. des Gelesenen), der Textwelt (d.h. des Verstandenen)“ (Weimar 2002, 115). Bemerkenswert an dieser Formulierung ist zunächst der Rückgriff eines Hermeneuten auf Beschreibungsbegriffe wie „Verarbeitung“ und „Textwelt“, die den oben dargestellten kognitionspsychologischen Konzepten entstammen. Man kann im Gebrauch dieser Ausdrücke ein deutliches Bemühen um eine differenziertere Fassung dessen erkennen, was traditionell einfachhin als „Verstehen“ bezeichnet wird. So unterscheidet Weimar auch gegenüber den von Baasner angesetzten mehrfachen (offenbar gleichartigen) Lesedurchgängen zwischen einer „ersten“ und einer „zweiten“ (andersartigen) Verarbeitung. Während die „erste“ Verarbeitung offensichtlich den primären Rezeptionsprozess eines Textes meint, beginnt in der Phase der „zweiten“ Verarbeitung eine reflexiv auf den eigenen Rezeptionsprozess bezogene Verarbeitung, die durch verschiedene Verarbeitungsebenen ausdifferenziert ist, die offensichtlich in Parallelität zu den oben vorgestellten Prozessebenen der kognitiven Textverarbeitung unterschieden werden. Das „Gesehene“ („Schrift“) entspricht offensichtlich der Prozessebene der Subsemantik, das „Gelesene“ („Sprache“) der Ebene der Bildung von Mikro- und Makropropositionen, und das „Verstandene“ („Textwelt“) entspricht offensichtlich der mentalen Repräsentation des integral erzeugten Modells der „Textwelt“. Der Darstellung von Baasner gegenüber wird dieser Teil des Gesamtprozesses also wesentlich differenzierter beschrieben. Allerdings - und das gibt nach dem interessanten Beginn zur Verwunderung Anlass - geht Weimar des Weiteren auf den Formulierungs-/ Herstellungsprozess der Interpretation schlechterdings nicht mehr ein. Zwar impliziert seine eingangs zitierte Forderung nach einer „argumentativen“ Darstellungsweise „Interpretationskompetenz“ 65 zweifellos den Prozess der Textherstellung, aber eine analytische Beschreibung dieses Teilprozesses unterbleibt. Insofern wird auch in dieser Darstellung Weimars lediglich ein Fragment der „Interpretationskompetenz“ greifbar. Die unzureichende Klärung dieses gesamten Problemfeldes im fachwissenschaftlichen Diskurs spiegelt sich im Bereich der Didaktik. Ich greife dazu auf einen Abschnitt in den „Bildungsstandards im Fach Deutsch für den Mittleren Schulabschluss“ (2003) zurück, weil hier das neue kompetenzorientierte fachdidaktische Denken vorbildgebend umgesetzt werden sollte. Hier findet sich der zu unserer Thematik passende Abschnitt „Ergebnisse einer Textuntersuchung darstellen“, in dem eine durch Spiegelstriche markierte Reihe von Fähigkeiten zu diesem Kompetenzbereich vorgestellt wird. Es handelt sich dabei genau um den Formulierungsbereich, der den oben vorgestellten Textverarbeitungsoperationen nach Wienold/ Rieser und S. J. Schmidt entspricht. Und tatsächlich lassen sich fast alle dort aufgeführten Teilfähigkeiten den oben genannten grundsätzlichen Formulierungsoperationen zuweisen (vgl. Scherner 2006a, 14 f.), aber aus der Ad-hoc-Liste der Bildungsstandards lässt sich eben eine solche Systematik nicht erkennen, die Liste wirkt wie eine zufällige Sammlung unterschiedlicher Fähigkeiten, die alle irgendwie mit der Darstellung von Interpretationsergebnissen zu tun haben, deren systematischer Ordnungszusammenhang und deren leitende Axiomatik aber nicht erkennbar werden. Vor diesem durch Beispiele aus unterschiedlichen fachlichen Bereichen beleuchteten Hintergrund dürfte die Tragweite des dort festgestellten Reflexionsdefizits bezüglich der „Interpretationskompetenz“ deutlich geworden sein. Ein Ausweg aus dieser Lage kann m.E. nur dadurch gefunden werden, dass der Prozessablauf des „Interpretierens“ von der Wahrnehmung des Schwarz-auf-Weiß eines Ausgangstextes bis zur Fertigstellung eines Resultattextes als Gesamtprozess in den Blick genommen wird. Es ist nach dem gegebenen Forschungsstand heute möglich, diesen komplexen Gesamtprozesss unter Rückgriff auf die genannten Textverarbeitungskonzepte zu rekonstruieren. Das kann in einem ersten Schritt dadurch geleistet werden, dass die oben einbezogenen Konzepte der Textverarbeitung modelltheoretisch zusammengeführt werden. Außerdem ist ein allgemeines Modell der Textproduktion (z.B. nach dem Grundmodell von Hayes/ Flower 1980; vgl. Molitor-Lübbert 1996) hinzuzuziehen, in dessen Rahmen die Formulierungsoperationen des Textverarbeitungskonzepts einzubetten sind. Aus diesen drei Bausteinen kann ein erstes grundlegendes Modell der Textinterpretation (verstanden als Aufriss der Art und Weise, wie ein Ausgangstext verarbeitet und wie auf der Basis dieser Verarbeitung ein Metatext gebildet wird) konstruiert werden. Alle Prozesse, die innerhalb dieses Grundmodells ablaufen, basieren auf Fähigkeiten zum verstehenden und interpretierenden Verarbeiten eines Textes einerseits und auf Fähigkeiten zum Planen, Formulieren und Redigieren eines Interpretationstextes andererseits. Das Integral aller dieser Maximilian Scherner 66 Teilfähigkeiten macht dann das aus, was als die idealtypische „Interpretationskompetenz“ anzusehen ist. Ein möglicher modell-theoretischer Rahmen zu ihrer Rekonstruktion ist mit den vorstehenden Überlegungen skizziert. Beim gegenwärtigen Stand des fachlichen Diskurses ist dieser erste Schritt deshalb von besonderer Bedeutung, weil zu konstatieren ist, dass eine Vorstellung von der Komplexität des Gesamtprozesses, der zu einem Interpretationstext führt, weithin nicht gegeben ist. In einem zweiten Schritt müsste dann ein systematischer Aufriss der Teilkompetenzen geleistet werden, die zur Interpretationskompetenz gehören. Das wird die Aufgabe weiterführender Untersuchungen sein. 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Peter Klotz Lücken, Risse, Brüche - zum Verhältnis von Text und Kontext Reflexionen zu den Konstituenten eines Systems 1 Zum Textbegriff Texte sind, wenn sie wohlgeformt sind, Systeme, die gleichermaßen internen und externen Kommunikationsregeln folgen (müssen? ). Die internen Regeln lassen sich zu einem großen Teil grammatisch, semantisch und pragmatisch beschreiben; sie formen den inneren Zusammenhalt des Gewebes „Text“, die Kohäsion. Doch da dies kommunikativ und soziokulturell bekanntlich nicht genügt, werden externe Komponenten und Regeln für die Herstellung von Kohärenz beansprucht. Kohärenz wird für die RezipientInnen eines Textes immer dann möglich, wenn Inhalt und Form des Textes an ihr Weltwissen einigermaßen anschließbar sind; d.h. fachliche, soziale, kulturelle Kompatibilitätsbedingungen mit dem jeweiligen Weltwissen bestimmen über die erfolgreiche Kommunizierbarkeit eines Textes wesentlich mit. Texte sind Makrozeichen; Zeichen also, die auf etwas verweisen, was sich sprachlich formulieren lässt und was in der konkreten und/ oder geistigen Welt vorfindlich ist. Texte rufen also mehr oder weniger komplexe Sachverhalte auf, ohne sie selbst zur Gänze abbilden zu können. Sie haben Verweischarakter. Worauf sie verweisen, sind aber nicht nur die durch sie thematisierten Sachverhalte, sondern sie verweisen gleichzeitig auf die „Kontexte“, in die die jeweiligen Sachverhalte eingebettet sind bzw. den KommunikationspartnerInnen eingebettet erscheinen. Dabei fragt es sich, ob und wie Kontexte in Texten selbst aufscheinen, ob und wie das benötigte Weltwissen aktiviert wird. Diese Zusammenhänge und Prozesse sind an soziokulturelle Kompatibilität bzw. an ihre Kommunizierbarkeit gebunden. Texte sind aber nicht nur jene Erscheinungsformen mündlicher, handschriftlicher, gedruckter bzw. elektronischer Übermittlung manifester Texte, sondern sie sind in irgendeiner, meist noch halb amorphen Struktur und Form Gebilde in der Vorstellung des Autors (Text 1), und sie sind geistige und affektive Gebilde im Verständnis der RezipientInnen (Text 2). Insbesondere RezipientInnen sind um Kohärenz bemüht; aber eigentlich ebenso die TextautorInnen, die auf der Ebene des manifesten Textes Kohäsion installieren und inhaltlich Brücken zu Weltwissen und Kontexten ermögli- Peter Klotz 70 chen, eben damit Kohärenz in Bezug auf den thematisierten Sachverhalt entstehen kann. So weit, so bekannt. - Während sich aber Kohäsion noch relativ gut beschreiben lässt, erscheinen die hier notwendigen Begriffe der Kohärenz und des Kontextes als ebenso notwendig wie offen und weit. Kohärenz scheint immer dann erreicht, wenn ein rezipierendes Subjekt oder eine rezipierende Gruppe den Eindruck hat, einen thematisierten Sachverhalt verstanden zu haben und gegebenenfalls weiterverwenden zu können. Und tatsächlich gehört es ja zu den zentralen Aufgaben der Kommunikation, sich über das Verstehen zu verständigen bzw. Erfahrungen als in einem bestimmten Sinne deutbar und nutzbar auszutauschen. So entstehen relativ kohärente Textauffassungen und mit ihnen Komponenten von Soziokulturalität. Das Feld der Kontexte scheint dagegen schwieriger eingrenzbar. Insbesondere stellt sich die Frage - da Texte kontextgebunden sind -, ob Texte deshalb Resultate von Kontexten sind, weil sie sonst ihrer Thematisierung und Erscheinungsform nach so, wie sie sind, gar nicht formulierbar wären, oder ob sie durch ihr Sosein die Kontexte gewissermaßen aufrufen. Die Beantwortung dieser Doppelfrage liegt zum einen in ihrer Perspektivierung: Für den/ die TextautorIn werden Kontexte zu kräftig mitbestimmenden Faktoren; für TextrezipientInnen enthält das Makrozeichen „Text“ Hinweise auf Kontexte, freilich z.T. in Abhängigkeit von ihnen selbst. Zum anderen ist die Antwort auf diese Doppelfrage beim Text selbst, bei den textuellen Hinweisen auf die Kontexte selbst zu suchen. Diesen „Hinweisen“ nachzugehen ist insofern eine sinnvolle Arbeit in Bezug auf den Einblick in Textualität, als drei Arten von Hinweisen theoretisch anzusetzen sind: 1. Explizite Hinweise auf Kontexte, die den Thematisierungen im Text erst einmal unmittelbar entnommen werden können. 2. Implizite Hinweise auf Kontexte, die im Rezeptionsprozess in der Weise aufscheinen, als das subjektive und soziokulturell determinierte Weltwissen in besonderer Weise Aufstörungen erfährt: sei es durch Irritation, Verunsicherung in Bezug auf Erzählen und/ oder Sachverhaltslogik oder wodurch auch immer. 3. Implizite textuelle Hinweise auf Kontexte, indem durch Nicht-Formulierung oder bruchstückhafte Formulierung kontextgebundenes Weltwissen als verstehensnotwendig aufgerufen wird. Orte solcher Hinweise könnten Lücken, Risse und/ oder Brüche im Textverlauf sein, und zwar sowohl solche, die textbezogen feststellbar sind (sie stehen den expliziten Hinweisen, s.o. 1., nahe), oder solche, die sich im Kohärenzbildungs- und Verstehensprozess als störend, irritierend, verunsichernd bemerkbar machen (sie stehen in der Nähe der subjektiv impliziten Hinweise, s.o. 2., ohne ihnen gleich zu sein.). Um Hinweise auf Kontexte soll es also im Folgenden gehen, insbesondere um die impliziten textuellen Hinweise, da sie deutlich machen können, wie ihre „Lückenhaftigkeit“ den Kontext in den Text hereinzunehmen erlaubt Lücken, Risse, Brüche - zum Verhältnis von Text und Kontext 71 bzw. erzwingt. In solchem Verständnis würden Lücken, Risse, Brüche ins System Text selbst gehören. Das gilt es zu prüfen und zu beobachten. Nach einer ersten Klärung von Kontext, Lücke, Riss und Bruch wird zu beobachten sein, in welcher Weise Lücken, Risse und Brüche in Texten auftreten und welche Kontextverweise sie enthalten (vgl. oben 3.). Mit zu beobachten wird sein, welche Kontexthinweise sich aus den Textthematisierungen unmittelbar ergeben (vgl. oben 1.). Angesichts der Bedeutung der Kontexte, der außer- und vorsprachlichen, und der Diskurse, aber auch angesichts mancher Verfahren des Umgangs mit Texten ist - wieder einmal und doch vielleicht ein wenig neu - eine Auseinandersetzung mit der Bedeutung des manifesten Textes 1 nötig, ist er doch meist Ausgangspunkt unserer Anstrengungen und unserer Lust am Text - einschließlich des Vergnügens an den Selbstbegegnungen 2 , die uns die Texte zu vollziehen erlauben bzw. uns oft auch dazu nötigen. Anschließend soll deshalb über das Verhältnis „manifester Text - Rezeptionstext“ (Kapitel 4) nachgedacht werden; hierbei werden die „subjektiv-impliziten Hinweise auf Kontexte“ (vgl. o. 2.) mit in Betracht gezogen. Eine Zusammenfassung des „Systems Text - Kontext“ beendet die hier angestellten Beobachtungen und Reflexionen - vorerst. 2 Klärungen Erste Klärung vorab: Kontext ist ein weiter, notwendiger Begriff, der in diesem Band verschiedentlich thematisiert wird, weshalb hier eine Definition vorab genügen mag 3 : Allgemein bezeichnet K. die Umgebung, in die etwas hineingehört oder hineingestellt werden kann. Präziser meint K. Zusammenhänge, die für das Verständnis von etwas konstitutiv sind. Sprachtheoretisch wird unterschieden zwischen intratextuellem K. (auch Ko-text), als den Textteilen, mit denen ein Textteil direkt verbunden ist, und extratextuellem K. sprachlicher und nichtsprachlicher Art. Abhängig von der texttheoretischen Position differiert, welche K. als relevant für die Bestimmung der Textbedeutung eingeschätzt werden. Werden Texte als Manifestationen stabil zugrundeliegender sprachlicher Strukturen aufgefaßt, treten v.a. die inhaltssemantischen Bezüge als K. in den Blick, als Zugehörigkeit zu einem Bedeutungsfeld sowie als spezifische Bedeutungsaktualisierung im Zusammenhang des Textes. Wird die pragmatische Dimension berücksichtigt, zählen v.a. standardisiert Situationstypen und Interpretationsrahmen zum relevanten K. und damit in Sprachgemeinschaften geteilte Hintergrundannahmen. Die bedeutungskonstitutive Funktion von K. wird dann als Problem erkannt. Denn diese K. sind nicht stabil Gegebene, in die 1 Siehe Eco (1990), Kapitel 3, Seite 61 ff. 2 Den Begriff entnehme ich Eco (1990); vgl. dort insbesondere „Figur 2“, Seite 89; siehe auch Scheffer (1992). 3 Betz et al. ( 4 2001), Bd. 4, Spalte 1642 f. Peter Klotz 72 ein Text zwecks Bedeutungsbestimmung hineinzustellen wäre. Vielmehr sind sie veränderlich, offen und relativ unbestimmt, so daß Kontextualisierung die Komplexität der Bedeutungsbestimmung durch die Konstruktion der als relevant vermuteten K. steigert. 4 Kontext wird im Folgenden insofern besonders relevant, weil die Auseinandersetzung mit den Lücken im manifesten Text gesucht wird. Lücken erreichen zwar nicht den Status philologischer bzw. linguistischer Begrifflichkeit, stehen aber der leeren Stelle 5 im Text vortheoretisch nahe und hätten eigentlich einen theoretischen Status verdient. Untheoretisch „Lücke“ paraphrasierend und auch differenzierend sollen die Wörter Risse und Brüche mitgedacht werden, und zwar gemäß ihren alltäglichen, materialen Erscheinungsformen: Risse in einer Wand, in Stoffen, in Materialien überhaupt zeigen an, dass entweder ein Material nicht konsistent genug ist oder dass Spannungen auf ein Material einwirken, die Risse verursachen. Brüche ereignen sich bei relativ festen Materialien; sie sind Hinweis auf Kräfte, die sich als stärker als das Material erweisen oder erwiesen haben, und Brüche zeigen am und im Material Spuren und Verformungen des Zerbrechens. Risse und Brüche kommen in Texturen so gut wie aller Materialien irgendwo und irgendwann vor, und so auch in Texten, wo sie freilich eine besondere Qualität haben, und zwar genau deshalb, weil Texte zuerst einmal unter den Aspekten ihres Zusammenhalts, ihrer Kohäsion und ihrer Kohärenz, vermutet - und meist deshalb auch so erfahren - werden. Sprachgeschichtlich ist das Wort „Lücke“ wohl fast ebenso interessant, wie es die Lücken im Text sind. Lücke und Locke gehören ebenso zusammen wie Lücke und Luke, die verschließbare Öffnung. Da wundert die Verwandtschaft zum englischen Wort to lock (verschließen) nicht, wohl aber zur (Haar-) Locke und zum (Gemüse) Lauch. Das Gemeingermanische *lukan für biegen, beugen, winden, drehen und die Kunst des Flechtens, des Windens von Pflanzen, um z.B. etwas zu verschließen, decken die Zusammenhänge ein wenig auf. Wenn also hier - zunächst versuchsweise - Lücken und ähnliche Erscheinungen im Text zum Thema für Entdeckungen von Textualität gemacht werden, dann werden sie hier, wenn sie denn absichtsvoll im Text gesetzt werden, als jene im Text nicht immer manifesten Löcher und Risse verstanden, die den LeserInnen als Einstiegsluken in die Wirkungen und somit eigentlich in einen Teil des Textsystems dienen. Gewissermaßen piratenhaft lässt sich so ein Textsinn aneignen, der sodann als kooperative Konstruktion des/ der Rezipienten/ Rezipientin mit dem Text, vielleicht auch mit dem/ der AutorIn, für ein - präsupponiertes - Textganzes ausgegeben werden kann. Und nach Art der Piraten dringen durch die Luken auch allerhand soziokulturelle Kontexte mit ein, und dann wird’s eng im 4 Diese Definition steht in engster Anlehnung an Eco (1990) und ders. (1992). 5 Anspielung auf Iser (1976) und auf die Diskussion in Warning (1975). Lücken, Risse, Brüche - zum Verhältnis von Text und Kontext 73 Textschiff, das wieder einmal in einen Rezeptionshafen einläuft und dort erst einmal am Deutungspier festmacht. Lücken sind einerseits offen. Sie existieren zwischen den Wörtern, den Zeichen und den Zeilen und machen diese dadurch erst sichtbar und erkennbar. Wirklich deutliche Lücken werden markiert, damit sie wahrgenommen werden: durch Gedankenstriche, durch Punkte bei abgebrochenen Sätzen, durch Sternchen oder ähnliche Piktogramme, wenn ein Handlungsverlauf - für den/ die Rezipienten/ Rezipientin rüde und spannungssteigernd - unterbrochen wird. Solche offen gestalteten Lücken lassen sich nun tatsächlich als „Verschlüsse“ verstehen, sei es für den Redefluss, der von anderen unterbrochen wird, sei es gegen einen sich zu sehr ausbreitenden Gedankenstrom, auf den nur noch per Gedankenstrich schamhaft und bedeutend verwiesen wird, sei es durch Lücken im graphischen Text - dies dann ganz buchstäblich oder durch Partikel des Verstummens wie das berühmte „Ach“ in Kleists Amphitryon. Und es gibt andererseits Lücken, ja Risse und Brüche im Text, die uns den Text schwierig, gelegentlich aber auch attraktiv 6 machen. Unvermeidlich entsteht irgendwann die Frage, was denn gerade Lücken im Text sollen, was sie bewirken und wie sie das tun. Neugier stellt sich ein, und man fragt sich, was da unter Verschluss gehalten werden soll und ob es nicht vielleicht doch interessant wäre, wenn ... Aber schließlich wird man auch die textuellen Verwandten im Text im Auge behalten müssen, also Leerstellen, Ellipsen und Partikel, weil sie alle Auslöser für unsere Präsuppositionsleistungen sind. Lücken - so entsteht das nun hypothesenhaft - könnten Gestaltungsmittel in Texten sein - halbsemantische Zeichen, ähnlich den grammatischen Zeichen 7 -, wenn sie nicht einfach Fehlendes im Text sind. Linguistisch wird der gleichermaßen bedeutenden wie trivialen Feststellung, dass Texte gegenüber dem, was wir gemeinhin Wirklichkeit nennen und wir textrezeptiv zu kohärenten Gebilden zusammenbauen wollen (und müssen), durch das Konzept der Präsupposition begegnet: Kein Text ohne Präsuppositionen; und deshalb auch: kein Text ohne Kontexte. Jede vernünftige Rezeption eines Textes wird sich an die Thematisierungen im Text selbst halten (1), und sie kann nach den unmittelbaren Kommunikationsbedingungen (2) sowie nach den unmittelbaren und mittelbaren Einflüssen der Kontexte auf den Text (3) fragen. Das hat zur - m.E. - positiven Konsequenz, dass man sich an den manifesten Text selbst halten kann, der ja in einem nicht unbeträchtlichen Umfang Auslöser der Rezeptionsarbeit und ggf. Endpunkt der Rezeption ist. Gleichermaßen ergibt sich die klare Trennung von Thematisierungen einerseits und rezeptiver Differenzerfahrungen und Entfaltungen andererseits; die lassen sich ja 6 Nussbaumer (1991). 7 Köller ( 4 1997). Peter Klotz 74 begründen und in den heuristischen und kommunikativen Verlauf der Textbegegnung einbringen. Die kommunikative Situierung gibt fast immer deutliche Hinweise auf die zu erbringenden und möglichen Präsupponierungsleistungen. Ebenso liegt hier die Signalwirkung, inwiefern weitere Informationen historischer, kultureller, sozialer, wissenschaftlicher Art für die Bedeutungskonstruktion notwendig werden. Dies gilt auch für die Kontextbezüge eines Textes. Gemäß dem Kooperationsprinzip (Grice 1975) wird Textverstehen eine - sit venia verbo - Vertrauensangelegenheit. Das schließt die Lust am Text wie den Ärger über den Text ein. Dieses Vertrauen ist geradezu konstitutiv, wenn es um unmittelbare informatorische Nutzung eines Textes geht, aber ebenso ist es notwendig, wenn es um die Einlässigkeit auf die Imaginativität des literarischen Textes geht. Ohne die kooperativen Leistungen des/ der Rezipienten/ Rezipientin kann ein Text nicht funktionieren, was die Zurücknahme des eigenen Horizonts gelegentlich einschließt. Anhand dreier Texte, eines Gedichtes, eines knappen Ausschnitts aus einem Drama und einer Kurzgeschichte, seien diese Überlegungen überprüft. 3 Arbeit an manifesten Texten Erste Textbetrachtungen gelten einem besonders bekannten Text, Goethes „Willkommen und Abschied“ von 1771 in der späteren Fassung. Dies ist ein Text, der bei aller Sprunghaftigkeit keine Risse und Brüche enthält. Thematisiert werden neben dem Aufbruch und dem abendlichen Ritt zur Geliebten Raum und Zeit. Die Eile zeigt sich in den Raum- und Zeitsprüngen der ersten beiden Strophen, dies schon von der ersten Verszeile an: „Es war getan fast eh gedacht“. Die Lücken im Zeitkontinuum und im Verlauf des Weges kann der/ die halbwegs erfahrene RezipientIn als das deuten, was sie auch sind: Wahrnehmungen und Bewusstseinsbruchstücke, die sich neben den Hauptgedanken an die Geliebte Platz schaffen. Thematisiert wird eine stellenweise bedrohlich erscheinende Natur, die - wie man sich vorstellen kann - die Verliebtheitsgedanken und -gefühle nicht aufhalten kann. Die nächsten beiden Strophen sind der Faszination der Verliebtheit und des Liebens gewidmet, und sie laufen wie der gesamte Text auf jene Verse zu, von denen es mit Recht heißt: Wo sonst war das Urphänomen der Liebe derart einfach und derart mitreißend ausgesprochen? Ein Passiv, ein Aktiv, beidemal Glück, und dazwischen der Hinweis auf die Instanz, zu der jede große Liebe in tiefster Beziehung steht, Götter ... (Trunz, in: Johann Wolfgang von Goethe, Willkommen und Abschied, 453). Und doch, welch Glück, geliebt zu werden! Und lieben, Götter, welch ein Glück! (Goethe, Willkommen und Abschied, 28 f.) Lücken, Risse, Brüche - zum Verhältnis von Text und Kontext 75 Strophe 3 hatte die Wiedersehensbegegnung skizziert, Strophe 4 den Abschied. Die Nacht, eine Liebesnacht, wird ausgelassen, wird kaum thematisiert. Auch diese große Lücke im Zeitkontinuum stellt keinen Bruch dar. Sie wird dem eigenen Wissen der Liebenden - Goethe sandte Friederike Brion seine Gedichte - und dem der RezipientInnen überlassen. Wie schon beim abendlichen Ritt wird auch in diesen beiden Strophen der Kontext von Liebe und Verliebtheit aufgerufen, aber eigentlich nur knapp skizziert, etwa mit Wörtern wie Zärtlichkeit (III 7) und Küsse und Wonne (IV 3). Thematisiert wird der morgendliche Abschied der heimlich Liebenden, und für literarisch Versierte tauchen die Konstellationen des mittelalterlichen tagelieds und des Abschieds von „Romeo und Julia“ („es ist die Lerche, nicht die Nachtigall“) als literarischer Kontext, als intertextuelles Spiel auf. Es ist der Kontext der Heimlichkeit, verborgener Körperlichkeit, es ist der Kontext der Bürgerlichkeit bzw. der sog. „guten Sitten“. Das Beispiel dieses Textes zeigt, dass Lücken vertrauensvoll mit dem Weltwissen der RezipientInnen korreliert sind. Risse oder Brüche sind diese Lücken nicht, ganz im Gegenteil, sie sichern das Kontinuum der Kohärenz wie Ellipsen in Texten: der/ die RezipientIn muss genau das denken, was nicht sprachlich ausgedrückt wird. Der innere Zwang zu Kohärenz bedingt gewissermaßen diesen Vorgang. Die doppelte Nennung Götter am Schluss des Gedichts bewirkt zwar keinen Riss, aber diese Nennung reißt bei aller Verkürzung einen weiteren Kontext minimalistisch auf: Die „alten“, die nicht-christlichen Götter waren den Menschen noch Träger des fast Unfassbaren und Unbeschreiblichen, weshalb ihnen zur Bewältigung unverstehbarer Erfahrungen Mythen zugeschrieben wurden. An solche Götter konnte man sich bittend und dankend, verzweifelt und beglückt als Liebende(r) wenden. Dieser Kontext, parallel zur zeitweisen Abgrenzung vom Bürgerlichen, verweist auf eine lustbetonte, nicht körperfeindliche Religionsvorstellung - in Abstand zu christlich-bürgerlicher Strenge. Eine ganz ähnliche Konstellation mit nicht unähnlichen Implikationen existiert in Kleists „Amphitryon“. Lücken im Text sind nicht einfach „leer“, wenn das, was nicht im Text „dasteht“, ergänzt und/ oder präsupponiert werden kann. Genau dies gelingt aber nur, wenn die textlichen Thematisierungen zuvor die notwendigen, die konstitutiven Kontexte hinreichend aufgerufen und aktiviert haben. Zu den berühmtesten und genüsslichsten Beispielen mag eine Dialogstelle aus Kleists „Amphitryon“ 8 zählen: J UPITER : Versprich mir denn, daß dieses heitre Fest, Das wir jetzt frohem Wiedersehn gefeiert, Dir nicht aus dem Gedächtnis weichen soll; Daß du den Göttertag, den wir durchlebt, Geliebteste, mit deiner weitern Ehe Gemeinen Taglauf nicht verwechseln willst. 8 Kleist (1991), 33-34. Peter Klotz 76 Versprich, sag ich, daß du an mich willst denken, wenn einst Amphitryon zurückekehrt? A LKMENE : Nun ja. Was soll man dazu sagen? J UPITER : Dank dir! Es hat mehr Sinn und Deutung, als du glaubst. Leb wohl, mich ruft die Pflicht. A LKMENE : So willst du fort? Nicht diese kurze Nacht bei mir, Geliebter, Die mit zehntausend Schwingen fleucht, vollenden? J UPITER : Schien diese Nacht dir kürzer als die andern? A LKMENE : Ach! J UPITER : Süßes Kind: Es konnte doch Aurora Für unser Glück nicht mehr tun, als sie tat. Leb wohl. Ich sorge, daß die anderen Nicht länger dauern, als die Erde braucht. A LKMENE : Er ist berauscht, glaub ich. Ich bin es auch. Ab. Dramatische Texte sind eigenartige Systeme. Ihre Bedeutungsstruktur steht in der Spannung von besonderer Subjektivität und Kontextualität, nämlich der des Theaters und seiner Öffentlichkeit. Das Schöne und Faszinierende an ihnen ist, dass sie durch die stimmliche und körpersprachliche Performanz sowie durch die inszenatorische Gestaltung interpretatorisch festgelegt werden - wenigstens zu einem großen Teil. Der im obigen Dialog markierte Riss besteht aus der Partikel „Ach“. Sie ist geeignet, Ko-Text und Kontexte auf schönste, auf raffinierteste Weise aufzurufen. - Bedeutung kommt diesem „Ach“ kontextuell zu, weil das Drama schließlich mit einem, eben dem berühmten „Ach“ endet - und welcher Schauspieler ließe sich hier die Chance zur Differenzgestaltung entgehen? - Das „Ach“ wird zum gestalteten Riss, in seiner Reduziertheit zum Verweis, zum Zeichen auf höchst komplexe Zusammenhänge. Diese Dialogstelle ist in noch anderer Hinsicht aufschlussreich: Sie zeigt - im Kontext des Dramas - bei aller noch dazu zärtlichen Nähe das Misslingen von Kommunikation. Dies ist natürlich weder InterpretInnen noch ZuschauerInnen entgangen, und eins der Spannungsmomente dieses Dramas liegt in der Neugier, ob sich das Missverständnis klären bzw. lösen lasse. - Das letzte „Ach“ des Dramas erlaubt eine skeptische Deutung, die freilich von einem kurzen Augenblick hellsichtiger Klarheit begleitet wird. Das Geschlechterverhältnis bleibt ein Missverstehen, da sich unterschiedliche Erwartungen, Horizonte, Möglichkeiten und Konditionierungen begegnen. - Freilich ist eine solche Redeweise über dieses Drama dann von einer irrigen Vorannahme bestimmt, wenn das Gelingen - nicht zuletzt der Kommunikation - als das eigentliche Ziel, als die eigentliche Hoffnung und als die beste Möglichkeit gedacht wird. Solche Annahmen werden ja nicht nur in Bezug auf die dramatis personae immer wieder gemacht, sondern ebenfalls in fast alle Geschlechterverhältnisse hineingetragen. Diese so verständliche Annahme verführt dazu, so lange und so intensiv in die Bedingungen dieser Kommunikation und somit auch in ihre Kontexte zu schauen, bis kausale Lücken, Risse, Brüche - zum Verhältnis von Text und Kontext 77 Zusammenhänge aufscheinen. Sie werden dann in der Folge bearbeitet, oft mit geringem Erfolg. Weicht man aber vom Paradigma gelingender Kommunikation als primärem Ziel ab, insbesondere von einem letztlich gültigen und dauerhaften Gelingen, dann ergibt sich eine andere, eine sehr lebendige Betrachtweise auf Kommunikation. Das nicht vollkommene Gelingen von Kommunikation sichert ihre Kontinuität, sichert wechselseitige Entdeckungsmöglichkeiten und eröffnet das Spiel sowohl mit bereits aufgerufenen als auch mit neuen Kontexten. M.a.W., jede Thematisierung schafft sich ihre kognitiven, affektiven und sozialen Bedingungen und somit kontextive Bezüge. Mit dieser Feststellung soll aber nicht aufgehoben sein, dass die Thematisierung selbst ihre kommunikative Kraft und Richtung nicht aus ihren Kontexten bezöge: die Kontexte wirken in die Thematisierungen hinein, und die Thematisierungen veranlassen Kontexte, und zwar z.T. solche, die für sie selbst konstitutiv waren, und z.T. solche, die - bezogen auf die Textwirkung(en) - für das Verstehen notwendig werden. Jupiter „muss“ nach seiner überlangen Nacht mit Alkmene natürlich Identität thematisieren, weil er ja sonst bei Alkmene geradezu hinter Amphitryon verschwände. Jupiter kann und will Ehemann und Geliebten nicht zusammendenken; er muss den Versuch machen, auf genau dieser Differenz zu bestehen, gerade auch um seiner männlichen Identität willen. Alkmene dagegen kann nicht nur Ehemann und Geliebten zusammendenken, für sie ist dies höchste Wunschvorstellung und Glück, es würde sie in ihrer Weiblichkeit aufs vollkommenste bestätigen. Ihr „Ach“ in obiger Dialogstelle signalisiert ja nicht nur ein Bedauern für den Augenblick, sondern sie phantasiert sich sekundenschnell die Fortdauer, das Andauern gelingenden Zusammenseins. Das „Ach“ ist jene Lücke im Text, die diese Thematisierungen abdecken soll - und die ZuschauerInnen werden genauso sekundenschnell einige dieser Thematisierungen mitdenken. Kommunikationstheoretisch gewendet verbindet sich Information - zuvor hier immer wieder als Thematisierung bezeichnet - mit dem Selektionsbegriff (Baecker 2005, 11): „Information wird [...] als Selektion aus einem Auswahlbereich möglicher Nachrichten begriffen.“ Für die Rezeption gilt es „zu unterstreichen, dass es auf das Lesen einer Nachricht im Kontext des Mitlesens ihres Auswahlbereiches ankommt ...“. Wenn dies so ist, werden die so schwer bestimmbaren Kontexte insofern relevant, als sie nicht nur präfigurierende Funktion für den Text haben, die es zu entdecken gilt, sondern sie haben - vom Text her und von der Rezeption her gedacht - eine ausstattende Funktion: es gilt die „Annahme eines unbestimmten, aber bestimmbaren Auswahlbereichs“ (Baecker 2005, 11) für Information, für Thematisierung anzusetzen. Dies liegt in der „sozialen Eigendynamik“ (Baecker 2005, 8) der Kommunikation, die geprägt ist von der „Eröffnung und Einschränkung von Spielräumen“ (Baecker 2005, 9) der TeilnehmerInnen. In der Folge bedeutet dies, dass Kommunikation auf beiden Peter Klotz 78 Seiten, bei Sender und Empfänger gleichermaßen von „Phantasie und Kalkül“ 9 geprägt ist. Nach der Sicht auf Lücke und Riss lohnt ein Blick auf einen Text, der aus dem Raffinement seiner Brüche eine heiter-schöne Attraktivität gewinnt. Eine größere Anschaffung 10 Eines Abends saß ich im Dorfwirtshaus vor (genauer gesagt, hinter) einem Glas Bier, als ein Mann gewöhnlichen Aussehens sich neben mich setzte und mich mit vertraulicher Stimme fragte, ob ich eine Lokomotive kaufen wolle. Nun ist es zwar ziemlich leicht, mir etwas zu verkaufen, denn ich kann schlecht nein sagen, aber bei einer größeren Anschaffung dieser Art schien mir doch Vorsicht am Platze. Obgleich ich wenig von Lokomotiven verstehe, erkundigte ich mich nach Typ und Bauart, um bei dem Mann den Anschein zu erwecken, als habe er es hier mit einem Experten zu tun, der nicht gewillt sei, die Katze im Sack zu kaufen, wie man so schön sagt. Er gab bereitwillig Auskunft und zeigte mir Ansichten, die die Lokomotive von vorn und von den Seiten darstellten. Sie sah gut aus, und ich bestellte sie, nachdem wir uns vorher über den Preis geeinigt hatten, unter Rücksichtnahme auf die Tatsache, daß es sich um einen second-hand-Artikel handelte. Schon in derselben Nacht wurde sie gebracht. Vielleicht hätte ich daraus entnehmen sollen, daß der Lieferung eine anrüchige Tat zugrunde lag, aber ich kam nun einmal nicht auf die Idee. Ins Haus konnte ich die Lokomotive nicht nehmen, es wäre zusammengebrochen, und so mußte sie in die Garage gebracht werden, ohnehin der angemessene Platz für Fahrzeuge. Natürlich ging sie nur halb hinein. Hoch genug war die Garage, denn ich hatte früher einmal meinen Fesselballon darin untergebracht, aber er war geplatzt. Für die Gartengeräte war immer noch Platz. Bald darauf besuchte mich mein Vetter. Er ist ein Mensch, der, jeglicher Spekulation und Gefühlsäußerung abhold, nur die nackten Tatsachen gelten läßt. Nichts erstaunt ihn, er weiß alles, bevor man es ihm erzählt, weiß es besser und kann alles erklären. Kurz, ein unausstehlicher Mensch. Nach der Begrüßung fing ich an: „Diese herrlichen Herbstdüfte ...“ - „Welkendes Kartoffelkraut“, sagte er. Fürs erste steckte ich es auf und schenkte mir von dem Kognak ein, den er mitgebracht hatte. Er schmeckte nach Seife, und ich gab dieser Empfindung Ausdruck. Er sagte, der Kognak habe, wie ich auf dem Etikett ersehen könne, auf den Weltausstellungen in Lüttich und Barcelona große Preise erhalten, sei daher gut. Nachdem wir schweigend mehrere Kognaks getrunken hatten, beschloß er, bei mir zu übernachten und ging den Wagen einstellen. Einige Minuten darauf kam er zurück und sagte mit leiser, leicht zitternder Stimme, daß in meiner Garage eine große Schnellzugslokomotive stünde. „Ich weiß“, sagte ich ruhig, und nippte von meinem Kognak, „ich habe sie mir vor kurzem angeschafft.“ Auf seine zaghafte Frage, ob ich öfters damit fahre, sagte ich, nein, nicht oft, nur neulich nachts hätte ich eine benachbarte Bäuerin, die ein freudiges Ereignis erwartete, in die Stadt, ins Krankenhaus gefahren. Sie hätte noch in derselben Nacht Zwillingen das Leben geschenkt, aber das habe wohl mit der nächtlichen 9 Schneider (1992). In dieser lesenswerten Studie wird auf die Unabdingbarkeit von beidem, von eben „Phantasie und Kalkül“ im Zusammenhang mit einer an Wittgenstein orientierten Auseinandersetzung, verwiesen. 10 Hildesheimer (1991), 18-19. Lücken, Risse, Brüche - zum Verhältnis von Text und Kontext 79 Lokomotivfahrt nichts zu tun. Übrigens war das alles erlogen, aber bei solchen Gelegenheiten kann ich oft diesen Versuchungen nicht widerstehen. Ob er es geglaubt hat, weiß ich nicht, er nahm es schweigend zur Kenntnis, und es war offensichtlich, daß er sich bei mir nicht mehr wohl fühlte. Er wurde ganz einsilbig, trank noch ein Glas Kognak und verabschiedete sich. Ich habe ihn nicht mehr gesehen. Als kurz darauf die Meldung durch die Tageszeitungen ging, daß den französischen Staatsbahnen eine Lokomotive abhanden gekommen sei (sie sei eines Nachts vom Erdboden - genauer gesagt vom Rangierbahnhof - verschwunden gewesen), wurde mir natürlich klar, daß ich das Opfer einer unlauteren Transaktion geworden war. Deshalb begegnete ich auch dem Verkäufer, als ich ihn kurz darauf im Dorfgasthaus sah, mit zurückhaltender Kühle. Bei dieser Gelegenheit wollte er mir einen Kran verkaufen, aber ich wollte mich in ein Geschäft mit ihm nicht mehr einlassen, und außerdem, was soll ich mit einem Kran? Dieser wunderschön spielerische Text „lebt“ geradezu von seinen Thematisierungen bzw. von den Wendungen, den Richtungen, die seine Thematisierungen einschlagen. Es handelt sich m.E. um ein Spiel mit unserem alltäglichen Weltwissen, das die Brüche erzeugt, die die Kohärenzbildung erschweren. Aber „kohärenzsüchtig“, wie wir als RezipientInnen sind, lassen wir uns doch auf das einmal angezettelte Spiel ein. Dieses Spiel beginnt mit dem Klammerausdruck im ersten Satz, der eine besonders genaue Darstellungsweise zu versprechen scheint, tatsächlich aber auf einem Scherz beruht, der sich aus einem deiktischen Perspektivenwechsel ergibt: vor oder hinter dem Glas, das ist eine Frage des „Sehepunktes“ (Köller 2004) und der kommunikativen Origo (Bühler 1934). Wenn dann im folgenden Satz bereits von einem Lokomotivenankauf die Rede ist, dann trifft diese Mitteilung auf eine/ n psychologisch dazu eingestimmte/ n Rezipienten/ Rezipientin, sich spielerisch auf die Angelegenheit einzulassen und sie irgendwie ernst zu nehmen, auch wenn solch ein Vorgang im Wirtshaus sehr unwahrscheinlich ist. Die Gestaltung des Textes ruft nacheinander verschiedene Kontexte auf, so etwa gleich im ersten Abschnitt den des Handels mit Gebrauchtwaren, wo - für das Aushandeln des Preises zum Beispiel - Expertentum gefragt wäre, das man als KäuferIn oft nicht hat. Der zweite Abschnitt spielt mit dem bürgerlichen Zwang, ein geliebtes Gefährt in einer Garage unterzubringen. Der Kontext des Wohnens und von Nachbarschaft wird mittelbar angespielt, und so fügt sich gut, dass im leicht absurden Zusammenhang die Garage zum Ort von Hobbys gemacht wird: Fesselballon und Gartengeräte werden örtlich und textlich „kollokiert“. Der folgende Besuch des Vetters greift das Thema des gekonnten, des kompetenten Konsums wieder auf, ebenso das der Nachbarschaftlichkeit. Freilich wird genau an dieser Stelle die „Normalität“ der Vorgänge wieder durchbrochen: Nachbarschaftshilfe bringt die Lokomotive wieder ins Spiel und mit ihr - als Steigerung der absurden Brüche - die Spekulation, ob die Fahrt mit der Lokomotive etwas mit der Geburt von Zwillingen statt nur Peter Klotz 80 eines Kindes zu tun habe. Der nächste Bruch im Text erfolgt sofort: Kaum hat sich der/ die RezipientIn auf das Spiel des Textes eingelassen, wird das gerade Erzählte als Lügengeschichte freigelegt, aber dies im Verlauf des Textes nur, um im letzten Abschnitt wiederum damit zu brechen und die Thematisierung des etwas sinistren Secondhand-Kaufes wieder aufzunehmen. Dies mit einer Ernsthaftigkeit, die den letzten Bruch ermöglicht: Sachliche Nüchternheit beim Kaufangebot eines Krans - der Kontext der Geschäftemacherei und ihrer Bedenklichkeit wird wiederum vom Text eingespielt. Der Witz und die Qualität des Textes leiten sich von der Leichtigkeit her, mit der hier Fabulierlust (Lügengeschichten) und Sozialkritik verbunden werden. Es sind gerade die inhaltlichen Unverträglichkeiten, die Brüche in Bezug auf die Alltagswelt, die diese Geschichte gewissermaßen in jenes Schweben bringen, das hier das Spiel mit Fiktion und Alltag auf raffinierte Weise ermöglicht. In ähnlich raffinierter und zunächst wohl verwirrender Weise beginnt Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ 11 . Er setzt mit einer meteorologischen Beschreibung ein, um dann schlicht zu einem Datum - „1923“ - zu kommen. Es folgen Betrachtungen über die Großstadt, anschließend werden zwei Protagonisten, eine Dame und ein Herr, vorgestellt und sofort wieder verlassen, um auf einen Verkehrsunfall mit tödlichem Ausgang zu verweisen. Das Kapitel endet mit dem buchstäblichen Geschwätz des Herrn gegenüber der ihn begleitenden Dame über Verkehrsunfälle, Bremswege von Autos und dem Gefühl jener Dame. Irrelevanz lässt sich wohl kaum deutlicher zeigen als eben durch Aufruf relativ großer und bedeutender Kontexte und der Nichtigkeit des Verhaltens jener beider Protagonisten. Sowohl durch diesen Romananfang als auch durch Hildesheimers Geschichte oben wird deutlich erfahrbar und ablesbar, wie Texte die Hinweise auf die Kontexte geben und wie sie im Rezeptions- und Verstehensakt integriert werden - wenn sie nicht allzu sehr verwirren. Deutlich geworden ist auch, in welch hohem Maß der manifeste Text Steuerfunktion für den Rezeptionstext hat. 4 Manifester Text und Rezeptionstext Bei Texten wie dem von Wolfgang Hildesheimer darf man davon ausgehen, dass RezipientInnen erstaunt und vergnügt reagieren. Irgendeine Plausibilisierung der Vorgänge wäre sinnlos und störend; der manifeste Text hat das Steuerungspotential für die Einlässigkeit und Erstaunen, Neugier und Offenheit für das Spiel des Textes (wir sollen als RezipientInnen nun nicht mehr vor, sondern hinter einem Glas Bier sitzen): Das Imaginative, hier noch nicht einmal Phantastische, setzt alsbald ein. Übrigens beherrschen Kinder 11 Musil (1983). Lücken, Risse, Brüche - zum Verhältnis von Text und Kontext 81 bei der Rezeption von Märchen dieses Spiel schon längst: Die Wirklichkeit selbst wird gar nicht erst aufgerufen, sondern die „fiktionale Wirklichkeit“ - man muss es so paradox sagen - baut sich auf. Der Reiz der Geschichte liegt nicht zuletzt in der Abgleichung mit der für uns normalen Wirklichkeit, und genau die sollte zugunsten des Textes scheitern. Der rezeptionsästhetische Reiz besteht ja gerade darin, sich auf neue, andere Erfahrungen einzulassen. Die zu entdeckende und zu genießende Fabulierlust liegt nun einmal im Text, und zumindest für RezipientInnen, die der Gestalttheorie nahe stehen (könnten), hat sie dort ihren besten Platz. Wenn dem aber so ist, dann verdient der manifeste Text als eigenständiges System das oben postulierte Vertrauen. Gemäß der verbreiteten Leerstellentheorie besteht ein solches Vertrauen, wenngleich sich diese Theorie wohl doch zu weit vom manifesten Text entfernt. Nach Iser bezeichnen Leerstellen weniger eine Bestimmungslücke des intentionalen Gegenstandes bzw. der schematisierten Ansichten als vielmehr die Besetzbarkeit einer bestimmten Systemstelle im Text durch die Vorstellung des Lesers. Statt einer Komplettierungsnotwendigkeit zeigen sie eine Kombinationsnotwendigkeit an. Denn erst wenn die Schemata des Textes aufeinander bezogen werden, beginnt sich der imaginäre Gegenstand zu bilden [...] Indem die Leerstellen eine ausgesparte Beziehung anzeigen, geben sie die Beziehbarkeit der bezeichneten Positionen für die Vorstellungsakte des Lesers frei; sie „verschwinden“, wenn eine solche Beziehung vorgestellt wird (Iser 1976, 284). Diese Formulierungen zur Leerstelle sind einer konstruktivistischen Sicht verpflichtet, und insbesondere, dass „Positionen“ (i.e. des Textes) für die Vorstellungsakte des/ der Lesers/ Leserin frei würden, ist in dieser Absolutheit freilich nicht zu halten. Text, Thematisierungen im Text und somit aufgerufene Kontexte entfalten beim/ bei der Rezipienten/ Rezipientin mitformende Kräfte, die innerhalb selbstverständlicher Schwankungsbreiten das zu verstehende Textganze entfalten bzw. nahelegen bzw. ermöglichen. Eco nähert sich diesem Textganzen auf andere, stärker den Text mit einschließende Weise: Das Nicht-Gesagte eines Textes manifestiert „sich nicht an der Oberfläche, auf der Ebene des Ausdrucks“. Es muss „auf der Aktualisierungsebene des Inhalts aktualisiert werden“ (Eco 1990, 62). Wie dies geschieht, wird durch eine Kapitelüberschrift deutlich: „3.2 Wie der Text den Leser vorsieht“ (Eco 1990, 64). Dabei bleibt berücksichtigt, dass „die Kompetenz des Empfängers ... nicht notwendigerweise die des Senders“ ist. Aber: „Um also eine verbale Nachricht zu verstehen, ist über die sprachliche Kompetenz hinaus eine veränderliche situationelle Kompetenz erforderlich, eine Fähigkeit, Präsuppositionen durchlaufen zu lassen, Idiosynkrasien zu unterdrücken etc. etc.“ (Eco 1990, 65). Eco geht von einem/ einer bewusst mitgedachten LeserIn aus, denn „ein Text will, daß ihm jemand dazu verhilft zu funktionieren“ (Eco 1990, 69). Für eine solche Textmodellierung setzt Eco neben den konkreten „empirischen Leser“ den „Modell-Leser“ (Eco 1990, 68 f.), der im Sinne der für den Text notwendigen Peter Klotz 82 Kompetenzen (s.o.) fungiert. Mit diesem Modell-Leser ist aber keineswegs ein universal gebildeter und fähiger Mensch gemeint, sondern Eco traut dem/ der kooperativen und aktiven Rezipienten/ Rezipientin zu, im Verlauf der Textbegegnung den notwendigen Kompetenzstatus anhand eben des Textes und seiner Situativität zu erreichen. „Der enzyklopädisch inkompetente Leser wird früher oder später auf den rechten Weg gebracht“ (Eco 1990, 67). Damit wird ein System Text bedacht, das nicht einfach zum manifesten Text allein zurückkehrt, sondern das auf ebenso natürliche Weise den/ die LeserIn mit ins System nimmt, so wie auch alltägliche Kommunikation - eben doch! - funktioniert. Von genau dieser Position aus wird das Spiel mit dem/ der LeserIn spannend, schön, klärend, unterhaltsam - oder was auch immer, denn es begegnen sich solchermaßen empirische/ r LeserIn und Modell-LeserIn bei der Rezeption. Hildesheimers Text hat mittelbar, aber eben doch recht deutlich, diese/ n Modell-LeserIn inszeniert, und als empirische/ r LeserIn liefere ich mich diesem Spiel lustvoll aus. Dies bedeutet weiterhin, dass im Text Modell-Kontexte angelegt sind, die mit den Kompetenzen des/ der empirischen Lesers/ Leserin aufgerufen und gelegentlich abgeglichen werden. Für die literarische und allgemeine Erfahrung gilt dann mit Eco: „Ein Text beruht nicht allein auf Kompetenz, er trägt auch dazu bei, sie zu erzeugen“ (Eco 1990, 68). Umberto Eco hat mit dem Titel seiner Schrift „Lector in fabula“ im Grunde den Text stark gemacht, und zwar in einer Weise, die zwar den Leser mit in die Geschichte nimmt, die Geschichte dabei aber als Manifestation narrativer und semantischer Art in ihrem Recht, in ihrer Funktion belässt. Ein wesentlich erweiterter Aspekt für das System Text ist also eine präzise Orientierung auf den notwendigen, wenngleich meist (zu) weit verstandenen Begriff Kontext. Hier sei eine Umkehrung der Denk- und Funktionsrichtung vorgeschlagen: Definitorisch hatte es im Handwörterbuch „Religion in Geschichte und Gegenwart“ geheißen (vgl. Anm. 3): Kontext bezeichnet „die Umgebung, in die etwas hineingehört oder hineingestellt werden kann“. So richtig dies ist und so sehr sich darin mittelbar niederschlägt, dass die Kontexte auf die Gestaltung der Texte einwirken, so sehr ist festzuhalten, und zwar sowohl aus der Sicht des Systems Text als auch mit Blick auf den/ die Rezipienten/ Rezipientin, dass der Text mit seinen Thematisierungen Kontexte aufruft. M.a.W., der Text konglomeriert, bündelt und formiert die je notwendigen Kontexte; sie werden somit Teile bzw. Komponenten des Systems Text. Unsere Beispielgeschichte von Hildesheimer thematisiert die Kontexte des Konsumismus und der Ökonomie parallel zum narrativen Duktus mit. Darüber hinaus verfährt die Geschichte mit dem Erzählen insofern selbstreflexiv, als von erlogenen Geschichten die Rede ist, die aber sachlich notwendig geworden sind, nämlich für die Abwehr des Vetters bzw. seiner zu schlichten Weltbegegnung. Lücken, Risse, Brüche - zum Verhältnis von Text und Kontext 83 Was - ausgelöst von Hildesheimers Text - für das Verhältnis Text - Kontext festgehalten werden konnte, gilt auch für die beiden anderen hier herangezogenen Texte. Der Liebes- und Ehediskurs um 1800 12 wurde von veränderten Natur- und Identitätsvorstellungen wesentlich 13 beeinflusst. Die Kontexte von Individualrecht und Vertragsrecht, Macht und Abgründigkeit der Natur schreiben diese Texte Goethes und Kleists ebenso mit, wie diese Texte eben diese Kontexte aufrufen. Freilich würden diese Kontexte nicht sichtbar, wenn man werkimmanent bei den einzelnen Texten bliebe. Goethe will Kontexte und Diskurse aufrufen; für sich allein sind sie nicht betrachtbar. Das bedeutet in der Folge einerseits, dass die historischen Kontexte bei einem intensiven und einlässigen Verständnis nicht weglassbar sind, zum anderen bedeutet dies, dass Aktualisierungsfragen und deren Kontexte sich berechtigt (? ) ins Verstehen einmischen können. Und schließlich bedeutet dies, dass die Frage immer wieder auftreten wird, wo die Grenzen von Kontextbezügen zu ziehen sind, eben damit nicht zu vieles - aber wann und wie wäre dies gegeben - ins Textverständnis eindringt. Es zeichnet sich der Systemcharakter von Text immer deutlicher ab: eingebunden in intertextuelle Bezüge von Prätexten und Kontexten entsteht das eigentlich bekannte Spannungsverhältnis von unmittelbarer Textbegegnung und bewusstem sowie halbbewusstem Einbeziehen von Kontexten. Besonders spannend hierbei ist die Erfahrung, wie sehr sich der manifeste Text - eben doch - als steuernd erweist und wie sehr seine Lücken, Risse und Brüche das Verhältnis zu den Kontexten besonders suggestiv gestalten. 5 Aspekte des Systems Text Wenn MalerInnen malen, eine Landschaft, einen oder mehrere Menschen, Natur, Objekte oder was auch immer, dann gilt in der Regel, dass die Dinge keine Linien haben, dass aber die MalerInnen häufig mit Linien und/ oder mit der Suggerierung von Linien „Welt“ darstellen. In der Übertragung auf Texte ließe sich dann formulieren, dass Texte in solcher Weise Skizzen sind, die durch die „richtige“ und suggestive Linienführung uns „Welt“ darstellen, naturgemäß unserem Bewusstsein vollständiger, als die Skizze dies kann und will. So gesehen wird das Formulieren eines Textes zum Prozess einer Linienfindung. Gelingen diese Linien aber nicht ganz oder geraten sie anders als intendiert, so müssen sie deswegen - in Anlehnung an ein berühmtes Wittgenstein-Zitat - nicht falsch sein, aber sie gelten für eine andere Welt, einen anderen Weltausschnitt. RezipientInnen entwickeln oft ein erstaunlich sicheres Gespür dafür, ob eine Skizze richtig ist, ob sie „stimmt“ bzw. stimmig ist, und das hat wesentlich mit dem Verhältnis Linie - Welt zu tun: die Linie kann zutreffen 12 Vgl. Luhmann (1982). 13 Vgl. dazu die aus historischer Sicht nach wie vor richtungsweisenden Arbeiten von Reinhart Koselleck zur sog. „Sattelzeit“ in: Koselleck/ Herzog (1987), 269-282. Peter Klotz 84 oder nicht, sie kann auf Besonderes verweisen oder nicht. Dies hängt wesentlich mit dem Wechsel von Dreidimensionalität und Zweidimensionalität zusammen. Das relativ sichere Urteil über Stimmigkeit der Linien in Bezug auf „Welt“ bzw. in Bezug auf das Dargestellte scheint sich aus Routinen des Dimensionenwechsels ebenso zu ergeben wie aus den Routinen der Virtualisierung von „Welt“ durch Darstellung - denn erst die Darstellung ermöglicht den Diskurs. So lässt sich auch das Verhältnis Text - darzustellende Welt sehen: Der Text entwickelt aus sich ein Verhältnis zu den Kontexten, die den thematisierten Weltausschnitt mitbedingen. Dieses Verhältnis bildet sich systemisch aus den Kontexten heraus (... werden zu Strichen der Skizze) beim Formulieren des Textes, und der Text ermöglicht systemisch die Vorstellung von „Welt“ (... die Skizze generiert die Vorstellung des thematisierten Weltausschnitts bei seiner Rezeption). Insofern triumphieren Texte leise über die Zeichensysteme der Bildermedien, als sie in ihrer Abstraktheit aus Buchstaben, Wörtern, Sätzen und ihren vielen Lücken - konkreten wie geistig-affektiven - Ereignisse, Gegenstände, Phantastisches, Gefühle, Menschen … im Kopf kooperativer RezipientInnen entstehen und wirken lassen. Ein Minimum an äußerem Aufwand, eine Fülle an geistiger Bewegung, wenn die Gestaltung denn Stimmigkeit zwischen diesem Zeichensystem, den Thematisierungen und den Kontexten gefunden hat. So über Text und Kontext nachzudenken, hat mäeutische Funktion: So selbstverständlich diese Zusammenhänge sind, so notwendig ist es, sie für die Verfahren des Umgangs mit Texten herauszustellen und als systemischen Zusammenhang zu begreifen. „System“ heißt hier nichts anderes, als dass relevante, relativ bezugsstabile Komponenten für eine wiederholensfähige Betrachtweise in den Blick genommen werden. Dass es gerade Lücken, Risse und Brüche sein können, die das System besonders deutlich aufscheinen lassen können, gehört in seine Systematik. Literaturverzeichnis BAECKER, Dirk (2005), Form und Formen der Kommunikation, Frankfurt: Suhrkamp. BETZ, Hans Dieter/ Browning, Don S./ Janowski, Bernd/ Jüngel, Eberhard (Hrsg.) ( 4 2001), Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, Tübingen: Mohr Siebeck. BÜHLER, Karl (1934), Sprachtheorie, München. ECO, Umberto (1990), Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten, München: dtv. ECO, Umberto (1992), Die Grenzen der Interpretation, Carl Hanser. GOETHE, Johann Wolfgang von (1969), Willkommen und Abschied. Gedichte, Bd. 1, herausgegeben und kommentiert von Erich Trunz, Hamburg. GRICE, H. Paul (1975), „Logic and Conversation”, in: Peter Cole, Jerry L. Morgan, (Hrsg.), Syntax and Semantics. Vol. 3: Speech Acts, New York: Academic Press, 41- 58. Lücken, Risse, Brüche - zum Verhältnis von Text und Kontext 85 HILDESHEIMER, Wolfgang (1991), Gesammelte Werke, 7 Bände, herausgegeben von Christiaan Lucas Hart-Nibbrig, Volker Jehle, Frankfurt: Suhrkamp. ISER, Wolfgang (1976), Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, München: Fink (= UTB 636). KLEIST, Heinrich von (1991), Amphitryon, herausgegeben von Roland Reuß, Peter Staengle, Basel/ Frankfurt a. Main: Stroemfeld Verlag Buchversand GmbH. KÖLLER, Wilhelm ( 4 1997), Funktionaler Grammatikunterricht. Tempus, Genus, Modus: Wozu wurde das erfunden? , Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren. KÖLLER, Wilhelm (1997), „Die Perspektivierungsfunktionen von Fragen“, in: Didaktik Deutsch, Heft 3/ 1997, 33-52, Baltmannsweiler. KÖLLER, Wilhelm (2004), Perspektivität und Sprache. Zur Struktur von Objektivierungsformen in Bildern, im Denken und in der Sprache, Berlin/ New York: de Gruyter. KOSELLECK, Reinhart (1987), „Das 18. 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Entwicklung und Manifestationen von Textkompetenz Annemarie Peltzer-Karpf Kreativität in der Produktion von Texten Ein Blick hinter die Kulissen The Brain - is wider than the Sky - For - put them side by side - The one the other will contain With ease - and You - beside. (Emily Dickinson 1862) 1 Tour d’horizon Würden Sie sich als kreativ bezeichnen? Eine spontane Antwort wäre: „Das hängt von der Definition ab“, womit noch vor der Diskussion der textlinguistischen Kreativität eine prinzipielle Frage zu klären wäre: Was ist Kreativität? Eine Möglichkeit, Kreativität zu definieren wäre die folgende: Kreativität ist ein Prozess, etwas zu produzieren, „that is original and worthwhile“ (Csikszentmihalyi 1999). Dieses Etwas kann viele Formen annehmen, es könnte eine Theorie sein, ein Tanz, eine Geschichte, eine Symphonie, eigentlich fast alles. Mihaly Csikszentmihalyi betont in seiner Definition der „wahren Kreativität“ die Wichtigkeit der externen Evidenz. Für ihn kann Kreativität nicht per se, sondern nur auf Basis der Wechselwirkung von drei Komponenten bestimmt werden: Domäne, Feld und Person. Aus dieser Perspektive kann z.B. einem Schriftsteller (Domäne Literatur) wie Orhan Pamuk (Person) erst durch Literaturkritiker (Feld) das Prädikat kreativ - oder in diesem speziellen Fall - der Nobelpreis verliehen werden. Emily Dickinson wurde Anerkennung erst posthum zuteil. Wir zitierten diesen Ansatz, weil die Kriterien und Definitionen Csikszentmihalyis (1996; 1999) einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der Kreativität leisten. Sie betonen vor allem die Notwendigkeit objektiver Evaluierung auf einem Gebiet, das mitunter in der Grauzone von Grenzen und Meinungen operiert. Bleibt noch das Problem zu klären, wie Kreativität und Intelligenz zusammenhängen. Anders gefragt: Ist ein bestimmter Intelligenzquotient erforderlich, um kreativ zu sein? Den Ergebnissen der von Lewis Terman (1925-1959) an der Stanford University initiierten Studie zufolge, schließt Intelligenz Kreativität nicht aus, ist aber anderer Natur. Ein IQ von 150 und mehr geht also nicht unbedingt mit Kreativität einher. Aus der Gruppe der über siebzig Jahre in Stanford beobachteten 757 Probanden ging kein Nobelpreisträger hervor, sehr wohl aber zwei aus der nicht qualifizierten Annemarie Peltzer-Karpf 90 Gruppe (siehe Andreasen 2005, 7-13). Ergebnisse wie diese legen nahe, sich der Frage multidimensional zu nähern. Wir zitieren die sehr akzeptable Sicht Robert Sternbergs: What distinguishes the highly creative individual from the only modestly creative one is the confluence of multiple factors, rather than extremely high levels of any particular factor or even the possession of a distinctive trait (Sternberg 2006, 433). In Hinblick auf Textkompetenz eröffnet ein Thema wie dieses zahlreiche Perspektiven. Eine Option wäre der Blick auf kreative und geniale Texte in der Literatur. Hilfestellung gäben hier zahlreiche Kompendien - vom Typ les chefs-d’oeuvre qu’il faut avoir lus - die allerdings ein sehr idiosynkratisches Ranking vornehmen (siehe das von Bloom 2002). Es ließen sich auch Überlegungen anstellen, wie sich Genie und Wahnsinn genealogisch ableiten lassen (Juda 1953; Andreasen 2005). Wenn wir den Fokus nur auf Kreativität und weniger auf Qualität setzen, kämen auch sprachlich eher unterdotierte, aber durchaus kreative Menschen in Betracht. Dazu ein Beispiel aus der Politik: „Arbolist … Look up the word, I don’t know, maybe I made it up. Anyway, it’s an arbo-tree-ist, somebody who knows about trees“ (George W. Bush, Crawford, Texas, 21. August 2001). Hier macht es vermutlich mehr Sinn, nicht so sehr über angeborene Talente nachzudenken, als vielmehr über erworbene Fähigkeiten, Probleme zu lösen und Wissen zu organisieren (Davidson/ Sternberg 2003). Wir haben uns nach umfangreicher interdisziplinärer Lektüre dazu entschlossen, nicht im Parnass zu verweilen, sondern die Ontogenese der Textkompetenz unter die Lupe zu nehmen und dabei auch einen Blick auf die aktuellen Ergebnisse der kognitiven Neurowissenschaften zu werfen. Die Forschungsfragen lauten also: (1) Wie entwickelt sich die Textkompetenz in verschiedenen Erwerbssituationen? (2) Welche neuronalen Mechanismen steuern die multidimensionale Produktion von Texten? Die Bereiche, die in diesen Aktivitätsradius fallen, sind Textlinguistik, Spracherwerbsforschung und kognitive Neurowissenschaft. Wir beginnen mit den Bedingungen für die Zuordnung zur Kategorie „exzellenter Text“. Nach einem Exkurs zur Textlinguistik konzentrieren wir uns auf altersspezifische Erzählstile. Die Daten stammen aus einem Forschungsprojekt zum bilingualen Spracherwerb in der Migration (Peltzer- Karpf et al. 2006) und aus einer Studie mit multilingualen Erwachsenen (Reichholf-Wilscher 2006). Die Texte, die uns vorrangig interessieren, sind nicht freie Assoziationen, die sprachlich fixiert werden, sondern - zum besseren Vergleich - Produktionen unter den vorgegebenen Rahmenbedingungen einer Bildgeschichte. Wir gehen dabei von der Hypothese aus, dass sich nicht nur Kreativität und Intelligenz, sondern auch Kreativität und Sprachkompetenz dissoziieren lassen. Abschließend diskutieren wir die Möglichkeiten einer neurokognitiven Verankerung der Textlinguistik. Kreativität in der Produktion von Texten 91 2 Mustertexte - Textmuster Der Kognitionsforscher Steven Pinker, der nicht zuletzt durch seine originelle Prosa Bestsellerautor wurde, startet seine Sammlung herausragender naturwissenschaftlicher Texte mit einem Rückblick auf seine Studienzeit (2004, xiv). Es geht um Klarheit und eine Epistle for thesis writers des Harvard Psychologen Gordon Allport, die seit Generationen unter Doktoranden kursiert. Als Modelltext für klare Diktion bringt er den Aufsatz einer Zehnjährigen, der hier auszugsweise zitiert werden soll: The bird that I am going to write about is the Owl. The Owl cannot see at all by day and at night is blind as a bat. I do not know much about the Owl, so I will go on to the beast I am going to choose. It is the Cow. The Cow is a mammal. It has six sides - right, left, an upper and below. At the back it has a tail on which hangs a brush. With this it sends the flies away so that they do not fall into the milk. …. The cow has a fine sense of smell; one can smell it far away. This is the reason for the fresh air in the country. Pinker bringt in seiner Einleitung zwei Beispiele für Klarheit und Erklärungstiefe, einerseits obiges Traktat über die Eule und andererseits die wortreiche Erklärung eines akademisch gebildeten Klempners, der unter anderem Newton rezitierend einen Wasserrohrbruch behob. Die beiden Textsorten eröffnen das Kompendium The Best American Science and Nature Writing 2004. „The best science weaves observation into an explanatory narrative” (Pinker 2004, xv). 1 Wir wollen das Thema hier nicht vertiefen, aber doch kurz darauf hinweisen, dass viele der prämierten Artikel mit einer Frage starten, die ein Weiterlesen garantieren: (a) Is there a copy of you reading this article? (Max Tegmark, „Parallel Universes“, Scientific American) (b) Do you know someone who needs hours alone every day? (Jonathan Rauch, „Caring for your introvert“, The Atlantic Monthly) (c) Is there a grammatical error in the following sentence? (Geoffrey Nunberg, „The bloody crossroads of grammar and politics“, New York Times) Ansonsten hat zu gelten: Clarité et expressivité: la marque d’un grand style. Klare Prosa, wie jene der jungen Zoologin, soll in diesem Beitrag textlinguistisch und neurokognitiv beleuchtet werden. Um schon vorweg zu zeigen, dass Klarheit und Präzision schon bei Achtjährigen gefragt sind, bringen wir die türkische Originalversion plus Übersetzung einer mündlich wiedergegebenen Vier-Bilder-Geschichte aus unseren Daten: Kedi ile Ku Bir vamı bir yokmu . Birgün Kedi Ku a bikıp yeçekti. Kedi aça çikip Ku un üserine sipladi ana Ku uçtu. Hopala Kedi suya sipladi. Ku ’da dediki: Sen yüsemesini biliyormusun? Hayır! 1 siehe dazu www.edge.org; www.scitechdaily.com; www.artsandlettersdaily.com. Annemarie Peltzer-Karpf 92 Die Katze und der Vogel Es war einmal, es war keinmal. Eines Tages sah die Katze den Vogel und wollte (ihn) fressen. Die Katze kletterte auf den Baum und sprang auf den Vogel. Aber der Vogel flog weg. Die Katze wurde böse. Hoppala! Die Katze sprang ins Wasser. Der Vogel fragte: Kannst Du denn nicht schwimmen? Nein! Ein Forschungsschwerpunkt, der zunehmend Platz in den Kulturwissenschaften greift, ist Emotionalität (Bachmann-Medick 2006). Eine Frage, die im 19. Jahrhundert wissenschaftlich vor allem von Charles Darwin (1872) behandelt wurde, erfährt 135 Jahre später eine fundierte Diskussion literarisch kodierter Gefühle (siehe Anz 2007). Man kann also nicht nur in den kognitiven Neurowissenschaften einen „emotional turn“ beobachten (Rolls 2005), auch Textlinguisten gehen neuerdings davon aus, dass Spiegelneuronen nicht nur Bewegungen, sondern auch Emotionen reflektieren. 2 3 Natürlichkeit in der Textlinguistik Was neue Ansätze in der Textlinguistik kennzeichnet, ist die Orientierung an natürlichem, authentischem Material. Schon Kenneth Pike hat die Heranziehung präparierter Texte kritisiert, die sich fatal auf die Entwicklung von Theorien auswirken: In practical fieldwork, analysts have often worked with „cleaned-up“ text dictated sentence by sentence […] or with sentences repeated separately by the informant after having been given in consecutive text. Methodologically this is helpful; […] For theory, however, it can be fatal. One may, by limiting oneself to artificially selected data, build a theory of language structure which will not apply to language as it is in fact spoken (Pike 1945-64/ 1967, 571). Die Textlinguistik hat also mittlerweile erkannt, dass der Text in eine grundsätzlich andere sprachliche Kategorie fällt, die sich von Sätzen nicht nur grammatikalisch, sondern auch kognitiv und funktional unterscheidet. So gesehen hat sich der Fokus von der Textgrammatik zur Textualität verschoben, die Kohäsion auf ihre Fahnen heftet. Der Satz hat seine Funktion als gobal player verloren, der durchaus grammatikalische Muster bilden kann, die aber erst durch Kohäsion zum Text werden. Fazit: We need a „comprehensive view of grammar“ for „interpreting a text in its context of culture“ (Halliday 1994, xxxii). Intertextualität wurde zum Schlüsselwort in der Textlinguistik, der Semiotik und in der Literaturtheorie. Es liegt auf der Hand, dass neue Modelle durch ihre Abhängigkeit von natürlichen Texten datenhungrig sind. Die aktuelle Forschung arbeitet digital mit sehr großen Corpora. Um nur ein Beispiel zu bringen: das Labor 2 Es ist vielleicht interessant zu wissen, dass die Cognition and Brain Sciences Unit des Medical Research Council in Cambridge, UK, neuerdings den Fokus auf Theorie setzt und eine interdisziplinäre Forschungsgruppe zum Thema „Emotion“ eingerichtet hat. Kreativität in der Produktion von Texten 93 von Walter Kintsch (Kintsch 1998; Sternberg 2006, 377) setzt den Fokus auf Latent Semantic Analysis (LSA), ein Forschungsansatz, der davon ausgeht, dass sich die Bedeutung eines Wortes in jedem Text neu entfaltet, d.h. dass der Kontext Sinn stiftend ist. LSA ist ein Computerprogramm, das beobachtet, wie Wörter in einem großen Textcorpus verwendet werden (Kintsch erwähnt 36.000 Dokumente und 90.000 Worttypen.) LSA nimmt nur Notiz davon, welche Wörter gruppiert werden, lässt jedoch die syntaktische Reihenfolge unbeachtet. Die Parameter der Textanalyse sind also nur semantische Distanz oder Ähnlichkeit und die kontextuelle Modifikation der Bedeutung. 3 Wir werden jetzt nicht auf Intertextualität oder die Interaktivität von Hypertexten eingehen (siehe dazu Sager 2001), sondern uns auf die Entstehung von Texten im Spracherwerb konzentrieren. Wenn wie hier Spracherwerb und die Dynamik der Textproduktion von Interesse sind, bietet sich das international wenig beachtete package model for text processing von Robert de Beaugrande (1997) an. Das Original war in einem dicht bedruckten Konvolut für AnglistikstudentInnen der Universität Wien enthalten und hat als Skriptum kaum Furore gemacht. Daran hat auch die publizierte Form wenig geändert. Wir stellen es kurz vor, weil es sich hervorragend zur Erklärung dissoziierter Prozesse eignet. Also: das package model steht für ein interaktives Multisystem, das in die Verarbeitung von Texten involviert ist. Packaging fasst Prozesse in interaktive Programme zusammen, die durch ihre eigene Dynamik gekennzeichnet sind. Anders formuliert, Texte sind das Ergebnis vielschichtiger Aktivitäten, die zeitlich versetzt ablaufen (können). Der klare Vorteil des Modells liegt darin, dass es durch seine modulare Konzeption die Dissoziation 4 von Systemen sehr schön erklären kann. Wir nennen hier nur einige der Funktionen, die uns später noch interessieren werden (und behalten die Originalbezeichnungen bei): (1) das pacing principle bestimmt das Tempo der Informationsverteilung; (2) das look-back principle ermöglicht den Rückblick auf bisher Produziertes; (3) das look-ahead principle hat Signalwirkung für Relationen und noch gebotene Information (Kohäsion); (4) das listing principle organisiert die Optionen der Textgestaltung und kontrolliert die logische Abfolge; (5) das loading principle verteilt die inhaltlichen und sprachlichen Ressourcen. Auf die Untersuchung der zunehmenden Komplexität von Texten im mono- und bilingualen Spracherwerb angewandt, ergeben sich folgende Vorteile: das package model kann die Entwicklung interagierender Systeme erklären, 3 nähere Informationen unter www.lsa.colorado.edu. 4 Dissoziation ist die (statistisch messbare) funktionelle Spezialisierung von Systemen, die sich u.a. im unterschiedlichen Erwerbstempo beobachten lässt. Annemarie Peltzer-Karpf 94 hilft die beginnende Ordnung im Aufbau von Mikro- und Makrostrukturen zu erfassen und liefert ein Instrumentarium im Umgang mit der Verknüpfung von Funktion und Form sowie der logischen Aneinanderreihung von Ketten. Die oben angesprochene Neuorientierung bringt es - chaostheoretisch gesprochen - mit sich, dass sich die gewohnten stabilen Formen plötzlich nicht-linear verändern und Phasenübergänge erfahren. Als Beispiel für verquere Planung und Kontrolle bringen wir den schriftlichen Wochenendreport eines Neunjährigen aus Bosnien. Wir haben die Orthographie des Originals belassen, aber in der deutschen Version seinen stream of consciousness mit Interpunktion versehen: Vikend Ja sam bila kod ku e i igralasam Sa moga mrata i sa moju Sestru igrala sam Schkolu i posle smo uli Musiku kod ku e. Mama bila isto kod ku e moja majka kuvala spageti posle smo jeli spageti mi smo osam kod ku e moja mama se zove Snešana moi tata se zove Zoran baba i deda se zovu Milisav i Gordana moji 2 sestre se zovu Daniela i Gabriela brat se zove Dragan moja sestra Daniela i ja smose za vikend sva ali moj i brat pla e kad se ja i moja sestra sva ali pase moja sestra Gabriela po la i ona da se sva a sa moju sestra i ja Das Wochenende Ich war zu Hause und spielte mit meinem Bruder und meiner Schwester. Ich spielte Schule und nachher hörten wir Musik zu Hause. Mutter war auch zu Hause. Meine Mutter kochte Spaghetti. Nachher aßen wir Spaghetti. Wir sind acht zu Hause. Meine Mutter heißt Snežana, mein Vater heißt Zoran, Großmutter und Großvater heißen Milisav und Gordana. Meine zwei Schwestern heißen Daniela und Gabriela. Der Bruder heißt Dragan. Meine Schwester Daniela und ich stritten übers Wochenende. Mein Bruder weint, wenn ich und meine Schwester streiten und so fing meine Schwester Gabriela an, sich auch mit meiner Schwester und ich zu streiten. 4 Bilinguale Kreativität in der Produktion von Texten Dieses Kapitel handelt von der mündlichen oder schriftlichen Realisierung von Erfahrungen oder Vorstellungen im mono- und bilingualen Kontext. Es geht um das Filtern, Komprimieren und Kontrollieren globaler und lokaler Strukturen in narrativen Texten. Wir sehen uns nicht nur die Ontogenese narrativer Strukturen an (Berman/ Slobin 1994; Strömqvist/ Verhoeven 2003), sondern auch die Entwicklungsprofile zweisprachiger Kinder und die Strategien erwachsener Bilingualer. Und gleich dazu ein wichtiger Hinweis aus der Bilingualismusforschung: „Bilingual data are notoriously idiosyncratic“ (Vihman 1999, 295; Baker 4 2006). Eine Frage, die sich bei Untersuchungen der Textproduktion ergibt, ist die nach der Rolle der Modalität. Gibt es modalitätsabhängige bzw. modalitätsneutrale Merkmale, welche die Informationsdichte und die Linearisierung beeinflussen? Das heißt, ist es schwieriger schriftliche oder mündliche Texte zu produzieren? Aktuelle Studien von Ruth Berman und Kreativität in der Produktion von Texten 95 Bracha Nir-Sagiv (2006) und Voruntersuchungen von Bourdin/ Fayol (1994) und Ravid/ Tolchinsky (2002) haben in der Gruppe 9bis 10-jähriger ProbandInnen große Unterschiede zwischen der schriftlichen und der mündlichen Produktion gezeigt, die sich erst mit ca. 18 Jahren konsolidieren. Als modalitätsabhängig haben sich lokale Diskursmarker, Morphosyntax und Lexikon gezeigt, modalitätsneutral sind die globale Informations- und Diskursstruktur. Wie das folgende Beispiel zeigt, ist Kreativität nur bedingt modalitätsabhängig. Die beiden Bildgeschichten wurden von einem Kind aus Bosnien im Alter von 7 und 9 Jahren schriftlich produziert: Februar 2001 Die Katze ist hungrig. Die Katze liegt auf der Wiese. Und schaut sich dem Vögel an. Die Katze ist hungrig und wollte dem Vögel fresen. Aber der Vogel ist für die Katze schnell. Oje da fällt die Katze herunter von dem Ast in dem Meer. Der Vögel denkt sich die Katze kann nicht schwimmen. (54 tokens) Mai 2003 Tomi und die sechs unhöflichen Fische! An einem sonnigen Tag ging Tomi mit seiner Angel und einem gelben Eimer fischen. Tomi war überglücklich, er hatte seinen hellbraunen Hut Auf seinem Kopf, denn er glaubte, dass ihm der Hut Glück brang. Der Bub setzte sich auf den Steg und begann zu angeln. (179 tokens) Die Genese der globalen Struktur - Beginn, Entfaltung und Auflösung der Handlung - können wir hier nicht diskutieren. Was uns hingegen speziell interessiert, ist die Korrelation von Kreativität und Textkompetenz. Die Forschungsfragen lauten: Wie werden Ereignisse sprachlich markiert? Auf welche Elemente wird der Fokus gesetzt, welche werden in den Hintergrund geschoben? Vor dem Einstieg in die Diskussion der narrativen Strukturen möchten wir noch darauf hinweisen, dass - entgegen der Annahme, der Spracherwerb wäre im frühen Schulalter abgeschlossen - noch mit 11 Jahren signifikante neurokognitive Veränderungen in der Verarbeitung komplexer hierarchischer Strukturen festgestellt werden können (Leuckefeld/ Bornkessel/ Friederici 2005). Wie die aktuelle Spracherwerbsforschung zeigt, korreliert diese Reorganisation mit der Intensivierung der inneren Repräsentation von Sprache(n) (zur Korrelation von Grammatik und Sprachaufmerksamkeit siehe Portmann-Tselikas 2001). 4.1 Die bilinguale Jagd nach einem Frosch Es gibt viele Arten einen Frosch zu fangen. Eine der sprachlich gesehen erfolgreichsten Froschjagden läuft seit einem Jahrzehnt weltweit in Form von Nacherzählungen der 24 Seiten zählenden Bildgeschichte („frog story“): Beteiligt sind mono- und bilinguale Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Annemarie Peltzer-Karpf 96 Die Geschichte wurde bislang in mehr als 50 Sprachen erzählt, darunter in Tzeltal, Warlpiri, Baskisch, Isländisch und Japanisch. Und es gibt Varianten in American Sign Language. Das zentrale Thema, welches die gesamte frog story durchzieht, ist die Suche nach dem davongelaufenen Frosch, die den Jungen und seinen Hund von ihrem Haus in den Wald an diversen Abenteuern vorbei bis zu einem Teich führt, wo er seinen Frosch und dessen Familie wiederfindet. Durch die Standardisierung des Erzählinhalts können die Daten über verschiedene Alters- und Entwicklungsstufen hinweg verglichen werden. Zudem sind auch sprachtypologische Studien möglich. Das bisher extensivste Forschungsprojekt ist die von Berman und Slobin (1994) in vier Altersstufen durchgeführte Studie. In ihrem Vorwort schreiben die Autoren über die frog story: [It] is fast becoming a worldwide research tool [...] Much to our surprise, and delight, we know of at least 150 researchers, collecting „frog stories“ in 50 languages - not only in the field of standard spoken languages, but also in the development of sign languages, in a range of language-impairments, in various bilingual combinations, and in both spoken and written modes (Berman/ Slobin 1994, xi). Aus unserem Datenpool kommen Beispiele in den Sprachen Deutsch, Bosnisch-Kroatisch-Serbisch (BKS) und Türkisch, die im dritten und vierten Projektjahr einer Langzeitstudie zum bilingualen Spracherwerb in der Migration erhoben wurden (Peltzer-Karpf et al. 2006). Zudem zitieren wir aus Texten von MitarbeiterInnen des Schweizer Konzerns Holcim (Durchschnittsalter 44,2 Jahre), die im Schnitt 3,92 Sprachen beherrschen (Reichholf-Wilscher 2006). Alle Frog-Story-Daten wurden computergestützt nach dem CHILDES Programm (CHAT und CLAN) bearbeitet. Zur Modalität wäre anzumerken, dass die Geschichten der Kinder einzeln auf Audiotapes aufgenommen wurden, während die erwachsenen ProbandInnen schriftlich via ScriptLog in ihrem Notebook aktiv wurden. Das seit 2002 international vertriebene ScriptLog wurde Daniela Reichholf- Wilscher von den Autoren S. Strömqvist, Universität Lund und H. Karlsson, Centre for Reading Research, Universität Stavanger, unentgeltlich zur Verfügung gestellt. Sie hatte dadurch die Möglichkeit, die von den ProbandInnen ins jeweils (firmen)eigene Notebook eingegebenen Daten direkt in ihr System zu übernehmen, zu analysieren und korrelieren. Zu ihrem Bedauern konnte sie allerdings nicht alle Optionen des Systems nutzen, da es (durch Eingabefehler der ProbandInnen) Probleme mit der zeitlichen Auflösung der Textproduktion gab. Die Erzähllänge wurde anhand des CLAN-Analyseprogramms ermittelt, exkludiert wurden Wiederholungen und Selbstkorrekturen. Die unten stehenden Tabellen zeigen, wie groß die Streuung innerhalb einer Sprachgruppe (Abb. 1) und zwischen Erst- und Zweitsprache (Abb. 2) sein kann. Kreativität in der Produktion von Texten 97 Abb. 1: Variation der Erzähllänge in der Erstsprache (9-10 Jahre) (Peltzer- Karpf et al. 2006,137-155) Variation L1/ L2 (N=24) tokens minimal tokens maximal Erstsprache 196 1201 Zweitsprache 217 1359 Abb. 2: Variation der Erzähllänge in der Erst- und Zweitsprache (20-65 Jahre) (Reichholf-Wilscher 2006, 102) Wie die Ergebnisse zeigen, gibt es zumindest pauschal gesehen keine Korrelation zwischen Erzähldauer und Qualität. So wurden die qualitativ hochwertigsten Geschichten in 74,5 min für L1 und 61,3 min für L2 produziert; andererseits gab es - wie bei den jungen ProbandInnen - gesteigerte Zeitwerte durch sprachliche Probleme. Wir illustrieren das mit dem Frosch alla turca. Das Zitat beginnt mit einem Ausschnitt aus der deutschen Version, gefolgt von der türkischen Version mit lexikalischer Klärung seitens der Testleiterin (INV). Diese Erzählung ist mit 246 Wörtern die längste der türkischen Gruppe. L2 Deutsch *K46: dann rief er aus dem Fenster: „Froschi, Froschi, wo bist du? ” L1 Türkisch *K46: bir di ardan ça ıryo örde im nerdesin, ama görmüyo. es ruft dann nach draußen, „wo bist Du meine Ente? ”, aber es sieht ihn nicht INV: bu ne? was ist das? *K46: ördek Ente INV: ördek mi iyice, bak! Ist es eine Ente? Schau genau hin! *K46: Frosch ama türkcesini bylmiyom Frosch, aber ich weiß es nicht, wie es auf Türkisch heißt INV: onun icin ördek diyorsun, tamam deswegen sagst du Ente, gut Crosslinguistische Vergleiche offenbaren nicht nur frappante Ähnlichkeiten unter Kindern, die verschiedene Sprachen erwerben, sondern auch interessante Unterschiede: As a consequence of these differences, it seems [...] that English and German narrations are characterized by a great deal of dynamic path and manner Variation L1 (N=62) tokens minimal tokens maximal Deutsch 121 574 BKS 200 561 Türkisch 88 469 Annemarie Peltzer-Karpf 98 description, while Spanish, Hebrew, and Turkish narrations are less elaborated in this regard, but are often more elaborated in description of locations of protagonists and objects and of endstates of motion (Berman/ Slobin 1994, 119). Eine dramatische Geschichte wie die Suche nach einem verloren geglaubten Frosch stellt natürlich nicht nur Anforderungen an die Textkompetenz, sondern fordert auch Intuition ein. Über diese Fähigkeit, über mentale Vorgänge bei sich selbst und anderen nachzudenken, konnten in den letzten Jahren unter den Stichwörtern „theory of mind“ und „frames of mind“ aufschlussreiche Erkenntnisse gewonnen werden (siehe Bloom 2004). Auf Textproduktion bezogen kommt noch „character speech“ als Kodierungskategorie zu diesem multimodalen Wechselspiel dazu. Zur Erklärung bringen wir zunächst eine Passage aus Küntay und Nakamura (2004): Frames of mind refer to mental and affective states of characters, serving to qualify the nature of the links between subsequent events. These internal states must be inferred by the narrator. They also function to encourage empathy and interest in the audience. This category consists of references to emotional states such as happy, scared, surprised and worried. Emotion verbs were included in this category. Further, references to purely cognitive states pointing to the mental activity or the epistemic status of the narrator were also counted in this category. Character speech serves to attribute speech and, therefore, particular intentional states to a character, contributing an alternative perspective to that of the narrator, bringing immediacy and vividness to the narrative. Direct statements of characters’ utterances are often accompanied by animated voice and intonation, bringing a sense of engagement to the narrative (Küntay/ Nakamura 2004, 337- 338). In diesem Zusammenhang möchten wir an das in Kapitel 3 vorgestellte package model von Robert de Beaugrande erinnern, das sich mit Prinzipien wie pacing, loading, looking-back und looking-ahead sehr gut in das multimodale Wechselspiel von sprachlichen Rahmenbedingungen und sozialer Kognition einfügt. Wie eine Studie von Doris Bischof-Köhler (N=160; 2000) zeigt, entwickelt sich erst im vierten Lebensjahr die Fähigkeit, Zeitverläufe und den Ablauf von Handlungen zu korrelieren. Die Kinder gehen auf Zeitreise. Ab fünf Jahren lassen sich in ihren Texten zeitliche und/ oder kausale Verkettung und hierarchische Organisation beobachten. Hier der Start der frog story in der mündlichen Erzählung einer Neunjährigen: L1 Deutsch *C04: also, es war einmal ein kleiner Junge, der hatte einen Frosch im Glas und einen Hund, und der Hund spielte mit dem Frosch. *C04: doch am Abend, wie er einschlief, kletterte der kleine Frosch aus dem Glas und hüpfte davon. *C04: am nächsten Morgen, als der kleine Junge aufwachte und zum Glas hinunterschaute, war der Frosch weg. *C04: er suchte überall, im Stiefel, er suchte hmm vielleicht auch unterm Bett, und sein Hund steckte den Kopf in das Glas hinein. Kreativität in der Produktion von Texten 99 *C04: danach rief der kleine Junge aus dem Fenster, und sein Hund hmm # [wie sagt man dazu? ] hat halt aus dem Fenster auch so <hmm so ge> [/ / ] rausgeschielt durchs Glas. *C04: und hmm weil er so neugierig war, <ist er> [/ / ] hat er sich nach vor gebeugt und ist aus dem Fenster gefallen, mitsamt dem Glas am Kopf. *C04: und plumps! Als er am Boden lag, ist das Glas zerbrochen. *C04: der kleine Junge war nicht besonders glücklich darüber, doch sein Hund gab ihm ein Bussi auf die Backe. Die 172 bilingualen Versionen der frog story zeugen nicht nur von unterschiedlicher Professionalität in der mündlichen oder schriftlichen Produktion, sondern auch von der Phantasie und dem Humor der ProbandInnen. Zu beobachten ist, dass es (bei unterschiedlicher sprachlicher und kognitiver Entwicklung) viele Gemeinsamkeiten zwischen Kindern und Erwachsenen gibt. Dazu gehört z.B. die Tendenz, den Aktanten der Bildgeschichte Namen zu geben und die Verwendung evaluierender Elemente (Snitzer Reilly 1992). Wie das folgende Beispiel zeigt (Reichholf-Wilscher 2006, 128), ist soziale Kognition durchaus auch bei Erwachsenen angesagt: L1 Deutsch [...] und Cedric, anstatt zu schlafen, amüsiert sich mit Dackel und Frosch. „Pass mal auf, Dack, dass du deine lange Schnauze nicht zu tief ins Glas steckst! Quakie ist sowieso schon eingeengt, er könnte einen Herzkollaps kriegen und zudem hast Du ja bereits einen zu großen Bauch; du willst ihn doch nicht etwa auffressen? “ (409 tokens) L2 Französisch Fait attention Nezpointu, tu fait peur á Qoakie en plus t’es déjà fort bien nourri. Regarde ton ventre! (426 tokens) Besonders interessant wird die Online-Produktion von Texten, wenn zwei Sprachen involviert sind. Das erste Beispiel stammt von einem Sprecher des Schwyzertütsch, der es vorzog, Deutsch zu schreiben (Reichholf-Wilscher 2006, 132): L1 Schwyzertütsch Croa hat genug von sein bocal und geht raus. Am morgen, Max und Filu sind überrascht. Croa ist verschwunden. (217 tokens) L2 Französisch Max et Filou dorment du sommeil du juste, lorsque Croa decide de quitter son bocal. Le matin nos deux compères se réveillent et sont tout surpris de constater la disparition du Croa. (311 tokens) L1 Bosnisch, 10 Jahre Ondak izade jedna Eule, a mali da ak padne od [= sa] drveta. Dann kommt eine Eule heraus und der kleine Bub fällt vom Baum. Annemarie Peltzer-Karpf 100 L1 Türkisch, 10 Jahre Sonradan bi sürü Frosch geldi o iki Froschun yanina. Kurba a mi ismi? Dann kamen viele Frösche zu den zwei Fröschen. Oder ist es (türkisch) Frosch? 4.2 Kognitive und sprachliche Komplexität an der Klippe Ein Grund für den Erfolg der frog story als Testinstrument in den verschiedensten Varianten der Sprachverarbeitung dürfte in ihrer Dynamik liegen. Um die Suche adäquat zu beschreiben, sind Verben notwendig. Nominalstil allein brächte wenig Information. Schon die relativ kurzen Erzählungen von Zehnjährigen enthalten zahlreiche Bewegungsverben. Wir zählten 123 für Türkisch, 149 für BKS und 182 für Deutsch. Dazu gibt es folgende Beobachtung der Initiatoren der Frog-Story-Forschung: With age, children use a greater variety of lexically more specified motion verbs. They rely less on polysemous verbs and idiomatic VERB + PARTICLE combinations. [...] And they make increased reference to manner of motion (Berman/ Slobin 1994, 153). Im Folgenden sehen wir uns die sprachliche Markierung von Bewegung an, wie sie speziell in der Journey-off-the-Cliff-Sequenz (Bilder 15-18) gefordert wird. Diese viel beachtete Szene ist nicht nur bewegungsintensiv, sondern erfordert auch die Interpretation und adäquate Wiedergabe der Strauch- Hirsch-Mutation. Hier kommt sie im Kleinformat: Abb. 3: The-Journey-off-the-Cliff-Sequenz (Bilder 16-18) aus „Frog, Where Are You? ” (Mercer Mayer 1969) Kreativität in der Produktion von Texten 101 Die neun Segmente dieser Szene, die sprachlich markiert werden sollen, lassen sich in einem ersten Analyseschritt wie folgt darstellen: Abb. 4: Die neun Segmente von “The Journey off the Cliff” (David Wilkins 2003) Ob und wie dies in den verschiedenen Erwerbssituationen geschieht, kann aus den unten aufgelisteten Beispielen ersehen werden. Die Daten der Kinder (Alter 9-10 Jahre) in der Erst- und Zweitsprache (jeweils mit Übersetzung) zeigen, dass die Fehlinterpretation des Hirschgeweihs als Strauch nicht immer erkannt wird (5). Interessant zu beobachten ist der Umgang mit lexikalischen Lücken (4). Wir starten mit drei erfolgreich wiedergegebenen Passagen in der jeweiligen Erstsprache (1 und 2); mit orientalischem Gepränge in der türkischen Variante (3): (1) *C04: L1 Deutsch da kraxelte der kleine Junge auf den Stein und hielt sich bei einem Ast fest und rief den Namen des Frosches. doch er bemerkte, dass es kein Ast war, sondern von einem Hirsch das Geweih. auf einmal sauste der Hirsch wütend [/ ] wütend herum. der kleine Junge hang hilflos auf dem Kopf des Hirsches oben. und <sein kleiner Hund> [/ / ] der kleine Hund bellte # den Hirsch an. beim Graben blieb der Hirsch stehen, und die beiden purzelten ins Wasser hinunter. plumps! Und pitschl patschl nass waren sie! (2) *K05: L1 BKS Dje ko se popne na kamen i stoji tu. Drži se za rogove od Hirsch. Hirsch njega odnese, cuko laje na njega i on njiha baci u vodu Der Bub klettert auf den Stein und steht da. Er hält sich an den Hörnern vom Hirsch an. Der Hirsch trägt ihn weg, der Hund bellt ihn an und er schmeißt sie ins Wasser hinein. Annemarie Peltzer-Karpf 102 (3) *K70: L1 Türkisch Ta tan bilane deve olyo. Ondan sonra ko yo. Köpe i de kızyo deveye. çocuk çocu un ondan sonra ikisini de yere atyo. O lanlan köpe i yere atyo deve. Yere suya. Aus dem Stein wird ein Kamel. Dann läuft das Kamel. Der Hund schimpft dann mit dem Kamel. Dann wirft das Kamel beide runter. Das Kamel wirft dann den Buben und den Hund runter. Auf den Boden, ins Wasser. (4) *K69: L1 Türkisch, L2 Deutsch Nachher kam ein …. Nachher fielen der Bub und der Hund ins Wasser (5) * K91: L1 BKS De ak otišo na taj veliki kamen i zove žabu. Drvo otišo sa dete na glavu. Dete i kuca pali su u vodu. Der Bub ist auf diesen großen Stein gegangen und ruft den Frosch. Der Baum ist gegangen mit dem Bub auf dem Kopf. Das Kind und der Hund sind ins Wasser hineingefallen. Die schwierige sprachliche Umsetzung der Szene reflektiert sich bei Erwachsenen in den markanten Unterschieden zwischen L1 und L2: (6) L1 Deutsch, L2 Englisch Doch das Abenteuer war noch nicht zu Ende. Beim Durchstreifen eines vermeintlichen Strauches schreckte Peter einen hinter einem großen Stein kauernden Hirschen auf der mit Peter im Geweih verfangen im Park davon sprang. Pfiffi folgte bellend: ab ging die Hatz, doch an einem Überhang vor einem kleinen Bach stoppte der Hirsch so plötzlich das Peter und Pfiffi kopfüber in das hier nicht tiefe Wasser fielen. When searching through it suddenly an elk jumped up and Peter became caught helplessly between the multiple horns of the animal, which ran away in panic. Pfiffi followed barking. When reaching the bank of a small river the elk made a sudden stop and due to this Peter and Pfiffi fell head over into the water. (7) L1 Französisch, L2 Englisch Dans son angoisse cherchant partout sans trop regarder où il mettait les pieds, il se trouva coincé entre les immenses bois d’un superbe cerf. Ce dernier d’un brusque coup des reins, catapulta Tom qui se retrouva, les quatre fers en l’air dans un ruisseau, rejoint quelques instants plus tard par Tommy. Heureusement que ce ruisseau n’était pas profond, sinon l’histoire aurait pu se terminer ici, ce qui, avouons le aurait été stupide. N’empêche que ces recherches durèrent quelques semaines. Bird brained he found himself cornered in a stag’s wood. The beast with an abrupt nod threw Tom into a pond. (8) L1 Schwyzertütsch, L2 Französisch Plöstlich etwas bewagt. Ein cerf hat im gefang und trage im bis im ein loch. Zum glug es gabe Wasser im Loch und Max und Filou aben sich nicht verletz Kreativität in der Produktion von Texten 103 Tout à coup un cerf apparaît et Max se fait soulever puis emporter par ce cerf sous l’oeil apeuré de Filou. Le cerf s’arrête brusquement et fait basculer Max et Filou dans un fossé. Heureusement le fond du fossé est en fait une mare. L’eau a bien amorti la chute de nos deux amis. Das erfolgreiche Ende der Froschjagd kommt in zwei Versionen. Zunächst von einer Neunjährigen in ihrer Erstsprache Deutsch und dann von einem 17-Jährigen mit Williams-Syndrom. Wir zitieren dieses Beispiel um zu zeigen, dass Kreativität auch in neurokognitiven Ausnahmesituationen möglich ist (Daten von Bellugi/ St. George 2001): Und hinter einem Baumstamm, der <im Wasser> [/ / ] neben dem Wasser lag am Ufer, hörte der kleine Junge etwas. Er sagte zu seinem Hund: „Sei leise! Da hinten ist was.“ Gemeinsam kraxelten sie aus dem Wasser und schauten hinter dem Baumstamm nach, wer da sein könnte. Der kleine Junge war glücklich, als er seinen kleinen Frosch mit einem schönen Froschweibchen sah. Der kleine Hund sah sehr verdutzt drein. Hinter dem Gebüsch kamen <kleine> [/ / ] viele kleine Frösche hervor. Und am Schluss sagte der kleine Junge „Auf Wiedersehen mein kleiner Freund! Es hat mich gefreut, dich kennen zu lernen. Viel Glück! “ Suddenly when they found the frogs … There was a whole family of frogs … And ah he was amazed. He looked …and he said „Wow, look at these … a female and a male frog and also lots of baby frogs”. Then he take one of the little frogs home. So when the frog grow up, it will be his frog … the boy said „Good bye, Mrs. Frog… good bye many frogs. I might see you again if I come around again”, „Thank you Mr. Frog and Mrs. Frog for letting me have one of your baby frogs to remember him.” 5 Neuronale Mechanismen der Kreativität Wir haben mit einem Exkurs zur Kreativität gestartet und in weiterer Folge versucht, uns dem Thema über die Textlinguistik und den bilingualen Spracherwerb zu nähern. Bleibt noch zu klären, welche Antworten die Hirnforschung auf sprachliche Kreativität geben kann. Diesmal stellen wir drei Forschungsfragen: (1) Welche Teile unseres Gehirns sind an der Verarbeitung von Texten beteiligt? (2) Was zeichnet kreative Menschen aus? (3) Welchen Einfluss hat die neuronale Reifung auf die narrative Kompetenz? Seit 1990 in den USA die Dekade des Gehirns ausgerufen wurde, erscheint in schöner Regelmäßigkeit ein - in jeder Hinsicht - schwerwiegendes Kompendium zu den neuesten Forschungsergebnissen der kognitiven Neurowissenschaften: The Cognitive Neurosciences (1995); The New Cognitive Neurosciences (2000); The Cognitive Neurosciences III (2004), für das jeweils Michael S. Gazzaniga als Herausgeber zeichnet. Das Wichtigste vorweg, es gibt nur marginal Untersuchungen zur Neurologie der Textverarbeitung. In der Sektion Sprache & Kognition zeigt sich folgendes Bild: gut erforscht ist Annemarie Peltzer-Karpf 104 die Frequenzkodierung für primäre visuell-sensorische und auditivsensorische Informationsverarbeitung. Es gibt Befunde zur räumlichen Streuung der neuronalen Repräsentation von Inhaltswörtern und insgesamt zur domänen-spezifischen Organisation des Sprachsystems. Themenrelevant ist die sich häufende Evidenz, dass wir von verteilten Systemen ausgehen können. Gesichert ist vor allem die funktionell differenzierte Verarbeitung der lexikalischen Semantik und der computational systems Morphologie und Syntax. Beide involvieren unterschiedliche Teile des für Sprache bereitgestellten neuronalen Netzwerks (Friederici 2004). Fazit: wir beginnen allmählich die Top-down-Verarbeitung von Sprache(n) zu verstehen, während die Bottom-up-Prozesse der Produktion noch der Klärung harren. Dies gilt sowohl für Sätze als nolens volens auch für Texte. 5.1 Neuronale Textwelten Beginnen wir mit der Lokalisierung. Hier hat die Orientierung an den klassischen Sprachzentren wenig Informationswert, denn, wie bereits diskutiert, sind Texte mehr als aneinander gereihte Sätze. Wir können somit die Hypothese aufstellen, dass noch weitere Areale des Gehirns an der Verarbeitung von Texten beteiligt sind. Tatsächlich weist die Untersuchung von PatientInnen mit frontalen und rechtshemisphärischen Hirnschädigungen auf Defizite in der Ableitung der Hauptgedanken des Textes oder nicht explizit genannter Informationen (Inferenzen) hin (www.unileipzig.de/ ~tk). Weitere Information zur Textverarbeitung kommt aus einem ungewöhnlichen Eck, der noch raren neurokognitiven Erforschung von Humor. Ein Forschungsteam am California Institute of Technology in Pasadena (Watson/ Matthews/ Allman 2006) hat durch funktionelle Magnetresonanz (fMRI) ermittelt, dass das Gehirn auf visuellen und sprachlichen Humor unterschiedlich reagiert. Wir zitieren die Studie deshalb, weil die Autoren nicht nur über Reaktionen im Sehzentrum bzw. im Schläfenlappen berichten, sondern auch über verstärkte Resonanz im Vorderhirn, im Zwischenhirn und im vorderen Gyrus cinguli des limbischen Systems. Kurz, ein guter Witz kann aufwühlen. Noch interessanter ist eine weitere Lesart der Ergebnisse: das Vorderhirn ist phylogenetisch und ontogenetisch der Endpunkt der Hirnreifung. So gesehen könnte sich die Navigation durch Doppeldeutigkeiten und komplexen sozialen Raum gemeinsam mit anderen höheren kognitiven Funktionen entwickelt haben. Abbildung 5 zeigt, welche Areale generell an komplexer modalitätsübergreifender Verarbeitung beteiligt sind: Kreativität in der Produktion von Texten 105 Abb. 5: Crossmodale Verarbeitung: heteromodale Zonen (a) lateral (links), (b) medial (rechts) (Calvert 2001) Wir haben in der Journey-off-the-Cliff-Passage auf die sehr frühe sprachliche Markierung von Bewegung hingewiesen. Nach neuesten Studien wäre es denkbar, die Produktion von Handlungsabfolgen, wie sie in der frog story gefordert wird, somatotopisch abzubilden. Wie die aus einer Studie mit Magnetoencephalographie (MEG) gewonnenen Daten von Friedemann Pulvermüller (2005) nahe legen, interagieren Bewegungsverben, die semantisch mit verschiedenen Körperteilen assoziiert sind, in räumlich verteilten Neuronenensembles. Hier gäbe es auch einen Konnex zu den Netzwerken des LSA Programms von Walter Kintsch (1998), siehe oben. Pulvermüller argumentiert, dass körperliche Aktivitäten reziprok mit „ihren“ Lexemen neuronal verknüpft sein könnten, d.h. dass die Wahrnehmung von Bewegungsverben selektiv das jeweilige motorische System aktiviert. Abb. 6 zeigt eine schematische Darstellung der kortikalen Repräsentation: Abb. 6: Räumliche Verteilung von Informationen über Wortformen mit den ihr semantisch zugeordneten Aktivitäten (Pulvermüller 2005, 577) Halten wir also fest: nach derzeitigem Wissen sind an der Verarbeitung von Texten - unabhängig von der Sprache - folgende Bereiche des Gehirns Annemarie Peltzer-Karpf 106 beteiligt: (i) die klassischen Sprachareale, (ii) der präfrontale Cortex der rechten Hemisphäre, (iii) in Abhängigkeit von der Modalität die sensorischen oder motorischen Zentren und (iv) je nach Emotionsgehalt auch das limbische System. Organisiert wird das Zusammenspiel im Assoziationscortex, der in Millisekundenschnelle neue Verbindungen herstellt. 5.2 Beautiful minds Die Psychoanalyse charakterisiert die spezielle Denkweise kreativer Menschen als divergent, im Gegensatz zu convergent. Introspektive Beschreibungen von Schriftstellern aller Genres enthalten Aussagen wie „I slip into a state that is apart from reality“ (Neil Simon) oder „thought often moves swiftly and multidimensionally“ (Stephen Spender), (Andreasen 2005, 37 f., 48). Paul Valéry spricht von einer „ligne donnée“ als Trigger für seine lyrische Kreativität. Psychoanalytisches mind-wandering bringt uns allerdings nicht die gewünschte Information und zudem haben wir schon eingangs der Auseinandersetzung mit literarischem Genie entsagt. Sehen wir uns also an, wie das Gehirn auf kognitive Komplexität reagiert. Was uns hier interessiert, ist der Metabolismus, genauer gesagt die lCMRGlc, kurz für local cerebral metabolic rates for glucose. Wir erklären: um festzustellen, wie viel Energie das Gehirn zur Lösung bestimmter kognitiver Aufgaben benötigt, kann durch Bild gebende Verfahren der jeweilige Glukoseverbrauch gemessen werden. Von Kindern wissen wir, dass ihr Metabolismus bis zum Beginn der Pubertät die dreifache Glukosemenge eines Erwachsenen verbraucht. Die Werte von Neugeborenen liegen mit 30 % unter jenen von Erwachsenen, steigen bis zum Alter von 2-3 Jahren rasch an und bleiben ca. 15 Jahre auf diesem hohen Plateau, um sich mit 16- 18 Jahren auf die Erwachsenenwerte einzupendeln. Diese steil ansteigende, lang gestreckte Kurve symbolisiert nicht nur den intensiven Energieverbrauch für Lernprozesse bis in das frühe Erwachsenenalter, sondern reflektiert auch die Stabilisierung neuronaler Netze und die Entwicklung neuer Verhaltensmuster (Details in Chugani 1994). Der logische Gedanke wäre nun, dass kreative Menschen einen sehr hohen Energieverbrauch haben sollten - aber genau das Gegenteil ist der Fall. Bei kreativen Menschen wurde - im Vergleich zu Kontrollpersonen - ein niedrigerer Glukoseumsatz festgestellt. Es scheint, dass ein Hochleistungsgehirn weniger Glukose verbraucht und dennoch mehr leistet (Haier et al. 1992; Posner/ Raichle 1994). Offensichtlich arbeitet das Gehirn von hochbegabten Menschen besonders energiesparend. Evidenz zu effizienten Strategien in der Informationsverarbeitung kommt auch aus der Fremdsprachenforschung. Hier geht es nicht um Genialität, sondern um Kompetenz und Automatisierung. Wie Untersuchungen von StudentInnen mit sehr guten und eher moderaten Englischkenntnissen ergaben, bilden sich je nach Professionalität unter- Kreativität in der Produktion von Texten 107 schiedliche Aktivitätsmuster im EEG. Beide von Susanne Reiterer (2002) untersuchten Gruppen konsumierten englischsprachige Videos, zu denen sie nachträglich einen mündlichen Bericht einforderte. In der sprachlich kompetenten Gruppe zeichneten die beim Sehen und Hören abgeleiteten Werte kohärente Muster in der sprachdominanten Hemisphäre. Bei den unerfahrenen L2-LernerInnen waren die Reaktionen asynchron und diffus über beide Hemisphären verstreut. 5.3 Hirnentwicklung und neuronale Kompetenz Um verstehen zu können, warum Kinder vorerst noch Probleme mit kognitiv komplexen Strukturen haben, muss man wissen, dass erst bis zur Pubertät alle Teile des Gehirns funktionell verbunden sind. Der Prozess beginnt bei den sensorischen, limbischen und medial-temporalen Strukturen und setzt fort mit der funktionellen Andockung des Vorderhirns. Damit nicht genug, verlagert sich die Blutströmung vom rechten Schläfen- und Scheitellappen zu ihrem homologen Gegenüber. Die Zahl der eliminierten Synapsen übersteigt bei Zehnjährigen jene der neu gebildeten, weil sich die Systeme stabilisieren, zuerst in den sensorischen Arealen und zuletzt im Vorderhirn (mehr dazu in Kagan/ Baird 2004). Wie aus den bisher zitierten Forschungsergebnissen hervorgehen sollte, spielen genau diese Hirnteile eine wichtige Rolle in der Textverarbeitung. Jugendliche entwickeln somit unter enormem Glukoseverbrauch ein voll funktionsfähiges Vorderhirn und verbesserte Verbindungen innerhalb des Cortex (= cortico-cortical) und zwischen dem Cortex und subkortikalen Strukturen (= cortico-subcortical). Interessant im Zusammenhang mit Bilingualität ist der Befund, dass sich sogar die kortikale Organisation an die Muster genuiner Bilingualer anpasst (Mehler et al. 2004). Die internationalen On- und Offline-Forschungen zu diesem Thema laufen jedenfalls auf Hochtouren. Zudem erwacht das Interesse an der kortikalen Repräsentation von Fremdsprachen und den Kontrollmechanismen im bilingualen Gehirn. Ein dreizehnköpfiges internationales Forscherteam (Crinion et al. 2006) hat professionelle Bilinguale mit den Kombinationen Deutsch - Englisch und Japanisch - Englisch durch eine Serie von PET- und fMRI-Untersuchungen geschleust und dabei den linken Nucleus caudatus als Kontrollorgan identifiziert. Hinzuzufügen wäre noch, dass bei relativ nahe verwandten Sprachen eher die Kompetenz als das Einstiegsalter für die kortikale Repräsentation ausschlaggebend ist (Mehler/ Sebastián-Gallés/ Nespor 2004). 5 Schlusspunkt Dieser Beitrag ist als eine Zeitreise durch verschiedene Facetten der Textproduktion zu verstehen. Hinsichtlich der Kreativität blieben wir im kognitiven Rahmen der frog story, die den Vorteil der Vergleichbarkeit Annemarie Peltzer-Karpf 108 verschiedener Erwerbssituationen bietet, verbunden mit dem Nachteil, dass sie wenig Freiraum für Kreativität auf der Makroebene gewährt. Wie der Parcours quer durch verschiedene Disziplinen gezeigt hat, ist es sinnvoll, die Produktion von Texten aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten und auch einen Blick auf die Forschungsergebnisse der kognitiven Neurowissenschaften zu riskieren. Die multilingualen Texteinblendungen sollten zeigen, dass es viele Gemeinsamkeiten zwischen Kindern und Erwachsenen gibt. Wie die Daten der jüngsten ProbandInnen gezeigt haben, ist sprachliche Kreativität prinzipiell auch im Anfangsstadium möglich, kommt jedoch erst nach dem Erreichen eines bestimmten kognitiven und sprachlichen Schwellenwertes voll zum Ausdruck. Wir beenden den Diskurs mit der Wiederholung der eingangs gestellten Frage: Würden Sie sich als kreativ bezeichnen? Im bejahenden Fall können Sie davon ausgehen, dass - zumindest was die Produktion von Texten anbelangt - Ihr Gehirn, unter massiver Beteiligung des Vorderhirns, sehr energiesparend arbeitet. Im Sinne der aktuellen Forschung empfiehlt sich jedoch für die Verleihung des Prädikats kreativ eine externe Evaluation durch Fachkolleginnen und -kollegen. Literaturverzeichnis ANDREASEN, Nancy C. (2005), The creative brain. The science of genius, London: Penguin. ANZ, Thomas (2007), „Kulturtechniken der Emotionalisierung. 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Paul Portmann hat zu einer Zeit, als das für den Fremd- und den Mutterspracheunterricht noch befremdete, für die schreibende Bearbeitung einfacher Sachverhalte, also für die intensive Nutzung eines Lernmediums plädiert: Die Lernenden sollen in der Fremdsprache dazu fähig sein, Meinungen kundzutun und zu begründen; eigene Erfahrungen zu erzählen; Vergleiche zwischen dem eigenen und dem fremden Land anzustellen; kurze persönliche Briefe zu schreiben usw. (Portmann 1991, 267). An anderer Stelle zählt er weitere einfache Sachverhalte auf, deren Darstellung „in ihrer einfachsten Form [...] auf einen Satz reduzierbar [ist,] [...] jedoch bis zu fast beliebiger Komplexität ausgearbeitet werden“ kann: eine Wegbeschreibung geben; beschreiben, warum das Mofa nicht funktioniert und was zu tun ist; eine Stellungnahme abgeben; eine Geschichte (etwa eine Filmstory) kurz skizzieren oder eine analoge, selbst erlebte Szene erzählen; die Beweggründe einer Person (etwa einer Filmfigur) analysieren; erklären, worum es in einer Auseinandersetzung, einem Film, einer Fernsehsendung gegangen ist; sagen, warum man Popmusik schätzt, klassische langweilig findet; auf eine fremde Meinung eingehen, Differenzen besprechen (Portmann 1991, 459 f.). Was bringt die schreibende Bearbeitung einfacher Sachverhalte dem/ der FremdsprachenlernerIn? Drei von Portmanns Argumenten: • Der Sachverhalt ist ein gemeinsames Element von Mündlichkeit und Schriftlichkeit: Monologischer Sprachgebrauch, auch wenn er noch weitgehend als in dialogische Situationen eingebettet erscheint, bildet so eines der wichtigen Ziele im Unterricht, gleichgewichtig neben dem Ziel der Ausbildung dialogischer Fähigkeit (Portmann 1991, 267). Hanspeter Ortner 114 • Der Sachverhalt muss monologisch bearbeitet werden. Die Monologizität verändert die Stimulationsverhältnisse bei der Äußerungs-/ Textproduktion: Was gesagt werden muss, entscheidet der Sachverhalt, nicht der Verlauf eines Gesprächs. • Die Bearbeitungszeit gehört zur Gänze dem/ der LernerIn, nicht dem/ der LehrerIn: Die Unterrichtssituation ist [...] geprägt durch ein starkes Übergewicht des Lehrers, der nicht nur die meiste Redezeit selbst beansprucht, sondern durch seine Rolle als Organisator, Initiant und Leiter von Unterricht auch die Redebeiträge der Lernenden stark, oft bis in die Einzelheiten thematisch vorherbestimmt und sogar sprachlich vorstrukturiert. Die Lernenden bekommen so nur bedingt Gelegenheit, aktiv und selbstgesteuert ihre Kompetenz zum Ausdruck von Gedanken zu verwenden, die nicht schon vorgedacht sind (Portmann 1991, 269). Im Folgenden möchte ich zeigen, dass die Besinnung auf eine Sachverhaltsdidaktik auch dem Unterricht in der Muttersprache gut tun würde (nota bene: nicht nur dem Deutschunterricht, sondern vor allem dem Sachunterricht in allen Fächern). Ein sachverhaltsorientierter Unterricht würde in den Klassen, in denen nach Otto Ludwig kein Schreibunterricht mehr stattfindet, dem Schreibunterricht zu einem Comeback verhelfen. Ein solcher Unterricht enthielte alle Ingredienzien, mit denen sich ein Schreibunterricht in höheren Klassen überhaupt betreiben lässt. Ein solcher Unterricht konzentrierte sich darauf: • Dass die Fähigkeit zur Einbettung von sprachlichen Sachverhaltsdarstellungen in höherrangige Sachverhaltsdarstellungen weiterentwickelt werden kann, wodurch die einfache(re)n Schemata der Alltagskommunikation komplexer werden. • Dadurch würden die Voraussetzungen geschaffen, mehr Komplexität zu bewältigen, d.h. komplexere Sachverhalte zu schaffen sowie mit ihnen und ihren Konstituenten umzugehen. • Die Notwendigkeit, komplexe Sachverhalte schriftlich darzustellen, stimulierte drei Operationen des Denkens: die Addition, die Integration und die Entfaltung und sie führte zur höchsten Form des Denkens: zum formal-abstrakten Denken nach Piaget. Ohne diese Operationen und ohne Schritte zur Abstraktion können komplexe Sachverhalte nicht entstehen. • Das formal-abstrakte Denken ist hypothetisch und heuristisch. Es kann nur praktiziert werden auf der Basis einer bestimmten Arbeitshaltung und es bedarf der (Zwischen-/ Ab-)Lagerung der Ergebnisse in Versionen. Die Arbeitshaltung ist die des versuchsweisen, erkundenden Schreibens (tentativ, explorierend). Im Arbeitsgang des epistemischheuristischen Schreibens mit versionalem Ergebnis wird sie maximal stimuliert. (Schriftliche) Darstellung von Sachverhalten als Stimulus 115 • Die leistungsfähigste Form des Denkens entspringt der alles stimulierenden Dialektik zwischen Konkretisierung und Abstraktion. Sie ist am entspanntesten und am ertragreichsten im Modul der Schriftlichkeit zu vollziehen - im Wechselspiel zwischen Kondensierung und Expansion, zwischen Detaillierung und Verknappung (bei Erhalt des kognitiven Inhalts) usw. • Auf der Basis vor allem der drei zuletzt genannten Konstituenten kann ein prozessualer Schreibunterricht organisiert werden, der nicht nur auf Über-, sondern auf schreibende Erarbeitung zielt; für den die Arbeit im Vorfeld der Textproduktion viel wichtiger ist als die Nachbearbeitung. • Mit so einem Schreibunterricht ließe sich schließlich auch - und das ist das bei weitem Wichtigste - ein Sprachunterricht anlegen, der die Tatsache berücksichtigte, dass die Wörter der Schlüssel zur Welt sind. Die Deutschdidaktik hat sich resignierend mit der Quasi-Nichterweiterbarkeit des Wortschatzes durch Sprachunterricht abgefunden. Wegen ihrer Schlüsselfunktion müsste aber die Wortschatzerweiterung ein Zentralproblem aller Sprach-, ja auch aller sonstigen Didaktik sein (zur Schlüsselfunktion vgl. Lieury referiert in Ortner 2006a, 55 f.). Wortschatzerweiterung, das grob vernachlässigte Stiefkind des Unterrichts, ließe sich in einer Unterrichtsform erreichen, in der Schreiben konsequent als Lernmedium genutzt wird: Schreiben ist der Ort, an dem sich am deutlichsten der von Swain angesprochene Druck zu optimalem Sprachgebrauch äußert (Portmann 1991, 173). Negotiating meaning needs to incorporate the notion of being pushed toward the delivery of a message that is not only conveyed, but that is conveyed precisely, coherently, and appropriately (Swain 1985, 248 f.). Die Schriftlichkeit, speziell die monologische schriftliche Bearbeitung von darzustellenden Sachverhalten ist zwar keine conditio sine qua non für die Entwicklung der genannten Fähigkeiten. Aber ihr Erwerb ist durch die Arbeit auf dem Papier/ am Bildschirm intensivierbar und organisierbar. Die Schriftlichkeit ist ein Acker, den jeder anlegen und pflegen kann. Die ersten Schritte zu den genannten Fähigkeiten werden in der Mündlichkeit und schon sehr früh unternommen. Ein ganz wichtiger - weil die Einbettung sprachlicher Schemata in ein weiteres sprachliches Schema betreibend - besteht in der Bildung der ersten Zweiwortsätze mit ca. 18-24 Monaten (vgl. Berk 2005, 226). 2 Komplexe Sachverhalte Mit den ersten Zweiwortsätzen schaffen die Kinder die ersten komplexen Sachverhalte. Der erste Schritt dazu ist die bloße Addition: Zum auch im Einwortsatz schon verwendeten put (= kaputt) kommt (= Addition) die Nennung der Bezugsgröße: Tasse. Hanspeter Ortner 116 Tasse put (= Tasse kaputt) - das ist ein neuer Komplexionstyp in der sich entwickelnden Sprache des Kindes, ein neuer Schematyp, der in einer Zeichenkette entfaltet wird. Mit großer Selbstverständlichkeit wird mit ihm eine Hürde genommen, deren Komplexität einem erst klar wird, wenn man sie aussagenlogisch rekonstruiert: „In der Welt, in der Aussagen gemacht werden, kann man einem bestimmten Redegegenstand, der Tasse heißt, einen Zustand zuschreiben, der kaputt sein heißt.“ Mit dem Übergang zum Zweiwortsatz wird eine Entwicklung angestoßen, die zu immer länger werdenden Zeichenketten führt. Ganz gleich, ob in einem Zweiwortsatz ein Wunsch, ein Bedauern, eine Unmutsäußerung oder eine Wahrnehmung thematisiert oder ob eine Feststellung gemacht wird, immer werden zwei Schemata, die vorher schon isoliert als Benennungen in einem Benennungsschema gebraucht werden konnten, in ein neu geschaffenes Schema eingebettet, im Beispiel tasse put in das (kulturelle) Schema des Aussagesatzes, das später einmal (im Normalfall) aus Subjekt und verbal dominiertem Prädikat bestehen wird. Im Einwortsatz (put) wird der Zustand des (nicht genannten) Bezugsobjekts charakterisiert. Im Zweiwortsatz dagegen werden Zustandsträger und Zustand (zwei thematische Rollen, zwei Elemente eines Sachverhalts) genannt. Sie sind zwei Signifikanten, die als thematische Rollen aufeinander bezogen werden und ein Schema bilden. Beide Formen, der Einwortwie der Zweiwortsatz, beziehen sich auf dasselbe Faktum in der Welt, aber sie formulieren aufgrund ihrer Sprachlichkeit zwei unterschiedliche Sachverhalte. Im Zweiwortsatz wird in zwei Dimensionen mehr Komplexität verarbeitet als im Einwortsatz: in der (text-)syntaktischen Dimension sowieso (die Zeichenketten bestehen aus immer mehr Elementen) - aber auch in der sigmatischen Dimension liegt mehr Komplexität vor (sigmatische Dimension = Dimension „Text - Welt der Gegenstände und Sachverhalte bzw. Welt des Wissens“). In ihr wird ein Bezug des Gesamtzeichens und seiner Konstituenten auf den Sachverhalt und weiter auf das Faktum in der Welt hergestellt. Aus dem Globalsachverhalt des Einwortsatzes wird ein Mehrfaktorensachverhalt. Mit dem qualitativen Sprung zum Zweiwortsatz ist der Grundtyp der Komplexitätsbe- und -verarbeitung geschaffen, der auch für einen Hunderttausend-Sätze-Text konstitutiv ist: Zu koordinieren sind: Bezüge auf Konstituenten des Faktums im referenziellen Schema (im Benennungsschema, in der sigmatischen Dimension) und integrierendes Aufeinanderbeziehen der Referenzmittel in der Zeichenkette in der (text-)syntaktischen Dimension - mit all den Folgen für den kategorialen Status der Einzelzeichen und der Zeichenkombinationen, die die (Text-)Syntax einer Sprache ausmachen (= syntaktisches Schema). Zu koordinieren ist aber auch das Ergebnis der syntaktischen Gestaltung. Auch das neu entstandene Ganze steht wieder in einer Zeichenbeziehung in der sigmatischen Dimension. Dabei geht es z.B. um das Verhältnis von Textinhalt und Wissen. Doch um (Schriftliche) Darstellung von Sachverhalten als Stimulus 117 all diese Beziehungen geht es hier nicht. Sondern um die Einbettung von Schemata in Schemata und die Mehrfunktionalität der Mittel (im Beispiel: Mehrfunktionalität als Wörter und als Satzglieder des Zweiwortsatzes). Gut, das ist das Erstauftreten eines sprachlich gefassten (ganz kleinen) komplexen Sachverhalts. Doch was sind komplexe Sachverhalte allgemein? - Es sind Konstrukte, abhängig von unseren Denk- und sprachlichen Schemata, abhängig von allen Operationen und allen dabei verwendeten Operatoren. Es sind Konstrukte mit vielen Eigenschaften: • •• • Funktionaler Status: Komplexe Sachverhalte sind - funktional gesehen - zunächst einmal Konstrukte aus Wissen für das Wissen. Sie organisieren die Referenz auf größere Wissensbereiche mit vielen Wissenselementen, und sie sind, in den Worten der eher traditionellen Semantik, eine Komplexionseinheit zur Erfassung der Welt, eines größeren Stücks der Welt der Gegenstände und Sachverhalte, wie Bühler (1934/ 1978) gesagt hätte. (Es ist ein Faktum der Ontogenese, dass die Sachverhalte parallel zur Entwicklung der sprachlichen Möglichkeiten und der Schriftlichkeit immer größer, d.h. komplexer werden. Immer größere Weltausschnitte werden so in ihren Zusammenhängen verstehbar, vgl. das Beispiel des Verstehens der Institution Bank unten). Als Konstrukt aus Wissen für das Wissen kann die Darstellung eines komplexen Sachverhalts in ein weiteres Konstrukt für die Kommunikation eingebettet werden. Dadurch entsteht ein neues Ganzes - weiterverwendbar in der bloßen Kognition/ Reflexion oder in der Kommunikation. • •• • Zeichenstatus: Komplexe Sachverhalte sind nicht identisch mit ihrer sprachlichen Darstellung, aber auch nicht mit dem Faktum/ den Fakten in der Welt. Ihr Status ist derselbe wie der von Merkmalen, Begriffen und Propositionen, den drei wichtigsten Basiseinheiten der Kognition. • •• • Komplex aus kleinsten behauptbaren Einheiten: Sachverhalte sind - im Kontext der sprachlichen Darstellung - die kleinsten behauptbaren Einheiten. Als solche sind sie Kinder der Sprache (nicht der Welt an sich). Der Zustand (in der Welt), auf den mit dem Einwortsatz put Bezug genommen wird, ist - „an sich“ - um nichts weniger komplex als der, auf den sich der Zweiwortsatz tasse put bezieht. Das gilt nicht vom Sachverhalt. Der ist jeweils so komplex wie seine Bearbeitungsform, in unserem Fall die sprachliche Darstellung. • •• • Größte Einheit der (Gesamt-)Darstellung: Ein komplexer Sachverhalt ist die größte Einheit der Kommunikation, der Kognition und der Reflexion. Sachverhalt und Sachverhaltsdarstellung sind durch und durch kulturelle Konstrukte. Die Frage nach der Vollständigkeit eines Sachverhalts ist so sinnvoll bzw. so sinnlos wie bei der Ellipse. Die kulturelle Praxis legt fest, was Vollständigkeit heißt, manchmal ist es eine ziemlich partikuläre Praxis: Arbeit der Rettung nicht beschrieben, heißt es in einer Hanspeter Ortner 118 Notenbegründung unter einem Aufsatz. Dass die Beschreibung der Arbeit der Rettung zu einem Unfallbericht gehört, hätte ich selbst auch nicht gewusst. Der Fall macht einmal mehr klar, dass Schreibunterricht mindestens so sehr Sachverhaltsunterricht ist wie Sprach- und Verschriftungsschulung. • •• • Komplexe Einbettungsverhältnisse: Aus den beiden zuletzt genannten Eigenschaften ergibt sich die Notwendigkeit einer steten Ganzes-Teil- und Teil-Ganzes-Entfaltung. Diese zu organisieren ist sprachliche, speziell formulative Schwerarbeit. Gelöst wird diese Aufgabe qua Einbettung. Komplexe Sachverhalte bestehen aus mehreren Schemata, die in ein jeweils höherrangiges Schema eingebettet sind, die in ein höherrangiges Schema eingebettet sind, die ... usw. • •• • Formal sind komplexe Sachverhalte umfangreich und organisiert. • •• • Abgrenzung und Zusammenhalt durch Integration: Komplexe Sachverhalte werden durch die Integriertheit ihrer Teile/ Elemente zusammengehalten. Die Integration ist ein zweifaches Ärgernis: In der Praxis des Schreibens ist sie, wie gesagt, geistige Schwerarbeit (die meisten Klagen von professionell Schreibenden beziehen sich auf die Mühen der Integration). Zweites Ärgernis: Die Mechanismen der Integration sind weder linguistisch noch kognitionspsychologisch leicht zu verstehen. Das Geheimnis der Integration ist kaum zu entschlüsseln. Sie ist das, was ein Konstrukt zu etwas Einheitlichem macht. Sie ist das, was dem folgenden Text eines (später) berühmt gewordenen Autors fehlt: Das ist ... kaum ein Buch. Man kündigt darin ein systematisches Konzept/ eine klare Gliederung an (on y annonce un plan systématique), dann aber wird das Konzept/ diese Gliederung rasch über den Haufen geworfen (ce plan est vite renié); Stendhal vereinigt die Unzulänglichkeiten des Systems [des Wissensfeldes, das er bearbeitet] mit den Unzulänglichkeiten der Inkohärenz [der Bearbeitung]. Es ist ein Meisterwerk des Pointillismus und der Beobachtung (un chef d’oeuvre de pointillé et d’observation), so Barbey d’Aureville; ein Chaos gut formulierter Seiten und kraftvoller Gedanken, sagt Jean Prévost (un chaos de belles pages et de pensées vigoureuses), in dem die Details wertvoller sind als das Ganze (où les détails valent mieux que l’ensemble) (Crouzet 1965, 17). Stendhal habe sich, so noch einmal Prévost, vergeblich bemüht, logisch zu sein und sich sichtlich dabei überanstrengt, seine Gedanken in einen Zusammenhang zu bringen (Crouzet 1965, 17). Und Blin meint, Stendhal ermangle es in einem seltenen Ausmaß der dialektischen Fähigkeit und des Sinns für das Ganze (Crouzet 1965, 17). Der Zusammenhang, von dem hier die Rede ist - der wäre das Ergebnis der Integration gewesen. Fehlt er, liegt ein Haufen von Textteilen vor, von dem man bestenfalls sagen kann, die Details seien wertvoller als das Ganze („les détails valent mieux que l’ensemble“). Wird er geschaffen, der Zusammenhang, dann wird aus dem Haufen ein Text. Das größte Wunder des Denkens, der Entwicklung, des Schreibens ist immer das Schaffen von Zusammenhängen. Aus Teilaspekten, Teil- aussagen, Teiltexten wird dabei ein Ganzes - als erfasste bzw. (Schriftliche) Darstellung von Sachverhalten als Stimulus 119 gestaltete Einheit. Dabei kann man auch scheitern - in der Entwicklung und in der Aktualgenese. Dass hier kein so genanntes „großes Werk“ vorliegt, hat damit zu tun, dass ich keines zusammenbringe. Und aus der Tatsache, dass ich keines zusammenbringe, versuche ich selbstverständlich in den Selbstkommentierungen eine Theorie zu machen (Schuh, in: Der Standard, 03.03.2006, 29). Wie alle Wunder hat auch das der Zusammenhangbildung viele Namen, doch wir sagen vorläufig bloß Zusammenhangbildung oder Integration und forschen ihrem Wesen nicht weiter nach. Zu betonen ist nur, dass man an vielen Eigenschaften der Texte, an allen Formen der Stimmigkeit der Teile im Ganzen, ablesen kann, ob es sich ereignet hat, das Wunder der Zusammenhangbildung. • •• • Organisiert wird das Wunder der Integration von den satzübergreifenden Organisationseinheiten (Schemata und übergeordneten Gesichtspunkten) und den damit verbundenen Abstraktionen. Die Einheit der (Gesamt-)Darstellung wird zusammengehalten durch eine Hauptthema-Teilthemen-Organisation, die entlang der thematischen Rollen, der erprobten Darstellungsmodelle und der verwendeten Operatoren linguistisch beschreibbar ist. Sie sind die Instrumente der Abstraktion, welche wiederum - so Piaget - die Anschubkraft des Lernens ist (vgl. Habermas 1983, 16). Mit ihnen können gleichartige Operationen an verschiedenen Gegenständen vorgenommen werden. • •• • Kohärenz und Kohäsion sind die Indizien der gelungenen Integration - an der Oberfläche und in der Tiefe der Texte. Ein Sachverhalt wird dadurch komplex, dass viele Teile zu einem Ganzen zusammengefügt werden, das mehr ist als die Summe seiner Teile. Die wichtigste Eigenschaft der Teile: Sie müssen relevant/ funktional sein - für einander und für das Ganze. Nur wenn diese Bedingung erfüllt ist, ist Kohärenz, die wichtigste Grundeigenschaft der Texte, gegeben. In der Rezeption erscheint diese Eigenschaft als Stimmigkeit. Kohäsion ist dafür ein äußeres Zeichen und Kohärenz eine innere Bedingung (Kohärenz: z.B. Zusammenhang der Argumente, Einhaltung der Erzählerperspektive; Kohäsion: z.B. sprachgerechte pronominale Bezüge). Als textuelle Darstellungen müssen sprachliche Sachverhaltsdar- stellungen - textlinguistisch gesprochen - die Eigenschaften der Kohärenz und der Kohäsion aufweisen. Das impliziert sowohl formale wie auch semantische Aufeinanderbezogenheit. Bei der Suche des Gehirns nach brauchbaren Teilen muss es ständig Relevanz-/ Funktionalitäts- und Stimmigkeitsprüfungen vornehmen. Der plumpste wie der gefinkeltste Einfall werden dabei auf ihre Integrationsfähigkeit geprüft. Die strenge Schule der Textarbeit zwingt zu Prüfungen auf höchstem Niveau. Die Stimmigkeitsprüfung gelingt umso besser, je deutlicher einzelne Faktoren und Dimensionen und Hanspeter Ortner 120 Versionen in den Dimensionen isoliert (d.h. als autonome Produkte) ins Visier genommen werden können, was wiederum abhängig ist von der Entwicklung. Entwicklung zeigt sich u.a. auch in der Fähigkeit und in der Bereitschaft zu intensiven Relevanz-/ Funktionalitäts- und Stimmig- keitsprüfungen. Deren Erwerb ist in der Schriftlichkeit so gut wie nie ganz abgeschlossen: „Zwischen dem 10. und 16. Altersjahr wird das Kriterium der funktionalen Angemessenheit eines Textes ‚erworben’“ (Schmidlin/ Feilke 2005, 11). Das ist aber noch lange nicht alles. Kohärenz und Kohäsionsherstellung gleichzeitig und am selben Ort - dies gelingt im Satz schon früh. Doch im Text, da beginnt ein langer Weg. Wie man aus den immer wieder zu konstatierenden Fehlleistungen ersehen kann 1 , handelt es sich dabei um eine besondere Fähigkeit in der nie abgeschlossenen Entwicklungsgeschichte. Bei vielen Aufgaben muss das bearbeitende Individuum immer wieder zurück an den Start, d.h. immer wieder aufs Neue den Weg „von der Reihung zur Gestaltung“ (Augst/ Faigel 1986) gehen. • •• • Satz- und Textbildung sind die wichtigsten Motoren für die Freisetzung von Einbettungsdynamik - sowohl lerngeschichtlich wie aktualgenetisch. Sprache ist dafür ein besonderes Medium und geschützte Monologizität, wie in der Schriftlichkeit gegeben, eine besondere Voraussetzung. Wenn Texte zu schreiben, also meistens: Sachverhalte monologisch abzuhandeln sind, dann müssen Wissensbestände aktiviert und aufeinander bezogen werden, die sonst unverbunden, koexistent, fragmentiert im Wissen vor sich hin existieren. Denn riesige Bereiche des Wissens sind nur kontingent organisiert, sie liegen nebeneinander, manchmal wohl auch über-, hinter-, unter- und übereinander, wenn solche räumlichen Metaphern gestattet sind. Chaotische Kontingenz in Zusammenhänge zu überführen - das ist die Aufgabe des Denkens, des Schreibens, ... der gesamten Entwicklung. • •• • Lebensbiotop: Das Lebensbiotop des komplexen Sachverhalts außerhalb der (privaten) Kognition ist die Darstellungsfunktion der Sprache. Je umfangreicher die sprachliche Darstellung ist, desto entkoppelter von der unmittelbaren Kommunikation muss sie erarbeitet werden. Falls mit der Schreibaufgabe eine soziale = kommunikative = illokutive Funktion verbunden ist, kommt es zu deren - vorläufiger - Suspendierung und zur Ausdifferenzierung der Sachverhaltsentwicklungs- und Sachverhaltspräsentationsdimension. 1 Zu den Termini „Fehler“, „Unfähigkeit“ usw.: Sie transportieren Bewertungen aus der Erwachsenenperspektive, ich weiß. Ich gebrauche sie nicht beckmesserisch, sondern nur der Ökonomie wegen. Wie für Piaget sind für mich Fehler die wichtigsten Entwicklungsstandanzeiger. (Die ich übrigens mit großer Sympathie ablese, alle Fehler haben einen gewissen kindlichen Charme, sogar die von Erwachsenen.) (Schriftliche) Darstellung von Sachverhalten als Stimulus 121 Die geschützte Monologizität ist die Bedingung für die Ausarbeitung von komplexen Sachverhalten. • •• • Lerngeschichtliche Konstrukte: Die Zielgröße „komplexer Sachverhalt“ ist eine Kontaktgröße an der Verzweigungsstelle von Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Er, der Sachverhalt, eröffnet eine monologisch begehbare Strecke des Denkens, die in der Mündlichkeit nur Diktatoren in dieser Länge zur Verfügung haben (z.B. Adolf Hitler in seinen Tischgesprächen, die reine Tischmonologe waren). • •• • Aktualgenetisch: Unterschiedliche Bearbeitungs- und Repräsentationsformen von Sachverhalten aufgrund des punktuellen Zugriffs und der sequenziellen Entfaltung. Wie alle sprachlichen Hervorbringungen verläuft auch die Textproduktion nach dem Prinzip und dem Rhythmus „punktueller Zugriff - sequenzielle Entfaltung“. Das, was da sequenziell entfaltet werden muss, ist bei Langtexten umfangreich und folgt nicht mehr - unbedingt wie beim Spontanschreiben - dem Zugriff auf den Fuß. Aus dem Zwei-Phasen-Rhythmus „Idee - verkehrsfähige Formulierung dieser Idee in der Äußerung“ wird die Idee herausgenommen. Einen Gedanken haben und einen Gedanken durch- und ausführen werden zweierlei. Das erste Gedankennotat und dessen Formulierung letzter Hand können zeitlich und räumlich weit auseinander liegen. Dadurch wird ein riesiges Feld an Entwicklungsmöglichkeiten eröffnet. Die unterschiedliche Wahrnehmung der Möglichkeiten manifestiert sich in Schreibstrategien. Bei einigen Strategien erfolgt die sequenzielle Entfaltung in mehreren Anläufen und über viele Zwischenprodukte, über Versionen, in denen sich die Entfaltungsanstrengungen in vielen Schichten überlagern. Jede Version, auch die Schlussversion wird als Produkt der Dialektik zwischen Wissen, inklusive sprachlichem Wissen, und Aufgabe begriffen. Diese Dialektik kann sich auf einem speziellen epistemisch-heuristischen Weg besser entfalten als beim Spontanschreiben (vgl. dazu Ortner 2006). Die ganze Vielfalt der Möglichkeiten unterschiedlicher Strategien liegt im Spannungsfeld zwischen punktuellem Zugriff, sich entfaltender (und vielfach mehrmals sich wiederholender) Teil-Ganzes-Bearbeitung und dem sich notwendigerweise sequenziell präsentierenden Schluss- produkt. Was an unterschiedlichen Versionen in den Umlauf des Denkens gebracht wird, ist oft noch lange nicht reif für den Umlauf der Kommunikation. Das gilt vor allem auch für Versionenteile. Das erstmals sequenziell Gefasste ist im Fall schwieriger Aufgaben selten druckreif. • •• • Komplexe Sachverhalte entstehen aus der sprachlichen Bearbeitung von Kognitionen. Im Folgenden kommt nur die eine Seite des Problems, die des Denkens, zur Sprache. Sie ist für die hier zur Debatte stehenden Aufgaben gleich wichtig oder sogar wichtiger als die andere Seite, die der Sprache. Denn erst durch die Stimulation des Denkens wird die Bereitschaft zum Erwerb neuer sprachlicher Instrumente geweckt. Das Denken muss nach den Mitteln verlangen, die es benötigt, dann Hanspeter Ortner 122 entnimmt es den ihm unterkommenden Informationen die sprachlichen Instrumente, die es braucht. Zur Bestimmung der Grenze zwischen einfachem und komplexem Sachverhalt könnte man zwei wichtige Termini der Schreibforschung mobilisieren und sagen, der komplexe Sachverhalt beginne dort, wo das Wissen schaffende Schreiben beginnt. Beim Wissen wiedergebenden Schreiben ist das geordnete Wissen der Lieferant des Ganzen (des Zusammenhangs) und der Teile. Beim Wissen schaffenden liefert dieser Lieferant dagegen nur die Teile (Elemente), aber keine Zusammenhänge. Doch ganz korrespondieren die Phänomene nicht. Verwandt sind sie, weil es bei beiden um die Mühen der Einbettung in die Einbettung in die Einbettung usw. geht. 3 Verfahren für die Konstitution komplexer Sachverhalte 3.1 Einbettung Im Anschluss an die Entwicklungsstufentheorie Piagets wurden viele Untersuchungen vorgelegt, die die Entwicklung des Verständnisses von Vorgängen und Einrichtungen (in) der Welt rekonstruierten, z.B. auch eine Untersuchung des Verstehens der Institution „Bank“, ihres Funktionierens und der Zusammenhänge, in denen Banken eine Rolle spielen. Solche Untersuchungen ergaben immer dasselbe Bild. Am Beginn steht unverbundenes Wissen, Wissen gleichsam aus mehreren Wahrnehmungspositionen heraus (Piaget: Perspektiven), im Fall des Wissens über eine Bank: 1. Bank als Aufbewahrerin von Geld und Zinsenzahlerin. Die Frage nach dem Woher des Geldes wird nicht gestellt. 2. Bank als Kreditgeberin. Der Zusammenhang, dass das Geld, das verliehen wird, aus der Bewirtschaftung des Geldes der Ein- und Anleger stammt, ist so wenig klar wie das Faktum, dass das Geld überhaupt bewirtschaftet wird. 3. Bank als Arbeitgeberin und Lohnauszahlungsstelle der in ihr Beschäftigten (vgl. Claar 1993). Am Ende der Entwicklung sind die drei hier beispielhaft aufgezählten Perspektiven miteinander verbunden und auf einander bezogen: aus „drei Banken“ wird eine mit mehreren Rollen = Funktionen. Die ursprünglichen Verstehensperspektiven werden in der neuen Sichtweise nicht beseitigt, sondern im hegelschen Sinn aufgehoben (= aufbewahrt, wenn auch verändert). Mit einem Ausdruck von Piaget kann man diesen Vorgang auch als Einbettung bezeichnen: Die drei Verstehensweisen von Bank werden benützt, um ein neues Verständnis von Bank zu konstruieren. Im dadurch entstehenden Produkt sind die drei Verstehensperspektiven auf das Phänomen Bank aufgehoben, sie sind eingebettet in das neue Gesamtverständnis des nun komplexeren Sachverhalts. (Schriftliche) Darstellung von Sachverhalten als Stimulus 123 Da geht’s doch nur um Inhalte, nichts als Inhalte! - Ja, aber deren Integration gelingt ab einem bestimmten Komplexitätsgrad nur noch symbolisch, nicht unbedingt sprachlich, aber in der und mit der Sprache besonders gut. (Symbolisch wird hier als Synonym von begrifflich verstanden, wie es vom symbolischen Interaktionismus propagiert worden ist. Heute würde man zu dessen Symbol Kognition sagen.) Man kann alle Entwicklung als Erwerb von immer komplexer werdenden Einbettungen auffassen: Schemata werden in Schemata eingebettet und diese in weitere. Daraus entstehen immer komplexer werdende Sachverhalte. Was zunächst bloß unverbunden (= additiv) neben einander steht, wird durch Integration aufeinander bezogen - und verändert. Das ist der Vorgang der Einbettung. Die Entwicklung geht sicher von den thematischen Rollen aus, mit denen die Kinder längst schon satzgliedgestützt operieren können (Bank als Agens, das z.B. Geld verleiht, Löhne zahlt; Geld als Objekt, das verliehen wird, für das Zinsen bezahlt werden; possessiv: Geld, das jemandem gehört, das jemand verwaltet usw.; Kreditnehmer = Benefaktiv = Nutznießer). Die thematischen Rollen werden zum Movens der textuellen Entfaltung. Für die Konstitution komplexer Sachverhalte müssen sie weit über die Satzgrenzen wirksam werden. Zusammenhänge müssen operatorengestützt und im Universum der einschlägigen thematischen Rollen konstituiert werden. Die frühen Rollenkonzeptionen der Kinder sind vom Standpunkt des Erwachsenen aus ziemlich seltsam und oft amüsant, obwohl sie auf ihre Weise eine primitive, wenn auch unrichtige Systematisierung der Rolle darstellen. So wissen sehr kleine Kinder, daß es Kaufleute und Käufer gibt, aber sie denken, daß der Käufer die Waren kauft und daß er und der Kaufmann sich gegenseitig bezahlen. Nur der Käufer kauft Waren, der Kaufmann niemals. Die monitäre [! ] Aktivität beschränkt sich auf das Kaufen und Verkaufen. Obwohl ein Ladeninhaber einem Verkäufer Waren verkaufen helfen kann, bleibt der Unterschied zwischen Inhaber und Angestellten unklar und wird nicht in die Kaufs-Verkaufs-Geschäfte einbezogen. Es gibt keine anderen Rollen wie etwa die eines Herstellers (Lindesmith/ Strauss 1883, II, 45 f.). Die Organisation der Einbettung habe ich als Gestaltbildung beschrieben (Ortner 2000). Man könnte die ganze kognitive Entwicklung als eine immer weiter fortschreitende Bemühung um (richtige) Einbettungen betrachten, als Bemühen um gute Gestalten. Komplexere Sachverhaltsdarstellungen, wie sie in mündlichen Äußerungen gelegentlich vorkommen können, in geschriebenen Texten dagegen dominant sind, sind eine Triebfeder der Entwicklung von Einbettungen. Warum? - Weil die syntaktischen Mittel zu textsyntaktischen werden. Dabei werden sie immer abstrakter und fähiger, größere Zeichenstrecken zu organisieren. Die Sprache mit ihrem großen Sortiment an Werkzeugen (Schemata, s.u.) und Verfahren ist ein Betriebsmedium erster Güte. Integration heißt immer Einordnung in ein kognitives (oft logisch-sprachliches) Schema. Beispiel: Ein Hanspeter Ortner 124 Sachverhalt, der als Ursache von etwas erkannt wird, wird in ein Bewirkungsschema integriert. Ebenso wie ein Sachverhalt, der als Folge von etwas erkannt wird. Nur in Schemata können Teilsachverhalte qua Einbettung zu Bestandteilen komplexer Sachverhalte werden, wobei die Teile (Elemente) die Suche nach den Schemata ebenso sehr und ebenso intensiv stimulieren wie umgekehrt. Auch von den Schemata aus wird gesucht, auch von ihnen ausgehend kann ein weiteres Element gefunden werden. Ein Teilsachverhalt leitet hin zu einem komplexen Sachverhalt und der komplexe Sachverhalt zur Auffindung und Isolation der Teile (Isolation der Teile = Ablösung vom/ Herauslösung aus dem Ganzen). Ablösung und Einbau - da haben wir sie wieder, die Dialektik, das Hin und Her. Das primitivste Schema, mit dem die Einbettung beginnt, ist die Addition. 3.2 Addition - der Schritt vor der Einbettung und der erste Schritt zur Einbettung Der kindliche Schreiber des folgenden Textchens, der ein Erlebnis erzählen sollte, ist noch nicht „von der Stufe des Aufzählens auf die des Erzählens“ gelangt: Wir waren im Prater und wir haben einen Ausflug auf den Kahlenberg gemacht. Ich war auch im Park oder auf dem Rapidplatz. Dann bin ich nach Hause gegangen (Linke 1921, 52 f.). Die Aufzählung und die Auflistung waren phylogenetisch und sind ontogenetisch sehr oft die erste Form des Textes - so auch in diesem Aufzählungstext. Die Fokussierung auf ein reales Erlebnis ist dem Schreiber so wenig geglückt wie die Konstruktion eines fiktiven Referenzerlebnisses. Denn ganz gleich, ob real oder fiktiv, ein Erlebnis ist ein komplexer Sachverhalt, der konstruiert werden muss. Es ist nur etwas leichter, von einem realen Erlebnis auszugehen, wenn dieses schon nicht-sprachlich konstruiert oder mündlich erarbeitet worden ist. Deshalb die Konzentration der Reformdidaktik auf den Erlebnisaufsatz. Aber Achtung, leichter heißt nicht: ganz leicht! Selbst wenn es ein Referenzerlebnis gibt, kann im Sog des Spontanschreibens so manche Konstituente verloren gehen. Auch das „bloß“ Wissen wiedergebende Schreiben verlangt nach Konstruktion und nach Präsenthalten der Elemente der Konstruktion (vgl. dazu Ortner 2007). Unser exemplarischer Schreiber ist noch ein arger Anfänger im Konstruieren. Was er zusammenfügt, könnte zwar zusammengehören, aber noch ist es nicht einmal ein Sachverhalt. Mit solchen Sätzen, sagt Linke, reihe der Schreiber nur „lose Gedanken, die eigentlich Überschriften zu ungeschriebenen Aufsätzen sind, aneinander“ (Linke 1921, 53). Aber - das ist die positive Nachricht - selbst in dem Satzgemurkse, das noch lange kein Text ist, ist schon ein erster, zarter Ansatz zu einer Entwicklung zu erkennen, die später einmal einen zusammenhängenden Text (Schriftliche) Darstellung von Sachverhalten als Stimulus 125 ermöglichen wird. Wie so oft in der Entwicklung tritt Formales früher auf als Semantisch-Inhaltliches. Die aneinandergereihten Sätze sind Vorboten kommender großer Entwicklungen. Wie in der Kindersprache häufig der Fall, wird die Entwicklung von den Formalia her angestoßen. Diese können als formale Präfigurationen gedeutet werden: Form vor Inhalt. Das ist auch so beim Gebrauch der Zahlen vor dem richtigen Zählenkönnen, beim „falschen“ Gebrauch der Temporaladverbien gestern, morgen, übergestern (= vorgestern), z.B. morgen wird mit gestern verwechselt usw., oder beim Auftauchen von Begründungsankündigungen, denen dann keine Begründung folgt, die irgendwelchen Begründungsstandards entspräche. Entwicklungspsychologisch gedeutet macht der Schreiber mit der bloß formalen Satzreihung den allerersten Schritt zu einer schriftlichen Darstellung eines (komplexen) Sachverhalts. Die Addition ist - wie die ersten Schritte beim Gehenlernen - noch ziemlich unkoordiniert, erscheint wild und ist weit ausgreifend, ziemlich ziellos, vor allem auf das Gelingen des einzelnen Schritts konzentriert, nicht auf irgendein übergeordnetes Ziel hin orientiert („les détails valent mieux que l’ensemble“ - „die Details sind wertvoller als das Ganze“). Wäre ein solches vorhanden, wäre ein Integrator gewonnen und der zweite Schritt möglich, der zur „richtigen“ Einbettung führt. Das Problem Addition + Integration verschwindet als Grundproblem der Vertextung auch auf höchster Ebene nicht. „Was ihr auch tun mögt, es sei immer einfach und in sich eins“, sagt Racine Horaz zitierend (Racine 1671/ 1975, 169). In sich eins muss ein Text sein, das ist der Punkt. Das Eine, das ist der erhöhte Punkt. „Gibt es irgendwo Ordnung im Chaos? Einen erhöhten Punkt, von dem aus sich zumindest ein Teil des Daten- und Informationsstromes überblicken lässt? “ (Gaschke, in: Die Zeit, 30.10.2003, Nr. 45, 64). Bei jeder produktiven (nicht nur reproduzierenden) geistigen Aktivität muss nach übergeordneten Gesichtspunkten gesucht werden. Sonst werden aus Daten keine Sachverhalte. Auch die Texte brauchen sie. In den Texten der ErzählanfängerInnen fehlt das Eine, so wie es den Klausuren fehlt, deren Qualität Altenberg beklagt: Vielen Klausuren fehlt es an gedanklicher Durchsichtigkeit und überzeugender Gewichtung der Aussagen; reihend-sammelnde Darstellungen verraten Grenzen der Sachbewältigung ... (Altenberg 1986, 41 f.). Die wünschenswerte Geschlossenheit einer Klausur wird häufig selbst dann nicht erreicht, wenn die Aufgabenstellung durchaus ein Ganzes im Blick hat und weder zur isolierten Abhandlung von Teilfragen noch zum hemmungslosen Ausschütten aller Kenntnisse, Beobachtungen und Einfälle verführt. Wie aber soll der Schüler in einer dreistündigen Klausur (auch eine angemessen begrenzte Aufgabenstellung vorausgesetzt) sein Wissen und seine Überlegungen zu einem einigermaßen geschlossenen Ganzen verarbeiten können, wenn er sich an den Schwierigkeiten der Reduktion und Konzentration auf das Wesentliche sowie Hanspeter Ortner 126 einer überzeugenden Verbindung der Hauptaspekte vorher nicht hinreichend erprobt hat? (Altenberg 1986, 42). Bloß additiv nebeneinander gestellt ist das Gegenteil von: in einem Gesichtspunkt zentrierter = perspektivierter Organisation. Wilde Addition liegt vor, wenn, wie in den Beispielen oben, jede themengeleitete Integration fehlt (außer der formalen). Wenn nach dem Prinzip der ganz freien Assoziation, um nicht zu sagen der wild schweifenden Assoziation, vorgegangen wird, bei der Proposition an Proposition, Teil an Teil gefügt wird - mir nichts, dir nichts einfach drauflos assoziierend. Das Gegenteil der wilden Addition ist ein Ergebnis der themengebändigten, -geleiteten Arbeit am Einfall. Die „bloße“ Addition ist ein Problemkind jeder Schreibdidaktik. Auf sie nimmt der Titel eines der wichtigsten Bücher Bezug, das uns hilft, die Entwicklung des Schreibens zu verstehen: „Von der Reihung zur Gestaltung“ (Augst/ Faigel 1986). Und darauf bezieht sich ein Programm, das für blutige AnfängerInnen gut geeignet sein mag, aber für Fortgeschrittene reines Gift wäre: „Sätze statt Aufsätze“ (Gössmann 1981). (Es ist für die Primarstufe gedacht.) Ein anderer Gesichtspunkt betrifft die Folgerichtigkeit. „Sätze statt Aufsätze“ können hier erste Formulierungshilfen bieten, da sie nicht von einer konsequenten Abfolge ausgehen, sondern von einem sinnvollen Erfassen und nacheinander Aufzählen. Nicht die Einzelbenennung ist am Anfang schwierig, wohl aber die Komposition eines in sich geschlossenen Sachtextes. Damit das Prinzip des Aufzählens und Aufnotierens deutlich wird, ist ein zeilenmäßiges Schreiben untereinander erleichternd. Listen und Aufstellungen, die für diesen Bereich des Schreibens in Frage kommen, legen dies sowieso schon nahe. Die kausalen Verknüpfungsformen bilden sich dann später heraus (Gössmann 1981, 45 f.). Nicht nur die kausalen Verknüpfungsformen bilden sich später heraus. Auch viele weitere semantisch-inhaltliche Zusammenhänge werden erst durch Integration konstituiert. Die „bloße“ Addition steht nicht nur am Anfang jeder Entwicklungslinie, sondern auch der Aktualgenese, der Denkwie der Schreibarbeit. Jeder erste Schritt zur Einbettung und damit zum komplexen Sachverhalt führt über die „bloße“ Addition. Der beste wie der mieseste Einfall - beide sind zunächst einmal nichts als Väter des additiv Hinzuzunehmenden. Erst danach kommt die Arbeit an dessen Integration. Das (geglückte) Ergebnis dieser themengebändigten, -geleiteten Arbeit fügt sich dann kohärent und kohäsiv in einen sprachlich dargestellten Zusammenhang. Die Ausführungen zu einem Thema und die Konstitution eines Sachverhalts, z.B. als Erlebniserzählung und Erlebnis (mündlich wie schriftlich), bedingen sich. (Schriftliche) Darstellung von Sachverhalten als Stimulus 127 3.3 Integration (Einbettung in gesichtspunktdominierte Zusammenhänge) Stendhal wollte durch nachgetragene Sanierungsmaßnahmen die Akzeptanz seines Textes erhöhen. Er wollte es - hat es aber nicht erreicht: Cet ouvrage n’a eu aucun succès; on l’a trouvé inintelligible, non sans raison. Aussi, dans cette nouvelle édition, l’auteur a-t-il cherché surtout à rendre ses idées avec clarté. Il a raconté comment elles lui étaient venues; il a fait une préface, une introduction, tout cela pour être clair; et, malgré tant de soins, sur cent lecteurs qui ont lu Corinne, il n’y en a pas quatre qui comprendront ce livre-ci (Stendhal 1822/ 1965, 315). Stendhal, können wir gönnerhaft sagen, war auf dem richtigen Weg. Er ist ihn aber nicht zu Ende gegangen. Er hat zwar erkannt, dass er dem Textteilsalat eine Struktur geben muss, doch mit den Formalia „Vorwort“ und „Einleitung“ und einem Bericht, wie er zu seinen Ideen gekommen ist, war es nicht getan. Er hätte tun müssen, was andere, in ebensolchen Fragmentkonglomeraten steckend, auch tun: eine totale Umarbeitung vornehmen, auf dass die Textteile als Entfaltungsstücke einer Zentralidee hätten gelesen werden können; nur so wäre ein „richtiger“ Text (kein Album) entstanden, ein Text, wie ihn seine Kritiker von ihm erwartet hatten. Stendhal hat das blinde Puzzle nicht zu Ende gespielt, das Puzzle, das darin bestand, herauszufinden, welches Bild in den Teilen enthalten sein könnte, die er vor sich liegen hatte (anderen Puzzlern wie Musil oder Wittgenstein ist die Lebenszeit abgelaufen, bevor ihr blindes Puzzle zu Ende war, vgl. Ortner 2000, 491 ff.). Fragmente, die zu einem Text zusammengenommen werden, müssen von einem Gesichtspunkt, einer Hauptidee aus in einen Zusammenhang gebracht werden, der mehr ist als eine vage Hat-irgendwie-zu-tun-mit- Beziehung. Hat-irgendwie-zu-tun-mit - das ist die Beziehung, die der „bloßen“ Addition zugrunde liegt. Herauszubringen, wie die Teile miteinander zu tun haben, wie sie zusammenhängen, das ist der mühevollste Teil der Einbettungsarbeit, das ist die Integration. Wissen schaffendes Schreiben besteht hauptsächlich aus der Suche nach Zusammenhängen. Die Arbeit am Zusammenhang erfordert viel, oft sehr viel Aufwand, weil die Verfahren dafür erst spät und nur im Schutz der Monologizität erworben und geübt werden. Das ist am Beispiel der Entwicklung der Erzählfähigkeiten leichter zu zeigen als an den hochkomplexen Vorgängen hinter einem Erwachsenentext wie dem Stendhals. Viele Kinder martern die Lehrerin mit Und-dann-Satz-Orgien. Sie beziehen fast jeden der vor dieser Entwicklung bloß additiv gereihten Sätze mit dem Konnektor und dann aufeinander (vgl. Baurmann 1984, 32 ff.). Die Und-dann-Folgen sind ein diskontinuierliches Signal der Bearbeitung der erzählten Sachverhalte auf der Ebene des Inhalts „Zeit“, der Verzeitung der dargestellten Ereignisse. Hanspeter Ortner 128 Der verzweifelte Didaktiker ist im Allgemeinen froh, wenn er die SchülerInnen zur Variation ermuntern kann: Nachher ... dann ... und dann ... Nach diesem Vorfall ... Für die Entwicklung der Erzählfähigkeit und des Stils (ja, auch des Stils! ) ist so eine Variation jedoch nicht so entscheidend. Entwicklungsmäßig Entscheidendes geschieht erst, wenn in dieser Kette ein Plötzlich auftaucht (oder ein Plötzlich-Äquivalent). Dann kommt es zum Strukturwandel. Die Kette additiv-koordinierter Glieder bekommt eine neue, von diesem Plötzlich her organisierte hierarchische Struktur. Das Plötzlich ist der entscheidende Schrittmacher im Verzeitungsschema, das über die Struktur der Addition darübergelegt wird. Wieder kann das Auftreten des „Fehlers“ als Umstrukturierungsindiz verstanden werden (Formalia primum! Präfigurationen! ). Die temporalen Konnektoren etablieren eine Ebene, auf der eine (zusätzliche) Gestaltung vorgenommen wird. Damit werden Schritte vollzogen, die für die Schaffung komplexer Sachverhalte unabdingbar sind: die Bearbeitung eines Sachverhalts auf mehreren Ebenen und die Überbzw. Unterordnung dieser Ebenen (deshalb habe ich den Ausdruck darübergelegt gewählt). Der Vertextungs„fehler“ des bloßen Reihens wird erst behoben, wenn ein Zweites dazukommt: die Organisation der Elemente von der einen - niederen - Ebene durch ein „regierendes“ Element von der darübergelegten Ebene. So entstehen leitende Gesichtspunkte. Das ist der Auftrittsmoment des Plötzlich. Das ursprünglich nur Gereihte, womöglich sogar listenartig Präsentierte, wird nun textuell organisiert: Vor dem Plötzlich wird die Ausgangssituation dargestellt, nach dem und eingeleitet durch das Plötzlich die Komplikation. Das Plötzlich (oder ein Äquivalent) ist gegenüber dem bloß Gereihten ein strukturierender und übergeordneter Gesichtspunkt. Durch sein Übergeordnetsein führt er die Einbettung herbei und bewirkt die Reorganisation der Einheiten auf der untergeordneten Ebene, d.h. er macht die einen zu Teilen der Darstellung der Ausgangssituation und die anderen zu Teilen der Darstellung der Komplikation. Die Komplikation ist die mit dem Plötzlich einsetzende Ereigniseinheit. Aus additiv aneinander angefügten Sätzen werden so zwei von „oben“ her gestaltete Textteile mit zwei der klassischen Teilthemen jeder Erzählung: Ausgangssituation und Komplikation. Gegenüber den bloß additiv gereihten Inhalten ist damit eine Neustrukturierung vorgenommen worden. Sie übergreift mehrere Sätze und ist deshalb mehr als eine syntaktische, sie ist eine textgenerierende und -strukturierende Größe, die im Verbund mit anderen solchen Generatoren aus dem Aneinanderreihen von Sätzen eine Erzählung macht. Kein Wunder, dass erzählspezifische Organisatoren wie plötzlich beim Lernen der neuen Textsorte „Bericht“ wieder aus dem Generierungsprogramm genommen werden müssen: „Vermeide ‚plötzlich’! Es verleitet zum Erzählen“, heißt es in einem Schreibbuch für Schüler (Burbiel/ Stoll 2002, 62). Untersuchungen zur Entwicklung der Erzählfähigkeiten haben gezeigt, wie wichtig der Erwerb von Schrittmachern wie plötzlich ist (vgl. Wolf 2000). Damit werden auf der davor nur durch Abfolge organisierten Ebene der (Schriftliche) Darstellung von Sachverhalten als Stimulus 129 Verzeitung Orientierungsstelen angebracht (so wie geschichtete Steinhaufen im Gebirge); sie dienen aber nicht nur der besseren Selbst- und Fremdwahrnehmung, sondern sie werden vor allem zu Leitstellen des weiteren Textausbaus (s. Kapitel 3.4). Drei Teilschritte sind auf dem Weg von der Addition zur Integration also zurückzulegen: • •• • das Darüberlegen weiterer Strukturen/ Schemata über das bloß additiv, bloß assoziativ Gereihte und die Organisation der Beziehungs- verhältnisse auf den so entstehenden Ebenen. Weitere Ebenen neben der Ebene der Verzeitung/ des Tempus: die Ebene des Ortes, die Ebene der Haupt- und Nebenfigur(en), die Ebene der sich bedingenden (weil eingebetteten) Teilgeschehen usw., die Ebene der Relevanzen: das ganz Wichtige, das weniger Wichtige, das Unwichtige; die Ebene der formalen Textteile: Einleitung - Hauptteil - Schluss. • •• • das explizite oder implizite Einführen von regierenden Gesichtspunkten auf jeder dieser Ebenen. Regierend heißt „hierarchisch organisierend“, heißt, „dass der regierende Gesichtspunkt mit Durchgriffsrechten auf die untergeordneten Ebenen ausgestattet ist“. • •• • das Ordnen der regierenden Gesichtspunkte, vulgo: Strukturieren, Planen Der Gebrauch des Turboladers plötzlich ist nur ein wichtiges Indiz für eine Phase auf dem Weg der Entwicklung der Erzählfähigkeiten. Die Entdeckung der Komplikation ist für manche Kinder so umwerfend, dass sie danach gar nicht genug davon bekommen können: Sie reihen Komplikation an Komplikation und gelangen zu äußerst handlungsstarken Geschichten - die nur keine Geschichten sind, sondern wieder: Additionen. Denn über der Komplikation muss in einer echten Geschichte ein weiterer Gesichtspunkt regieren, der der nächst höheren Ebene angehört. Es ist ein ziemlich abstrakter Gesichtspunkt. Van Dijk nennt ihn „Interessantheitskriterium“ (zit. n. Wolf 2000, 32). Die gewiefte Erzählerin weiß, dass es nicht die Komplikation sein muss, die eine Geschichte interessant macht. Es kann auch die überraschende Lösung sein, die zum übergeordneten Organisator wird. Souveränität der Erzählerin liegt dort vor, wo irgendein Strukturelement der Erzählung, die Hauptperson, irgendein Gegenspieler, die Komplikation, die Lösung usw. die „Minimalbedingung der Ungewöhnlichkeit“ (Quasthoff zit. n. Wolf 2000, 30) aufweist. Die Ungewöhnlichkeit wird zum alles regierenden Element, auf das hin alle Teile ihren Inhalt, ihre Form und ihre Ausrichtung erhalten. Sie determiniert das Ganze, von dem die LehrerInnen träumen, wenn sie von den Schülererzählungen verlangen, sie müssten eine „Darstellung auf den Höhepunkt hin“ sein, der Höhepunkt sei herauszuarbeiten zwecks „Erzeugung von Spannung und ihre Lösung“ (Helmig 1972, 16 f.). Trotz seiner überragenden Bedeutung ist der regierende Gesichtspunkt, der zur Umstrukturierung führt, der große Unbekannte der Textlinguistik. Hanspeter Ortner 130 Man braucht ihn unbedingt, aber was er genau ist, ist so schwer zu sagen, wie: wer oder was Gott ist. Kein Wunder, dass diese Größe (? ), dieser Mechanismus (? ) ... ich weiß es nicht ... fast so viele Namen hat wie Allah (vgl. das Florilegium in Ortner 2000, 183 ff.). Und es ist nicht ausgeschlossen, dass jeder dieser Namen auch etwas sagt über die Größe, aber halt nur - etwas ... nie alles. Entscheidend ist der übergeordnete Status, der Metastatus ... Ja, aber wovon meta 2 ? Meta gegenüber der (Aus-)Formulierung, der Entfaltung, wenn es eine Entfaltung gibt (was - siehe Humboldt unten - nicht immer notwendig ist, vor allem nicht bei der Entwicklung eines Sachverhalts für sich selbst 3 ). Meta gegenüber der Kognition - passt auch nicht besser, wenn untergeordnete Kognitionen ebenfalls (noch) gar nicht vorhanden sind. Dann wäre der Metastatus ja etwas Ähnliches wie der Status eines Reiters (in Reiterhaltung) - ohne Ross. Und doch, so ist es. Es sind potenzielle Themen, potenzielle Gesichtspunkte. Den Metastatus haben die jegliche Entfaltung organisierenden Einheiten, weil sie abstrakt sind. Sie sind Abstraktionen gegenüber den potenziellen Ausführungen, gegenüber den Konkretionen des Entfalteten und des Ausformulierten. Der Gebrauch solcher Meta-Elemente scheint ein Spezifikum der kognitiven Höher- und Weiterentwicklung zu sein, wie sie die textuelle Darstellung stimuliert (was vielleicht der wichtigste Mehrwert der Schriftlichkeit ist). In der geschützten Monologizität verändern sich Satz- und Textbildungsprozesse im Zuge der Erfassung komplexer Sachverhalte: Sie spielen sich auf mehreren Ebenen ab und sie verändern die Perspektive (vgl. Helmig 1972, 14). Der Ausdruck Gesichtspunkt suggeriert vielleicht zu viel Punktualität. Der regierende Gesichtspunkt ist meistens eine regierende Idee und der Plan ist die „Idee von einem Text“ (Sitta 1982, 14). Auf jeden Fall wird er/ sie/ es durch ihren besonderen Status zu einer generativen Kraft, zu einer Steuerungszentrale, zu einem konstruktiven Mittelpunkt, aus dem heraus alle Erfahrung organisiert wird. Es sind Ideogene, Sammel- und Zerstreuungslinsen in einem. Valéry war von deren operativer Bedeutung fasziniert: „Gefallen Ideen aufgrund des Erstaunlichen, das sie bieten, des unmittelbar Anregenden. … Mir gefallen sie wegen der Verheißung von Organisationskraft, von Klarheit und Kombinationsfähigkeit - als Modifikatoren künftiger Geistestätigkeit“ (Valéry 1991, 343). Die Didaktik unternimmt so manche Anstrengung, um die SchülerInnen zum Umgang mit Gesichtspunkten, Ideen usw. anzuregen und um den fruchtbaren Umgang mit ihnen zu lehren. Sie lehrt z.B. beim Clustern einen Gesichtspunkt/ eine Leitidee aus dem Assoziationensalat herauszurubbeln. 2 Meta wird hier in der Bedeutung verwendet, die in „Duden. Deutsches Universalwörterbuch“ verzeichnet ist: „drückt in Bildungen mit Substantiven aus, dass sich etwas auf einer höheren Stufe, Ebene befindet, darübergeordnet ist oder hinter etwas steht“. 3 Für sich selbst meint hier: „für den/ die SchreiberIn selbst, nicht für den/ die LeserIn“. (Schriftliche) Darstellung von Sachverhalten als Stimulus 131 Und sie lehrt das Gliedern, immer wieder das Gliedern. Wenn ein/ e SchülerIn die Gesichtspunkte/ Ideen zu einem Plan vereinigen kann, wenn er/ sie mit Meta-Elementen gut umgehen kann, dann kommt sie endlich, die Stunde der Entschädigung für die Und-dann-und-dann-Marter der frühen Jahre. Dann ist ein Entwicklungsabschnitt zu Ende. - Allerdings nicht der letzte und nicht in allen Bereichen. 3.4 Entfaltung für die Präsentation des Eingebetteten Wilhelm von Humboldt war ständig auf der Jagd nach guten Ideen, aber deren Präsentation war ihm kein großes Anliegen. Den Mühen der Ausformulierung unterzog er sich nicht gern: Habe ich mir eine Idee entwickelt, so ekelt es mich an, sie nun auch anderen auszuknäueln, und solange mich nicht äußere Umstände zwingen, überwinde ich diesen Ekel nicht (W. v. Humboldt zit. n. Reiners 1991, 35). 4 Auch von Mead wird berichtet, dass er nur in Absätzen dachte, d.h. er entfaltete nicht bis ganz hinunter auf die Formulierungsebene; er konnte auf einer Zwischenebene denken. Diese war allerdings nicht die Ebene der Präsentation von Gedanken für RezipientInnen: Sogar den von Mead selbst veröffentlichten Aufsätzen wird von seinen Schülern streckenweise sprachliche Unverständlichkeit vorgehalten. ... Mead dachte weniger in klar formulierten aufeinander bezogenen Sätzen, als vielmehr in ganzen Paragraphen, wie es Kenneth Burke einmal kennzeichnete (Kellner 1969, 7 f.). Humboldt konnte es, aber er wollte es nicht, das Ausknäueln, bei Mead war es wohl ebenso. Die hatten beide zuviel zu sagen und noch mehr zu denken, um sich mit dem Ausknäueln aufzuhalten. Viele Kinder dagegen wollten und sollten es, das Entfalten im Spannungsfeld von Additions- und Integrationsdruck, aber sie können es (noch) nicht. Der Schreiber deute seine Erlebnisse nur an, führe sie nicht aus, heißt es bei Linke (1921, 53) über den Aufzählungstext des 7bis 8-jährigen Schülers mit den Quasiüberschriften: Prater, Ausflug auf den Kahlenberg, im Park, Rapidplatz, nach Hause gehen. Die Quasiüberschriften sind nicht entfaltete Teilthemen. Ihre bloße (überschriftenartige) Nennung repräsentiert das dritte Problem nach der „bloßen“ Addition und der Integration: die teilthematische Entfaltung. Sie ist der wichtigste Teil der Sachverhaltsdarstellung (nicht der Sachverhaltsentwicklung! ). Für den/ die Rezipienten/ Rezipientin ist sie gleich wichtig wie die Erweiterung um relevante Teilthemen. Wie beim Schwimmen Arm- und Beinbewegungen zusam- 4 Humboldt, der Meisterdialektiker, schreibt aber auch: „Man besitzt in Ideen nur ganz, was man außer sich dargestellt in andere übergehen lassen kann“ (Wilhelm von Humboldt zit. n. Reiners 1991, 40). Hanspeter Ortner 132 mengehören, so gehören die teilthematische Erweiterung und die teilthematische Entfaltung zusammen. Jetzt verstehen wir genauer, was das heißt, wenn Ludwig (1994, 20) schreibt: „Aus additiv-linearen Verfahren werden mit der Zeit analytischintegrative.“ Analytisch wird das Verfahren, wenn gereiht wird und wenn die Entknäuelung vorgenommen werden kann, wenn jeder beliebige Inhalt mit Begriffen und zusammenhängenden Aussagen dargestellt werden kann. Warum erzählen Kinder so wenig? Man legt ihnen vier Bilder vor und sie „erzählen“ - zwei Sätze (vgl. etwa Boueke u.a. 1995). Sie erzählen - trotz des auf den Bildern vorhandenen Inhalts! - so wenig, weil ihnen die für die Entfaltung, Entknäuelung notwendigen Schemata fehlen. Denn jedes Schema ist auch ein Entfaltungsschema. Solche Schemata gewinnen Kinder nur auf dem Weg der Abstraktion. 3.5 Abstraktion und Konkretisierung Der Motor hinter aller Höherentwicklung ist - nach Piaget - die Abstraktion: Piaget begreift die „reflektierende Abstraktion“ als den Lernmechanismus, der für die Ontogenese den Übergang von einer Stufe der Kognition zur nächsten erklären kann, wobei die kognitive Entwicklung auf ein dezentriertes Weltverständnis zuläuft (Habermas 1983, 16). In der entwicklungspsychologischen Literatur ist unbestritten, dass das letzte Stadium der Denkentwicklung das des formal-abstrakten Denkens ist. Es ist das Stadium des Denkens in Hypothesen und mit den Wahrheitswerten der Aussagen (vgl. Berk 2005, 503: „Entweder ist der Chip in meiner Hand grün oder er ist nicht grün.“ vs. „Der Chip in meiner Hand ist grün und nicht grün.“). Viel mehr wird dazu nicht ausgeführt. Es wird nicht einmal gefragt, worin denn eigentlich Abstraktion in der Sprache bestehe - obwohl doch Semantik und Abstraktion fast eineiige Zwillinge sind. Ihr Zusammenspiel beginnt mit dem Stadium der Entwicklung, in dem Wörter als Zeichen für Begriffe aufgefasst werden und endet mit abstrakten Schemata für Textsorten und Sachverhaltsdarstellungen. Manchmal wird die Fähigkeit zum hypothetischen Denken als Hinausgehen über das, was gegeben ist, interpretiert. Manchmal sogar als ein Hinausgehen über das, was sich das Kind selbst vorgibt: Vielfach ist zu lesen, das konkret-operatorisch denkende Kind könne noch nicht mit abstrakten Zeichensystemen operieren, es benötige eine Abstützung des Denkens auf konkret-anschauliche Gegebenheiten. Dies trifft nicht den Kern der Unterschiede. Im konkret-operatorischen Denken ist das Kind beschränkt auf gegebene Informationen, seien sie konkret-anschaulich oder sprachlich repräsentiert. Demgegenüber geht das formal-operatorische Denken in spezifischer Weise über vorgefundene oder -gegebene Informationen hinaus. Heranwachsende urteilen und folgern nicht nur auf der Basis der aktuell gegebenen Informationen, sondern beziehen mögliche weitere Informationen ein, die sie zu gewinnen suchen (Montada 1995, 540). (Schriftliche) Darstellung von Sachverhalten als Stimulus 133 Wie macht das Kind das, dieses Darüberhinausgehen? Wie kann man über vorgefundene oder über vorgegebene Information hinausgehen? Indem man die vorgefundenen oder vorgegebenen Elemente als Vertreter einer Klasse interpretiert, in die weitere Elemente hinein kommen können, sofern sie bestimmte Bedingungen erfüllen und indem man Relationen auf Klassen und Vertreter aus Klassen anwendet. Alles, was aus dem episodischen Gedächtnis ins semantische umcodiert wird, durchläuft einen Abstraktionsvorgang. Für die Zeichenkette besteht dieser in der Skelettierung. Was nicht im Wortlaut behalten wird, wird abstrahierend auf einige wenige (als besonders relevant erkannte) Kategorien reduziert. Abstraktion ist, könnte man sagen, „Befreiung vom (vermutlich) Unerheblichen“, im Fall von Sätzen und Texten: „vom Wortlaut“. Bei dieser Befreiungsoperation werden abstrahierend aus dem Wortlaut die Mittel, die Wörter und syntaktischen Muster, aber vor allem auch die Bedeutungen und der Sinn für die Konstruktion anderer Aussagen extrahiert - abgelöst von ihren Trägern. Diese andere Aussage kann - einmal - einen ähnlichen Fall betreffen, der als analog zu dem Fall aufgefasst wird, aus dem das Schema gewonnen worden ist: Der Mann steigt auf den Berg/ Die Frau steigt auf den Berg (zwei Fälle, ein Darstellungsschema, das beide zu analogen Fällen macht). Oder einen weniger ähnlichen Fall: Die Butter steigt im Preis. (Mit solchen Metaphern kann der Geist sich bis an die Grenze des Möglichen und des Sagbaren herananalogisieren.) Ist zu wenig Ähnlichkeit vorhanden, können die Kategorien neu kombiniert werden. Das ist der zweite Fall (neben der Analogie) - und der häufigere. Durch solche Neukombinationen entstehen alle Formen von Syntax - auf allen Ebenen, ganz gleich, ob in der Syntax, in der Textlinguistik, in der Stilistik, in der Narrativik usw. beschrieben. Dazu gehören u.a.: • Satzbaupläne mit ihren Valenzstellen - auf allen Ebenen. Von der Ebene der (logischen) Prädikate und Argumente über die Ebene der thematischen Rollen (Agens, Verursacher, Nutznießer/ Geschädigter usw.) bis hin zur Ebene der Oberflächen-Satzglieder. • Schemata, deren Elemente durch bestimmte Operatoren in ein bestimmtes Verhältnis gebracht werden, z.B. in eine Kausal-, Final-, Adversativrelation usw. Die Elemente können Satz- oder Satzgliedteile sein, Teilsätze, Sätze oder ganze Textteile. • Textsortentypische Elemente und Beziehungen. Diese werden allerdings gerne überschätzt. Viel wichtiger sind die sachverhaltstypischen Elemente und Beziehungen, die als textthematische Beziehungen entfaltet werden. • Textthematische Beziehungen. Es sind die Beziehungen, die Themenverhältnisse zwischen Haupt- und Teilthemen, zwischen Haupt- und Nebenthemen und zwischen Teilthemen verschiedensten Grades begründen. Die Voraussetzung für die Langtextkompetenz wird vor allem mit Entwicklungen in diesem und im Bereich der Operatoren Hanspeter Ortner 134 geschaffen. Denn die Entwicklung vom Kurzzum Langtext setzt die Fähigkeit zur Einbettung von Schemata in Schemata in Schemata ... voraus. Ein Wort wird nicht dadurch zum Themenwort, dass man es in den Adelsstand des Themenwortes erhebt, sondern dadurch, dass es an die Spitze einer Einbettungspyramide treten kann. Das hat Aebli (1981, 95 ff., 195 ff.) am Beispiel des Themas Zoll ausgeführt. Zu den Schemata in der klassischen Textdimension kommen weitere in der pragmatischen Dimension (SchreiberIn - Text, Text - AdressatIn) und besonders in der sigmatischen. Da es hier um die Darstellung geht, konzentriere ich mich vor allem auf die sigmatische und die Textdimension. Die abstrakteste Form aller für die Textentfaltung relevanter Schemata, aller Schemata in Schemata ist das Hat-irgendwie-zu-tun-mit-Schema. Es ist Such- und Kontrollinstrument par excellence - initiierend jedes Suchen und Kontrollieren auf Grund der Hat-etwas-zu-tun-Vermutung; es ist die Basis aller Prüf- und Sortierabstraktionen. Dieses Schema erlaubt es z.B. auch dann schon Stoff zu sammeln, wenn noch nicht einmal das Thema genau bekannt ist. A hat im Hinblick auf X irgendwie mit B zu tun, das ist die Zauberformel der Intuition, wirksam vom ersten Einfall bis zum formulativen Feinstschliff, wirksam auch in allen Zwischenphasen, in denen dem ersten Einfall formulierend auf den Zahn gefühlt wird. Das Hatirgendwie-zu-tun-mit-Schema ist ein Instrument für die erste Basiswie für die letzte Schlussarbeit, die immer in demselben besteht: in der Relevanz-/ Funktionalitätssowie Verträglichkeits- und Stimmigkeitsprüfung. Doch, wo ist die Instanz, die Letztinstanz für solche Prüfungen? Es ist das Ganze. Das geheimnisvolle Ganze. - Wie bitte, das Ganze? - Zugegeben, es noch abstrakter zu sagen, geht gar nicht mehr. Der Hauptverantwortliche für dieses Ganze ist der geheimnisvolle Integrator mit den hundert Namen. Es ist sowohl in den Abstraktionen wie in den Konkretionen enthalten. Da heißt es z.B. Gesamtbild: In der Charakteristik, schreibt Fritzsche, „gelingt das Zusammenführen unterschiedlicher Erscheinungsformen zu einem Gesamtbild“, zu einem Ganzen also, „in der Weise, daß jeder einzelne Zug bezeichnend für dieses Individuum ist, meist nicht vor der Sek. II“ (Fritzsche 1994, 88). Das Hat-irgendwie-zu-tun-mit-Schema ist also ein Relevanzschema (hat zu tun mit = ist relevant für/ funktional in Bezug auf/ passt zu). Es ist insofern abstrakt, als es nicht sagt, inwiefern und was konkret mit was konkret zu tun hat. Bei der Rückwärtsverrechnung der Kontrolle = Überarbeitung wird es zum Stimmigkeitsschema. Gelingende Einbettung ist Addition + Integration, also Addition + Ebene darüber + regierender Gesichtspunkt + Durchgriff auf die Einheiten von der Ebene darunter. Addition ist Hinzufügung auf der Basis einer vagen Hatirgendwie-zu-tun-mit-Beziehung. Integration, der Schritt, der auf die Addition folgen muss, ist der Vorgang und das Ergebnis der Präzisierung dieser Hatirgendwie-zu-tun-mit-Beziehung: Inwiefern hat A mit B zu tun? Ohne Integ- (Schriftliche) Darstellung von Sachverhalten als Stimulus 135 ration ist die Einbettung nicht zu haben. Sie muss der Addition folgen. Integration ist die Organisation der Einbettungen, ist gelingende Gestalt- = Zusammenhangbildung (vgl. Ortner 2000, 159 ff.). Wenn im Zuge der Integrationsanstrengungen von einem A aus ein B ins Visier genommen wird, wenn also auf das A die Suchformel „Es gibt ein B, das mit diesem A im Hinblick auf X - irgendwie - zu tun hat“ projiziert wird, dann wird A zum Aktivator/ Aktivposten - für das Denken und/ oder das Schreiben. Von ihm geht die Partnersuche aus. Denken ist „prüfen, ob es etwas gibt, das bewirkt, dass A mit B zu tun hat“ und es ist „feststellen, was das ist“. Formulieren ist: „sagen können, inwiefern A mit B zu tun hat“. Neben der mathematischen Darstellung ist die Formulierung das Verfahren, bei dem ein Gedanke seinen letzten Lackmustest bestehen muss. Es ist der letzte Schritt bei der Warenkontrolle. Einen potenteren Test auf Stimmigkeit des Gedachten und Gesagten gibt es nicht. Die Evolution hat mit der Abstraktion ein großartiges Instrument geschaffen, die Höherentwicklung zu stimulieren. Die Wirksamkeit dieses Instruments wird ganz entscheidend dadurch gefördert, dass man jeden Gedanken ins Wechselbad von Abstraktion und Konkretisierung (= Formulierung) legen kann, wobei für die Konkretisierung die höchsten sozialen Maßstäbe gelten. Es sind die, die in der schriftlichen und für die schriftliche Kommunikation entwickelt worden sind. Die Formulierung ist - verglichen mit den abstrakten Schemata - die Konkretisierung par excellence. Sehr viele Formulierungsfehler und -unzulänglichkeiten lassen sich als Kollateralschäden der dialektischen Arbeit zwischen Denken und Formulierung auffassen. Durch das geologische Fenster des „Fehlers“ sieht man in die Werkstatt des Denkens und Schreibens. Fehler sind Produkte, die nicht so vollkommen sind, wie sie es aufgrund der in Jahrhunderten der Entwicklung erreichten Standards sein sollten. Immer wieder stößt man auf Zeugnisse der Einbettungsarbeit, die zeigen, dass das Denken zwar auf dem rechten Weg ist, das sprachliche Vermögen aber noch nicht ganz Schritt halten kann. Im „Weinberg des Textes“ (Illich 1991) besteht die ewig sich wiederholende Arbeit des Geistes in der steten Addition, Integration und Entfaltung von Wissen im Laboratorium der Sprache. Diese Arbeit ist nie zu Ende: Hinzunahme, Hereinnahme, Entfaltung, Einfall, Einbau des Einfalls, Ausbau des Einfalls - in diesem Rhythmus geht es weiter - bis zum Hirntod. Rhythmusstörungen können sich als Schreibblockaden manifestieren, als Einfallslosigkeit (im Verfahren der Addition z.B.) oder als Scheitern beim Versuch das additiv Versammelte zu integrieren und einen aus integrierten Teilen bestehenden Text zu schaffen oder als Probleme beim Entknäueln. Das Relevanzmodell, das Muttermodell hinter und über allen Sachverhaltsdarstellungen, ermöglicht die kontrollierte Addition und stimuliert zu fortgesetzter Integration. Ich habe z.B. noch nie einen Aufsatz über Kadmium geschrieben und bin im Sachbereich „Schwermetalle“ alles andere Hanspeter Ortner 136 als firm, trotzdem könnte ich in relativ kurzer Zeit einen passablen Text darüber schreiben. Weil ich aus der zum Thema vorhandenen Informationsflut aufgrund meiner abstrakten Relevanzschemata bestimmen kann, was sehr relevant ist, was weniger und was gar nicht. Das abstrakte Hat-zu-tunmit-Schema erlaubte es mir, Relevanzen ganz abstrakt einzuschätzen und Relevantes mit Relevantem zu kombinieren; wie gesagt: ganz abstrakt, nicht nur für den speziellen = konkreten Fall des Kadmiums. Das abstrakte Schema erlaubte es mir, Information aus der Lehrbuch- und populärwissenschaftlichen Literatur zu entnehmen, ohne danach wie nach einem Schluck aus einem Hydranten auszusehen. Meine Relevanzschemata würden mich übrigens auch davor warnen, mich über ganz harte wissenschaftliche Literatur herzumachen, weil ich danach wirklich wie nach einem Schluck aus dem Hydranten aussehen würde. Der Gebrauch der Relevanzschemata macht eine/ n SchreiberIn potenziell zu einem Generalisten, zu einem Tausendsassa. Er/ sie kann nun über jedes Thema schreiben - vorausgesetzt, er/ sie kommt an die richtigen Quellen heran und ist bereit den Weg des epistemisch-heuristischen Schreibens zu gehen. 4 Prozessorientierung! Epistemisch-heuristische Verfahren praktizieren! Die strenge Schule des Vertextens durchlaufen! „Was mir fehlt, ist eine übersichtliche Struktur“ - das folgende Beispiel stammt aus dem Schreibtagebuch einer Studentin, die im Rahmen ihres Geschichtsstudiums eine auf den historischen Quellen basierende Hausarbeit über den 2. Punischen Krieg verfassen muss: STOPP! ! ! ! ! Nein, so kann ich auf keine [! ] Fall weiterschreiben. Die Darstellung ist schlicht und ergreifend ein einziges Chaos. Ich schaffe es weder die Gemeinsamkeiten noch die Unterschiede der Quellen klar herauszuarbeiten. Es ist ein Wirrwarr aus Vielem. Es ist nicht konkret genug. Ich muß unbedingt eine andere Form finden, sonst kann ich meine Gedankengänge nicht deutlich genug zum Ausdruck bringen. Was mir fehlt, ist eine übersichtliche Struktur. Aber wie soll ich das machen? [ ...] (Taubert zit. n. Winkler 2003, 129). Diese Studentin steckt in der Phase der Addition. Wenn sie aus der nicht bald herauskommt, wird es ihr gehen wie Alma-Elisa, dem Leitfossil in der Literatur zu den Schreibblockaden: Sie ist ertrunken in der Fülle des Stoffes, auf einen Schluck aus dem Hydranten folgte der nächste ... Die Flut aus dem Hydranten war nicht mehr zu stoppen. Die oben zitierte Schreiberin hat einen Hilferuf ausgestoßen. Man muss ihr klar machen, dass sie den nächsten Schritt wagen muss. Dass sie sich auf ein Verfahren einlassen muss, das langwierig sein kann - wie ein blindes Puzzle. Dieses Verfahren wird in der Schreibforschung als epistemischheuristisch charakterisiert. Die im Material erstickende Studentin muss den (Schriftliche) Darstellung von Sachverhalten als Stimulus 137 langen Marsch des epistemisch-heuristischen Schreibens antreten. Dabei wird sie ihre Denkkraft entwickeln und - davon war aus Platzgründen bisher gar nicht die Rede - ihre Sprachkompetenz. Ja, auch das Sprachvermögen wird gefördert, und zwar dadurch: • dass nicht nur Sachverhaltsmodelle gebildet werden, sondern beim Schreiben gleichzeitig damit auch Modelle der sprachlichen Präsentation von Sachverhalten (das sind die größten Einheiten). • dass neben der begrifflichen auch die sprachliche Basis geschaffen wird für das Umgehen mit Sachverhalten. Vulgo: Es wird der Grundwortschatz für den jeweils zu behandelnden Sachverhalt erworben (das sind die kleinsten Einheiten). • dass die epistemisch-heuristische Prozessorganisation gelernt und dabei die Erfahrung gemacht wird, dass man oft sehr kleine Brötchen backen muss, dass man oft nur Denkschrittchen machen und Formulierungsschrittchen an Formulierungsschrittchen fügen kann. Im Zuge des epistemisch-heuristischen Suchens nach Lösungen werden auf der einen Seite Prozesse des Worterwerbs und der Textbildung stimuliert, auf der anderen Seite werden Prozesse des Denkens, des Umgangs mit Elementen eines Sachverhalts in Gang gesetzt. Das wäre eine Praxis, die es erlaubt, den vollen Mehrwert der Schriftlichkeit zu lukrieren. Denn im extrem zerlegenden epistemisch-heuristischen Verfahren werden die Fähigkeiten ausgebildet, die benötigt werden, um bestimmte Aufgaben anhand bestimmter Sachverhalte zu lösen. Praxis macht aufnahmebereit. 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WOLF, Dagmar (2000), Modellbildung im Forschungsbereich „sprachliche Sozialisation“. Zur Systematik des Erwerbs narrativer, begrifflicher und literaler Fähigkeiten, Frankfurt a. M. (= Theorie und Vermittlung der Sprache 32). Christoph Sauer Umformung, Umwandlung, Umgestaltung: Die Bearbeitung und Optimierung von Texten als „Sehflächen“ 1 Einleitung: Über das Bildliche beim Verarbeiten und Schreiben von Texten In diesem Beitrag befasse ich mich mit Grundlagen der Textevaluierung unter Berücksichtigung der Textaufmachung und der Rolle visueller Elemente. Ich gehe von folgender Minimalkonzeption der Schriftkommunikation aus: Schrifttexte benötigen als unhintergehbare kommunikative Basis die Repräsentation von (propositionalen) Inhalten, um sie in Sequenzen kommunikativ zur Verfügung zu stellen. Dies gilt natürlich nach Maßgabe der angestrebten Zwecke. Nun ist Repräsentation ein weites Feld. Man kann sie rein sprachlich auffassen: als Propositionen der Sprachhandlungen. Sobald man sich aber Schrifttexten zuwendet, ergibt sich, dass das Textäußere selber ebenfalls als ein Mittel der Repräsentation fungiert: Es repräsentiert mindestens die Visualität der „Sehfläche“ (Schmitz 2005) und generell den Aufbau des Textes. Hinzu kommen in den Text eingelagerte Bilder, die schon bei der ersten Begegnung die Aufmerksamkeit der Lesenden automatisch beanspruchen. Diese Bilder repräsentieren spezifische Propositionen und treten somit als Konkurrenten oder Supplemente der Verbalrepräsentationen auf. Die Inanspruchnahme semiotischer Mittel des Repräsentierens - Artefakte, d.h. Visualisierungen und Textdesign - erfolgt somit in doppelter Weise: als Aufmachung (Textäußeres oder Textbild) und als Bilder (Illustrationen, Diagramme, Schemata, Fotos), die zugleich einen spezifischen Beitrag zum Textinhalt und zu den Textfunktionen leisten. Geht es um Textevaluierung und -optimierung, dann liegt es in dieser Konsequenz der Schriftkommunikation, Textbild und Bilder systematisch einzubeziehen. Dazu stelle ich hier zwei Modelle vor, wie man (eigene und) fremde Texte bearbeitet. Schreiben, sagen wir, ist immer auch Gestalten (Schriver 1997; Walker 2001). Unter die Textbeurteilung auf Zweckhaftigkeit fällt daher auch die des Textbildes, der „Sehfläche“. Textoptimierung zielt auch auf Umbzw. Neugestaltung. Denn Textoptimierung ist mehr als Verbesserung von Formulierungen (Umformung) oder bessere Einteilung des Stoffes (Umwandlung). Texte wollen in ihrer Materialität und Visualität ernst genommen werden, Christoph Sauer 142 nicht nur als „Träger“ von Inhalten (Gross 1994; Sauer 1997; 1999; Heijnk 1997; van Leeuwen 2003; 2005; Stöckl 2004a; Sandig 2006). 2 Schriftliches kommunikatives Handeln und seine multimodale Gestaltung Seit in den Sand gekratzten Zeichnungen, die zu gesprochenen (und später geschriebenen) Worten gehörten, begleitet das Visuelle die Schriftkommunikation (Tufte 1997). Unter der Perspektive des Verständlichmachens (Biere 1989) und der Kommunikationsoptimierung (Strohner/ Brose 2002) treten verschiedene Traditionen des Nachdenkens über textliche und visuelle Funktionalität in ein Gespräch miteinander ein: • Didaktik der Wissensvermittlung (Comenius 1658; Mandl/ Levin 1989; Weidenmann 1994; Ballstaedt 1997), • Rhetorik mit „Memoria“ und „Actio“ (Ueding 1996; Sauer 2005a), • Textlinguistik (wenn auch mit wenig Neugierde aufs Textäußere: Adamzik 2004; siehe aber Sauer 2004) und Stilistik (Sandig 2000; 2006), • kognitive Untersuchungen der Textverarbeitung (Groeben 1982; Gross 1994; Molitor-Lübbert 1996; Sadoski/ Paivio 2001; Herrmann 2005), • Semiotik (Raible 1991; 1997; Nöth 2000), • Document Design (Schriver 1997; Tufte 1997; Bucher 2004), • Typografie (Walker 2001; Stöckl 2004b; Gorbach 2005), • Bildwissenschaft (Ballstaedt 1997; Straßner 2002; Weidenmann 1993; Sachs-Hombach 2005), • Textverständlichkeitsforschung (Langer u.a. 1974; Groeben 1982; Groeben/ Christmann 1989; Sauer 1995; Christmann 2002; Strohner/ Brose 2002; Göpferich 2001), • schließlich die Kombinatorik mehrerer Modi, unter dem Stichwort „Multimodalität“ (Kress/ van Leeuwen 1996; 2001; Issing/ Klimsa 1997; Stöckl 2004a; van Leeuwen 2005; Sauer 2005b; 2007). Schriftkommunikation ist immer zweckbezogen (und in dieser Hinsicht funktional bestimmt), im Prinzip semiotisch komplex angelegt (also unter Verwendung des Modus-Konzepts multimodal) und „situated“ (auf Kommunikationssituationen mittels Akkomodierung abgestimmt und in ihnen verankert). Drei Analyseverfahren für Texte und Diskurse bieten sich an (Abb. 1). Ihre Schwerpunkte verbinden die drei wesentlichen Einfallswinkel der Kombination des Textuell-Inhaltlichen mit dem Gestalterisch- Visuellen. Sie werden hier angeführt, weil sie Bearbeitungen von zu optimierenden Texten unter der Leitvorstellung der Leseaufgabenunterstützung und der äußeren Umgestaltung in den Blick nehmen. Umformung, Umwandlung, Umgestaltung 143 Abb. 1: Drei Methoden der Textanalyse für textuell-visuelle Optimierung Critical Discourse Analysis versucht vor allem, in sprachlich-semiotischen Äußerungen bestimmte gesellschaftliche Praktiken aufzuzeigen, wenn Diskurse initiiert und verstanden werden. Überdies zeigt sie auf, wie Diskurse in größere Zusammenhänge, die so genannten „soziokulturellen Praktiken“, einmünden, von denen sie einerseits profitieren, wie sie andererseits diese instandhalten und weitertreiben. Die wechselseitige Verschränkung zwischen sprachlich-semiotischen Handlungen (mit Semiotik hält man sich freilich zurück) und gesellschaftlichem Umfeld macht den Reiz der Analyse aus. Für unser Thema „Textoptimierung“ einschlägig ist die Erwartung der „conversationalization of public discourse“, d.h. der Veralltäglichung und Banalisierung formeller Sprachgebungen, das Borgen bei Erfolgskonzepten und die Anpassung an das, was so üblich ist, z.B. in den „Medien“ (journalistische Produkte im weitesten Sinne, vgl. Schmitz 2004). Multimodal Discourse Theory (auch Social Semiotics genannt) richtet sich in erster Linie auf die „semiotischen Ressourcen“, mit denen Diskurse bestückt werden. Dabei geht es um Zusammenhänge zwischen verschiedenen Modi (Kommunikationsformen oder -weisen), die sich nicht eins zu eins auf Medienmerkmale abbilden lassen. Im Mittelpunkt steht die Gleichrangigkeit aller Modi gegenüber einer einseitigen Bevorzugung der verbalen Kommunikation (Stöckl 2004a). Visuelle, verbale und gestalterische Formen verhalten sich spezifisch zueinander und müssen im Einzelnen analysiert werden. Einschlägig für unser Thema sind Text-Bild-Konstellationen (Sandig 2000; Straßner 2002), Typografie (Stöckl 2004b; Gorbach 2005), Infografiken (Knieper 1995) sowie Thematisierungen der Materialität von Kommunikation überhaupt (Sauer 1995; 2004; Schmitz 2004). Wissensver- Christoph Sauer 144 mittlung (Ballstaedt 1997) ist eine zentrale Kategorie, wobei auch stilistische Varianten (Sandig 2006) berücksichtigt werden sollten. Funktionale Pragmatik ist eine Sprachhandlungstheorie, die schon frühzeitig die Bedeutung der Sinne beim sprachlichen Handeln ernst genommen hat. Der wesentliche Beitrag zur Theoriebildung besteht darin, dass sprachliche Handlungsformen sehr viel differenzierter wahrgenommen werden als etwa in der Sprechakttheorie. Die Funktionale Pragmatik richtet sich vor allem auf die genaue Analyse von „Prozeduren“, in denen die sprachinternen Funktionen beim sprachlichen Handeln verrechnet werden. Neben dem Diskurs gibt es immer den „Diskurs-Schatten“ (Ehlich 1994b), der die notwendige Kontextualisierung schafft. In Weiterentwicklung von Bühlers Ansätzen werden nunmehr fünf Prozeduren - mit Realisierungsmitteln auf fünf „Feldern“ - unterschieden, die auf unterschiedliche Weise für die Abstimmung der laufenden Kommunikation auf die Situation sorgen und damit die Akkomodierung und Verankerung der Diskurse realisieren. Einschlägig für das Thema „Textoptimierung“ sind Veränderungen der fünf Prozeduren beim Medienwechsel, zunächst von angesichtiger Kommunikation auf Schrift, dann auch auf Text-Bild-Kombinationen (Sauer 2001a; 2001b). Wie die Situationsverankerung geschieht, das eben muss untersucht werden. Es gilt der Ansatz der Leseaufgabenunterstützung: Gelungene Texte unterstützen die lesende Verarbeitung und stehen in einem günstigen Verhältnis zu den Leseerträgen (Sauer 1995; 2004). Sprachliches tritt dabei immer in Kombination mit anderen Modi auf und wird zum Teil substituiert. Der Zusammenhang von sprachlichen Prozeduren, Akten, Handlungen und Diskursen wird in Abb. 2 verdeutlicht (in Anlehnung an Ehlich 1993). Allerdings gehe ich auch schon auf den Körper ein: Er ist im Sinne Bühlers (1934) nicht nur für die Origo maßgeblich, also vor allem für deiktische Elemente, sondern er bezeichnet zugleich den Ort von sinnlichen Wahrnehmungen unterschiedlicher Art, ohne die semiotische Inanspruchnahmen kaum mit kommunikativen Zwecken kombiniert werden können. Ohne die Sinne, die ihren Sitz im (oder am) Körper haben, sind die verschiedenen Modi a, b usw. weder wahrnehmbar noch intelligibel. Die Abbildung ist auf folgende Weise zu lesen: Sprachliche Handlungen sind auf aktive und passive körperbedingte Wahrnehmungsoptionen angewiesen (was in den gestrichelten Linien zum Ausdruck kommt). Sprachliche Handlungen bilden Diskurse und/ oder Texte. In Diskursen treten andere Handlungen zu den sprachlichen hinzu: visuelle, musikalische usw. Eine besondere Rolle spielen Schrifttexte, schlägt sich in ihnen doch eine „spezifische Praxis“ nieder. Sie benötigen nämlich - anders als Diskurse - spezifische körperliche Maßnahmen (des lesenden Wahrnehmens, des Umblätterns usw.), beruhen kulturgeschichtlich auf Disziplinierung (Bewegungskoordination, Zwänge, Konventionen usw.) und erweitern die Ausdrucksseite sprachlicher Handlungen systematisch um Dimensionen des Visuellen und der Textaufmachung. Dass Texte in dieser Weise zu den Umformung, Umwandlung, Umgestaltung 145 anderen Medienrepräsentationen quer stehen, bewirkt, dass sie von Diskursen borgen, wie umgekehrt Diskurse von Texten profitieren. In nuce liegt hier eine multimodale Kommunikationstheorie vor: Sie wurde vor allem hinsichtlich Mündlichkeit und Schriftlichkeit entfaltet, harrt jedoch noch ihrer weiteren Ausarbeitung in Richtung Visualität (Sauer 2004; 2005b; 2005c; 2007). Jedenfalls muss die Untersuchung der Leseaufgabenunterstützung mit diesen Handlungsbezügen und Diskursverflechtungen rechnen. Abb. 2: Zum Verhältnis von Prozeduren, sprachlichen Handlungen, Diskursen und Texten Die fünf Prozeduren realisieren Bühlers Grundfunktionen (vgl. Abb. 1). In ihnen sind die sprachinternen Zwecke situationsbezogen ausgearbeitet; sie steuern die Verankerung (Hoffmann 2003; Ehlich 1994a; Sauer 2002). Umgekehrt gilt, dass inadäquate Realisierungen zu Kommunikationsproblemen führen können. Eine prozedurale Analyse hat damit zu rechnen, dass mehrere Modi im Spiel sind, und wendet sich auch diesen zu: • So dienen deiktische Prozeduren (Elemente) der Fokussierung der Aufmerksamkeit der Beteiligten; sie werden in oraler Kommunikation durch Gesten und im Schrifttext durch Platzierungen, Komposition, Farbgebung u.Ä. ersetzt (van Leeuwen 2003). Auch visuell werden deiktische Fokussierungen realisiert, als indexikalische Elemente in Bildern. • Nennende Prozeduren stellen das sprachliche Material der Propositionen bereit, um es situations- und sequenzgemäß in sprachliches Wissen zu Prozeduren illokutiver Akt propositionaler Akt Äußerungsakt sprachliche Handlung Diskurs in Modus b Diskurs in Modus a Körper Text Nennende, deiktische, operative, expeditive und malende Prozeduren sprachinterne Zwecke sprachexterne Zwecke T ex t e bor gen von D isk u r sen, D isku r se pr of it ier en von T ex t en Christoph Sauer 146 überführen. Sie sind oft durch Bilder ersetzbar: Diese stellen das Inhaltsmaterial visuell zur Verfügung, „worum es in einem bestimmten Augenblick geht“. • Der stimmliche Ausdruck ist essentiell, weil die Stimme kein neutrales Äußerungsorgan ist, sondern Bedeutungsanteile hinzufügt: stimmliche Modulationen signalisieren Gleichgestimmtheit oder deren Gegenteil (malende Prozedur). In Schriftkommunikation übernimmt die Textaufmachung diese Teilfunktion: Sie trägt zur Modulierung bei (van Leeuwen 2005). Auch stilistisch-visuelle Elemente können die Funktion übernehmen (Sandig 2000) oder durch Darstellungskonventionen (z.B. Realismus) Attitüden kommunizieren. • Abrupte Unterbrechungen, die durch expeditive Prozeduren (Vokative, Imperative und Interjektionen) erzeugt werden, werden in Texten in nennende Prozeduren und/ oder typografische Möglichkeiten transformiert. Visuelles überhaupt ist expeditiv, weil es vor jeder inhaltlichen Zwecksetzung Zuwendung (also eine Art Unterbrechung) erzwingt. • Operative Prozeduren regeln die Strukturierung der Sprachmittel im komplexen Zusammenspiel: Grammatische Relationen operieren relativ autonom und fallen in laufender Kommunikation eigentlich erst auf, wenn Undeutlichkeiten auftreten (was zu einer rekursiven Art der Verarbeitung führt, vgl. Herrmann 2005). Operative Prozeduren sind sehr genau auf die Leseaufgabenunterstützung zu beziehen. Die Verarbeitung verbalisierten Wissens und das Alternieren mit visuellem Wissen insbesondere wirken sich vor allem operativ aus. So gehen Kress/ van Leeuwen (1996) sogar von einer „visuellen Grammatik“ aus, die operativ funktioniert (vgl. auch Sandig 2000; Stöckl 2004a). Da es keine Kommunikation ohne Medium und ohne charakteristische Modi gibt - die sich wiederum aus unterschiedlichen semiotischen Ressourcen speisen -, muss jedes kommunikative Handeln auf spezifische Medienmerkmale bezogen sein. Was in einer Kommunikation eingebracht (dargestellt) wird, wird meist durch die nennende/ symbolische Prozedur geleistet und dabei mit bestimmten operativen und deiktischen Prozeduren kombiniert (Morpho-Syntax). Wie es jedoch realisiert wird, hängt von den Erfordernissen der Kommunikation und ihrer Qualität ab; die anderen Prozeduren treten hinzu - expeditiv zum direkten Eingriff in die laufende Verarbeitung (z.B. Farbkästchen im Text oder andere auffallende typografische Elemente), malend unter Einbezug von emotionalen Attitüden (z.B. durch Zeichnungen oder Fotos im Text), deiktisch durch verbale und visuelle Fokusbewegungen. So sorgt der Diskurs-Schatten, die Gesamtheit der Mittel der Verankerung der laufenden Kommunikation in der Situation und ihre Akkomodierung, für die Verarbeitung des verbalisierten, visuellen und sonstigen Wissens (sprachinterne Funktionalität) und passt dieses an die Zwecke an (sprachexterne Funktionalität, das Wofür). Der Diskurs-Schatten lässt sich daher als Umformung, Umwandlung, Umgestaltung 147 Unterstützung der Leseaufgaben betrachten: als „guidance“ (Sauer 2007) oder spezifische „Moderationsleistung“ (Bucher 2004). Medienmerkmale und Konstellationen von Modi und semiotischen Potenzialen müssen berücksichtigt werden. Ihre systematische Erforschung ist jedoch noch ein Desiderat. Critical Discourse Analysis, Multimodal Discourse Theory und Funktionale Pragmatik leiten gemeinsam zur Reflexion an: Immer geht es dabei um das Was, das Wofür und das Wie eines gestalteten (d.h. visuell und materiell reichhaltigen) Textes. Optimierungsüberlegungen beziehen sich somit auf diese drei Dimensionen bzw. sollten sich auf sie beziehen. 3 Verstehensaufwand, Bündniskonstellation, Text als „Sehfläche“ Verständlichkeit ist keine Eigenschaft des Textes, sondern eine Konstellation, die VerfasserInnen, Lesende, Umgebung, Rezeptionssituation, gängige kulturelle Üblichkeiten u.Ä. umfasst (Biere 1989). Unter Textoptimierung versteht man meist die Verringerung des Verstehensaufwands der Zielgruppe: Deren Bemühungen um einen Text sollen in einem erträglichfunktionalen Verhältnis zu den erwarteten Erträgen der Lektüre stehen (Göpferich 2001). Damit wird die Frage der Verständlichkeit an die Leseaufgabe gekoppelt (Schriver 1997; Sadoski/ Paivio 2001; Strohner/ Brose 2002). Daraus lässt sich die Vorstellung destillieren, dass Schreibende und Lesende Bündnispartner sind. Das hat jedoch weitreichende Konsequenzen. Das Schreiben wird ein Schreiben für LeserInnen, und alle AutorInnen, die zeigen wollen, was sie wissen und wie gut sie das alles aufschreiben können, sind gehalten, sich der neuen Perspektive zuzuwenden. Wer für LeserInnen schreibt, hat sich auch darum zu kümmern, dass diesen Lesenden kein unangemessener Aufwand entsteht. Um die Angemessenheit geht allerdings der Streit. Er hängt u.a. von der Zielgruppe ab: Was sie schon weiß, was sie wissen will, welche Lektüren vorausgingen, welche Textarten bekannt sind, welche Zwecke üblicherweise verfolgt werden usw. Für TextverfasserInnen beinhaltet die Bündnisvorstellung einen Perspektivenwechsel; wer überwiegend für sich selbst schreibt, bekommt nunmehr nolens volens einen Alliierten. Für Textbeurteilung gilt diese Allianz umso stärker. Schreiben für LeserInnen bedeutet auch Gestalten für leserseitige Zwecke. Da jeder Text zunächst eine zweidimensionale „Lesefläche“ (Gross 1994; Schriver 1997) oder „Sehfläche“ (Schmitz 2005) ist, steht die Gestaltung dieser Fläche in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der Wahrnehmung des Textes und vor allem der Verteilung der Informationsportionen über diese „Lesefläche“. Diese kann mehr oder weniger leseaufgabenunterstützend realisiert sein. Es geht darum, den Zugang zum Text und seinen Inhalten einleuchtend zu gestalten, sodass der Leseaufwand in einem erkennbaren Verhältnis zum Nutzen oder Ertrag erscheint. Zusatz- Christoph Sauer 148 texte, Kästen, farblich unterlegte Passagen sind gängige Maßnahmen, eine Gliederung schon im Textäußeren zu signalisieren. Dabei stellt sich auch die Frage nach dem, was i.A. so gemacht wird und was Lesende daher erwarten können. Angesagt ist funktionales Denken auch für die Textgestaltung (die „composition“, vgl. van Leeuwen 2003) - und natürlich für die Visualisierungen. 4 Sechs-Felder-Modell der Textverständlichkeit Nunmehr sollen die Aufgaben der Textbeurteilung, der Bildbeurteilung sowie der Überarbeitung von Text und Visualisierungen im Sinne der optimierten Leseaufgabenunterstützung angegangen werden. Vorgeschlagen werden zwei Modelle, die sich bewährt haben (Sauer 1995; 1997; 1999; 2004; 2005b). Aus Platzgründen können leider keine Anwendungsbeispiele vorgeführt werden; der Aufsatz beschränkt sich auf die Darstellung und Begründung der Modelle und skizziert kurz die Arbeitsweise. Abb. 3: Sechs-Felder-Modell der leseaufgabenunterstützenden Textverständlichkeit Es geht darum, das Zusammenspiel von sprachlichen und semiotischen Mitteln zur Realisierung der Textzwecke zu überprüfen und anschließend Umformung, Umwandlung, Umgestaltung 149 eventuell zu modifizieren: durch Umformung, Umwandlung und Umgestaltung. Viele Arbeiten zur Textevaluierung beschränken sich auf die Umformung und schlagen Vereinfachungen, Entzerrungen und neue Formulierungen vor (Langer u.a. 1974; Groeben 1982; Groeben/ Christmann 1989). Einige gehen auch weiter und wenden sich Prozessen der Umwandlung zu, vor allem einer neuen Aufteilung oder Portionierung des Inhalts (Heijnk 1997; Göpferich 2001; Christmann 2002). Mit der Umgestaltung jedoch, für die eine Bestandsaufnahme der Visualität des Textes in all seinen Facetten erforderlich ist, beschäftigen sich erst wenige Ansätze (Mandl/ Levin 1989; Ballstaedt 1997; Kress/ van Leeuwen 1996; Molitor-Lübbert 1996; Sandig 2000; Bucher 2004; Stöckl 2004a). Sie leiten dazu an, bestehende Texte radikal anders aussehen zu lassen und die Leseaufgabenunterstützung auch vom veränderten Textäußeren anzugehen. Schon Comenius (1658) hat es uns vorgemacht; es gilt nun, nicht hinter ihn zurückzufallen. In Abb. 3 (oben, Text als „Schirm“) werden zweimal drei Kriterien eingeführt, mit denen bestehende Texte beurteilt werden können. Es handelt sich um ein so genanntes Expertenmodell, d.h. ein Modell, das Textbeurteilende anwenden. Der eigentlichen Beurteilung geht eine Bestimmung der Textfunktionen voraus; dabei berücksichtigt man das Genre und andere Erwartungen, sofern sich Indikationen finden lassen. Die Textfunktionen bilden die Basis für die Beurteilung der Verständlichkeit als Unterstützung von Leseaufgaben. (Im Anschluss an die Beurteilung kann man neue Versionen entwerfen; deren Überprüfung mit Versuchspersonen böte sich an; vgl. Christmann 2002). Die sechs Kriterien sind so angeordnet, dass sie ein „U“ bilden, dem die Bearbeitung folgen soll. Links befinden sich Kriterien zum Textbild, zur äußeren Gestalt des Textes, rechts befinden sich Kriterien zum Textinhalt. Oben stehen die Bezeichnungen für die globale Textebene (= Gesamttext), in der Mitte für die mittlere (= Abschnitte, Paragrafen) und unten für die lokale Ebene (= Satzgebilde, Sätze und Wörter). Das Modell leitet dazu an, die Textbeurteilung mit dem globalen Äußeren zu beginnen, über das mittlere bis zum lokalen Äußeren zu gehen und danach vom lokalen Inhalt über den mittleren zum globalen Inhalt zu gelangen. Bei jeder Ausprägung - oder Position im Modell - erfolgt eine Bestandsaufnahme. Deren Integration gestattet eine Aussage über die Verständlichkeit des Textes (d.h. seiner Qualität der situativen Verankerung und der funktionalen Inhaltsangemessenheit). Ein Text ist im Rahmen einer definierten Leseaufgabe zugänglich, wenn die äußere Anordnung des Textbildes die Verarbeitung des Inhalts erleichtert: die Aufmachung, die Aufteilung über die Seiten, die Überschriften und sonstigen Markierungen („Textdesign als Lesehilfe“, Heijnk 1997). Ein Text ist nachvollziehbar, wenn die sprachlichen Mittel und ihre globale Organisation den Aufbau einer Bedeutungsstruktur ermöglichen (Entnahme des funktionalen Sinnes). Ein Text ist sowohl zugänglich wie Christoph Sauer 150 nachvollziehbar, wenn Textbild und sprachlich-inhaltliche Vermittlung einander verstärken. Treten beide hingegen auseinander, so ist die Unterstützung der Leseaufgabe(n) nicht ohne weiteres mehr gewährleistet. Im Idealfall sollte ein Text, auf Armlänge gehalten (sodass man nicht lesen kann), schon vom Textbild her einen Eindruck über den zu erwartenden Inhalt bieten. So griffe eins ins andere. Ein Text ist überschaubar, wenn Sequenzierungen äußerlich signalisiert werden, und gestaffelt, wenn diese äußeren Signale auch inhaltlich sinnvoll sind, sich jedenfalls nicht widersprechen. Es kommt schließlich häufig vor, dass Absätze, die man sehen kann, kaum inhaltliche Entsprechungen haben (zu lang, zu kurz oder falsch unterteilt). Somit ist diese mittlere Ebene durchaus prekär, wenn Lesenden mangelnde Unterstützung zuteil wird. Generell gilt, dass die Portionierung des Inhalts und seine (Text-)Gestalt adäquat seien. Ein Text ist leserlich, wenn alle lokalen Einheiten gut wahrnehmbar sind, kontrastreich und ohne irreführende (mikrotypografische) Signale. So ist die reichliche Verwendung von „bullits“ irritant, weil sie hinsichtlich spezifischer Funktionen nicht differenzieren. Ein Text ist verstehbar, wenn die kognitive Verarbeitbarkeit der lokalen Einheiten (vor allem der Sätze) gewährleistet ist. Charakteristische Probleme ergeben sich immer dann, wenn die Aktivierung des leserseitigen Vorwissens unvollständig, lokal gestört oder widersprüchlich ist. Die lokale Ebene ist der Tummelplatz der meisten Verständlichkeitsmodelle. Es bedarf jedoch eines systematischen Einbezugs aller anderen Ebenen, um zu einer funktional angemessenen Verständlichkeitsaussage zu gelangen. Insbesondere müssen neben Form- Inhalts-Korrespondenzen Akkomodierung und Verankerung betrachtet werden. 5 Vier-Felder-Modell der Bildverständlichkeit Wenn man sich mit der äußeren Seite des Textes, seiner Gestaltung beschäftigt, liegt es nahe, auch darüber nachzudenken, wo Textpassagen von Visualisierungen begleitet oder gegebenenfalls von ihnen ersetzt werden sollen. Das macht die Textoptimierung etwas komplexer, als sie ohnehin schon ist. Zunächst geht es jedoch darum herauszufinden, wie die bestehenden Bilder (das Visuelle im weitesten Sinne) überhaupt in den funktionalen Rahmen passen. Sie müssen mit der gleichen Sorgfalt beurteilt werden wie die Texte. Man sollte noch vorausschicken, dass Bilder i.A. die mittlere Ebene darstellen. Ich betrachte sie daher als Platzhalter für Abschnitte oder - je nach Textlänge - Paragrafen. Insofern enthalten die mittleren Ausprägungen des Textmodells, also Überschaubarkeit und Gestaffeltheit, immer auch schon Hinweise zur möglichen Rolle von Bildern. Aus praktischen Gründen schlage ich jedoch vor, alle Bilder Stück für Stück Umformung, Umwandlung, Umgestaltung 151 zu beurteilen und so die Bildverständlichkeit praktisch-pragmatisch von der Textverständlichkeit zu unterscheiden. Abb. 4: Vier-Felder-Modell der funktionalen Bildverständlichkeit Eine Visualisierung ist erkennbar, wenn sich die Elemente, aus denen sie aufgebaut ist, wahrnehmen und unterscheiden lassen, wenn sie nicht zu dicht beieinander stehen, hinreichend Kontrast und eine angemessene Größe haben: Punkte, Kreise, Kästchen, Ovale, Linien, Kurven, Pfeile, Pixels, Farben, Schattierungen u.Ä. Sie ist informativ, wenn diese Elemente in ihrer Anordnung und Zuordnung einen funktionalen Sinn erzeugen - wenn also beispielsweise Pfeile, Verbindungslinien oder ähnliche Formen nicht jeweils Verschiedenes bedeuten. Wenn Informativität und Erkennbarkeit gewährleistet sind, kann eine einprägsame (d.h. im Gedächtnis haftende) und deutliche (d.h. ihre Funktion inhaltlich erfüllende) Visualisierung entstehen. Einprägsam ist ein Bild, wenn es eine einzigartige Form hat und nicht so wie alle anderen Bilder aussieht. Bei realistischen Abbildungen - anders als bei logischen Bildern - wird der Einsatz des Modells schwieriger, weil sich dann semiotische, ästhetische und Wahrnehmungsdimensionen überlagern können, die jeweils komplex strukturiert sind (Ballstaedt 1997). Fotos gelten als funktional schwierig, weil sie häufig mehr repräsentieren, als im inhaltlichen Zusammenhang oder Rahmen erwünscht ist, oder weil sie nicht die „Sache“ selbst abbilden können, höchstens ihren Kontext, die Beteiligten usw. (van Leeuwen 2005). Das Modell soll dazu anleiten, jede Visualisierung einzeln zu beurteilen. Dabei bietet sich an, für jedes Bild auch eine spezifische inhaltliche Funktion zu benennen bzw. zu finden. (Bildunterschriften sind in dieser Hinsicht meistens einschlägig.) Eine solche Vorgehensweise ist geeignet, Aspekte des Visuellen zu berücksichtigen, die man sonst vielleicht übersehen würde. Es empfiehlt sich, zunächst die Funktion zu benennen und dann erst zu überprüfen, wieweit sie erfüllt oder nicht erfüllt ist. Warum man überhaupt visualisiert, dazu gibt es eine reiche Literatur. Ein paar Beispiele: Christoph Sauer 152 Molitor-Lübbert (1996) 1. motivieren und stimulieren 2. veranschaulichen 3. räumlichen Überblick bieten 4. Informationen verdichten 5. mentale Modelle aufbauen Weidenmann (1994) 1. konkretisieren 2. Bezugsrahmen geben 3. interpretieren durch (visuelle) Ergänzungen 4. Behaltenserleichterung Ballstaedt (1997) 1. Auflockerung/ Anreize zum Hinschauen 2. Abbildungen als Ersatz für abwesende Realität 3. Erleichterung räumlicher Identifikation und Zuordnung 4. Ganzheitliche Erfassung durch Verdichtung Abb. 5: Beispiele für Funktionen von Visualisierungen Das Vier-Felder-Modell der Bildverständlichkeit trägt dazu bei, die Verständigung über Piktoriales in Textbeurteilung und -bearbeitung zu integrieren. Visuelle Formen können Leseaufgaben unterstützen, wenn sie, wie textuelle Passagen, in der Rezeptionssituation verankert sind. D.h., dass die sprachintern-funktionalen Prozeduren durch entsprechende visuelle „Prozeduren“ realisiert werden. 6 Praktische Bearbeitungsphasen: umform(ulier)en, umwandeln, umgestalten Zunächst geht es um die Analyse eines bestehenden Textes - noch vor der möglichen Verbesserung und Veränderung. In die Analyse müssen schon die Erwartungen eingehen, die man hinsichtlich der Optimierung hat. Der Text muss also als „antastbar“ angesehen werden können; „unantastbare“ Texte eignen sich eher weniger oder verlangen umfängliche Vorsichtsmaßnahmen. Ich schlage folgende Schritte für eine funktionale Analyse vor: (1) Festlegung der Zielgruppe und Bestimmung des zielgruppentypischen Vorwissens (2) Strukturierung des Textinhalts (inhaltliche Organisation und Sequenzierung) und Überprüfung der Reichweite der Formulierungen (wie die Inhaltsteile realisiert werden). Dabei sollte man alle Abschnitte oder Passagen einbeziehen, ihre jeweilige Funktion benennen und die charakteristischen Beobachtungen zu den gewählten Formulierungen festhalten. Direkt danach erfolgt die Anwendung des Sechs-Felder- Modells. (3) Festlegung von Funktionen der Visualisierungen. Was sind die jeweiligen Visualisierungszwecke, was sind ihre „Inhalte“? Hierzu Umformung, Umwandlung, Umgestaltung 153 gehört auch, dass bestimmt wird, welche Textteile eigentlich visualisiert wurden und warum. (4) Im direkten Zusammenhang mit Schritt 3 geht es nunmehr darum, herauszufinden, welche Textbestandteile zwar nicht visualisiert sind, aber eventuell hätten visualisiert werden können. Aus dem, was visualisiert wurde, ergeben sich mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit die möglichen Visualisierungsgründe. (5) Art der Visualisierung (Typ, Genre, Stil): realistisch/ naturalistisch, schematisch, abstrakt, (un)wahrscheinlich, wissenschaftlich, populär, humoristisch (Cartoons), usw. (6) Beziehung zwischen Textumgebung und Visualisierung: Ist die Information in Text und Bild gleicher Art (redundant)? Ist die Information in Text und Bild verschieden (komplementär), worin trägt das eine oder andere zur Gesamtbedeutung bei? Wenn inhaltliche Unterschiede bestehen: Welche Information dominiert, und welche andere Information ist somit supplementär? „Spannung“ zwischen Text und Visualisierung (Juxtaposition)? Übersicht über die Textorganisation (visuelle Vorstrukturierung, advance organizer)? (7) Qualität der Visualisierung, Überprüfung anhand des Vier-Felder- Modells. (8) Einschätzung der Verteilung visueller Elemente über die „Sehfläche“ unter Zuhilfenahme der „Composition“-Kriterien von Kress/ van Leeuwen (1996), gemäß Abb. 6: Abb. 6: The zones of two-dimensional semiotic space (rechts - links, Mitte - Rand, oben - unten) Mit diesen acht Schritten hat man sich eine Basis für die Analyse erarbeitet. Anschließend ist zu bestimmen, wo der Nachdruck bei möglichen Verbesserungen liegen sollte. Umformung: Unter Umformung fällt, dass wir spezifische Formen finden müssen, die dem Medium optimal entsprechen. Auch das Umformulieren gehört in diesen Zusammenhang, weil die Akzeptanz von Formulierungen sich in der neuen Fassung ändert. Schließlich sind Umvisualisierungen notwendig, weil sich visuelle Formen verbessern lassen und weil ihnen Christoph Sauer 154 generell mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden muss. Vereinfachungen bieten sich oftmals an; sie können die Neugierde der Lesenden jedoch zum Erlahmen bringen. Vereinfachung um jeden Preis ist daher zu vermeiden. Umwandlung: Die Umwandlung bezieht sich in erster Linie auf inhaltlichstrukturelle Gegebenheiten. Es ist unbedingt erforderlich, inhaltlichfunktionale Kriterien zu entwickeln und dann zu applizieren, um Bedeutungsähnlichkeit zu gewährleisten, und zwar in der ganzen Komplexität der Erstfassung. Im Hinblick auf die Sequenzierung des neuen Textes richtet sich der Blick auf die Unterscheidung von Haupt- und Nebenaufgaben und die Rekonstruktion deren interner Relationen. Dabei kann teilweise tief in den ursprünglichen Text eingegriffen werden. In der Regel kommt es zu einer Umstellung von Passagen (und im Vollzug dann zur Anpassung an den neuen Kontext). Eine besondere Rolle dabei können verschiedene Hinzufügungen spielen, die die Verankerung der Textäußerungen in der Lesesituation verbessern. Visuelle Hinzufügungen sind möglich. Umgestaltung: In der Umgestaltung nehmen wir Wahrnehmungsprozesse ernst. Das lesende Verarbeiten (in Abhängigkeit von der spezifischen Leseaufgabe) und die Notwendigkeit des Sequenzierens müssen miteinander in Übereinstimmung gebracht werden. Dazu zählt auch, dass sich die angestrebte Übereinstimmung nicht nur auf der Makroebene abspielt, sondern auch auf darunter liegenden Ebenen, bezogen auf Teilfunktionen (Segmente, Abschnitte, Absätze). Dabei sollten auch gänzlich neue Formen ausprobiert werden, in denen ein funktionales Innovationspotential schlummert. 7 Schlussbetrachtungen zum Bild Texte, in denen es um Landschaften geht, haben heutzutage meistens die Wahl zwischen verbaler Beschreibung und fotografischer Darstellung (eventuell auch noch in Stichen und Zeichnungen). Vor derselben Wahl steht auch der/ die TextbearbeiterIn. Statt die Qualität der Landschaftsbeschreibung selber unter die Lupe zu nehmen, kann er/ sie beschließen, die Passage durch ein Foto zu ersetzen. Das ist ein Verfahren der Substitution. Kann man aber eine Landschaftsbeschreibung überhaupt durch ein Foto ersetzen? Man kann, wenn die Landschaft bzw. ihre Beschreibung Thema ist. Wenn es aber um solche Substitutionsverfahren geht, dann stellt sich die Frage, ob ein Foto in gleicher Weise eine propositionale Bedeutung repräsentieren kann. Man gerät hier rasch in eine prinzipielle Diskussion. Was ist die Bedeutung einer Landschaft? Welche Bedeutung hat das Licht, in das diese Landschaft getaucht ist? Reicht diese Bedeutung weiter als die, den Standort des Fotografen und die Aufnahmezeit zu indizieren? Umformung, Umwandlung, Umgestaltung 155 Abb. 7: Winterlandschaft im Werdenfelser Land, am Spätnachmittag ( © C. Sauer 2007) Das Foto wurde von mir leicht bearbeitet (mehr Kontrast und grau statt Farbe). Ich stellte mir vor, es stehe in einem Text zum Thema „Dunkelheit und Licht in den winterlichen Alpen“. Dann führt es unmittelbar vor Augen, wie die Lichtverhältnisse sind; es kürzt ausführliche(re) sprachliche Darlegungen ab und ersetzt eine längere Textpassage. So weit, so gut. Die Funktion des Fotos ist eine Art von Beweis für die winterliche Lichtqualität. Zugleich aber verstrickt es die Lesenden in einen ästhetischen Diskurs. Denn das Foto bedient sich einer gängigen Weise der Winterlandschaftsdarstellung, es ist ein Zitat einer idyllischen Darstellungstradition: Dabei handelt es sich um eine - möglicherweise im Klimawandel verschwindende - „soziokulturelle Praxis“ (Fairclough 1995; 2001). Da ich das winterliche Licht nicht ohne Kontext fotografisch repräsentieren kann, muss ich riskieren, dass das Repräsentierte mehr ist, als ich es funktional gesehen gerne hätte. Nach dem Vier-Felder-Modell ist es erkennbar und wegen des Kontrasts zwischen Vordergrund und Hintergrund und Form der Wolken auch einprägsam. (Man könnte es mit ein paar Strichen leicht nachzeichnen.) Inhaltlich ist es informativ, weil seine Bestandteile keine Zweifel hervorrufen. Aber ist es auch deutlich? Kann ich dem Foto einen globalen Sinn entnehmen? Ich denke, ja. Es repräsentiert nicht nur, was ich zeigen wollte, es ist auch im Leseprozess verankert, weil es alle Bedeutungselemente, die zum Verstehen notwendig sind, mitbringt und nicht zum Rätseln nötigt. Es ist prozedural adäquat und repräsentiert punktgenau das in diesem Augenblick benötigte Wissen, ohne „Umweg“ über Sprache. (Durch Hinzufügung von Pfeilen mit Kurzbeschreibungen - oder „labels“ - könnte ich das sehende Erarbeiten noch genauer steuern und unerwünschte Assoziationen weitgehend ausschalten, freilich um den Preis einer nicht von allen akzeptierten Innovation.) Christoph Sauer 156 Solcherart, wie hier vorgeführt, sind die Entscheidungen, wenn man sich mit Textoptimierung beschäftigt und das Visuelle nachdrücklich einbeziehen will. Es kommt darauf an, eine neue Theoriesprache zu entwickeln, die - neben den inhaltlichen Beziehungen - den textbildlichen und visuellen Gegebenheiten Rechnung tragen kann. Literaturverzeichnis ADAMZIK, Kirsten (2004), Textlinguistik. 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Die Erklärungen, die für das Phänomen geliefert werden, fokussieren sehr oft auf die ökonomische Seite des Problems, auf „Medien als Geschäft“ (Altmeppen 2006, 268), und somit auf die Notwendigkeit, Quoten- und Auflagenvorgaben des Verlags mit Hilfe von marktschreierischen Strategien zu erfüllen. In dieser Betrachtungsweise erscheint die Boulevardisierung in erster Linie als eine Verfallserscheinung, als ein Übergang vom seriösen Informationsjournalismus „zu einem sich an die Begierden und Unterhaltungswünsche des Publikums anbiedernden, minderwertigen Sensationsjournalismus“, wie Renger (2001a, 71), der übrigens statt Boulevardden neutraleren Begriff Populärjournalismus vorschlägt, kritisch referiert. Dieser Beitrag will sich dem Phänomen Boulevardisierung von einer anderen Seite nähern. Der Unterschied zwischen Boulevard- und Qualitätsjournalismus soll hier nicht als eine Frage nach „besseren“ und „schlechteren“ Schreibweisen abgehandelt werden, es soll auch nicht überlegt werden, ob wir es mit einem Niedergang oder bloß einer Umformung der journalistischen Gepflogenheiten zu tun haben. Vielmehr soll der Unterschied zwischen Boulevard- und Qualitätsjournalismus begriffen werden als eine Frage von unterschiedlichen Modellen der Verständlichmachung von Inhalten. Weitergefasst und in Anlehnung an Luhmann (1996) könnte man daher sagen, dass JournalistInnen von Boulevard- und Qualitätsmedien die Wirklichkeit auf eine jeweils unterschiedliche, aber für ihre Domäne spezifische Art konstruieren - und sie dann dem/ der LeserIn verständlich machen. Piotr Dobrowolski 160 Daraus wäre zu schlussfolgern, dass SchreiberInnen, die in den beiden unterschiedlichen Sparten des Journalismus arbeiten, auch über unterschiedliche Textgestaltungs- und Optimierungsstrategien verfügen müssten. Ziel dieses Beitrags ist es, eine Annäherung an die Frage zu leisten, wie diese unterschiedlichen Strategien beschrieben werden könnten und das Beschreibungsmodell wenigstens ausschnitthaft zu erproben. 2 Theoretische Überlegungen Als zentrale Begriffe dieses Aufsatzes können das Paar Boulevardvs. Qualitätsjournalismus sowie der Begriff Verständlichkeit gelten. 2.1 Boulevardvs. Qualitätsjournalismus Die Frage danach, welche konkreten Medientitel als Boulevard- und welche als Qualitätsmedien klassifiziert werden sollen, erfordert letztlich einen pragmatischen, an der Idee des Prototyps orientierten Zugang, auch wenn folgende drei Kriterien unter anderen immer wieder als Kennzeichen des Boulevards genannt werden: großflächige optische Gestaltung, an Emotionen orientierte Themenwahl, spezifischer Stil (vgl. etwa Bruck/ Stocker 1996, 19 ff.; Schneider/ Raue 2006, 136 ff.). Trotzdem bleibt festzuhalten: Genauso wie es prototypische Boulevardblätter gibt wie etwa die deutsche Bild oder die britische Sun, genauso gibt es ein ganzes Meer an Titeln, die irgendwo im Zwischenbereich liegen: zwischen der Bild einerseits und den Prototypen des Seriösen wie FAZ oder NZZ. Wenn in der Folge in diesem Beitrag zwei österreichische Tageszeitungen als Qualitätsmedien (Der Standard und Die Presse) bezeichnet werden, so erfolgt das vor allem unter Rückblick auf das Selbstverständnis der beiden Produkte: Beide inszenieren sich ganz offensiv als Qualitätsblätter. Die Zeitung für Leser will der Standard laut Eigenwerbung sein, die Presse kennzeichnet sich wiederum als Zeitung für die, die selbst entscheiden. Schwieriger wird die Zuordnung bei so genannten Boulevardblättern - kaum ein Blatt bezeichnet sich selbst als solches. Im Gegenteil: So manche Zeitung, die nach den gängigen Kriterien recht eindeutig dem Boulevardsektor zuzurechnen ist, versucht sich in ihren Anzeigen als ein Qualitätsprodukt zu verkaufen. So auch die in der Folge als Boulevardblatt klassifizierte, relativ neue österreichische Tageszeitung Österreich, deren Herausgeber in offiziellen Auftritten immer wieder betont, keine Boulevardzeitung zu machen (vgl. Draxler 2007). Das zweite Boulevardblatt, das in diesem Aufsatz behandelt wird, ist die Kronen Zeitung. Hier bereitet die Zuordnung keine Probleme, gilt die Krone doch als die Urmutter des österreichischen Boulevards. Woran erkenne ich einen Boulevardjournalisten? 161 2.2 Verständlichkeit als Kernbegriff Bleibt der Begriff Verständlichkeit. Verständlichkeit wird im Folgenden als ein primär textbasiertes Phänomen verstanden. Anders als der Akt des Verstehens selbst, der durch Interaktion zwischen Text und LeserIn erfolgt und dementsprechend auch unterschiedliche Verstehensvarianten hervorbringen kann, soll die Verständlichkeit eines Textes als ein textinternes Merkmal gelten. Allerdings lässt sich die Verständlichkeit eines Textes dennoch „nur in Bezug auf individuelle Verstehensprozesse bewerten“ (Ballod 2001, 61). Wenn ich Textverständlichkeit hier trotzdem als ein textinternes Merkmal definiere, dann soll das daher nicht im Sinne einer absoluten Größe geschehen. Verständlichkeit soll vielmehr ein Potential des Textes meinen, ein Set an Eigenschaften, die der Text dem/ der LeserIn zur Verfügung stellt und die vom/ von der LeserIn zur Verständnisherstellung genutzt werden können, nicht aber zwingend von jedem/ jeder LeserIn genutzt werden. Wie kann dieses Verständlichkeits-Potential beschrieben werden? Die klassische Readability-Forschung der 1940er bis 1960er Jahre mit ihren Lesbarkeitsformeln konzentriert ihre Bemühungen auf quantitative Aspekte wie Wort- und Satzlänge (Flesch 1948) bzw. Geläufigkeit der Wörter (Dale/ Chall 1948). Auch wenn dieses Kapitel der Forschung inzwischen als „abgeschlossen“ (Groeben/ Christmann 1989, 167) gelten kann, stehen etliche Erkenntnisse zur Mediensprache in seiner Tradition, etwa Auszählungen von Satzlängen unterschiedlicher Pressetitel und die daraus folgende Kennzeichnung der Syntax des Boulevards als „Steno- und Morsesyntax“ (Mittelberg 1967, 311). Das Hamburger Textverständlichkeitsmodell (Langer et al. 1974) einerseits und Groeben (1982) andererseits haben in bewusster Abgrenzung von der Readability-Forschung und damit vom Messen der Textverständlichkeit mit Hilfe eines „Zollstocks“ (Langer et al. 1974, 18) neben quantitativen Kriterien eine Reihe weiterer, als makrostrukturell zu bezeichnende Merkmale der Textverständlichkeit postuliert. Die Kriterien (a) Einfachheit, (b) Gliederung - Ordnung (c) Kürze - Prägnanz und (d) zusätzliche Stimulanz erscheinen dabei als Kernpunkte des Hamburger Modells. Bei Groeben heißen die vier Elemente der Textverständlichkeit (e) sprachliche Einfachheit, (f) semantische Kürze/ Redundanz, (g) kognitive Gliederung und (h) stimulierender kognitiver Konflikt. Auch wenn Groeben seine Kriterien theoretisch-deduktiv entwickelt, das Hamburger Modell hingegen empirisch-induktiv verfährt, ist beiden Ansätzen gemeinsam, dass sie eher quantitative Kriterien wie (a), (c), (e), (f) mit makrostrukturellen Kriterien wie (b) und (g) mischen. Überdies berücksichtigen beide Modelle die Notwendigkeit der Lesermotivation, was sich in den Punkten (d) und (h) ausdrückt. Das makrostrukturelle Kriterium der „Gliederung - Ordnung“ wird im Hamburger Modell kaum theoretisch fundiert, das entsprechende Kriterium Piotr Dobrowolski 162 bei Groeben („kognitive Gliederung“) wird unter anderem mit Rückgriff auf die kognitive Lerntheorie und die Arbeiten von Ausubel (1963; 1968) entwickelt. Aus heutiger Sicht bietet sich beim Versuch, dieses Kriterium näher fassbar zu machen, eine Orientierung an der Kohärenz eines Textes als Hinweis für seine „Gliederung - Ordnung“ bzw. „kognitive Gliederung“. Prozessorientierte Beschreibungsmodelle, die den Kohärenzgrad einerseits über die Beschreibung der Propositionsstruktur eines Textes, andererseits durch die Beantwortung der Frage, „welche Inferenzen und Reinstatements zur Schließung von Kohärenzlücken“ (Christmann 2000, 117) nötig sind, können dabei hilfreich sein. Neben der Konzentration auf den (Einzel-)Text selbst haben Arbeiten zur Textverständlichkeit in jüngerer Zeit zunehmend auch Phänomene der Textumgebung bzw. der Darbietung von Texten und ihrer Einbindung in größere Textverbände thematisiert. So rechnet etwa Sauer den Ersatz von unverständlichen Textpassagen durch „Bilder, Abbildungen, Diagramme, Tabellen“ (1995, 165) der Textverständnisdimension „Brauchbarkeit“ zu und postuliert somit ein Verständlichkeitsmodell, das über den sprachlichverbalen Einzeltext hinausgeht. Der Verknüpfung von Texten, Teiltexten und grafischen Einheiten unter der Perspektive der Textverständlichkeit widmen sich auch zahlreiche Arbeiten zum Thema Textdesign (Bucher 1996; Bucher 1997; Blum/ Bucher 1998; Blum/ Blum 2001). Sie konstatieren einen Übergang „vom Langtext zum Cluster“ (Bucher 1996, 41), der gekennzeichnet ist durch die Behandlung eines Themas nicht in einem einzelnen Text, sondern in mehreren, layoutorisch verknüpften Teiltexten, zu denen oft noch zusätzliche Bild- oder Grafikelemente hinzutreten. Einen weiteren Zugang zur Textverständlichkeit eröffnen so genannte mentale Modelle, die vielfach auf van Dijk/ Kintsch (1983) bzw. Johnson- Laird (1983) zurückzuführen sind. Generell gehen mentale Modelle davon aus, dass Texte auf zwei Ebenen repräsentiert werden: einerseits auf propositionaler Ebene, die sich an sprachlichen Strukturen orientiert, andererseits auf mentaler Ebene, auf der sie den beschriebenen Sachverhalt auf nicht-sprachliche Art abbilden (vgl. Christmann 2000, 119). Ein betont praxisbezogenes mentales Modell zum Textverstehen hat Susanne Göpferich (2001; 2002a; 2002b) entwickelt. Sie plädiert dafür, Texte auf zwei Ebenen auf ihre Verständlichkeit hin zu testen. Zum einen müsse überprüft werden, ob das „mentale Denotatsmodell“ (2002a, 49), das hinter einem Text steht, für den konkreten Kommunikationszweck angemessen ist, zum anderen, ob dieses Denotatsmodell angemessen in Sprache umgesetzt wurde. 2.3 Analysemöglichkeiten Aus dem vorangestellten Überblick lässt sich schlussfolgern, dass eine an unterschiedlichen Strategien der Verständlichmachung in unterschiedlichen Bereichen des Printjournalismus interessierte Analyse folgende Zugänge wählen kann: Woran erkenne ich einen Boulevardjournalisten? 163 1. den quantitativen Zugang 2. den makrostrukturellen Zugang 3. den makrostrukturell-kohärenzbezogenen Zugang 4. den auf Textdesign und Textumgebung bezogenen Zugang 5. den auf mentale Modelle und somit Wirklichkeitskonstrukte bezogenen Zugang In der weiteren Darstellung werde ich mich aus Platzgründen auf Punkt vier konzentrieren. 3 Materialbasis Aus der Überlegung heraus, dass unterschiedliche Strategien der Verständlichmachung von Inhalten an jenen Themen besonders gut sichtbar werden müssten, an denen weder die Boulevardnoch die seriöse Presse in ihrer Berichterstattung vorbei können, wurde für die vier in die nachfolgende Analyse einbezogenen Tageszeitungen (Der Standard, Die Presse, Kronen Zeitung und Österreich) nach Ereignissen gesucht, die an einem bestimmten Tag in zumindest drei der genannten Medien auf der Titelseite abgehandelt wurden und im vierten Medium zumindest prominent im Blattinneren, wobei prominent mit „auf mehr als einer Seite“ definiert wurde. Die Titelseite spielte als Auswahlkriterium deshalb eine zentrale Rolle, weil die Titelseite als „Schaufensterseite“ (Bucher 1997, 72) besonders stark als ein Indiz für das journalistische Selbstverständnis einer Zeitung gelten kann. Die als thematischer Rahmen der in der Folge analysierten Pressetexte gewählte Klausur der österreichischen Bundesregierung am 2. März 2007 in Linz entspricht als Ereignis den oben formulierten Vorgaben. Dass diese Klausur mit sehr starkem Medienecho bedacht und in allen vier Zeitungen ausführlich besprochen wurde, liegt daran, dass sich die regierenden Parteien SPÖ und ÖVP dabei darauf einigten, den österreichischen Arbeitsmarkt für 800 Facharbeiter aus den neuen EU-Ländern zu öffnen. War diese Entscheidung angesichts der in Österreich weit verbreiteten Angst vor Billigarbeitern aus dem Osten schon von einer beträchtlichen Brisanz, so wurde diese Brisanz durch das politische Faktum gesteigert, dass die Kanzler-Partei SPÖ bis zuletzt gegen die Öffnung des Arbeitsmarktes argumentierte und erst am Tag der Regierungsklausur dem Drängen des Juniorpartners ÖVP nachgab und letztlich doch einer Öffnung zustimmte. Im Gegenzug stimmte die ÖVP einer „Mobilitätsprämie“, also einem Zuschuss von bis zu 7000 Euro für jene österreichischen Arbeitskräfte zu, die wegen eines Jobwechsels den Wohnort wechseln. Für Aufmerksamkeit sorgte auch, dass die Regierungsmitglieder per Bahn nach Linz anreisten. Die Einigung zwischen Kanzler Alfred Gusenbauer (SPÖ) und Vizekanzler Wilhelm Molterer (ÖVP) erfolgte erst im Zug. Piotr Dobrowolski 164 Die nachfolgend besprochenen Textcluster sind alle in der Ausgabe vom 3. März 2007 der genanten Zeitungen erschienen. Sie sind im Anhang angefügt. Aus Platzgründen ist eine Detaildarstellung der von mir durchgeführten Analyse nicht möglich, weshalb ich mich in der Folge darauf beschränken werde, einerseits die Kriterien darzustellen, nach denen die einzelnen Cluster analysiert wurden, andererseits werde ich die wichtigsten Ergebnisse der Analyse referieren - vor allem jene, die als Ausgangspunkt für eine weitere, empirisch abgesicherte Beschäftigung mit dem Thema dienen könnten. 4 Textcluster-Analyse Vorweg ist zu bemerken: Die Ersetzung von Einzeltexten, die ein Thema in seiner ganzen Breite abhandeln, durch Textcluster, in denen einzelne Textelemente jeweils einzelne Aspekte des Themas abhandeln, ist ein Phänomen, das im Print-Journalismus längst eher die Regel denn die Ausnahme darstellt. Schon vor mehr als zehn Jahren haben sich in der Folge der Gründung des damals optisch revolutionären Wochenmagazins Focus recht schnell auch seriöse Abonnementzeitungen wie etwa die Stuttgarter Nachrichten oder die Südwestpresse dieser Technik zu bedienen begonnen (vgl. Bucher 1997, 39 f.). Ob eine Zeitung Textcluster verwendet oder nicht, kann also nicht als Hinweis auf boulevardhafte bzw. nicht-boulevardhafte Strategien zur Verständlichmachung von Inhalten herangezogen werden. Vermuten lässt sich hingegen, dass es bei Textclustern unterschiedliche, möglicherweise für diese beiden Domänen spezifische Gestaltungsweisen gibt. 4.1 Kriterien der Clusteranalyse Bei der Analyse der Textcluster wurde zunächst einmal festgestellt, welcher Natur die einzelnen Clusterelemente sind: Text, Bild oder Grafik. In der weiteren Folge wurden die einzelnen Elemente näher klassifiziert. 4.1.1 Textelemente Bei der Klassifizierung von Textelementen kamen zwei Kategorien zur Anwendung. Einerseits die Textsorte, der ein Element zugeordnet werden kann, andererseits die Funktion, die es erfüllen soll. Die Einteilung von journalistischen Texten in Textsorten ist freilich nicht ganz problemlos. Die klassische Kategorisierung in Meldung, Bericht, Kommentar, Reportage, Interview, wie sie sich etwa bei Burger (2005, 213 f.) findet, führt zumindest zu zwei Problemen. Das erste besteht darin, dass es zwar Kriterien gibt, nach denen Texte klassifiziert werden können als Kommentar (explizite Meinung des/ der Autors/ Autorin steht im Vorder- Woran erkenne ich einen Boulevardjournalisten? 165 grund), als Reportage (Betonung des Vor-Ort-Charakters der Berichterstattung), als Meldung (kurzer, möglichst neutraler Text nach dem Wer-waswann-wo-Schema) oder als Interview (dialogische Struktur), es aber für die Textsorte Bericht solche eindeutigen Kriterien nicht gibt, auch wenn Burger den Bericht als informationsbetont und „inhaltlich komplexer und damit quantitativ auch länger als die Meldung“ (2005, 214) bezeichnet und ihm überdies auch „interpretative Aspekte“ (ebd.) zugesteht. Dennoch scheint Bericht primär ex negativo definiert zu sein: Was nicht Meldung, Kommentar, Interview oder Reportage ist, ist Bericht. Damit würden aber so unterschiedliche journalistische Darstellungsformen wie Hintergrundgeschichte, Magazingeschichte, Korrespondentenbericht oder auch Info- Boxen in ein und dieselbe Kategorie fallen. Dass die Bezeichnung Bericht keine optimale Kategorie ist, mag man auch daraus ablesen, dass der Ausdruck „Bericht“ von JournalistInnen selbst zur Kennzeichnung der von ihnen produzierten Texte im Gegensatz zu Kommentar, Reportage oder Interview kaum verwendet wird. Das zweite Problem bei der Einordnung der Elemente eines Textclusters nach den klassischen Textsortenkategorien besteht darin, dass die Grenzen zwischen den einzelnen Darstellungsformen immer durchlässiger werden. Das beginnt bei der zunehmenden Aufhebung der klassischen Trennung zwischen meinungsbetonten (Kommentar, Glosse, Kritik) Darstellungsformen und informierenden Darstellungsformen (Nachricht) und führt bis zu einer weitgehenden „Vermischung der Textsorten“ (Burger 2005, 224), die überdies auch noch „im schnellen, industriellen Takt“ (Perrin 2006, 184) des publizistischen Alltags einer dauernden Wandlung unterworfen sind. Aus den oben genannten Gründen habe ich mich in der Analyse nicht streng an die klassischen Textsortenbezeichnungen gehalten. Vielmehr wurden neben den klassischen Bezeichnungen Meldung, Kommentar, Reportage und Interview auch Hintergrundgeschichte, Korrespondentenbericht, Anreißer und Info-Box als Textsortenbezeichnungen benutzt. Definiert wurden sie wie folgt: Die Hintergrundgeschichte soll Texte bezeichnen, die über das Wer-waswann-wo-Schema der Meldung hinaus Erklärungsmuster für Geschehnisse liefern und helfen, diese in einen größeren Zusammenhang zu stellen. Eine Hintergrundgeschichte arbeitet in der Regel auch mit Zitaten, die Meinungen von Fachpersonen oder Betroffenen bringen, sie muss das aber nicht zwangsläufig tun. Als Korrespondentenbericht sollen Texte bezeichnet werden, die sich dadurch von anderen Darstellungsformen unterscheiden, dass der/ die AutorIn nicht von der Redaktion aus berichtet, sondern vor Ort ist. Die Abgrenzung des Korrespondentenberichts von der Reportage ist dadurch gegeben, dass Reportagen generell stärker auf Einzelereignisse fokussieren, Korrespondentenberichte aber eher Hintergrundgeschichten sind, die aber dadurch einen Sonderstatus bekommen, dass sie von einem/ einer nicht direkt in der Redaktion, sondern am Ort des Geschehens oder zumindest in Piotr Dobrowolski 166 dessen geographischer Nähe arbeitenden Journalisten/ Journalistin produziert werden. Als Anreißer sollen Texte bezeichnet werden, die eine ähnliche Funktion wie die Meldung haben, also vor allem das Wer-was-wann-wo-Schema erfüllen, daneben aber einen Verweis auf die weitere Berichterstattung zum Thema bieten. Als Info-Box soll schließlich ein grafisch abgesetztes Element dienen, dass typische Zusatzinformationen liefert, wobei die Bandbreite von harten Fakten, etwa Wirtschaftskenndaten in einem Krisenland, bis zu relativ weichen Inhalten reichen kann wie dem Menüplan des Arbeitsessens, das zwei Politiker bei einem Gipfeltreffen zu sich genommen haben. Textelemente, die weder als Meldung, Kommentar, Reportage, Interview noch als Hintergrundgeschichte, Korrespondentenbericht, Anreißer oder Info-Box klassifizierbar sind, wurden trotz der oben erwähnten Kritik weiterhin als Bericht bezeichnet, wobei die Abgrenzung zur Meldung durch die Textlänge erfolgte, als Bericht also längere Texte bezeichnet wurden, die im Wesentlichen dem Wer-was-wann-wo-Schema folgen ohne Erklärungen, Interpretationen oder Erfahrungen von vor Ort zu integrieren. Als zweites Element der Klassifizierung von Textelementen eines Clusters diente die Funktion des Textes. Für eine diesbezügliche Einteilung wird üblicherweise auf die Klassifikation von Lüger (1995) zurückgegriffen, der informationsbetonte, meinungsbetonte, auffordernde, instruierendanweisende und kontaktorientierte Pressetexte unterscheidet. Diese Klassifikation ist in vielem ähnlich, wenn auch nicht gleichzusetzen mit dem von Brinker (2001) aufgestellten Inventar von textuellen Grundfunktionen, wobei sich Brinker seinerseits auf Bühler (1934) und Searle (1975) bezieht. Das Lügersche Modell kann, wie Burger bemerkt, als die „am stärksten linguistisch ausgerichtete Typologie“ (2005, 208) für Funktionen von Pressetexten gelten. Für die konkrete Anwendung hat diese Typologie allerdings das Manko einer gewissen Starrheit. Denn die überwiegende Anzahl von Texten, die in Zeitungen erscheinen, müsste demnach entweder als informationsbetont oder als meinungsbetont klassifiziert werden. Aus diesem Grund scheint es mir angebracht, in die Überlegungen über die Funktion von Pressetexten auch das von Adamzik (2004) vorgeschlagene Ertragsmodell einzubeziehen. Adamzik plädiert dafür, die Textfunktion nicht nur vom Standpunkt der am Text sichtbaren Intention des/ der Produzenten/ Produzentin zu betrachten, sondern auch die Erträge einzubeziehen, die der/ die RezipientIn aus der Lektüre eines Textes ziehen kann. Vor allem „emotional-psychische“ (2004, 117) Erträge, die Adamzik in ihrem acht Punkte umfassenden Kategorisierungsversuch nennt, scheinen für die Untersuchung von journalistischen Textclusterelementen sehr gut nutzbar. Adamzik definiert emotionalpsychische Erträge folgendermaßen: „Man tritt in Kontakt mit seinen Gefühlen, macht sie sich klar, empfindet Freude, Ärger, Lust oder Langeweile, entlastet sich psychisch etc.“ (117). Natürlich können Erträge Woran erkenne ich einen Boulevardjournalisten? 167 dieser Art sich auch bei der Lektüre von informationsbetonten oder meinungsbetonten Texten einstellen. Bei Texten, die aber primär darauf angelegt sind, Gefühle anzusprechen, überwiegt diese Facette eindeutig und es scheint mir daher gerechtfertigt, in Ergänzung zu Lüger von gefühlsbetonten Texten zu sprechen. Texte, die den/ die LeserIn primär unterhalten wollen, würden demnach in diese Kategorie fallen. Der Unterschied zu Lügers kontaktbetonten Pressetexten liegt darin, dass gefühlsbetonte Texte im Gegensatz zu kontaktbetonten nicht primär darauf aus sind, den Kontakt zwischen LeserIn und Zeitung aufzubauen, wie Lüger das für kontaktbetonte Texte postuliert (vgl. 1995, 79). 4.1.2 Bildelemente Der Versuch, die innerhalb eines Textclusters verwendeten Bilder zu klassifizieren, gestaltet sich schwierig, weil die Beschreibung von Bildern, auch wenn sie als Teilelemente von multimodalen Texten verstanden werden, keine genuin linguistische Disziplin ist. Für den Zweck der Beschreibung von Textclustern können allerdings Ansätze zur Beschreibung von Text-Bild-Beziehungen fruchtbar gemacht werden, wie sie etwa von Schmitz dargestellt wurden. Schmitz beschreibt vier mögliche Beziehungsstrukturen zwischen Text und Bild in journalistischen Texten, die, wenn auch von ihm primär auf Online-Zeitungen bezogen, auch für den Printbereich Geltung beanspruchen dürfen: (a) Diskrepanz - Text und Bild lenken voneinander ab; (b) Neutralität - Text und Bild stehen bezugslos nebeneinander; (c) Ergänzung - Text und Bild ergänzen einander und schließlich (d) gegenseitige Erhellung - Text und Bild erläutern einander (vgl. 2001, 222). Etwas anders ist die Situation bei Titelbildern. Sie sind kein Zusatzelement zum Text mehr, sondern jenes Element, über das in den Textcluster eingestiegen wird. Ähnlich verhält es sich auch dort, wo Bilder derart dominant gesetzt sind, dass sie das Kernelement eines Clusters darstellen. Auch hier wird man nur schwer bloß davon sprechen können, dass sie eine Ergänzung zum Text bilden, sich zu ihm neutral verhalten oder ihn erhellen. Interessant scheint für die Analyse allerdings auch die Frage nach der Anordnung der Bilder, also die Frage, ob Bildelemente mehr oder minder lose nebeneinander stehen oder aber zu funktionalen Bildketten miteinander verbunden werden. Neben den von Schmitz aufgestellten Kategorien der Text-Bild-Beziehungen wurde bei der Klassifizierung von Bildern daher auch dieser Punkt beachtet. Folgende Merkmale als Kategorisierungsgrundlage boten sich dabei an: Einzelbilder oder Bilder, die ohne Zusammenhang von Ort oder der auf ihnen dargestellten Handlungen oder Personen nebeneinander stehen, sollen als unverbunden, also isoliert gelten (auch wenn der Bildtext eine nachträgliche, künstliche Verbindung konstruieren kann und das oft tut). Bilder, die miteinander durch die Einheit des Ortes oder der dargestellten Personen oder der dargestellten Piotr Dobrowolski 168 Handlungen verknüpft sind, sollen als verbunden gelten. Dabei soll zusätzlich unterschieden werden, ob sie den Ort, das Geschehen oder die Person nur schlaglichtartig in verschiedenen Facetten darstellen, ohne dabei eine Geschichte mit erkennbarem narrativen Muster zu erzählen oder ob auch ein solches Muster zu erkennen ist. Ist ein solches Muster erkennbar, spreche ich von narrativer Verbindung, ist es nicht erkennbar, vom Spotlight-Muster. 4.1.3 Grafikelemente Als drittes mögliches Element von Textclustern bleiben Grafiken zu beschreiben. Bucher (1996) unterteilt Grafiken in numerische Grafiken, also die klassischen Balken-, Kuchen- und Kurvendiagramme, die im Wesentlichen Zahlenmaterial präsentieren, in Erklärgraphiken, die meist unter Einsatz von Bildern (gezeichnet oder fotografiert) Sachverhalts- und Ereigniszusammenhänge veranschaulichen und schließlich Grafiken, die topografische, lokale und geographische Gegebenheiten verdeutlichen (vgl. 1996, 37 ff.). Ich übernehme diese Einteilung, allerdings mit einer Ergänzung. Da manche Grafiken textüberladen sind und dadurch ihr Charakter als Visualisierungsmittel verloren geht, wurde zusätzlich unterschieden zwischen bildbetonten Grafiken, jenen also, bei denen der visuelle Effekt dominanter ist als der verbale und textbetonten Grafiken, bei denen trotz grafischer Darstellung primär der verbale Kanal angesprochen wird. 4.2 Darstellung der wichtigsten Analyseergebnisse Welche vorläufigen Schlüsse lassen sich aus der Analyse der ausgewählten Textcluster ziehen? Zunächst fällt auf, dass es zwei prinzipiell unterschiedliche Arten der Clusterbildung gibt: Einerseits, die thesengeleitete und somit hierarchische, wie sie bei der Presse zu finden ist, wo Einzelelemente vielfach als untergeordnete Elemente eines übergeordneten Programm- Elements erscheinen, das die gesamte Berichterstattung steuert. Andererseits die dispersen Modelle, wo keine klare These erkennbar ist, die das Cluster steuert und wo die einzelnen Elemente eher lose und ohne eine strenge Hierarchie nebeneinander stehen wie etwa beim Standard. Bei der Presse gibt der am Beginn des Textclusters stehende Vorspann die These vor: Bis zum Jahr 2010, heißt es da, wird der Arbeitsmarkt eine große Baustelle bleiben. Die weiteren Bestandteile des Presse-Textclusters dienen, egal ob Hintergrundgeschichte, Bilder oder Kommentar, weitgehend dem Zweck, diese These zu untermauern, und werden dadurch zu informationsbetont-meinungsbetonten Mischtypen. Anders ist es beim Standard-Cluster, wo der Anreißer auf Seite eins zwar in den Textcluster hineinführt, aber viel weniger deutlich eine These stellt. Die Texte innerhalb des Standard-Clusters bleiben in ihrer Funktion daher auch eher zwischen informationsbetont (Hintergrund- Woran erkenne ich einen Boulevardjournalisten? 169 geschichten, Info-Boxen) und meinungsbetont (Kommentar) getrennt. Anhand umfangreicherer Daten wäre zu prüfen, ob der hierarchische Typ der Clusterbildung tatsächlich eher zu informationsbetont-meinungsbetonten Mischformen innerhalb des Clusters führt, das disperse Modell hingegen zu funktionell weniger durchmischten Formen. Bemerkenswert ist weiter, dass es auf der einen Seite ein Clusterbildungs-Modell gibt, bei dem ein Textelement den Kern des Clusters bildet und dass es, auf der anderen Seite, wie bei Österreich und teilweise auch bei der Kronen Zeitung Modelle gibt, die Bildelemente ins Zentrum des Clusters stellen. Dass in den vier analysierten Textclustern die Boulevardmedien das Zentrum des Clusters eher im Bildbereich, die Qualitätsmedien aber im Textbereich setzen, erlaubt freilich keine Verallgemeinerungen. Es wäre aber interessant, diese Tendenz anhand von größeren Datenmengen zu überprüfen, gerade deshalb, weil dadurch die allgemein gängige Annahme von der Bildlastigkeit des Boulevards anders als durch bloßes Bilderzählen überprüft werden könnte. Die Zahl der Bilder allein dürfte nämlich kein geeignetes Kriterium sein. Zumindest in den hier untersuchten Clustern ist ausgerechnet der Text-Cluster des Boulevardkönigs Kronen Zeitung der bildärmste von allen. Auch die Frage, ob das narrative Bildanordnungsmodell eher eine Darstellungsweise der Qualitätsmedien ist und das Spotlight-Muster eher der Boulevardpresse zugerechnet werden kann, wie man anhand der analysierten Beispielcluster mutmaßen kann, wäre zu prüfen. Klar scheint hingegen, dass die isolierte Verwendung von Bildern ein in beiden Medientypen genutztes Muster ist. Als weitere potentiell boulevardhafte Textgestaltungsformen können nach der Analyse der hier vorgestellten Textcluster hybride Formen gelten, die von einer journalistischen Darstellungsform zur anderen wechseln, etwa wie in der Kronen Zeitung oder auch in Österreich, wo reportagenhafte Texte abrupt in die Berichtsform übergehen. Das scheint eher ein Boulevardspezifikum zu sein, wobei auffällt, dass der hybride Charakter durch den Einsatz von Bullet-Charts sehr begünstigt, wenn nicht gar erst hervorgerufen wird. Dass die Boulevardmedien öfter Textelemente des Mischtyps gefühlsbetont-informationsbetont einsetzen, während Qualitätsmedien seltener mischen und wenn dann eher in Richtung informationsbetontmeinungsbetont, wäre eine weitere Vermutung, die anhand größerer Clustermengen zu überprüfen wäre. Einer Überprüfung wert wäre überdies die Beobachtung, dass die Bandbreite in der Menge der verwendeten Cluster-Elemente offenbar recht groß ist. Sie reicht in unserem Fall von sechs bis siebzehn Elementen. Natürlich lässt sich das Phänomen zunächst einmal ganz einfach mit dem vorhandenen Platz erklären: Wo mehr Platz in der Zeitung, dort mehr Cluster-Elemente. Interessant wäre aber eine Antwort auf die Frage, wie dieser zusätzliche Platz und somit die Möglichkeit, mehr Cluster-Elemente einzusetzen, genützt wird. Die vier untersuchten Cluster legen nahe, dass in Qualitätsmedien zusätzlicher Platz zugunsten von mehr Text, in Piotr Dobrowolski 170 Boulevardmedien zugunsten von mehr Bild verwendet wird. Eine größere Datenmenge würde möglicherweise aber überdies eine Antwort auf die Frage erlauben, welche Funktionen das Mehr an Text bzw. Mehr an Bild erfüllt. Noch ein weiterer Punkt drängt sich auf. Die Tatsache, dass eine Zeitung an einem Thema nicht vorbei kann und es ausführlich behandeln muss, indem sie sich auf das Ereignis nicht nur mit einer Einzelmeldung, sondern mit einem Textcluster bezieht, setzt sich auf der Ebene der einzelnen Textcluster offenbar fort. Genauso wie es Themen gibt, die unabhängig von der Ausrichtung einer Zeitung aufs Titelblatt „müssen“, scheint es auch innerhalb der Cluster unverzichtbare Elemente zu geben. In den untersuchten Clustern verzichtet zum Beispiel keine Zeitung, die Zugfahrt der Regierung in der Form einer Reportage zu schildern, und sei es nur auf zwei Absätzen. Dabei ist ein solches Reportagenelement gemessen an den Kernpropositionen, die die untersuchten Textcluster realisieren, nicht zwingend notwendig. Es scheint aber eines jener Elemente zu sein, von denen Blattmacher, egal ob im Boulevard oder nicht, überzeugt sind, dass man sie einfach in der Zeitung haben muss. Es ist anzunehmen, dass anhand einer größeren Menge von Clustern bestimmte Gesetzmäßigkeiten erkennbar werden, die solche Entscheidungen steuern. Auffallend ist überdies der sehr sparsame Umgang mit Grafiken in den untersuchten Clustern. Auch hier kann eine größere Datenmenge helfen, diesen Eindruck zu bestätigen oder zu korrigieren. Literaturverzeichnis ADAMZIK, Kirsten (2004), Textlinguistik. Eine einführende Darstellung, Tübingen (= Germanistische Arbeitshefte 40). ALTMEPPEN, Klaus-Dieter (2006), Journalismus und Medien als Organisation. Leistungen, Strukturen und Management, Wiesbaden. AUSUBEL, David Paul (1963), The Psychology of Meaningful Verbal Learning. An Introduction to School Learning, New York. AUSUBEL, David Paul (1968), Educational psychology. A Cognitive View, New York. BALLOD, Matthias (2001), Verständliche Wissenschaft. Ein informationsdidaktischer Beitrag zur Verständlichkeitsforschung, Tübingen (= Forum für Fachsprachenforschung 57). 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Woran erkenne ich einen Boulevardjournalisten? 173 Anhang Textcluster 1, Der Standard vom 3./ 4.3.2007 Piotr Dobrowolski 174 Woran erkenne ich einen Boulevardjournalisten? 175 Textcluster 2, Die Presse vom 3./ 4.3.2007 Piotr Dobrowolski 176 Textcluster 3, Kronen Zeitung vom 3.3.2007 Woran erkenne ich einen Boulevardjournalisten? 177 Textcluster 4, Österreich vom 3.3.2007 Piotr Dobrowolski 178 Förderung von Textkompetenz Daniel Perrin/ Eva-Maria Jakobs Training beruflicher Textkompetenz 1 1 Einleitung Beim Schreiben und Redigieren greifen Schreib- und Leseprozesse ineinander. Man liest Quellentexte, den eigenen entstehenden Text sowie Kommentare und Änderungsvorschläge von KoautorInnen. Schreiben können bedeutet deshalb immer auch lesen können. Schlechten LeserInnen fällt es schwer, die Textqualität zu kontrollieren und Schwächen zu identifizieren. Die Probleme verstärken sich, wenn Sachverhalte zu recherchieren und dafür Quellentexte zu erschließen und zu verarbeiten sind. Lesen gehört also zu allen Schreibprozessen, und in quellenbasierter Textproduktion ist Lesen doppelt wichtig. Deshalb überrascht, dass die Schreibdidaktik das Lesen wenig beachtet. Trainingsangebote zielen entweder auf Lese- oder auf Schreibkompetenz; Angebote, die Lesen und Schreiben systematisch als Fähigkeitskomplexe aufeinander beziehen, sind selten. Von solchem Training handelt dieser Artikel. Er bestimmt und verknüpft die Kernbegriffe „Schreiben“, „Lesen“ und „Training“ (2), verortet Lese- und Schreibprozesse in Textproduktionsvorhaben (3), vertieft die Methodik (4) und den Forschungsstand an den Schnittstellen von Schreiben, Lesen und Training (5) und benennt schließlich aktuelle Forschungslücken (6). Dabei geht es immer um die Textproduktion Erwachsener, und zwar vorwiegend um die berufliche Textproduktion in Domänen wie Wissenschaft, Technik, Verwaltung oder öffentlicher Kommunikation. Ein Lehr-/ Lernprojekt in einer Medienredaktion dient als durchlaufendes, vertiefendes Fallbeispiel. 2 Kernbegriffe: Schreiben, Lesen, Training Schreiben ist eine Tätigkeit, bei der Sprachbenutzer Gedanken verschriftlichen, also mit geeignetem Werkzeug und nach bestimmten Regeln als sichtbare Zeichen auf einem materialen Zeichenträger festhalten. So entstehen aus flüchtiger Sprache Texte, „stabile sprachliche Gebilde“ (Portmann-Tselikas 2006). Dies geschieht in Prozessen; der Schreibprozess 1 Der Beitrag basiert auf: Eva-Maria Jakobs, Daniel Perrin (2007; in Vorbereitung), „Training of writing and reading“, in: Gert Rickheit, Hans Strohner (Hrsg.), Handbook of Communication Competence. Language and Communication Problems. Practical Solutions New York: Mouton de Gruyter (= Handbooks of Applied Linguistics 1). Daniel Perrin/ Eva-Maria Jakobs 182 ist ein vorwiegend zielgerichteter, mentaler und materialer Vorgang zum Herstellen eines geschriebenen Textes. Schreibende können individuelle und kommunikative Ziele verfolgen: Epistemisches Schreiben zum Beispiel entlastet beim Denken, mit verschriftlichten Gedanken kann man sich auseinandersetzen, etwa in Brainstormings mit Mindmaps. Beim mnemotechnischen Schreiben dient Verschriftlichtes als Erinnerungshilfe, siehe Einkaufszettel. Schließlich ist ein Text aber auch anderen zugänglich, an anderen Orten zu anderen Zeiten - kommunikatives Schreiben löst den Gedanken vom/ von der AutorIn und der Produktionssituation und ermöglicht Verständigung über Zeit und Raum hinweg, mit bekannten und unbekannten LeserInnen (Ludwig 2005, 11-21). Lesen ist eine Tätigkeit, bei der Sprachbenutzer schriftlich festgehaltene Zeichen verstehen, also regelhaft deuten und eine Vorstellung des gemeinten Textsinns aufbauen, wobei sie sich einerseits von den Zeichen und andererseits von ihrem Wissen leiten lassen. Auch Lesen geschieht in Prozessen, in vorwiegend zielgerichteten Vorgängen zum Herstellen mentaler Repräsentationen aus materialen Repräsentationen. In schriftlicher Kommunikation bildet Lesen ein Gegenstück zum Schreiben: Man nimmt ein Kommunikationsangebot wahr, indem man einen Text liest. Das geht auch, ohne zu schreiben; allerdings enthalten kommunikative Leseprozesse oft kleine Schreibprozesse, man schreibt Notizen zum Text, den man gerade liest. Umgekehrt enthält jeder Schreibprozess Leseprozesse, man liest immer Teile dessen nach, was man geschrieben hat. Deshalb ist es sinnvoll, das Lesen einzubeziehen, wenn Textproduktion trainiert werden soll (Freiman 2005). Training bezeichnet alltagssprachlich eine Übung, eine Schulung, einen Lehrgang, eine Weiter- oder Fortbildung - kurz: eine Maßnahme zur Erhaltung und Verbesserung bestimmter Fähigkeiten und Fertigkeiten. Zur wissenschaftlichen Bestimmung des Begriffs berufen sind vor allem die Didaktik und die Angewandte Psychologie. Sie verstehen unter Training eine Lehr-/ Lernveranstaltung, bei der ein/ e TrainerIn einen Trainee methodisch und fachlich professionell darin anleitet, im Spannungsfeld von Person, Rolle und Umwelt die Ausgangslage zu klären, Ziele zu setzen, sich Mittel zur Zielerreichung anzueignen und so das Repertoire an Kompetenzen zu erweitern (Lippmann 2006, 28-30). Trainings erweitern also die Kompetenz, bestimmte Aufgaben im Rahmen bestimmter Erwartungen angemessen und wirkungsvoll zu lösen. Im Textproduktionstraining geht es um Schreibaufgaben - und damit um verschränkte Schreib- und Leseprozesse. 3 Lesen und Schreiben in der Textproduktion Studien zur Textproduktion zeigen, dass Leseprozesse mehr oder weniger systematisch den gesamten Prozess der Textentstehung begleiten. Art und Training beruflicher Textkompetenz 183 Aufgabe des Lesens variieren abhängig vom Stadium der Textentwicklung und vom Bezugstext. Je nach Bezugstext lassen sich zwei Typen von Leseprozessen unterscheiden: Mit produktionsgerichtetem Lesen erfasst man das entstehende Textprodukt (3.1), mit quellengerichtetem Lesen erschließt man Texte anderer AutorInnen, auf die man sich beziehen will (3.2). 3.1 Produktionsgerichtetes Lesen beim Schreiben In früh verbreiteten Modellen des Textproduzierens (etwa Hayes/ Flower 1980; Bereiter 1980 oder de Beaugrande 1984) kommen Leseprozesse nicht ausdrücklich vor, sondern sind allenfalls mitgemeint, wenn modelliert wird, dass Schreibende auf Wissen greifen, das zum einen vor dem Schreiben bereits vorliegt und zum anderen während des Schreibprozesses entstehen und sich verändern kann. Andere und vor allem jüngere Ansätze betonen aber den Stellenwert und die vielfältigen Funktionen des Lesens beim Textproduzieren und die enge Verschränkung von Schreib- und Leseprozessen (Bracewell/ Frederiksen 1982; Ludwig 1983; Nelson Spivey 1990; Flower et al. 1990; Rau 1994; Jakobs 1999). Insgesamt sehen solche Ansätze das Lesen als wichtige Teilhandlung zur fortlaufenden Kontrolle des bereits Geschriebenen und als Grundlage für weitere Produktionsentscheidungen (Jakobs/ Molitor-Lübbert 1994; Hayes 1996). Dies geschieht auf allen Stufen, etwa den Stufen Grafomotorik, Formulierung, Zwischenprodukt und Textversion. 3.2 Quellengerichtetes Lesen beim Schreiben Texte entstehen oft in intertextuellen Bezügen, also gestützt auf Quellentexte (Selzer 1993). Source reading umfasst alle Leseprozesse, die sich auf solche Quellentexte richten. Die Forschung hat diesen Aspekt des Lesens beim Schreiben relativ lange vernachlässigt. In ihren Untersuchungsdesigns hat sie Produktionssituationen ausgeklammert, in denen Schreibende auf andere Texte zurückgreifen können oder müssen. In den 90er Jahren ändert sich die Situation. Hayes nimmt das source reading in sein kognitiv und sozial verankertes Modell des Textproduzierens auf (Hayes 1996). In solchen Modellen bezweckt und bewirkt source reading mentale Repräsentationen des Textgegenstandes, der Person des Autors und des Textes als räumliches Gebilde. Vor und neben den allgemeinen Modellen entstehen spezifische Ansätze und Modelle zum source reading, etwa Nelson Spivey 1990 zu kognitivkonstruktiven Prozessen beim source reading; Ludwig 1983 zum source reading aus pädagogischer Sicht; Rouet/ Favart/ Gaonac’h/ Lacroix 1996; Jakobs 1995 und Jakobs 2003 zum source reading in wissenschaftlicher Textproduktion; Perrin 2001 und Sleurs/ Jacobs/ Van Waes 2003 zum source reading in Journalismus und Public Relations; Kretzenbacher 1990; Endres- Daniel Perrin/ Eva-Maria Jakobs 184 Niggemeyer/ Schott 1992 und Keseling 1993 zum source reading beim Zusammenfassen von Texten. Keseling 1993 zum Beispiel zeigt, dass es vom Alter, der Schreiberfahrung und der Lesefertigkeit der Schreibenden abhängt, wie sie wichtige und unwichtige Quellenaussagen unterscheiden, Texte zueinander in Beziehung setzen und so letztlich das Wissen aus den Quellentexten produktiv für eine Schreibaufgabe nutzen. Zweck und Profil von source reading hängen von der Phase ab, die ein Textproduktionsprozess durchläuft: • In den Anfangsstadien von Textproduktionsvorhaben erkunden Schreibende das Feld: Sie lesen sich in die Thematik ein und erwerben Überblickswissen. Je nach Vorwissen fallen Leseprozesse eher ungerichtet und global aus. Eine typische Strategie des erkundenden Lesens ist das Scanning. Die Lesehaltung ist eher neutral, der/ die LeserIn ist offen für Argumente und Standpunkte. • Im Laufe der Themenbearbeitung wird fokussierter, selektiver und restriktiver gelesen. Source reading, Themenbearbeitung und einsetzende Formulierungsversuche beeinflussen sich wechselseitig. Im Laufe der Textentwicklung verändert sich die Sicht auf das Thema, was ein fokussiertes und vertiefendes re-reading der Quelle erfordert. Der Vergleich von Positionen erfordert kritisches Lesen als höchste Stufe des kritisch-konstruktiven Verständnisses. • Integrationshandlungen wie Zitieren und Referieren bedingen häufig erneutes source reading. Die sprachliche Reproduktion von Inhalten erfordert sinnverstehendes Nachlesen; Zitieren erfordert überdies formgerichtetes Lesen mit dem Ziel, eine möglichst genaue Repräsentation der sprachlichen Oberfläche der Textquellenpassage zu erzeugen, die auch Feinheiten wie etwa Tippfehler in der Quelle einschließt. So, wie die übergeordneten Textproduktionsaufgaben und -prozesse das source reading bestimmen, wirkt umgekehrt das source reading auf den ganzen Textproduktionsprozess, auf das Textprodukt und schließlich auf die Textproduktionsumwelt zurück. Von der Einbettung, der Sorgfalt, der Raffinesse, der Reflektion - kurz: der Qualität des source reading hängt unter anderem ab, wie vorausgehende Diskurse in der Textproduktion genutzt werden: kritisch durch Hinterfragen und Bewerten von Positionen, kreativ durch Weiterdenken und Erkennen neuer Zusammenhänge, kopierend durch markiertes und unmarkiertes Abschreiben oder manipulativ durch sinnverzerrendes Wiedergeben. Diese Wiedergabe im neuen Diskursbeitrag schließlich verändert die soziale Umwelt, die Bedingungen für künftige Textproduktionsvorhaben. Ein vertiefender Blick gilt hier und jeweils zum Schluss der weiteren Abschnitte dem Textproduktionstraining im Journalismus. In dieser Domäne prägt Textproduktion mit source reading den Berufsalltag - journalistische Textproduktion ist systematisch angelegt als kollaborative Re-Produktion in intertextuellen Ketten (Abb. 1): Medienschaffende in Training beruflicher Textkompetenz 185 arbeitsteiligen Teams verarbeiten wahrgenommene Texte und andere wahrgenommene Weltausschnitte unter medienwirtschaftlichen Bedingungen zu Medienbeiträgen. Die Beiträge werden in den Produktionsketten rasch wieder zu Quellentexten einer nächsten Verarbeitungsstufe (gestrichelte Linie). Die Medienschaffenden kommunizieren mit Quellen und Publika auch direkt, und die Quellen, etwa interviewte Politiker, können selbst zum Publikum eines Beitrags zählen (gepunktete Linien). Abb. 1: Journalistische Text(re)produktion als sozial und kognitiv geleitete Tätigkeit In einem solchen Netz von Querbezügen bestimmt einerseits das soziale Umfeld - genauer: die mentale Repräsentation davon in den Köpfen der Textproduzierenden - mit, wie ein bestimmter früherer Diskursbeitrag einer Quelle in einen neuen Text eingearbeitet wird. Umgekehrt prägt das neue Textprodukt das soziale Umfeld mit, etwa wenn sich ein Politiker in einem Zeitungsbeitrag verzerrend zitiert findet und deshalb den JournalistInnen dieser Zeitung keine Interviews mehr gibt. Das Beispiel zeigt, für eine exemplarisch herausgegriffene Domäne unter vielen Domänen beruflicher Textproduktion: Zur Textproduktionskompetenz gehört die Fähigkeit, zielführend zu lesen - die Quellentexte, aber auch den eigenen, entstehenden Text. Diese Einsicht hat Folgen für die Methodik von empirisch basierten Textproduktionstrainings. 4 Methoden Wissenschaftsbasierte Trainings bedingen systematisches Wissen auf zwei Ebenen: Wissen zur Vermittlungstätigkeit und Wissen zum Thema, hier zur Textproduktion. Auf der Vermittlungsebene hat der/ die TrainerIn Lehrprozesse durchzuführen und damit Lernprozesse zu begleiten, die geeignet sind, das Kompetenzen-Repertoire des Trainees zielführend zu erweitern. Auf der Themenebene hat der/ die TrainerIn theoretisch und empirisch gesichertes Wissen bereitzustellen. Will er/ sie den Trainee nicht unhinter- Daniel Perrin/ Eva-Maria Jakobs 186 fragten Lehrmeinungen ausliefern, muss er/ sie Grundmuster der Textproduktion kennen, individuelle Handlungsmuster erkennen, erfolgreiche Varianten ausfindig machen, Soll-Ist-Abweichungen im Textproduktionshandeln des Trainees benennen und geeignete Interventionen bestimmen, mit denen der Trainee sein Repertoire an Strategien zielführend ausbauen kann (Fiehler 2002; Johnston 2003). Zum Zug kommen also zwei Gruppen von Methoden: auf der Vermittlungsebene die Methoden zum Wissenstransfer (4.1), auf der Themenebene die Methoden zur Wissenserzeugung (4.2). 4.1 Methoden zum Wissenstransfer Während man in der Schule Lesen und Schreiben neu lernt, richten sich berufliche Textproduktionstrainings an Erwachsene mit bereits ausgebauten Kompetenzen zur schriftlichen Kommunikation (Fiehler/ Schmitt 2004, 132). Die Lehr-/ Lernveranstaltung „Training“ ist hier wesentlich auf Umlernen ausgerichtet, nicht auf Neulernen. Die Trainees müssen, angeleitet vom/ von der TrainerIn, eingeschliffene Routinen erkennen und einschätzen, neue Routinen entwickeln und so ihre Repertoires aufbrechen, erweitern und flexibilisieren, kurz: Sie müssen Lösungsmuster de-automatisieren und reautomatisieren. Solches Umlernen ist, anders als das Neulernen, nur möglich durch bewusstes Monitoring, Analysieren und Üben (Becker- Mrotzek/ Brünner 2004; Lambertini/ ten Thije 2004): durch exemplarisches Üben in simulierten Situationen im Training, dann immer wieder in realen Situationen außerhalb des Trainings (Fiehler 2002, 33-34). Ein Beispiel für ein komplexes Projekt bildet eine Redaktionsberatung mit eingebettetem Textproduktionscoaching und -training (Perrin 2006b). Das Projekt wurde 1999-2001 durchgeführt, als Dienstleistungsauftrag einerseits und ethnografische Fallstudie andererseits. Einbezogen waren 180 Mitarbeitende der Print- und 14 der Onlineredaktion der auflagenstärksten Schweizer Qualitätszeitung „Tages-Anzeiger“. Als Ziele nannte der Auftraggeber „Qualitätssteigerung im Blatt“ und Imagegewinn. Vereinbart wurde die Zusammenarbeit auf vier Ebenen der organisationalen Textproduktion: a) ein gemeinsames Grundverständnis der Aufgabe herstellen; b) ein Leitbild als Maßstab angestrebter Textqualität entwickeln; c) die Repertoires von Textproduktionsstrategien in der Redaktion am Leitbild messen und wo nötig erweitern; d) im Endprodukt, also der gedruckten Zeitung, das ganze Verfahren zyklisch überprüfen. Dieses Vorhaben verlangte einerseits Methoden zum Wissenstransfer, vor allem auf der Ebene c). Andererseits bedingte es aber auch Wissen zur Textproduktion überhaupt und zur Textproduktion in der konkreten Situation. Gefragt waren also auch Methoden zur Wissenserzeugung. Training beruflicher Textkompetenz 187 4.2 Methoden zur Wissenserzeugung Ein Textproduktionstraining zur Weiterbildung beruflich Schreibender richtet sich an Trainees, die bereits über so viel Kompetenz in Schreiben und Lesen verfügen, dass sie bis anhin im Beruf bestanden haben. Will sich hier ein/ e TrainerIn als Experte/ Expertin in Textproduktion behaupten - und nicht allein als Experte/ Expertin im Steuern von Lernprozessen -, muss er/ sie Wissen zur Textproduktion einbringen und erzeugen können, das über das berufspraktische Handlungswissen der Trainees hinausgreift und nachvollziehbar abgesichert ist (Olson 1987; Fiehler/ Schmitt 2004, 132). Gefragt ist systematisch erzeugtes Wissen, gefragt sind damit auch passende Methoden der Wissenserzeugung: Methoden der Textproduktionsforschung, die auf das fertige Produkt greifen - aber auch solche, die den Produktionsprozesss erfassen, und dies möglichst plastisch, aus mehreren Blickwinkeln. Zu den rein produktbasierten Methoden zählen alle Verfahren der Textanalyse. Ausgefallene Varianten sind Analysen von Vertippern (Berg 2002) oder von handschriftlichen Merkmalen (Baumann 2004). Erfasst eine Untersuchung mehrere Versionen eines entstehenden Textes, lässt sich mehr über den Produktionsprozess sagen, als wenn nur das Endprodukt vorliegt (Becker-Mrotzek 1992; Grésillon 1995; Van der Geest 1996). Produktbasierte Methoden haben den großen Vorteil, dass die Datenerhebung den Produktionsprozess nicht stört und dabei die Untersuchungsbedingungen verändert. Wo die Texte in elektronischen Arbeitsumgebungen entstehen, kann man ohne wahrnehmbare Veränderung der Schreibsituation auch die Prozesse erfassen: jeden Tastendruck aufzeichnen und die Textentstehung Schritt für Schritt rekonstruieren (Severinson-Eklundh 1994; Bergmann/ Meier 2000; Severinson-Eklundh/ Kollberg 2003; Strömqvist/ Holmqvist et al. 2006). Nach dem Textproduktionsprozess können die AutorInnen zu Protokoll geben, was sie getan und gedacht haben. Dies ist auch während des Schreibens möglich, dann verändert die Forschung die Textproduktionssituation aber stark (Pitts 1982; Smagorinsky 1994; Levy/ Marek/ Lea 1996; Janssen/ Van Waes/ Van den Bergh 1996; Smagorinsky 2001). Schließlich kann man die Gespräche Schreibender untersuchen, die gemeinsam einen Text verfassen (Levin/ Wagner 2006). Mehrmethoden-Ansätze erfassen den Gegenstand aus mehreren dieser Blickwinkel und damit plastischer als Einmethoden-Ansätze (Beaufort 1999; Sleurs et al. 2003; Dor 2003; Perrin 2006a). Ein solcher Mehrmethoden-Ansatz, die Progressionsanalyse, kam in der Redaktionsberatung beim „Tages-Anzeiger“ zum Zug (Perrin 2006b). Dazu zeichnete ein Computerprogramm alle Arbeitsschritte an allen Arbeitsplätzen der Redaktion auf, mit dem Einverständnis der Mitarbeitenden. So aufgezeichnete Schreibprozesse können systematisch dargestellt und ausgewertet, aber auch als Film abgespielt werden. Eine der möglichen Daniel Perrin/ Eva-Maria Jakobs 188 Darstellungen ist die Progressionsgrafik. Sie zeigt, wie sich jemand mit der Schreibmarke durch den entstehenden Text bewegt hat. Auf der x-Achse ordnet sie die Schreibschritte nach der zeitlichen Abfolge im Schreibprozess, auf der y-Achse nach der räumlichen Abfolge im Textprodukt. Ein Strich von oben links nach unten rechts steht für einen Schreibprozess ohne Rücksprünge im Text; ein Sprung des Grafs nach oben oder unten zeigt an, dass der/ die AutorIn im bereits geschriebenen Text nach oben oder unten gesprungen ist, um dort eine Änderung vorzunehmen. Die Progressionsgrafik zu einem kurzen Titel, den ein Redakteur in elf Anläufen geschrieben hatte, sah bewegt aus (Abb. 2): Abb. 2: Die Progressionsgrafik zeigt die Abfolge der Revisionen im Schreibprozess Im Projekt konnten die RedakteurInnen ihre Schreibprozesse als Progressionsgrafiken, aber auch als Videos in Echtzeit oder im Zeitraffer verfolgen. Sie und der Berater sahen so, wie der Text am Bildschirm entstanden war. Dabei sagten die RedakteurInnen laufend, was sie beim Schreiben getan hatten und warum sie es getan hatten. Ein Tonaufnahmegerät zeichnete diese ereignisgestützten retrospektiven Verbalprotokolle auf. Das retrospektive Verbalprotokoll ist natürlich nicht zu verstehen als eine originalgetreue Wiedergabe von Überlegungen, die ein/ e AutorIn während des Schreibprozesses tatsächlich so angestellt hat. Vielmehr brachte das Redaktionsmitglied, angeregt durch die Beobachtung seines eigenen Schreibhandelns, einzelne der Überlegungen zur Sprache, die es in vergleichbaren Situationen beim Schreiben hätte anstellen können: Überlegungen, die in seinem abrufbaren Wissen zur Sprache, zum Sprachgebrauch und besonders zur Textproduktion gründen. Im folgenden Protokoll-Ausschnitt spricht der Redakteur davon, wie er einen Titel in seiner Länge passgenau formuliert und mit dem Titel die Relevanz eines Textes „sofort“ anzeigt. Training beruflicher Textkompetenz 189 Der ist zu lang, also gehe ich irgendwie „Absturz“ herausnehmen. Noch einmal ein Wort herausnehmen, weil er immer noch zu lang ist. Auf dieser Seite hat es nicht viel Platz. - Jetzt habe ich nur noch den Titel „Isolation untersucht“. Aber irgendwas muss rein, damit man sofort weiß, um was es geht. Solche Überlegungen und Textproduktionsbewegungen lassen sich beziehen auf das Textergebnis, den Arbeitsaufwand, den Selbstanspruch des/ der Redakteurs/ Redakteurin und die Soll-Qualität, die sich die Redaktion im Leitbild vorgegeben hat. So zeigte sich, dass dieser Redakteur, wie andere auch, die Zeit zu wenig straff einteilte und deshalb gegen Ende des Produktionsprozesses - und des Textes - oft unter Zeitdruck geriet. Zu dieser Diagnose passte als Intervention ein Training zu Arbeitstechniken der Textplanung. Einzelcoachings waren angebracht, wo erfolgreiche und erfahrene JournalistInnen aus ihren bewährten, aber für sie langweilig gewordenen Produktionsroutinen ausbrechen wollten. In Teamcoachings in Organisationsentwicklung verbesserten Gruppen ihre arbeitsteiligen Produktionsabläufe, etwa die Aktualisierung bereits aufgeschalteter Onlinenachrichten. Die diagnostizierten Probleme bestimmten also die Lehr-/ Lernarrangements und die Themen, im Fall von Trainings: die Trainingsfelder. 5 Trainingsfelder. Forschungsfragen und Befunde Textproduktionstrainings sind ausgerichtet auf bestimmte Textproduktionsaufgaben, die bestimmte Kompetenzen schriftlicher Kommunikation voraussetzen. Zur schriftlichen Kommunikation hat die Linguistik systematisches Wissen erarbeitet. Ein Überblick zum Themenwissen für Textproduktionstrainings kann deshalb der linguistisch-pragmatischen Einsicht folgen, dass Sprachstrukturen im Gebrauch ausgebildet werden, also von Sprachfunktionen in Sprachgebrauchsumwelten abhängen. So lassen sich Textproduktionsaufgaben und -trainings unterscheiden nach ihrem Bezug zur Textproduktionsumwelt (5.1), zur -funktion (5.2) und schließlich zur -struktur (5.3). 5.1 Training und Textproduktionsumwelt Textproduktion ist eingebettet in übergreifende sprachliche und nichtsprachliche Umwelten, in Situationen, soziale Veranstaltungen, Projekte. Diese Umwelten prägen die Textsorten und ihre Re-Produktion, also das Lesen und Schreiben. Das zeigt sich deutlich in diachroner Analyse, in der Geschichte des Schreibens. Für Typen wiederkehrender Textproduktionssituationen, für Domänen wie Hochschule, Wirtschaft oder Journalismus, haben sich Muster der Textproduktion herausgebildet, dazu Muster passender Lehr-/ Lernveranstaltungen. - Forschungsbeispiele: Ludwig 2005 zur Geschichte des Schreibens und seiner Schnittstellen zum Lesen, Sprechen und Hören; Russell 2002 zur Geschichte des Schreibens an der Daniel Perrin/ Eva-Maria Jakobs 190 Hochschule; Chin 1994 zum Kontext-Begriff in der Schreibforschung; Gunnarsson 1997 zum Schreibprozess aus soziolinguistischer Sicht; Landis 2003 zu Schreiben und Lesen als gesellschaftlichen und kulturellen Praktiken; Björk/ Bräuer/ Jorgensen/ Rienecker 2002 und Kruse 2006 zum Lehren akademischen Schreibens an der Hochschule; Ruhmann/ Perrin 2002 zu Gemeinsamkeiten und Unterschieden von wissenschaftlichem und journalistischem Schreiben als Ausgangspunkt für Schreibtrainings. Im Fallbeispiel, der Redaktionsberatung „Tages-Anzeiger“, handelten der Berater und der Auftraggeber zuerst ein gemeinsames Grundverständnis der Zusammenarbeit aus. Man einigte sich darauf, dass der Berater die Redaktion begleiten würde, ein Qualitätsmanagement der Textproduktion als zirkulären Prozess organisational zu verankern: die Beteiligten zu orten und einzubeziehen, die Soll-Qualität der Textproduktion zu definieren, daran die Ist-Qualität zu messen, die Textproduktionsprozesse zu optimieren - und den Maßstab der Soll-Qualität mit neuer Erfahrung neu zu überdenken. Ebenfalls ausgehandelt wurde ein gemeinsames Grundverständnis von journalistischer Textproduktion. Sie wurde verstanden als eine ebenso individuelle wie organisationale, institutionale und gesellschaftliche Aufgabe; eine arbeitsteilige Tätigkeit im Schnittfeld kognitiver und sozialer Praktiken, bei der laufend, auf mehreren zum Teil konfligierenden Ebenen, Probleme zu lösen und Entscheidungen zu fällen sind. So sollen JournalistInnen etwa im Sinn des Medienunternehmens bei tiefen Kosten hohe Reichweiten erzielen und zugleich im Sinn der Öffentlichkeit gesellschaftsrelevante Themen nuanciert aufbereiten. Solche Konflikte von Umweltansprüchen mit funktionalen Texten und Produktionsprozessen zu entschärfen oder zu lösen, darum ging es also in der Beratung und den eingebetteten Trainings. 5.2 Training und Textproduktionsfunktion Unabhängig von der Domäne und der Forschungsrichtung werden dem Schreiben bestimmte Grundfunktionen zugesprochen: Schreiben erleichtert das Denken, das Speichern, das Überliefern. Ein Schreibender kann Gedachtes festhalten, um sich sofort damit auseinanderzusetzen, um sich später daran zu erinnern oder um es anderen zugänglich zu machen. In jedem Fall hält die Schrift Gedanken fest. Je nach Blickwinkel erscheint das Denken als Zulieferprozess zum Schreiben oder das Schreiben (und Lesen) als unterstützender Prozess zum Denken. - Forschungsbeispiele: Hermanns 1988 zur „heuristischen Funktion“ des Schreibens, zum „Schreiben als Denken“; Molitor-Lübbert 1996 zum Schreiben als einem sprachlichen und mentalen Prozess; Molitor-Lübbert 2002 zu kognitiven Grundlagen des Schreibens; Ortner 1995 und Ortner 2000 im Überblick zum Zusammenhang von Schreiben und Denken; Ortner 2002 zu Bedingungen, die Einfälle beim Schreiben fördern; Ruhmann 2003 zum Zusammenhang von Denken, Sprechen und Schreiben in der prozessorientierten Schreibberatung an der Training beruflicher Textkompetenz 191 Hochschule; Smiley 1999 zu Absichten und Erkenntnissen Schreibender beim Lesen und Überarbeiten ihrer Geschichten. Im Fallbeispiel, der Redaktionsberatung „Tages-Anzeiger“, erfüllen TextproduzentInnen bei unterschiedlichen Erwartungsträgern unterschiedliche Funktionen, die sich bündeln lassen als 1) ein Thema darstellen, 2) öffentlich relevante TextakteurInnen einbinden, 3) die eigene Position einbringen, 4) die Sprechplätze verteilen und moderieren, 5) den Publikumsbezug herstellen und 6) die wirtschaftlichen Produktionsbedingungen von Raum, Zeit und Kosten einhalten. Diese Funktionen können sich widersprechen. Wer zum Beispiel die Recherche abbricht, sobald er die Grundzüge des Gegenstands nachzeichnen kann, spart Arbeitszeit und kann sein Wissen in wenig Raum oder Sendezeit darstellen. Wer dagegen Widersprüche aufspürt und ausdifferenziert, wird einem komplexen Thema eher gerecht, braucht aber Zeit und Raum: Konflikt der Funktionen 1) und 6). Oder: Wer direkte Rede in einen Beitrag einbaut, muss die Äußerungen den Quellen zur Autorisierung vorlegen und riskiert Produktionsverzögerungen. Wer dies vermeiden will und die Äußerungen sprachlich indirekt einbaut, nimmt ihnen Authentizität: Konflikt der Funktionen 6) und 4) (Ruhmann/ Perrin 2002). Entscheidungen an bestimmten Stellen im Produktionsablauf können die Konflikte entschärfen. Trainings profitieren deshalb von Modellen der Textproduktionsstruktur. 5.3 Training und Textproduktionsstruktur Textproduktion verläuft als Prozess in der Zeit. Ein Textproduktionsprozess kann definiert werden als Gesamtheit der Produktionsschritte zwischen dem Wahrnehmen der Schreibaufgabe und dem Weiterreichen des Textprodukts an die AdressatInnen oder an eine nächste Produktionsinstanz. Die Teiltätigkeiten sind unterschiedlich komplex, sie reichen von globaler Sinnfindung bis zur motorischen Steuerung des Schreibwerkzeugs. Für Trainings ist entscheidend, dass Textproduktionsprozesse Regelhaftigkeiten aufweisen. - Forschungsbeispiele: Alamargot/ Chanquoy 2001 im Überblick zu Modellen des Schreibens; Ludwig 2005 zu einem Ebenenmodell des Schreibenlehrens und -lernens: Buchstaben schreiben (Schreibunterricht), Wörter schreiben (Orthografie), Sätze schreiben (Stilistik), Texte schreiben, Schriftstücke herstellen, schriftliche Kommunikation herstellen; Levy/ Ransdell 1996 zu „writing signatures“ - prozeduralen Grundmustern, die sich in den Schreibprozessen einer Person wiederholen; Van Waes/ Schellens 2003 zu solchen Grundmustern - „writing profiles“ - erfahrener Schreibender; Antos 1995 zur Funktion von Mustertexten und Textproduktionsmustern beim Schreibenlernen. Im Fallbeispiel, der Redaktionsberatung „Tages-Anzeiger“, führte der Vergleich von erfahrenen und unerfahrenen Schreibenden zu aufgabenspezifischen Good-Practice-Modellen für Schreibprozesse und einzelne Prozessphasen. Eine solche Praktik erfahrener JournalistInnen besteht darin, Daniel Perrin/ Eva-Maria Jakobs 192 beim Nachrichtenschreiben unter starkem Zeitdruck zuerst die Kernaussage und den Textaufbau abzustecken und dann den Text in der Leserichtung zu schreiben, möglichst ohne hin- und herzuspringen und Textblöcke umzustellen. Großflächige Revisionen führen in der knappen Zeit meist zu Textbrüchen; die Zeit reicht nicht, um auf Distanz zu mental repräsentierten alten Textversionen zu gehen. Dieses und andere Produktionsmuster wurden in Trainings begründet und als Varianten zu den gewohnten Mustern eingeübt. Dabei halfen Arbeitstechniken wie die „Etappentechnik“ oder der „Typotest“ (Perrin/ Rosenberger 2005). Die „Etappentechnik“, für die Formulierungsphasen der Textproduktion: To get back into your text after a break, read the last two sentences only - not the whole text from the beginning. This will help you formulate smooth transitions. Der „Typotest“, für die Überarbeitungsphasen: Change the general appearance of your text (font, size, line width and line feed), then print it out and go somewhere else to proofread it. This will help you recognize problems you did not see in the familiar layout and at the familiar place. Solche Interventionen gründen auf empirische Einsichten in das Zusammenspiel von Schreib- und Leseprozessen in natürlicher Textproduktion. Sie greifen aber noch zu kurz. 6 Desiderate Während es inzwischen möglich ist, Schreibbewegungen am Bildschirm nachzuweisen, ohne natürliche Schreibprozesse zu stören, sind die Leseprozesse nur sehr indirekt erschließbar. Man kann aus bestimmten Schreibbewegungen schließen, dass hier ein/ e AutorIn seinen/ ihren Text überarbeitet. Eye-Tracking, also das Verfolgen der Augenbewegungen am Bildschirm, ist erst im Labor möglich (Andersson et al. 2006). Erst recht fehlt es an empirisch harten und für Trainings nutzbaren Analysen zum Zusammenspiel von Lese- und Schreibprozessen bei der Textproduktion (Wrobel 2000, 468). Wenig empirisch gesättigtes Wissen gibt es bislang auch dazu, wie kognitive und soziale Einflüsse beim Schreiben - und beim Schreibenlernen - ineinandergreifen: „Learning-to-write theories are an open field“ (Rijlaarsdam et al. 2005, 149). Aber auch dort, wo mehr Wissen vorhanden wäre, wie etwa in der Gesprächsforschung, fehlen noch didaktisch „prägnante Modelle und Visualisierungen“ der linguistischen Konzepte (Becker-Mrotzek/ Brünner 2004, 43). Wenn schließlich Lehr-/ Lernveranstaltungen wie Trainings erst bruchstückhaft auf relevantes Wissen greifen können, fehlen natürlich auch Studien zum Erfolg des Transfers solchen Wissens in die Anwendungsfelder (Fiehler 2002, 18; Hartung 2004). Investitionen in praktisch umsetzbares Wissen zur Textproduktion dürften sich doppelt lohnen: Linguistisch basierte Textberatung nützt der Praxis, aber auch der Linguistik. Im transdisziplinären Kontakt mit nichtwissenschaftlichen Fächern kann die Linguistik erkennen, welche sprachlichen Mittel die SprachteilhaberInnen als problematisch identi- Training beruflicher Textkompetenz 193 fizieren, wie sie mit Sprache umgehen oder wie sie ihre kognitiven und sozialen Praktiken des Sprachgebrauchs reflektieren - language awareness wird greifbar, ein aktuelles linguistisches Forschungsfeld. Von Textberatung und Textproduktionstrainings profitieren kann die Angewandte Linguistik schließlich nicht nur auf der fachdisziplinären Objektebene, sondern auch auf der Metaebene. Wissenschaftspolitisch ist es von Belang, was sprachwissenschaftliche Laien über Sprache wissen wollen und wo sich demnach Chancen für Wissenstransfer bieten. Die Angewandte Linguistik braucht AnwenderInnen, interessierte AnwenderInnen auch, die das Fach kennen, seinen Nutzen erkennen, seinen Sinn anerkennen. Literaturverzeichnis ALAMARGOT, Denis/ Chanquoy, Lucile (2001), Through the models of writing, Dordrecht et al.: Kluwer Academic Publishers. ANDERSSON, Bodil/ Dahl, Johan/ Holmqvist, Kenneth/ Holsanova, Jana/ Johansson, Victoria/ Karlsson, Henrik et al. (2006), „Combining keystroke logging with eyetracking”, in: Luuk Van Waes, Mariëlle Leijten, Chris Neuwirth (Hrsg.), Writing and digital media, Amsterdam et al.: Elsevier, 166-172. ANTOS, Gerd (1995), „Mustertexte und Schreibprozeduren. Standardisiertes Schreiben als Modell zur Aneignung von Schreibprozeduren“, in: Jürgen Baurmann, Rüdiger Weingarten (Hrsg.), Schreiben. Prozesse, Prozeduren, Produkte. Eine Hinführung zur Schreibforschung, Opladen: Westdeutscher Verlag, 70-84. BAUMANN, Monika (2004), „Diagnose und Schrift II. 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Hans-Jürgen Krumm Von der Gefährlichkeit der Schlangen oder: Textkompetenz im Bildungsgang von MigrantInnen 1 1 Zum Verständnis von Sprach- und Textkompetenz im Zusammenhang mit dem Sprachunterricht für MigrantInnen Immer wieder scheitern sprachlich scheinbar versierte Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund im Unterricht in den Schulen. Auch Erwachsene entwickeln mit Hilfe von Sprachunterricht zwar meist eine gute mündliche Sprachbeherrschung, scheitern aber vielfach selbst nach jahrelangem Kursbesuch bei komplexeren, insbesondere schriftsprachlichen Aufgabenstellungen. Erklärt wird dies damit, dass für den schulischen Erfolg nicht eine alltagssprachliche, sondern eine „kognitiv-akademische Sprachkompetenz“ (Cummins 1991) erforderlich ist. Gogolin (2005, 116 f.) hat dies unter Rückgriff auf Bernstein als „vertikalen“ im Unterschied zum „horizontalen“ Diskurs bezeichnet, als „kohärente, explizite, systematisch geordnete und von der konkreten Einbettung weitgehend unabhängige Form“ der Sprachfähigkeit. Solche „bildungssprachlichen Fähigkeiten“ sind, wie Gogolin (2007) am Beispiel des Mathematikunterrichts zeigt, keineswegs nur für den Erfolg im Sprachunterricht, sondern in der Bildungskarriere insgesamt entscheidend . Die Auseinandersetzung mit Schriftlichkeit zieht sich als roter Faden durch die Arbeiten von Paul Portmann-Tselikas (vgl. insbesondere Portmann 1991; 1996; 2002). Er plädiert in diesem Zusammenhang für den Begriff „Textkompetenz“: „Es handelt sich bei dieser Kompetenz offensichtlich nicht um eine sprachliche Kompetenz, sondern um die Kompetenz, auf ganz bestimmte Weise mit Sprache umzugehen, also um eine höherstufige Fähigkeit“ (Portmann-Tselikas 2002, 16), die in engem Zusammenhang mit der kognitiven Entwicklung zu sehen ist; die Sprachentwicklung wird aus dieser Perspektive zu einer Stufenfolge „zunehmend komplexerer Sprach- und Denkanforderungen“, die - so Portmann-Tselikas - gekennzeichnet ist durch • zunehmende Konzeptualisierung, • zunehmende thematische Verknüpfung, • zunehmende Sprachlastigkeit (Reduktion der stützenden Kontexte) (Portmann-Tselikas 1996, 28 f.) 1 Überarbeitete Fassung meines Beitrags für die Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts 2007. Hans-Jürgen Krumm 200 Damit wird ein anderer Akzent gesetzt als in der gegenwärtigen Debatte um die sprachliche Förderung von MigrantInnen. Die so genannten Integrationssprachkurse, wie sie in Österreich und Deutschland vorgeschrieben sind (vgl. u.a. Krumm 2005), orientieren sich nämlich nahezu ausschließlich an alltagssprachlichen Fähigkeiten, so als genügten primär mündliche Kompetenzen im Sinne der Cummins’schen basic interactive communication skills, um Kindern die erfolgreiche Teilhabe an der deutschsprachigen Schule, Erwachsenen die erfolgreiche Mitwirkung in der Gesellschaft zu ermöglichen: das Curriculum für das Basissprachmodul im Rahmen des Integrations-Sprachkurses (BAMF 2005) zum Beispiel ist ausschließlich in diesem Sinne alltagssprachlich orientiert: Zur Person/ soziale Kontakte Wohnen Einkaufen/ Handel/ Konsum Essen und Trinken/ Orte Menschlicher Körper/ Gesundheit Alltag Dienstleistungen/ Ämter/ Behörden Arbeit und Beruf Erziehung/ Ausbildung/ Lernen Mobilität und Verkehr Freizeit Natur und Umwelt Hier werden die alltagssprachlichen Fähigkeiten erweitert, Textkompetenz aber nicht erreicht: Diese ist nämlich schriftlich geprägt, auch da, wo es um Mündlichkeit geht: „Schulische Kommunikation hat auch dann, wenn sie sich mündlich vollzieht, tendenziell die konzeptionellen Merkmale der Schriftlichkeit - zumindest auf der normativen Ebene, also der Ebene der Zielbestimmung und Leistungsbeurteilung“ (Gogolin 2007; vgl. Portmann- Tselikas 1996, 29 f.). Eine rein alltags-, d.h. gesprochensprachliche Orientierung von Sprachförderung im Kontext von Integration, gleich ob bei Kindern oder Erwachsenen, verfehlt ihr eigentliches Ziel. Ich halte es daher für wichtig, Sprachförderung immer auch unter dem Aspekt zu analysieren (und zu gestalten), ob und wie weit bildungssprachliche Fähigkeiten entwickelt werden. 2 Das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Sprachenunterricht mit MigrantInnen Davor hatte ich große Angst Ich habe von Schlange Große Angst. Sie Siend fiel große. Die Siend Schwars. Die Siend fiel. Die Siend fiel fiel Gäferlich. Die Siend im Jungel. Die Giebs imt fielän faben. Der Schlangen hat eine Man getötät. eine frau hat schangen getötät. einmal Der Schalangen auf dem Bett gekletat. Von Diejen Tag habich von Die Schalangen Von der Gefährlichkeit der Schlangen 201 Angst. Und So ist Die Gschkt vonbae. (Text: 4. Klasse, 2 Jahre Sprachförderunterricht zusätzlich zum Unterricht) Liest man diesen Text laut vor, so zeigt er, dass dieser Schüler hervorragend in der Lage ist, seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen und eine kohärente Geschichte zu erzählen. Zugleich aber wird deutlich, dass seine Sprache auch in der Schriftform nicht nur phonetisch, sondern auch in der Syntax durch Mündlichkeit geprägt ist . Auch der Gemeinsame europäische Referenzrahmen für Sprachen fokussiert auf den „unteren“ Niveaustufen (A1 bis B1) eine alltagssprachliche Orientierung selbst da, wo es um (schriftliche) Textrezeption und Textproduktion geht (Europarat 2001): A2: Kann kurze, einfache, formelhafte Notizen machen, wenn es um unmittelbar notwendige Dinge geht (S. 86). B1: Kann eine Nachricht notieren, wenn jemand nach Informationen fragt oder ein Problem erläutert (S. 87). B1: Kann kurze Textpassagen auf einfache Weise zusammenfassen, indem er/ sie dabei den Wortlaut und die Anordnung des Originals benutzt (S. 98). Wendet man diese Deskriptoren auf den zitierten Text über die Schlangen an, so wird deutlich, wie unzureichend hier Textkompetenz definiert ist: Der Schreiber ist einerseits eventuell höher als auf dem Niveau A2 einzustufen, kann er doch Sachverhalte und Gefühle darstellen, sogar ohne auf ein Original zurückgreifen zu müssen, andererseits liegt er nicht nur im Bereich von Rechtschreibung und Grammatik unter der Stufe A2: ihm fehlen jene schriftsprachlichen Kompetenzen, die es erlauben, eine Geschichte als Handlungsablauf sprachlich darzustellen, Ursachen und Wirkungen explizit aufeinander zu beziehen. In der Schule wie in vielen Bereichen der Arbeitswelt erfolgt die Auseinandersetzung mit Themen und Gegenständen hauptsächlich über (überwiegend schriftliche) komplexe Texte: Lehrbuchtexte (Sachtexte), Arbeitsaufgaben, Notizen, Protokolle, Zusammenfassungen - dafür wird eine eher formelle, situationsentbundene Sprache benötigt (vgl. Schmölzer- Eibinger 2002, 93; Gogolin 2007), wie sie hier gar nicht in den Blick genommen wird. Der Referenzrahmen formuliert solche Sprach- und Textkompetenzen erst ab Niveaustufe B2, d.h. aber jenseits der Schwelle der Integrationssprachkurse und auch für schulische Lernende viel zu spät. Welche Diskrepanz bei einem primär auf Mündlichkeit fixierten Curriculum gegenüber den Sprachanforderungen von Schule und Gesellschaft entsteht, sei an den Sprachanforderungen im Rahmen des deutschen Zuwanderungsgesetzes illustriert: Anforderungen lt. Integrationskursverordnung: Niveaustufe B1 GER B1 Leseverstehen: Kann Texte verstehen, in denen vor allem sehr gebräuchliche Alltags- oder Berufssprache vorkommt. Hans-Jürgen Krumm 202 Kann private Briefe verstehen, in denen von Ereignissen, Gefühlen und Wünschen berichtet wird. Anforderungen lt. Integrationskursverordnung: Orientierungskurs GRUNDWISSEN Rechtsordnung: Staatsaufbau der BRD, Demokratie, politische Einflussnahme, Wahlrecht, Stellung der Länder und Kommunen, Rechtsstaat, Sozialstaatsprinzip, Grundrechte, Pflichten der Einwohner Geschichte: Entstehung und Entwicklung der BRD Kultur: Menschenbild, Zeitverständnis, Regelorientierung, Religiöse Vielfalt 2 Das Curriculum des Orientierungskurses bildet die Anforderungen an die bildungssprachliche Sprach- und Textkompetenz ab, es passt weder von den Textsorten noch von den Inhalten her zu den Kann-Beschreibungen des alltagssprachlich ausgelegten Referenzrahmens auf Niveau B1. Ganz ähnlich verhält es sich mit der Diskrepanz zwischen den Sprachkursen (Niveau A2) und der sog. Landeskunde-Prüfung in Österreich, wobei die Prüfung selbst, die als multiple-choice-Prüfung durchgeführt wird, auf den ersten Blick die bildungssprachlichen Anforderungen nicht erkennen lässt. 3 Im Sprachunterricht mit MigrantInnen kann nicht davon ausgegangen werden, dass diese über eine ausreichende, durch den Kindergarten und die Grundschule bereits angelegte bzw. entwickelte Sprach- und Textkompetenz verfügen, insbesondere nicht über ausreichende Erfahrungen im Hinblick auf Differenzierungen zwischen Textsorten und Fachgebieten. Um sich in der Schule in fachlich angemessener Weise über einen Gegenstand verständigen zu können, braucht es zum einen Kenntnisse über die Art und Weise, wie man im jeweiligen Fach über ein Thema nachdenkt und zum anderen bedarf es besonderer Sprachkenntnisse, um diese spezifische Form des Denkens mitteilen zu können (Schmölzer-Eibinger 2002, 93). Ein Unterricht, der Fertigkeiten isoliert und stuft, wird diesen Anforderungen nicht gerecht: Die Fokussierung auf Sprach- und Textkompetenz kann insofern dazu beitragen, eine missverstandene und durch die Testpraxis verstärkte Isolierung des klassischen Fertigkeiten-Ansatzes zugunsten einer integrierten Betrachtung komplexer „Textkompetenz“ zu überwinden. 3 Sprachförderung als Förderung von Textkompetenz MigrantInnen, die im deutschen Sprachraum einen Kurs besuchen bzw. eingeschult werden, haben ihren Alltag bis dahin offenbar zureichend gemeistert, indem sie bereits eine ausreichende alltagssprachliche Zweitsprachkompetenz ausgebildet haben oder in ihrer Lebenswelt für die Alltagsbewältigung eher ihre Herkunftssprache brauchen. Ein Sprachunter- 2 Vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (2007): www.bamf.de. 3 Vgl. Österreichischer Integrationsfonds (2007): www.integrationsfonds.at. Von der Gefährlichkeit der Schlangen 203 richt, der primär Sprache für den Alltag (Familie, Wohnen, Konsum etc.) entwickelt, verfehlt die dringliche Aufgabe, die Lernenden so auszustatten, dass sie sich nunmehr mit Hilfe von Sprache neue Sprachwelten erschließen können - für Kinder zunächst und an erster Stelle den Bildungsraum Schule, während bei Erwachsenen hier Fragen der Teilhabe an der Gesellschaft im Einwanderungsland (Beruf, Weiterbildung, politisches Geschehen, Kulturleben, Medienkonsum) aktuell werden. Das aber bedeutet, dass nunmehr Sprach- und Textkompetenz im skizzierten Sinne als primäre Lernziele zu betrachten sind und es falsch wäre, einen primär nach Einzelfertigkeiten separierten und gestuften Sprachunterricht anzubieten (was nicht ausschließt, dass es übende, wiederholende und festigende, auf Einzelfertigkeiten bezogene „didaktische Schleifen“ geben kann und muss). Die Integration der Fertigkeiten (vgl. Krumm 2001) in einem aufgabenorientierten Unterricht führt zu einer vertieften Sprachverarbeitung: „Diese Aktivitäten setzen bei den Lernenden innere Prozesse in Gang: mehr oder minder aktive Beteiligung, Prozesse des Verstehens und der Identifikation von zu Lernendem, Prozesse der Informations- und Sprachverarbeitung ... Diese Prozesse führen - optimalerweise - zu Lernergebnissen, das heißt zu bleibenden Spuren im Gedächtnis (Wissen, Können, ...)“. So beschreibt Portmann-Tselikas die Zielsetzungen eines aufgabenorientierten Unterrichts (2001, 13), der besonders geeignet ist, komplexe Textverarbeitung zu initiieren. Ein Sprachunterricht, der die „Textarbeit“, d.h. auf Schriftsprachlichkeit hin organisierte Rezeption und Produktion, derart vernachlässigt, wie das - zumindest im Bereich Deutsch als Zweitsprache - derzeit der Fall ist, der kleinteilige Übung isolierter Fertigkeiten an Stelle von integrierten Arbeitsprojekten favorisiert, bedarf dringend der Korrektur. Was für das Mündliche mit dem Konzept von „Szenarios“ etwa im Zertifikat Deutsch (1999, 25 ff.) sinnvoll begonnen wurde, muss für den gesamten Bereich von Textrezeption und -produktion entwickelt werden. Ich illustriere das an einem Beispiel aus dem Lehrwerk Dimensionen, in dem eine systematische Schreibentwicklung angelegt ist, die auch eine Reflexion über das Schreibergebnis bis hin zur Textredaktion einschließt (vgl. z.B. Lernstation 17: Das Schreiben planen/ Einen Text überarbeiten, Dimensionen 3, Jenkins u.a. 2006, 266 f.) und in eine komplexe Projektaufgabe mündet: Dimensionen Bd. 3 (Jenkins u.a. 2006, 274 ff.), Lernstation 18: Eine Person aus D-A-CH erfinden (vgl. auch Groenewold 1988). Hier wird die fiktive Biographie einer Person entwickelt, beginnend mit den Angaben zur Person, es folgen Vorlieben und Freizeit, Ausbildung und Beruf, Gesellschaft und Politik. Die Einheit kann als Spiel oder auch als Unterrichtsprojekt bearbeitet werden, wobei Leitfragen die Textrezeption und -produktion steuern: Welche wichtigen Ereignisse fallen in die Lebenszeit Ihrer Person? Recherchieren Sie, ... Wie reagiert die Person in Krisensituationen? Hans-Jürgen Krumm 204 In welcher Form äußert Ihre Person ihre Meinung zu gesellschaftlichen Ereignissen? Bei solchen Aufgaben kommt auch die soziokulturelle Dimension ins Spiel, muss doch gefragt werden, welche Personen sich in welchen Kontexten wie ausdrücken, welche Formen der (mündlichen oder schriftlichen) Interaktion in (interkulturellen) Sprachbegegnungen angemessen sind. In Projekten, die die Fremd- oder Zweitsprache als Arbeitssprache systematisch in anderen Fächern weiterentwickeln, entsteht gleichfalls ein Potential, das zur Entwicklung von Sprach- und Textkompetenz genutzt werden kann, geht es hier doch genau darum, „die Art und Weise, wie man im jeweiligen Fach über ein Thema nachdenkt“, in einer neuen Sprache auszudrücken (Schmölzer-Eibinger 2002, 93) - im Zusammenhang mit dem Sprachunterricht in sprachlich heterogenen Gruppen stellt sich allerdings die Frage, wie die bisher auf bilinguale Arbeitskontexte hin orientierten Ansätze Content and Language Integrated Learning (CLIL) auch für mehrsprachige Lehr- und Lernkontexte fruchtbar gemacht werden können. 4 Folgende Punkte wären im Rahmen einer auf Sprach- und Textkompetenz zielenden Orientierung des Unterrichts auf Seiten der Lernenden anzugehen: • Entwicklung eines Bewusstseins von Textsortenkonventionen • Schaffung eines stärkeren Bewusstseins für Differenzen zwischen geschriebener und gesprochener Sprache • Vermittlung von Merkmalen der „Bildungssprache“ (schriftsprachorientierte Mündlichkeit, Konventionen der fachbezogenen Schriftlichkeit) • Vermittlung von Arbeitstechniken zur Planung von Textproduktion durch Entwicklung eines „Sprachproduktionsbewusstseins“ (z.B. über explizites Reformulieren) • Vergleich von Textmustern L1/ L2/ ... (Analyse von Modelltexten) Vor allem die Lehrenden, aber auch die Lernenden müssen begreifen, dass eine muttersprachliche nicht automatisch auch das Vorhandensein einer zweit- oder fremdsprachlichen Textkompetenz bedeutet, dass eine alltagssprachlich hohe Sprachfähigkeit nicht zugleich eine hohe Sprach- und Textkompetenz im Bereich der Bildungssprache impliziert, und schließlich auch, dass Textproduktion und Textmuster auch kulturell unterschiedlich definiert sein können. Das bedeutet, Abweichungen vom geforderten Textmuster nicht sofort zurückzuweisen, sondern zunächst zu versuchen, diese aus der Sprachlerngeschichte und Herkunftskultur der Lernenden zu verstehen. Mit den Grazer Arbeiten zum Themenbereich Textkompetenz, die Paul Portmann-Tselikas selbst durchgeführt oder maßgeblich angeregt hat - ich 4 Content and Language Integrated Learning in German (2007): www.opeko.fi/ clilig/ projekt.htm. Von der Gefährlichkeit der Schlangen 205 verweise auf die Arbeiten in Portmann-Tselikas/ Schmölzer-Eibinger 2002 - wurde ein Forschungsbereich begründet, der zu den hier angeschnittenen Fragestellungen und didaktischen Perspektiven bereits wichtige Grundlagen erarbeitet hat und auch in Zukunft erwarten lässt. Literaturverzeichnis BUNDESAMT FÜR MIGRATION UND FLÜCHTLINGE - BAMF (2005), „Konzept für einen bundesweiten Integrationskurs“, in: www.bamf.de (19.4.2007). CONTENT AND LANGUAGE INTEGRATED LEARNING IN GERMAN - CLILiG, in: www.opeko.fi/ clilig/ projekt.htm (5.01.2007). CUMMINS, Jim (1991), „Conversational and academic language proficiency in bilingual contexts“, in: AILA-Review 8: Reading in Two Languages, 75-89. EUROPARAT (2001), Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen für Sprachen: lernen, lehren, beurteilen, Berlin. GOGOLIN, Ingrid (2005), „Was sie nützen könnten, wenn sie nützen dürften. 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Sabine Schmölzer-Eibinger Auf dem Weg zur Literalen Didaktik 1 1 Textkompetenz als ein Instrument des Lernens in der Zweitsprache Lernen in der Zweitsprache bedeutet, eine fremde Sprache nicht nur als ein Mittel der Kommunikation, sondern auch als ein Instrument des Lernens einsetzen zu können. Zweitsprachenlernende stehen daher vor einer doppelten Herausforderung: Sie müssen eine fremde Sprache lernen und in dieser Sprache auch Wissen erwerben. Der Wissenserwerb in der Schule erfolgt vor allem auf der Basis von Texten. Texte sind eine zentrale Grundlage des Lernens - dies gilt für Quellentexte im Fach Geschichte ebenso wie für Textaufgaben in der Mathematik oder für Beschreibungen, Erklärungen und Anweisungen in Geografie, Biologie oder Physik. Um in der Schule erfolgreich zu sein, müssen Zweitsprachenlernende über Textkompetenz verfügen - Textkompetenz ist eine Schlüsselkompetenz des Lernens. Lernende, die über Textkompetenz verfügen, können Texte lesen und verstehen und mittels Texten kommunizieren und lernen. 2 Sie sind in der Lage, über Texte zu reflektieren, sich über Texte zu äußern und eine schriftsprachlich geprägte Sprache auch mündlich im jeweiligen Kontext adäquat zu gebrauchen. Viele Zweitsprachenlernende haben Probleme, Texte als eine Grundlage und als Instrument des Lernens zu nutzen, auch wenn sie die Zweitsprache im alltagsbezogenen Sprachgebrauch bereits weitgehend beherrschen. Alle internationalen Bildungsstudien der letzten Jahre haben ergeben, dass der Leistungsabstand zwischen Migrantenkindern und muttersprachigen Schülerinnen und Schülern in Regelklassen eklatant ist (vgl. Gogolin 2006). Die Probleme von Zweitsprachenlernenden, die geforderten Leistungen im Unterricht zu erbringen, werden im Laufe der Schulzeit trotz zunehmender mündlicher Sprachkompetenz meist nicht kleiner, sondern immer größer 1 Das ist auch der Titel meines im Mai 2007 gehaltenen Habilitationsvortrags, der diesem Aufsatz teilweise zugrundeliegt und der sich auf das Thema meiner Habilitationsschrift „Textkompetenz und Lernen in der Zweitsprache. Grundlagen und Verfahren der Literalen Didaktik“ bezieht. Dieses Habilitationsvorhaben wurde maßgeblich durch Prof. Portmann-Tselikas angeregt und von ihm auch während des gesamten Entstehungsprozesses begleitet und unterstützt. Teilergebnisse der Habilitationsschrift (Schmölzer-Eibinger, i.V.) wurden bereits andernorts publiziert (vgl. Schmölzer- Eibinger 2004; 2005; 2006a, b). 2 Diese Definition von Textkompetenz beruht auf begrifflichen Bestimmungen, wie sie von Portmann-Tselikas (2001a, b; 2002) und Kern (2000) vorgenommen wurden. Sabine Schmölzer-Eibinger 208 (vgl. de Cillia 1998, 231; Reich/ Roth 2001, 22). Dies hat vor allem damit zu tun, dass die sprachlichen und kognitiven Anforderungen im Laufe der Schulzeit steigen. Was sind nun die Anforderungen im Umgang mit Texten, mit denen die Schülerinnen und Schüler im Unterricht konfrontiert sind? Im folgenden Beispiel handelt es sich um eine Textaufgabe aus einem Schulbuch für den Mathematikunterricht der dritten Schulstufe: a) Michael kauft eine Badehose um 49 Euro, eine Taucherbrille um 121 Euro und einen Sonnenhut um 37 Euro. Wie viel muss er dafür insgesamt bezahlen? b) Er bezahlt mit 300 Euro. Wie viel bekommt er zurück? (Peltzer-Karpf et al. 2003, 182) Was müssen die Lernenden wissen, um diese Aufgabe lösen zu können? Für die Lösung dieser Aufgabe ist es weniger wichtig zu wissen, was die genannten Dinge üblicherweise kosten - denn dann wäre diese Aufgabe höchstens ein Lehrbeispiel für die Realitätsferne von Schulbüchern -, es ist im Grunde auch nicht wichtig zu wissen, was mit den Begriffen Badehose, Taucherbrille und Sonnenhut gemeint ist, denn letztlich geht es nicht um die Dinge an sich, sondern darum, anhand dieser Begriffe bestimmte mathematische Operationen zu üben. Was ist also die Lernaufgabe in diesem Fall? Die Lernaufgabe besteht für die SchülerInnen nicht nur darin, Zahlen zu addieren und zu subtrahieren, sie besteht vielmehr darin, relevante Informationseinheiten im Text zu erkennen, zu gewichten, sie miteinander zu verknüpfen, ihre Funktion im Rahmen des mathematischen Konzeptes, um das es hier geht, zu definieren und die erforderlichen Problemlöseschemata abzurufen (vgl. Peltzer-Karpf et al. 2003, 182). Dies ist eine grundlegende Voraussetzung dafür, dass die verlangten mathematischen Operationen überhaupt durchgeführt werden können. Die Lernenden sind also im Sinne von Neisser (1979) gefordert, Orientierungspunkte in diesem Text ausfindig zu machen und so genannte „kognitive Landkarten“ zu konstruieren, die es ermöglichen, unabhängig von konkreten Situationen in einem abstrakten, nur noch verbal definierten Symbolfeld (Bühler 1965) zu denken und sprachlich zu handeln. Wichtig ist daher, dass die Lernenden wissen, was die Wörter „eine(n) ... um“, „wie viel“ und „insgesamt“ etwa im ersten Beispiel bedeuten und auf welche Weise sie den Sinnzusammenhang in diesem Text konstituieren. Diese Wörter sind es nämlich, die die Orientierungspunkte in diesem Text ausmachen und die es erlauben, den Text als ein Ganzes zu verstehen. In einer Studie zum Umgang mit mathematischen Textaufgaben von Peltzer-Karpf et al. 2003 wurde das Textverständnis dieser Aufgabe und die mathematische Lösungskompetenz in einer dritten Klasse Volksschule untersucht. Dabei hat sich gezeigt, dass es vor allem Kinder mit nichtdeutscher Muttersprache waren, die mit dieser Aufgabe Probleme hatten. Viele von ihnen verstanden zwar die meisten Wörter, konnten die Auf dem Weg zur Literalen Didaktik 209 geforderten Rechenoperationen aber nicht durchführen. Und nicht wenige von ihnen haben die Zahlen aus den Aufgaben a) und b) einfach zusammengezählt (vgl. Peltzer-Karpf et al. 2003, 182). Es gab jedoch auch Zweitsprachenlernende, die zur richtigen Lösung gelangten, obwohl sie einzelne Wörter - wie etwa die „Taucherbrille“ - nicht kannten, denn sie hatten prinzipiell verstanden, dass es etwa bei der Frage a) darum ging, dass drei Dinge gekauft worden waren und der Preis dafür zu addieren war. Die in der Didaktik verbreitete Annahme, dass es ausreicht, Zweitsprachenlernenden alle Wörter in einem Text zu erklären, erweist sich daher als falsch. Die zentralen Probleme im Umgang mit Texten bestehen meist nicht im Verstehen einzelner Wörter, sondern darin, jene Wörter in einem Text zu erkennen und im jeweiligen Kontext zu verstehen, die es ermöglichen, einen Text als ein Sinnganzes wahrzunehmen und als ein Instrument des Lernens zu nutzen. Dies gilt nicht nur für Texte in der Mathematik - Texte sind in fast allen Fächern in der Schule eine zentrale Grundlage und ein Medium des Lernens. 2 Indikatoren für Textkompetenz Wie kann ich nun als LehrerIn erkennen, ob meine SchülerInnen über die nötige Textkompetenz verfügen, die sie im Unterricht brauchen, um anhand von Texten lernen zu können? Die im Folgenden genannten Indikatoren für Textkompetenz können dazu dienen, die Textkompetenz der Lernenden einzustufen. Sie wurden auf der Grundlage verfügbarer empirischer Studien sowie von Unterrichtsbeobachtungen und qualitativen Analysen von Lernertexten und Textproduktionsprozessen erarbeitet, die von SchülerInnen beim kooperativen Schreiben geführt wurden (vgl. Schmölzer-Eibinger 2004; 2006a, b). Dazu ein Beispiel: Es handelt sich um zwei Gespräche, die von Schülerinnen einer vierten Klasse beim Verfassen einer Bildergeschichte geführt wurden. 3 Eine der beiden Gruppen bestand aus deutschsprachigen Schülerinnen mit einer altersgemäß gut entwickelten Textkompetenz, die andere Gruppe bestand aus Zweitsprachenlernenden mit einer relativ geringen Textkompetenz. 4 In der Gruppe der Zweitsprachenlernenden befanden sich ein serbischsprachiges Mädchen und zwei türkischsprachige Mädchen. Alle drei verfügten über eine gut entwickelte mündliche Sprachkompetenz. Sie haben Deutsch vor allem ungesteuert im außerschulischen Alltag erworben. Marija 3 Diese Gespräche sind Teil eines Korpus von Textanalysen, das im Rahmen des Forschungsprojektes „Textkompetenz und Lernen in der Zweitsprache“ erstellt wurde. 4 Dieses Ungleichgewicht ist durchaus symptomatisch, aber dennoch nicht generalisierbar. Zweitsprachenlernende, die von Kindheit an in ihrer literalen Entwicklung gefördert und schon früh mit der „Welt der Texte“ vertraut gemacht werden, verfügen meist über eine gut entwickelte Textkompetenz. Sabine Schmölzer-Eibinger 210 und Secil sind bereits vor Schuleintritt nach Österreich gekommen, Gönül ist in Österreich geboren und in der mündlichen Alltagskommunikation kaum von muttersprachigen SchülerInnen zu unterscheiden. Der folgende Gesprächsausschnitt bezieht sich auf das Bild 7 der Bildergeschichte: Abb. 1 G: Sie legte sich hin mit dem dicken Bauch. Sie … [flüstern und schreiben] S: Nein sie… G: …mit dem dicken Bauch und legte sich hin… wart mal … sie legte sich... [diskutieren über die Lesbarkeit des Geschriebenen] … hin mit dem dicken Bauch und schlief ein. (Gönül, Secil, Marija) M: Da legte sie sich hin … [korrigiert sich selbst] Mit schwerem Bauch legte sie sich hin und schlief … C: Ganz vollgefressen … M: Mit schwerem Bauch… Mit ganz vollgefressenem und schwerem Bauch… C: legte sie sich auf den Teller… M: legte sie sich auf den Teller, wo früher das Stück Käse stand und schlief… C: das Stück Käse stand tät ich wegstreichen! M: …legte sie sich auf den Teller und schlief - schlaf… C: und schlief längere Zeit… M: schlief ruhig ein… ruhig und glücklich… schlief ruhig und glücklich ein… C: schlief ruhig ein ist besser! M + C: Mit vollem Bauch legte sie sich auf den Teller und schlief glücklich ein. C: Nein! M: Da lacht sie ja, da hat sie einen Smilie! C: Ja, ok. (Christina, Mira) Welche Indikatoren sind es nun, die dazu beitragen können, die Textkompetenz der Schülerinnen und Schüler einzustufen? Auf dem Weg zur Literalen Didaktik 211 2.1 Veränderungen am Text Schon dieser kurze Gesprächsausschnitt zeigt, dass die Schülerinnen bereits geäußerte Formulierungen verschieden oft und auf unterschiedliche Weise verändern: Sowohl die Quantität als auch die Qualität der Veränderungen lässt Rückschlüsse auf ihre Textkompetenz zu. Lernende, die über eine hohe Textkompetenz verfügen, überarbeiten ihre Formulierungen im Prozess der Textproduktion mehrfach, sie verändern sie anhand unterschiedlicher Strategien und über einen längeren Zeitraum hinweg. Dabei werden nicht nur einzelne Wörter, sondern ganze Sätze und Textpassagen verdichtet, erweitert, neu kombiniert oder ersetzt. Auch bereits veränderte Äußerungen werden immer wieder von neuem überprüft und überarbeitet. Dabei konzentrieren sie sich nicht nur auf die sprachliche Oberfläche, sondern auch auf die Tiefenstruktur eines Textes. Sinnzusammenhänge werden mehrfach überprüft, verdeutlicht und präzisiert; Rückgriffe auf länger zurückliegende Äußerungen und Textelemente sind häufig. Die Veränderungen führen durchwegs zu Textoptimierungen, sie sind sowohl bedeutungserhaltend als auch bedeutungsverändernd. Es kommt zu Paraphrasierungen, Präzisierungen und Neukombinationen einzelner Wörter und Textpassagen als auch zu Tilgungen, Fokussierungen, Generalisierungen und Expansionen. Erläuterungen und Erklärungen sind häufig, Wiederaufnahmen erfolgen vor allem durch Variationen im Einsatz von Rekurrenzen, Substitutionen und Proformen. Lernende mit niedriger Textkompetenz verändern ihre Äußerungen demgegenüber kaum, sie nehmen nur selten Bezug auf vorangegangene Textstellen oder bereits eingeführte Inhalte, ihre Aufmerksamkeit liegt fast ausschließlich auf der Wortebene, größere Sinnzusammenhänge bleiben außer Acht. Sie verfügen nur über ein eingeschränktes Repertoire an Strategien der Textoptimierung; ihre Revisionen sind überwiegend bedeutungserhaltend. Überarbeitungen erfolgen fast nur an der sprachlichen Oberfläche des Textes, sie führen nicht immer zu Verbesserungen des Textes, sondern auch zu neuen Fehlern (vor allem im Bereich der Syntax). Bei den Veränderungen handelt es sich meist um lexikalische Vereinfachungen; Tilgungen, Fokussierungen, Generalisierungen, Expansionen oder Neukombinationen von Wörtern oder Wortgruppen sind selten. Präzisierungen in Form von Erklärungen oder Erläuterungen sind selten. Wiederaufnahmen kommen nur vereinzelt, am ehesten in Form von Rekurrenzen vor. Bereits veränderte Textpassagen werden meist nicht nochmals überprüft, begonnene Überarbeitungen brechen bald wieder ab. 2.2 Perspektivenwechsel und Strategienvielfalt Damit gemeint ist die Fähigkeit, Texte aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten und anhand unterschiedlicher Lese- und Schreibstrategien zu bearbeiten und zu gestalten. Diese Fähigkeit zeigt sich sowohl im Leseals Sabine Schmölzer-Eibinger 212 auch im Schreibprozess darin, dass Lernende ihre Aufmerksamkeit abwechselnd auf die lokale und auf die globale Ebene eines Textes richten und sowohl sprachliche Details als auch Gesamtzusammenhänge des Textes beachten. Ein Text wird von den Lernenden mehrfach und anhand unterschiedlicher Strategien gelesen, bearbeitet und gestaltet. Vor- und Rückgriffe im Text erlauben es, Sinnzusammenhänge beim Lesen gut zu verstehen und beim Schreiben im jeweiligen Kontext adäquat aufzubauen. Dies erfordert eine distanzierte Haltung der Lernenden zum Text, die sich im Prozess der Textproduktion v.a. in der Intensität der metasprachlichen und metakognitiven Äußerungen sowie in den Evaluierungen der Kontextadäquatheit und der Textkohärenz manifestiert. Lernende mit niedriger Textkompetenz tendieren dazu, ihre Aufmerksamkeit beim Lesen nur auf die lokale Ebene des Textes zu richten, sie lesen Texte von sich aus nicht mehrfach und verfügen auch nur über ein eingeschränktes Repertoire an Strategien, die ein tiefergehendes Textverständnis ermöglichen. Sie konzentrieren sich meist nur auf ein wortbezogenes, detailliertes Lesen; Vor- und Rückgriffe im Text sind selten. 2.3 Fokussierung von Kernaussagen Die Textkompetenz der Lernenden zeigt sich auch in der Fähigkeit, zentrale Themen und Ereignisse zu fokussieren. So haben auch Christine und Mira zu jedem Bild zunächst das wichtigste Ereignis in einem kurzen Satz festgehalten („Da legte sie sich hin und schlief.“) und diesen Satz nach und nach sprachlich und inhaltlich ausdifferenziert. Die Fähigkeit, relevante Inhalte in einem Text zu erkennen und ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken, ist nicht nur beim Schreiben, sondern auch beim Lesen zentral. Lernende, die über diese Fähigkeit verfügen, konzentrieren sich schon beim Lesen auf die wichtigen Informationen eines Textes und verknüpfen sie beim Wiedergeben auf sachadäquate, nachvollziehbare Weise. Beim Schreiben stellen sie zentrale Themenaspekte von Beginn an ins Zentrum und behalten sie während des Textproduktionsprozesses durchgehend im Auge. Lernende, die nicht über diese Fähigkeit verfügen, können relevante Informationen beim Lesen nicht erkennen und beim Schreiben nicht ins Zentrum der Textproduktion stellen. Sie versuchen einen Text Wort für Wort zu entschlüsseln und können sinntragende Wörter und die für das Thema relevanten Textpassagen nicht erkennen. Sie sind daher auch nicht in der Lage, den Gesamtzusammenhang eines Textes beim Lesen zu erkennen bzw. beim Schreiben zu konstruieren. Die Formulierung und Ausdifferenzierung von Kernaussagen spielt im Textproduktionsprozess keine oder nur eine untergeordnete Rolle. Es gelingt den Lernenden daher meist auch nicht, verständliche, nachvollziehbare Texte zu schreiben. Sie reihen einzelne Informationen oft gänzlich ungewichtet und bloß assoziativ aneinander. Auf dem Weg zur Literalen Didaktik 213 2.4 Bedeutungskonstruktion im Kontext Die Textkompetenz der Lernenden zeigt sich auch darin, dass Wortbedeutungen und Sinnstrukturen beim Lesen richtig gedeutet und interpretiert und beim Schreiben kontextadäquat aufgebaut werden. Beim Schreiben eines Textes ist damit die Anforderung an die Lernenden verbunden, Begriffe präzise zu verwenden, Äußerungen klar zu formulieren, Kontexte explizit herzustellen und Sinnzusammenhänge nachvollziehbar darzustellen. Lernende mit geringer Textkompetenz verwenden Begriffe ungenau, ihre Äußerungen sind unklar, mitunter auch lückenhaft und redundant. Sie setzen ein Wissen über außersprachliche Kontexte, die für das Textverstehen eine Rolle spielen, bei den Lesenden oft einfach voraus anstatt es explizit herzustellen. Beim Schreiben konzentrieren sie sich mehr auf einzelne Wörter und Textelemente als auf den Text als Ganzes. 2.5 Themenentfaltung und Textkohärenz Textkompetenz wird auch in der Art und Weise manifest, wie ein Thema in einem Text entwickelt, wie Sinneinheiten miteinander verknüpft und logische Strukturen aufgebaut sind. Texte von Lernenden mit hoher Textkompetenz zeichnen sich dadurch aus, dass thematische Zusammenhänge verständlich und nachvollziehbar hergeleitet und Sachverhalte explizit und präzise dargestellt sind. Die Texte sind durch eine differenzierte Wiederaufnahmestruktur gekennzeichnet und enthalten nicht nur viele, sondern auch unterschiedlich voraussetzungsreiche, adäquat eingesetzte Kohäsionsmittel. In Texten von Lernenden mit geringer Textkompetenz ist das Thema nicht nachvollziehbar entfaltet; die Wiederaufnahmestruktur ist lückenhaft und die Sinnstruktur des Textes ist brüchig. Dies zeigt sich etwa darin, dass Absätze nicht bzw. an Stellen gesetzt werden, wo sie nicht passen. Es werden nur wenige, kaum voraussetzungsreiche Kohäsionsmittel verwendet und teilweise inadäquat eingesetzt. Komplexere Mittel der Textverknüpfung (z.B. logische Konnektoren) fehlen meist ganz. Die Texte sind in ihrer Qualität oft sehr schwankend und vielfach dadurch gekennzeichnet, dass sie mit zunehmender Textlänge zerfallen ( Knapp 1997). 2.6 Sprachliche Variation Die Texte von Lernenden mit hoher Textkompetenz sind stilistisch und lexikalisch variantenreich gestaltet, sie zeichnen sich durch einen umfangreichen und differenzierten Wortschatz sowie durch den Einsatz von einfachen und komplexen Sätzen aus. Im lexikalischen Bereich ist der Gebrauch von zahlreichen, einfachen und komplexen Adjektiven, Adverbien und Verben kennzeichnend („mit schwerem Bauch“, „mit ganz Sabine Schmölzer-Eibinger 214 vollgefressenem Bauch“, „mit vollem Bauch“). In Erzählungen werden verschiedene Markierungen der Plötzlichkeit und auch Ausdrücke verwendet, die Emotionen vermitteln. Die Texte von Lernenden mit geringer Textkompetenz sind durch eine geringe sprachliche Variation gekennzeichnet sowie durch einfache, kurze Sätze und einen begrenzten Wortschatz. In Textwiedergaben entnehmen die Lernenden oft ganze Sätze bzw. Wortgruppen unanalysiert aus dem „Input“. Diese Indikatoren sollten bei der Diagnose von Textkompetenz nicht isoliert, sondern immer in Relation zueinander eingesetzt werden. 5 Sie sind keineswegs trennscharf, bedingen und beeinflussen einander vielmehr auf komplexe und vielfältige Weise. Ich habe diese Indikatoren als Orientierung und Grundlage für die Konzeption eines didaktischen Instrumentariums zur Förderung von Textkompetenz verwendet - der Literalen Didaktik. 3 Die Literale Didaktik Die Literale Didaktik ist primär für Zweitsprachenlernende gedacht, die bereits über gute mündliche Sprachkompetenzen verfügen. Die vorgeschlagenen Aufgaben und Verfahren können jedoch darüberhinaus auch mit verschiedensten anderen Zielgruppen eingesetzt werden. Die Literale Didaktik ist daher nicht nur zur Förderung der Textkompetenz von Zweitsprachenlernenden geeignet, sondern auch zur Förderung der Textkompetenz von Muttersprachigen - sei es in der Schule oder in anderen Bildungseinrichtungen, in denen es darum geht, Wissen anhand von Texten zu erwerben. Der Konzeption der Literalen Didaktik wurden Ergebnisse aus der Sprachlehrforschung, aus den Kognitionswissenschaften, der Sozio- und der Textlinguistik, der Schreibforschung sowie aus der Literalitätsforschung zugrunde gelegt, aus dem Bereich der Didaktik wurden Ansätze aus dem Aufgabenorientierten Unterricht, der Konstruktivistischen Didaktik, der Schreibdidaktik und aus dem literacy-based approach (Kern 2000) aufgenommen. Ein wichtiger Bezugspunkt waren auch Unterrichtsbeobachtungen in mehrsprachigen Klassen, die typische Probleme und Strategien der Lernenden im Umgang mit Texten aufzeigten. 5 Es ist die Aufgabe weiterführender Forschung, diese Indikatoren im Bezug auf lerner- und entwicklungsbezogene Faktoren, unterschiedliche Lernkontexte und soziokulturelle Bedingungen zu spezifizieren. Auf dem Weg zur Literalen Didaktik 215 3.1 Die Ziele der Literalen Didaktik 3.1.1 Literale Förderung Mit der Literalen Didaktik sollen Lernende dazu befähigt werden, sich in der Welt der Texte zu orientieren und Texte sowohl im Sprachunterricht als auch im Sachunterricht als ein Instrument des Lernens zu nutzen. Es sollen grundlegende literale Praktiken und Strategien im rezeptiven und produktiven Umgang mit Texten geschult werden, die unabhängig von der Komplexität der Texte, den textsortenspezifischen Merkmalen und den Inhalten der Texte beherrscht werden müssen, um anhand von Texten lernen und in einer textgeprägten Sprache kommunizieren zu können. Die Literale Didaktik setzt an der Basis der Verstehens- und Schreibarbeit an: Es geht nicht einfach darum, Texte zu vereinfachen, sondern sie für Lernende erfassbar und als ein Instrument des Lernens nutzbar zu machen. Der Ausgangspunkt ist nicht nur das, was die Lernenden im Umgang mit Texten können sollen, sondern das, was sie bereits können. Es wird somit nicht einfach vorausgesetzt, dass die Schülerinnen und Schüler die erforderliche Textkompetenz in den Unterricht bereits mitbringen - die Literale Didaktik setzt an der vorhandenen Textkompetenz der Lernenden an und versucht sie im Rahmen individueller Lernmöglichkeiten zu erweitern. Mit den Aufgaben der Literalen Didaktik sind die Lernenden gefordert, Texte nicht nur zu lesen und zu schreiben, sondern auch über Texte zu kommunizieren. Strategien des Lesens, Verarbeitens und Produzierens von Texten müssen in konkreten Sprachhandlungsaktivitäten aufeinander bezogen und integriert werden. Dadurch sollen vor allem jene kognitiven Prozesse angeregt werden, die im Umgang mit Texten besonders lernwirksam sind, so etwa das Hypothesenbilden und -testen, das Selektieren, Fokussieren, Abstrahieren und das Reorganisieren von Informationen sowie das Erkennen und Herstellen von Textkohärenz. 3.1.2 Aktives Sprachhandeln Mit den Aufgaben der Literalen Didaktik soll ein aktives, auf die Situation des Unterrichts bezogenes sprachliches Handeln angeregt werden. Es werden Probleme aufgeworfen, die die Lernenden selbständig und mithilfe ihrer vorhandenen Sprach- und Sachkenntnisse lösen müssen. Eine aktive Sprachpraxis entsteht im Unterricht vor allem dann, wenn Lernende bereit und in der Lage sind, sich für die Lösung einer Aufgabe zu engagieren und im Prozess des gemeinsamen Problemlösens zu interagieren. Dabei wird ihnen die Differenz zwischen dem, was sie sagen möchten und dem, was sie sagen können, meist ganz von selber bewusst - die Wahrnehmung dieser Kluft ist eine starke Triebfeder des Spracherwerbs (vgl. Swain 1998, 66 ff.). Aktives Sprachhandeln ist mit vielfältigen metasprachlichen und metakognitiven Aktivitäten verbunden, die es ermöglichen, die Beziehungen zwischen Bedeutungen, Formen und Funktionen der Sprache zu Sabine Schmölzer-Eibinger 216 erkennen bzw. selbst herzustellen (vgl. Swain 1998, 67 ff.). Es wirkt sich positiv auf Leistungen im Bereich des Verstehens und der Sprachproduktion aus (vgl. Swain 1998, 69) und fördert die Aufmerksamkeit auf Sprache: Phänomene, die im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen, werden genauer reflektiert und besser gelernt. Aktives Sprachhandeln im Unterricht führt zu positiven Effekten auf das Sprachlernen und auf das Sachlernen, da Bedeutungen in der Interaktion mit anderen in der Klasse aktiv konstruiert und Verstehensprobleme ad hoc gelöst werden müssen. Um inhaltliche Probleme in der Bearbeitung der Aufgaben lösen zu können, müssen die Lernenden ihre vorhandenen Sachkenntnisse im Moment des sprachlichen Handelns mobilisieren und einsetzen. Kooperative Aufgaben sind auf besondere Weise dazu geeignet, aktives sprachliches Handeln im Unterricht anzuregen: Um zu einer gemeinsamen Lösung zu kommen, sind die Lernenden gefordert, ihr vorhandenes Wissen aufzurufen, mit ihren LernpartnerInnen auszutauschen und zu diskutieren (vgl. Wolff 2002, 324). 6 Hypothesen im Bezug auf Sprache und Inhalte müssen in der Interaktion mit anderen in der Gruppe konstruiert und gemeinsam erprobt werden. Die Lernenden werden dazu angeregt, sich mit dem sprachlichen Input anderer zu befassen und selbst verständlichen Output zu produzieren (vgl. Tynjälä/ Mason/ Lonka 2001, 12). 3.1.3 Individuelle Wissenskonstruktion Jede Form des Wissenserwerbs beruht auf Prozessen der aktiven, individuellen Konstruktion von Wissen, in denen vorhandenes Wissen mit neuem Wissen verknüpft wird (vgl. Müller 1996, 51, 62). Ein effektiver Wissenserwerb im Unterricht setzt daher voraus, dass Lernende die Möglichkeit haben, neue Informationen mit bestehendem Wissen zu verknüpfen. Mit den Aufgaben der Literalen Didaktik sollen Lernende dazu angeregt werden, Wissen im Unterricht nicht bloß zu reproduzieren, sondern im Rahmen kreativer, selbst gesteuerter Lernprozesse individuell aufzubauen. Sie sind so angelegt, dass das im Unterricht vermittelte Wissen von den Lernenden nicht bloß reproduziert, sondern bewertet, interpretiert, selektiert und mit anderen Wissensbeständen verknüpft werden muss. Die Lernenden sind dazu angehalten, jenes Wissen zu mobilisieren, das sie brauchen, um Informationen selbständig zu erschließen und zu verarbeiten. Sie sollen eigenständige Problemlösungen entwickeln und effiziente Strategien im Umgang mit Texten selbst erkennen bzw. entwickeln und einsetzen. Dies ist 6 Kooperation ist nach Vygotskij (1978) eine Möglichkeit für Lernende, von anderen zu profitieren, die bereits über besser entwickelte Fähigkeiten und Kenntnisse verfügen. Vygotskij (1978) spricht in diesem Zusammenhang von der „zone of proximal development“. Auf dem Weg zur Literalen Didaktik 217 eine Voraussetzung dafür, dass flexible Wissensstrukturen aufgebaut werden können, die auch in anderen Lernkontexten anwendbar sind. 3.1.4 Koordinierter Wissens- und Spracherwerb Eine fremde Sprache wird schneller und effektiver erworben, wenn das Sprachlernen mit dem Sachlernen verknüpft wird (vgl. Genesee 1994, 2). Davon ausgehend wurden in den letzten Jahren zahlreiche Modelle eines sprach- und inhaltsbezogenen Fremdsprachenlernens (Content and Language Integrated Learning - CLIL) entwickelt, die darauf abzielen, die fremdsprachliche Kompetenz der Lernenden durch inhaltsbezogenes Lernen zu erweitern. Zweitsprachenlernende erwerben die Unterrichtssprache meist hauptsächlich ungesteuert und haben in der Schule oft große Probleme, wenn sprachliche Explizitheit und Präzision, die Kenntnis fachsprachlicher Strukturen und ein differenzierter Wortschatz verlangt sind. Es geht in der Literalen Didaktik daher nicht nur um die Frage, wie Inhalte als Vehikel für den Spracherwerb genutzt werden können, sondern auch darum, wie Lernende dabei unterstützt werden können, die Zweitsprache zur Bewältigung der komplexen sprachlichen Anforderungen im Sachunterricht einzusetzen. Vor diesem Hintergrund werden Ansätze eines inhaltsorientierten Fremdsprachenlernens mit Konzepten zusammengeführt, in denen der Fokus auf Inhalte (focus on content) durch einen Fokus auf Sprache ergänzt wird. Im Focus-on-Form-Ansatz (Doughty/ Williams 1998) wird davon ausgegangen, dass Lernende durch bestimmte Aufgabenstellungen dazu angeregt werden können, selbst jene Probleme zu erkennen, die in der Sprachproduktion auftauchen (vgl. Long/ Robinson 1998, 23). Indem die Lernenden ein Thema gemeinsam erarbeiten und diskutieren, werden ihnen auch die eigenen Verstehensprobleme und Wissenslücken bewusst. Die Aufmerksamkeit der Lernenden wird daher sowohl auf Sprache als auch auf Inhalte gelenkt. Ein koordinierter Wissens- und Spracherwerb erfordert den Rahmen eines fächerübergreifenden Sprachcurriculums, in dem der Sprachunterricht mit dem Sachunterricht verknüpft wird: Das im Sachunterricht erworbene Wissen kann auf diese Weise auch im Sprachunterricht genützt werden und im Sachunterricht kann eine gezielte Spracharbeit erfolgen. Ausgehend von diesen Zielsetzungen wurden in der Literalen Didaktik sechs didaktische Prinzipien 7 definiert, die die Grundlage für das 3-Phasen- Modell zur Förderung der Textkompetenz und die darauf bezogene 7 Integriertes Sprach- und Sachlernen, authentische Sprachpraxis, Sprachaufmerksamkeit, Integration der Fertigkeiten, Kooperation und Fokus auf Schreiben (nähere Ausführungen dazu in Schmölzer-Eibinger 2005; 2006a, b). Sabine Schmölzer-Eibinger 218 Aufgabentypologie bilden. Diese drei Komponenten sind systematisch aufeinander bezogen und miteinander vernetzt. 3.2 Das 3-Phasen-Modell der Förderung von Textkompetenz Mit dem 3-Phasen-Modell wird ein flexibles didaktisches Instrumentarium zur Verfügung gestellt, das es ermöglicht, die Textkompetenz der Lernenden im Unterricht zu fördern. Es werden damit authentische Sprachlernsituationen geschaffen, die vielfältige metasprachliche und metakognitive Aktivitäten in der Arbeit an Texten initiieren und intensive Prozesse des Lesens, Verstehens und Produzierens von Texten anregen. Das 3-Phasen-Modell umfasst die Phase der Wissensaktivierung, die Phase der Arbeit an Texten und die Phase der Texttransformation (vgl. Schmölzer- Eibinger 2002; 2006a, b). 1. In der Phase der Wissensaktivierung sollen die Gedanken, Assoziationen und die vorhandenen Kenntnisse der Lernenden zu einem Thema aufgerufen und für die themenbezogene Arbeit im Unterricht verfügbar gemacht werden, ausgehend davon, dass Lernprozesse vor allem dann fruchtbar sind, wenn das vorhandene Wissen der Lernenden aktiviert und mit neuem Wissen verknüpft wird (vgl. Wolff 2002, 92). In Aufgaben zum assoziativen Sprechen sind die Lernenden gefordert, sich mündlich spontan zu einem Thema zu äußern, in Aufgaben zum assoziativen Schreiben (Hornung 1999) werden sie dazu angeregt, ihre Gedanken und Ideen zu einem Thema schriftlich ad hoc zu Papier zu bringen. Ausgehend von einem Stimulus zum Thema sollen sie alles aufschreiben, was ihnen spontan dazu einfällt, ohne abzusetzen und ohne den Schreibfluss zu unterbrechen. Dazu ein Beispiel: • Einzelarbeit: Schreiben Sie fünf Minuten lang - ohne abzusetzen - alles auf, was Ihnen zum Thema (…) einfällt. Lassen Sie den Schreibfluss nicht abreißen und schreiben Sie auch dann weiter, wenn Ihnen gerade nichts einfällt (z.B. llllll...). Schreiben Sie ganze Sätze. • Partnerarbeit: Lest einander die Texte vor, die ihr geschrieben habt. Verwendet eure Ideen und Gedanken zum Thema für einen gemeinsam verfassten Text, mit dem ihr euch an einem Text-Wettbewerb in der Gruppe beteiligt. 2. Die Arbeit an Texten bildet den Kernbereich in diesem Modell. Die Aufgaben in dieser Phase erfordern es, Texte aus unterschiedlichen Perspektiven wahrzunehmen und in verschiedenen Kontexten zu reflektieren, zu rekonstruieren, zu optimieren bzw. neu zu konzipieren. Die Lernenden sind gefordert, Hypothesen zu bilden und zu testen, Informationen zu selektieren, zu fokussieren, zu abstrahieren bzw. auf sachadäquate und nachvollziehbare Weise zu verknüpfen. Mündliche und schriftliche sowie sprach- und inhaltsgerichtete Aktivitäten sind Auf dem Weg zur Literalen Didaktik 219 dabei immer eng aufeinander bezogen. Textkompetenz wird auf diese Weise nicht nur im Schriftlichen, sondern auch im Mündlichen geschult. In drei Stufen der Textarbeit (Textkonstruktion, Textrekonstruktion, Textfokussierung & Textexpansion) stehen jeweils andere Aspekte im Umgang mit Texten im Zentrum. In den Textkonstruktionsaufgaben geht es darum, vorgegebene Textfragmente zu ergänzen und davon ausgehend kohärente, sachadäquate und sprachlich homogene Texte zu produzieren. Beim Schließen der „Lücken“ im Text sind die Lernenden gefordert, sowohl sprachlich als auch thematisch „Neuland“ zu betreten. Auch dazu ein Beispiel: Vorgabe: von einem Text wird jeder zweite Absatz vorgelegt • Paararbeit: Fügt nach jedem Absatz einen neuen Absatz ein. • Gruppenarbeit: Vergleicht eure Texte paarweise und überarbeitet den Text nach euren Vorstellungen von einem gelungenen Text zu diesem Thema. • Gruppenarbeit: Vergleicht eure Texte untereinander bzw. mit dem Originaltext. Was fällt euch auf? In den Aufgaben der Textrekonstruktion sind die Lernenden gefordert, vorgegebene Texte möglichst genau wiederzugeben und dabei nicht nur auf ihr Gedächtnis, sondern auch auf ihre vorhandenen Sprach- und Sachkenntnisse zurückzugreifen. Um diese Aufgaben bewältigen zu können, müssen die Texte aufmerksam rezipiert, mehrfach durchgearbeitet und optimiert werden. Auch dazu ein Beispiel: Vorgabe: jede/ r in der Gruppe erhält einen Absatz eines Textes • Einzelarbeit: Lest euren Absatz genau, legt ihn dann beiseite. • Erzählt den anderen, worum es in diesem Absatz geht. • Gruppenarbeit: Bringt eure Absätze in eine sinnvolle Reihenfolge, ohne im Original nachzulesen. • Gruppenarbeit: Rekonstruiert den Text gemeinsam (schriftlich). Ergänzt die „Lücken“. In den Aufgaben zur Textfokussierung & Textexpansion sind die Lernenden gefordert, relevante Informationen in einem Text zu erkennen, zu gewichten, miteinander zu verbinden und wiederum zu erweitern. Dazu ein Beispiel: Vorgabe: ein Sachtext • Paararbeit: Schreibt eine kurze Zusammenfassung des Textes. Sabine Schmölzer-Eibinger 220 • Gruppenarbeit: Formuliert den inhaltlichen Kern eures Textes in einem Satz (schriftlich). Stellt diesen Satz im Plenum vor. Überarbeitet den Satz anhand der Rückmeldungen. • Paararbeit: Schreibt einen neuen Text zum Thema, ausgehend von diesem Satz. Baut eure eigenen Erfahrungen und Kenntnisse zum Thema ein. • Eine/ r aus eurer Gruppe beobachtet den Schreibprozess und schildert euch nachher seine/ ihre Eindrücke. 3. In der Phase der Texttransformation werden Texte aus ihren ursprünglichen Kontexten herausgelöst und in neue Kontexte transferiert. Dazu müssen komplexe Sinnstrukturen erkannt, rekonstruiert bzw. neu aufgebaut werden. Vorgegebene oder von den Lernenden selbst recherchierte Texte dienen in dieser Phase als Impuls und Ressource für die eigene Textproduktion. Die Lernenden sind in dieser Phase noch stärker als in den vorangegangenen Phasen gefordert, Lernprozesse autonom zu steuern und zu gestalten. Ein Beispiel: Vorgabe: der Sachtext und eine Erzählung (literarischer Text) zum selben Thema • Paar-/ Gruppenarbeit: Lest die Erzählung und verändert die Rolle einer Person. Erzählt die veränderte Geschichte nun einem anderen Paar in der Klasse (mündlich). • Paar-/ Gruppenarbeit: Schreibt einen Brief aus der Perspektive der Person mit der geänderten Rolle, in dem ihr das erzählte Geschehen kommentiert. Dieser Brief ist an eine konkrete Person gerichtet. Tauscht die Briefe paarweise aus und beantwortet sie. • Gruppenarbeit: Schreibt einen Text zum Thema für ein Schulbuch, in dem ihr die Inhalte aus dem Sachtext, der Erzählung und den selbst geschriebenen Texten zusammenführt. Diese Aufgaben sind Prototypen, die ihre spezifische Kontur erst durch den Bezug auf konkrete Themen und Texte erhalten. Sie können auf vielfältige Weise miteinander kombiniert und an die individuellen Voraussetzungen der Lernenden angepasst werden. Einzelne Aufgaben dürfen jedoch nicht isoliert herausgegriffen und beliebig aneinander gereiht werden, denn der Lerneffekt ergibt sich aus der spezifischen Abfolge und Kombination der Aufgaben und den dafür vorgeschlagenen Handlungs- und Sozialformen. Die sprachlichen und kognitiven Anforderungen in der Bearbeitung der Aufgaben werden vor allem durch die Komplexität der Texte gesteuert: Je einfacher der Text, desto einfacher die Aufgabe. Die Aufgaben in diesem 3-Phasen-Modell sind lernerorientiert, vielseitig, einfach zu handhaben und anhand verschiedenster Texte zu verwenden - und: sie funktionieren, und zwar in dem Sinne, als sie einen Mechanismus in der Arbeit an Texten in Gang setzen, der intensive sprach- und inhaltsgerichtete Lernprozesse auslöst und es Lernenden damit erleichtert Auf dem Weg zur Literalen Didaktik 221 bzw. - im Falle vieler Zweitsprachenlernender - überhaupt erst ermöglicht, im Unterricht anhand von Texten zu lernen. Literaturverzeichnis BÜHLER, Karl (1965), Sprachtheorie, Stuttgart: Fischer. CILLIA, Rudolf de (1998), „Mehrsprachigkeit und Herkunftssprachenunterricht in europäischen Schulen“, in: Dilek Cinar (Hrsg.), Gleichwertige Sprachen? Muttersprachlicher Unterricht für die Kinder von Einwanderern, Innsbruck: StudienVerlag, 229-287. 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Das Konzept der Sprachförderung geht dabei von drei Grundsätzen aus: (a) Sprachförderung muss aufbauend vom Kindergarten bis zum 9. Schuljahr koordiniert sein. (b) Sprachförderung erfolgt in jeder Unterrichtsstunde und wird von jeder Lehrperson umgesetzt. (c) Sprachförderung in der Schule bedeutet vor allem die gezielte Förderung der für den Schulerfolg relevanten Kompetenzen. Im Folgenden wird aufgezeigt, von welchen gesellschaftlichen und sprachdidaktischen Voraussetzungen die Sprachprofile ausgehen und welche Funktionen sie im Unterrichtsalltag erfüllen. 1 Sprachkompetenzen sind wichtiger denn je Die zunehmende gesellschaftliche Komplexität und Heterogenität sind unübersehbare Tatsachen und umfassen jeden Lebensbereich, selbstverständlich auch die Schule. Kinder und Jugendliche erleben nicht nur in ihrer Freizeit eine vielfältige Umgebung - Medien, Mobilität, Mode, Musik usw. -, auch die schulischen Lerninhalte werden zunehmend komplexer. Zur Bewältigung der schulischen und gesellschaftlichen Anforderungen müssen Menschen differenziertere Sprachleistungen erbringen als noch vor wenigen Jahrzehnten. Unter dem Titel „Bildungsziele angesichts wachsender gesellschaftlicher Komplexität“ legt die UNESCO-Sektion Bildung und Gesellschaft ein Manifest vor, das sich mit dieser Realität auseinandersetzt (UNESCO- Kommission 2001). Kurz und prägnant wird aufgezeigt, wie in vielen gesellschaftlichen Bereichen ein starker Wandel im Gange ist. Vier Bereiche beleuchtet die Broschüre etwas genauer. (a) Die Anforderungen der Erwerbsarbeit sind heute in verschiedener Hinsicht gewachsen. Von den Erwerbstätigen wird höhere Flexibilität im Claudio Nodari 224 Einsatz, in der Arbeitszeitgestaltung und in der Zusammenarbeit verlangt. Wer jahrelang lediglich für einen Betrieb arbeitet, riskiert bei einer späteren Stellensuche den Vorwurf, nur einseitige Erfahrungen zu besitzen. Auch die Halbwertszeit des erworbenen Berufswissens verkürzt sich. Alle Erwerbstätigen müssen sich ständig weiterbilden, um den Anschluss an die neuen Anforderungen des eigenen Berufes nicht zu verpassen. So werden auch laufend neue Berufsbereiche definiert und neue Berufsausbildungen ins Leben gerufen. Für Jugendliche präsentiert sich die Berufswahl als ein sehr komplexes Unterfangen, das ohne eine sachkundige Anleitung kaum erfolgreich abgeschlossen werden kann. (b) Die Belastungen der Umwelt erreichen ihre Grenzen und verlangen von den Individuen einen bewussten Umgang mit Ressourcen. Zwischen Wirtschaftswachstum und ökologischen Grenzen muss immer wieder ein Gleichgewicht gefunden werden, zu dem jeder einzelne Mensch beitragen muss. Einerseits setzt dies enorme gesellschaftliche und wirtschaftliche Anstrengungen voraus, andererseits wird auch von jedem Einzelnen Sachwissen und ökologisches Verhalten, z.B. bei der Entsorgung der Abfälle, verlangt. Nur schon das Lesen und Verstehen der unterschiedlichen Entsorgungsmaßnahmen und der Zeitpläne für die Abfuhr von Abfällen stellt, zumindest in der Stadt Zürich, hohe Ansprüche an die Lesekompetenz. (c) Im Laufe vor allem des zwanzigsten Jahrhunderts hat ein ausgeprägter sozialer Liberalisierungsprozess stattgefunden. Die meist impliziten sozialen Vorgaben, z.B. in der Wahl der Ausbildung oder der Lebensform usw., werden kontinuierlich abgebaut zugunsten einer Individualisierung, in der jeder einzelne Mensch unter vielen Möglichkeiten selber wählen kann. Eltern gewähren ihren Kindern heute einen weit größeren Spielraum als früher, z.B. in der Wahl des Berufes oder des Studiengangs, bei der Gestaltung des beginnenden Erwachsenenlebens, bei der Wahl der Konfession usw. Bernhard Gill (2006, 63) definiert die Sozialisation der Heranwachsenden in der post-industriellen Wissensgesellschaft mit den folgenden Worten: „Die Richtung der Sozialisation ist jetzt nicht mehr einfach als Übertragung von Wissen und Lebensform von den Älteren auf die Jüngeren zu denken. Mit zunehmenden Freiräumen und fortschreitender Individualisierung wird Selbstsozialisation immer wichtiger.“ Die Kehrseite der Individualisierung bzw. der Selbstsozialisation ist jedoch eine stärkere Auflösung der familiären und nachbarschaftlichen Bindungen und demzufolge der entsprechenden Hilfsnetze in Notsituationen. (d) Migration bringt es mit sich, dass nicht nur Menschen aus anderen Gegenden zuziehen und sich niederlassen. Auch deren Werte und Gewohnheiten vermischen sich mit denjenigen der Ortsgesellschaft. War noch vor wenigen Jahrzehnten der Begrüßungskuss höchstens im engen Familienkreis üblich, küsst man sich heute vor allem unter jüngeren Leuten schon nach kurzer Zeit der Bekanntschaft. Solche Beispiele finden Sprachprofile - ein Konzept zur Sprachförderung 225 sich zuhauf, beim Essen wie in der Freizeit, beim nachbarschaftlichen Kontakt wie in den Sportvereinen. Plurikulturalität birgt aber auch Konfliktpotenzial, und von allen Menschen einer multikulturellen Gesellschaft die Fähigkeit und Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit Eigenem und mit Neuem (Da Rin/ Nodari 2000). All diese Entwicklungen wirken sich befreiend auf die individuelle Lebensgestaltung aus. Die Wahlmöglichkeiten, die Vielfalt verlangen von den Menschen aber zunehmend so genannte transversale Kompetenzen, die für alle Lern- und Lebensbereiche als Schlüsselkompetenzen gelten. Es sind dies die Orientierungsfähigkeit, die Reflexionsfähigkeit und die Verantwortungsfähigkeit. Diese unbestreitbar zentralen Fähigkeiten lassen sich jedoch nur im Verbund mit einer ausgeprägten Textkompetenz 1 bewältigen. Um sich z.B. bezüglich der Berufswahl zu orientieren, müssen zahlreiche Unterlagen zu den einzelnen Berufsbereichen gelesen und verstanden werden; bei der Reflexion über die eigenen Stärken und Schwächen sind komplexe Denk- und Sprachleistungen zu erbringen. Die wenigsten würden sich wohl mit Stichwörtern begnügen, um wesentliche Züge der eigenen Persönlichkeit und die eigenen Vorlieben zu beschreiben. Ebenso braucht es eine sehr hohe Textkompetenz, wenn es darum geht, den eigenen Versicherungsschutz zu optimieren oder die eigenen Rechte und Pflichten in einem Mietverhältnis wahrzunehmen. Für die Schulen bedeutet dies einmal mehr: Die Vermittlung von deklarativem Wissen muss in den Hintergrund treten zugunsten von transversalen Handlungskompetenzen und insbesondere von Sprach(handlungs)kompetenzen. Gesellschaftliche Komplexität und Heterogenität machen selbstverständlich vor den Schulen nicht Halt. Auch im schulischen Zusammenleben und in den Lerninhalten ist eine zunehmende Komplexität festzustellen. Noch vor wenigen Jahrzehnten waren Wörter wie z.B. Klassenrat, Integration, Mobbing, Recycling, Verhütung keine Begriffe, unter denen sich Heranwachsende in den Volksschulen etwas vorstellen konnten. Auch die Lerninhalte in vielen Fächern sind von einer Zunahme des Umfangs und Differenzierung geprägt. Die schulischen Anforderungen werden komplexer und damit auch die sprachlichen Leistungen. Wenn von einer Klasse im 8. Schuljahr ein Aufsatz mit dem Titel „Was ist für dich Integration“ verlangt wird, dann werden auch sprachliche Denkleistungen verlangt, die weit komplexer sind als bei dem typischen Aufsatz der sechziger Jahre „Ein 1 Mit Textkompetenz ist im Sinne von Paul R. Portmann-Tselikas Folgendes gemeint: „Textkompetenz ermöglicht es, Texte selbständig zu lesen, das Gelesene mit den eigenen Kenntnissen in Beziehung zu setzen und die dabei gewonnenen Informationen und Erkenntnisse für das weitere Denken, Sprechen und Handeln zu nutzen. Textkompetenz schließt die Fähigkeit ein, Texte für andere herzustellen und damit Gedanken, Wertungen und Absichten verständlich und adäquat mitzuteilen.“ (aus: http: / / elbanet.ethz.ch/ wikifarm/ textkompetenz/ uploads/ Main/ PortmannTextkompe tenz.pdf. Claudio Nodari 226 Sonntagsausflug“. Dieser Wandel der schulischen Anforderungen ist für viele Lehrpersonen kaum wahrnehmbar, wie auch die Entwicklung des eigenen sprachlichen Verhaltens für Erwachsene kaum wahrnehmbar ist. Tatsache ist, dass die Schulung der sprachlichen Kompetenzen von Heranwachsenden heute weniger denn je dem Deutschunterricht allein überlassen werden kann. Die landläufige Formel „Jede Unterrichtsstunde ist eine Deutschstunde“ erhält heute zunehmende Dringlichkeit, jedoch nicht im Sinne von Deutschförderung, sondern im Sinne von Sprachförderung. Damit ist in erster Linie die Förderung der Textkompetenz innerhalb der verschiedenen Fachsprachen gemeint. Komplexe Fachinhalte können nur dann wirklich verstanden werden, wenn die Spezifika der entsprechenden Fachsprache (Fachvokabular, grammatikalische Strukturen, Textstrukturen) auch verstanden werden. Sprachförderung in allen Fächern erfordert jedoch Konzepte der Umsetzung im Schulalltag, denn Fachlehrpersonen sind für die Aufgabe der Fachsprachförderung nicht ausgebildet. 2 Integration, Schulerfolg, Sprachkompetenz Der Kanton Basel-Stadt hat sich 1999 als erste Schweizer Stadt mit einem großen Anteil an Migrationsbevölkerung ein Integrationsleitbild gegeben, das vom Grundsatz der Prävention und der Nutzung von Ressourcen ausgeht. 2 Statt soziale, hauptsächlich durch fehlende Integration verursachte Probleme mit enormen finanziellen Mitteln zu lösen, sollen im Stadt-Kanton dank gezielten Investitionen Bedingungen geschaffen werden, die zur Vermeidung von Konflikten und Fehlentwicklungen beitragen (z.B. durch Quartierentwicklung, Beratungsstellen, Erwachsenenbildung, Schulentwicklung). Für die Schule bedeutet eine erfolgreiche Integration, einerseits allen Schülerinnen und Schülern einen Schulerfolg zu ermöglichen, der ihren kognitiven Fähigkeiten und individuellen Ressourcen entspricht, andererseits das Schulleben als soziale Domäne möglichst integrativ zu gestalten. Von 2001 bis 2006 wurden Schulprojekte auf allen Schulstufen mit zusätzlichen finanziellen Mitteln durchgeführt, die entweder auf die Optimierung der Lernvoraussetzungen vor allem im Unterricht oder auf die Verbesserung der Beziehungen zwischen den verschiedenen Beteiligten (Schulbehörden, Kollegium, Eltern, Lehrpersonen für heimatliche Sprache und Kultur, nationale Vereinigungen, Vereine) abzielten. Gute sprachliche Kompetenzen sowohl in der Schulsprache als auch in der Erstsprache wurden dabei als ein wichtiger Schlüssel für den Schulerfolg, für eine erfolgreiche Berufsausbildung und letztlich auch für die soziale Integration definiert. Für die Umsetzung des Integrationsleitbildes in der Schule wurde demnach die Förderung sprachlicher Kompetenzen als ein 2 Die Broschüre INTEGRATION BASEL ist verfügbar auf http: / / www.welcome-tobasel.bs.ch. Sprachprofile - ein Konzept zur Sprachförderung 227 prioritäres und stufenübergreifendes Anliegen postuliert. Ziel war, eine Sprachförderung zu implementieren, die alle Kinder der Volksschule einbezieht und, im Kindergarten beginnend, über alle Schulstufen hinweg koordiniert ist. Allerdings stellt sich hier die Frage, welche Sprachkompetenzen eigentlich den Schulerfolg ermöglichen. Paul R. Portmann-Tselikas (1998, 50 ff.) unterscheidet vier Dimensionen der Sprachkompetenz: 2.1 Sprachliche Kompetenz im engeren Sinne Mit sprachlicher Kompetenz ist die umgangssprachliche Kompetenz gemeint, gleichsam der routinemäßige Gebrauch einer Sprache. Dieser Alltagsgebrauch vollzieht sich vor allem im dialogischen Sprechen und Verstehen, aber auch im Lesen und Schreiben von einfachen Gebrauchstexten. Das Wissen über Bedeutungen von Wörtern und Wendungen und das Wissen über grammatikalische Formen und Strukturen 3 gehören als grundlegende Komponenten zur sprachlichen Kompetenz. Die Leistungen im Bereich der sprachlichen Kompetenz im engeren Sinne entsprechen somit den wahrnehmbaren sprachlichen Produkten in Alltagssituationen. J. Cummins (2000) nennt diesen Bereich Basic Interpersonal Communicative Skills (BICS). Zweisprachige Menschen verfügen demnach über zwei Systeme sprachlicher Kompetenzen (Erst- und Zweitsprache) mit unterschiedlichen Ausprägungen in den einzelnen Bereichen (Hör- und Leseverstehen, Sprechen und Schreiben, Wortschatz und Grammatik). Festzuhalten ist, dass sprachliche Kompetenzen im engeren Sinne für den Alltag funktional durchaus genügen können. Sie genügen aber nicht, wenn es sich um schulorientierte Sprachleistungen handelt. Es genügt nicht, eine Sprache alltagssprachlich wie ein native speaker zu beherrschen, um in dieser Sprache auch schulisch erfolgreich zu sein oder einen Ausbildungsgang mit Erfolg abschließen zu können. Schulische Sprachförderung bedeutet demnach auch die Förderung von schulspezifischen Sprachleistungen. 2.2 Soziolinguistische Kompetenz In jeder Sprache und Kultur gibt es Regeln und Normen, die in der Grammatik nicht beschrieben sind. Fragen vom Typ „Wie geht man mit verschiedenen Leuten in verschiedenen Situationen um? “ - „Wie spricht man mit einem Vorgesetzten? “ - „Wie und wann entschuldigt man sich? “ werden in unterschiedlichen Sprachen und sogar innerhalb einer Sprache 3 Hier ist nicht das Wissen über die Grammatik gemeint - etwa was ein Subjekt oder ein Verb ist. Das Wissen über grammatikalische Formen und Strukturen hat eher mit Sprachgefühl zu tun. Native speaker wissen, dass z.B. „du sprecht“ falsch ist und es korrekt „du sprichst“ heißt. Claudio Nodari 228 unterschiedlich beantwortet. Die soziolinguistische Kompetenz wird von einsprachigen Personen gleichsam als normal, als Sache der Erziehung angesehen. Einsprachige Personen haben die Möglichkeit, sich durch die familiäre Erziehung, durch schulische Sozialisation, durch die Gruppe der Gleichaltrigen und durch die verschiedenen Erfahrungen innerhalb einer mehr oder weniger homogenen sozialen Gemeinschaft ein Repertoire von Normen anzueignen, das ihnen erlaubt, sich in unterschiedlichen Situationen normgerecht zu verhalten. Für zweisprachige Menschen ist das Ausloten der entsprechenden richtigen Norm alles andere als einfach. Was sie als Norm in der familiären Erziehung erlebt haben, stimmt u.U. nicht mit den Erwartungen und Selbstverständlichkeiten in der schulischen Bildung überein. Sie sind deshalb gezwungen, ständig nach der gültigen Norm zu suchen. Bei dieser Suche erhalten sie aber selten die nötige Hilfe von Einsprachigen, eben weil soziolinguistische Kompetenz unter Einsprachigen als etwas Selbstverständliches betrachtet bzw. gar nicht wahrgenommen wird . Zweisprachige Menschen müssen nicht etwa eine doppelte soziolinguistische Kompetenz aufbauen, sie müssen vielmehr ständig zwischen unterschiedlichen Normsystemen unterscheiden und entscheiden, welche Verhaltensnorm sie annehmen wollen. Letztlich geht es auch darum, durch diesen Prozess eine eigene soziolinguistische Identität zu finden. Wenn nun zweisprachige Menschen diesen Prozess bewusst gestalten (was viele auch tun), entwickeln sie eine entsprechende interkulturelle Kompetenz (Da Rin/ Nodari 2000). 2.3 Sprachlogische Kompetenz Die sprachlogische Kompetenz 4 umfasst die Fähigkeit, u.a. kohärent und nachvollziehbar über komplexe Sachverhalte zu sprechen, komplexe Texte zu lesen und zu verstehen, Texte kohärent und nachvollziehbar zu schreiben, komplexe Sachverhalte zu verstehen usw. Diese Kompetenz ist auch deshalb so anspruchsvoll, weil hier Sprache in kontextarmen Zusammenhängen benützt wird. Schulischer Sprachgebrauch fordert ausgeprägte sprachlogische Kompetenz, im Unterricht wird sie aber oft nicht gezielt gefördert. Für das schulische Lernen ist sprachlogische Kompetenz vielleicht die wichtigste Komponente und zugleich auch die anspruchsvollste. Im Gegensatz zu den ersten zwei Sprachkompetenzdimensionen, die für jede Sprache weitgehend gemäß eigenen Gesetzmäßigkeiten verlaufen, handelt es sich hier um eine Basiskompetenz, die weitgehend von einer Sprache in die andere übertragen werden kann. Wer in einer Sprache gelernt hat, z.B. einen Geschäftsbrief zu schreiben (d.h. kohärent, sachbezogen und nachvollziehbar zu schreiben), kann dies meist auch in einer anderen Sprache tun. Es muss natürlich die sprachliche Kompetenz im engeren Sinne 4 Paul R. Portmann-Tselikas nennt diesen Bereich „Diskurskompetenz“. Sprachprofile - ein Konzept zur Sprachförderung 229 verfügbar sein und es müssen die soziolinguistischen Normen (beim Briefeschreiben z.B. Anrede, Grußfloskel, Lay-out, Argumentationsstil usw.) berücksichtigt werden. Der Aufbau der eigenen Argumentation ist jedoch nicht sprachabhängig. J. Cummins nennt diesen Bereich Cognitive Academic Language Proficency (CALP). Einsprachige Schülerinnen und Schüler haben die Möglichkeit, durch kontinuierliche schulische Bildung diese sprachlogische Kompetenz zu entwickeln. Die einen entwickeln sie stark, andere weniger. Tatsache ist, dass in der schulischen Bildung die sprachlogische Kompetenz innerhalb komplexer Aufgabenstellungen gefordert, jedoch nicht bewusst gefördert wird. Die Entwicklung der sprachlogischen Kompetenz ist somit ein Nebenprodukt der schulischen Sprachhandlungen. Durch das Schreiben von Aufsätzen, durch das Lesen von Texten usw. entwickeln die Lernenden auch sprachlogische Kompetenz, sie werden darin aber selten gezielt unterstützt. In bildungsnahen Familien wird sprachlogische Kompetenz schon sehr früh gefördert, z.B. dadurch, dass die Eltern Geschichten erzählen, mit den Kindern über Gegebenheiten sprechen, die Kinder auffordern, Erlebtes zu erzählen, Zeichnungen der Kinder kommentieren usw. In spracharmen, meist bildungsfernen Familien, in denen die Sprache lediglich für die minimalen Alltagsabläufe benötigt wird, haben Kinder wenig Chancen, die für eine Erfolg versprechende Schulkarriere notwendige sprachlogische Basiskompetenz zu entwickeln. Zweisprachige Schülerinnen und Schüler vor allem aus bildungsfernen Familien haben dadurch eine doppelte Benachteiligung in Bezug auf Schulsprache. Während die Deutschsprachigen beim Eintritt in den Kindergarten die sprachlogische Kompetenz aufgrund ihrer bestehenden Deutschkenntnisse (weiter)entwickeln können, müssen Kinder anderer Herkunftssprachen zunächst einmal Deutsch lernen, d.h. sie müssen die sprachliche Kompetenz Deutsch aufbauen. Sie lernen zu verstehen und zu sprechen, sie erwerben die Bedeutungen einer Unmenge von Wörtern und Wendungen und memorieren Formen und Strukturen. Im Unterricht werden sie vor allem auf dieser Ebene gefördert. Die Entwicklung der sprachlogischen Kompetenz bleibt dabei vernachlässigt, denn die fremdsprachigen Kinder können z.B. einer längeren Geschichte noch nicht folgen. Sobald in der Primarschule komplexere Sprachleistungen verlangt werden (eine Geschichte nacherzählen, Zusammenhänge verstehen usw.), scheitern sie. 2.4 Strategische Kompetenz Auch die strategische Kompetenz ist weitgehend sprachunabhängig. Sie umfasst die Fähigkeit, Probleme der sprachlichen Verständigung und des Sprachlernens anzugehen und zu lösen. Viele zweisprachige Menschen haben in der mündlichen Kommunikation eine sehr entwickelte strategische Kompetenz. Dies äußert sich z.B. dadurch, dass zweisprachige Schülerinnen und Schüler im Fremdsprachenunterricht zumindest im Mündlichen Claudio Nodari 230 erfahrungsgemäß gut abschneiden. Sie sind es gewohnt, Strategien einzusetzen, um Sprachliches zu verstehen oder zu produzieren, auch wenn diese Strategien im Fremdsprachenunterricht weder geschult noch verlangt werden. Damit Probleme der sprachlichen Verständigung und des Sprachlernens bei komplexeren Sprachanforderungen überhaupt angegangen werden können, müssen sie zunächst erkannt werden. Bei vielen hier aufgewachsenen fremdsprachigen Jugendlichen ist es kein einfaches Unterfangen, ihnen klarzumachen, dass ihre sprachlichen Leistungen den schulischen Anforderungen nicht genügen. Sie wissen oft nicht, warum und wo genau sie ihre Sprachkompetenzen erweitern sollen, denn auf der Ebene der sprachlichen Kompetenz (in der Deutschschweiz: Mundart) fühlen sie sich mit den einsprachigen Kolleginnen und Kollegen weitgehend ebenbürtig. Und Lehrpersonen, die sich bei der Beurteilung vor allem auf die sprachlichen Kompetenzen konzentrieren (also Grammatik und Rechtschreibung), können den Lernenden beim Erkennen ihrer sprachlichen Probleme auch nur begrenzt weiterhelfen. Strategien beim Schreiben von Texten, beim Lesen oder Hören von komplexen Texten, beim Lernen von neuen Wörtern usw. bilden daher einen wesentlichen Bestandteil der Sprachförderung, die auf Schulerfolg abzielt. 3 Standards für eine nachhaltige Sprachförderung Mit den Basler Sprachprofilen wurde erstmals der Versuch unternommen, sämtliche schulischen Sprachhandlungen aufzulisten, die in erster Linie zur Entwicklung altersspezifischer sprachlogischer- und strategischer Kompetenzen beitragen. Diese Sprachhandlungen wurden in Zusammenarbeit mit einer stufenübergreifenden Gruppe von 22 Lehrpersonen während zweieinhalb Jahren zusammengetragen, formuliert und systematisiert. Das Ziel war, ein Instrument zu erstellen, mit dem die Lehrpersonen sprachfördernde Aktivitäten in jeder Unterrichtsstunde bewusster wahrnehmen und demnach auch gezielt nutzen können. Die optimale Nutzung der Unterrichtszeit auch im Hinblick auf die Sprachförderung leistet damit einen wesentlichen Beitrag zur Verbesserung der Bildungschancen insbesondere der fremdsprachigen Jugendlichen. Seit Januar 2007 gelten die Sprachprofile in allen Schulen der Volksschule als verbindliche Richtlinie für alle Lehrpersonen. Die Sprachprofile liefern den Lehrpersonen Standards für einen sprachfördernden Unterricht. Sie sind demnach Inhaltsstandards (Contentstandards; Ravitch 1995) und dienen der Unterrichtsgestaltung. Ideal ist es, wenn Lehrpersonen das stufenspezifische Sprachprofil bei der Unterrichtsvorbereitung stets zur Hand haben und daraus jeweils die sprachlichen Handlungen (Deskriptoren) auswählen, die im Bezug auf das aktuelle Sprachprofile - ein Konzept zur Sprachförderung 231 Thema speziell einzuüben sind. Dadurch wäre gewährleistet, dass Inhaltsvermittlung und Sprachförderung stets gekoppelt sind. Anders als Leistungsstandards (Performancestandards) sagen die Sprachprofile nichts aus über die Qualität der Schülerleistungen, sie definieren ausschließlich, mit welchen sprachlichen Handlungen ein Kind auf einer bestimmten Schulstufe konfrontiert werden muss. Das didaktische Dreieck veranschaulicht die Funktion der Sprachprofile . Abb. 1 Jede Schulstufe hat ein eigenes Sprachprofil, das auf dem vorhergehenden aufbaut. Sprachprofil I Kindergarten (2 Jahre Vorschule) Sprachprofil II Primarschule (1.- 4. Schuljahr) Sprachprofil III Orientierungsschule (5.- 7. Schuljahr) Sprachprofil IV Weiterbildungsschule/ Gymnasium (8./ 9. Schuljahr) Jedes der Sprachprofile beschreibt mit Deskriptoren, welche sprachlichen Tätigkeiten die Schülerinnen und Schüler auf der jeweiligen Stufe einüben sollen. Für die nächstfolgende Stufe gibt das vorgehende Sprachprofil Einblick in die sprachlichen Tätigkeiten, die die Lernenden bereits kennen. Die Sprachprofile liefern somit ein Vokabular, um schulische Sprachförderung genau zu definieren. Individuelle Vorstellungen, was ein/ e SchülerIn z.B. beim Eintritt in die Orientierungsschule sprachlich können sollte, werden mit den Sprachprofilen weitgehend vereinheitlicht. Zum Beispiel steht im Unterricht SchülerIn Lehrperson Performancestandards/ Fremdbeurteilung Die/ der SchülerIn kann … sehr gut/ gut/ ausreichend/ schlecht. Contentstandards/ Unterrichtsgestaltung Die Lernenden sollen im Unterricht … Performancestandards/ Selbsteinschätzung Ich kann … sehr gut/ gut/ ausreichend/ schlecht. Claudio Nodari 232 Sprachprofil III: „Den Inhalt eines einfachen Prosa- oder Sachtextes zusammenfassen.“ Im Sprachprofil II steht jedoch nichts von Zusammenfassung. Dies bedeutet für eine Lehrperson der Orientierungsschule, dass sie diese Kompetenz nicht voraussetzen kann, sondern schrittweise aufbauen muss. Da die Sprachprofile für alle Lehrpersonen und alle Fächer gelten, sind insbesondere die Fachlehrpersonen in der Orientierungsschule und im 8./ 9. Schuljahr angehalten, sprachliche Leistungen nicht nur zu fordern, sondern auch zu fördern. Wenn eine Geschichtslehrperson der 6. Klasse an der Orientierungsschule eine Zusammenfassung eines Textes oder eines Kapitels verlangt, muss sie zunächst z.B. bei der Deutschlehrperson abklären, ob in der Klasse das Zusammenfassen bereits thematisiert und welche Technik eingeführt wurde. Wenn dies noch nicht geschehen ist, muss im Lehrerteam der entsprechenden Klasse abgesprochen werden, wann diese Technik von wem eingeführt werden soll und wer welche Zusammenfassungen schreiben lässt. Ziel ist, durch ein koordiniertes Vorgehen eine effiziente und nachhaltige Sprachförderung zu garantieren. 4 Aufbau und Einsatz der Sprachprofile Die Gliederung der Sprachprofile stützt sich auf die Einteilung der Fertigkeitsbereiche aus „Profile deutsch“ (Glaboniat et al. 2002) mit der Ergänzung des Bereichs „Reflexion über Sprache“. Der Vorteil der Einteilung von „Profile deutsch“ ist die klare Trennung der Interaktion von den restlichen eher schriftlichkeitsorientierten Kompetenzen. (1) Interaktion mündlich (= Sprechen in Gesprächssituationen): Im Kindergarten und in der Primarschule geht es im Wesentlichen um den Aufbau von sprachlichen Kompetenzen im engeren Sinne und um Aspekte des Sprachverhaltens (soziolinguistische Kompetenz). Nach der Primarschule geht es vor allem um Strategien der aktiven Teilnahme an Diskussionen. (2) Interaktion schriftlich (= dialogisches Schreiben z.B. SMS, E-Mail, Notizen usw.): Das Schreiben von Kurzinformationen nimmt in der heutigen Zeit einen immer stärkeren Stellenwert ein. Aus diesem Grund ist die Fähigkeit im Umgang mit dieser Textform von eminenter Bedeutung. Vor allem geht es dabei um das Wahrnehmen, dass das Verfassen einer SMS stark mündlichkeitsgeprägt ist und nicht gleichgesetzt werden kann mit dem Verfassen eines ausführlichen Textes. (3) Rezeption mündlich (= Verstehen längerer gesprochener Texte): Die Fähigkeit, einem mündlich vorgetragenen Text zu folgen, wird in bildungsnahen Familien bereits sehr früh mit dem Erzählen von Geschichten aufgebaut. Genau diese Fähigkeit muss im Kindergarten und in der Primarschule auch bei Kindern mit geringen Deutschkenntnissen gezielt gefördert werden. In den oberen Schulen werden zur Weiterentwicklung der mündlichen Rezeption Dokumentarfilme oder Sprachprofile - ein Konzept zur Sprachförderung 233 Vorträge mit Aufträgen eingesetzt, bei denen die Lernenden die Struktur des Hörtextes, die zentralen Aussagen usw. erfassen müssen. (4) Rezeption schriftlich (= Verstehen längerer geschriebener Texte): Bei der Entwicklung der Sprachprofile stellten sich die Lehrpersonen des Kindergartens auf den Standpunkt, dass sie hier nichts beitragen können. Bei der vertieften Auseinandersetzung mit der Frage, was Kinder alles wissen und können müssen, damit sie in der ersten Klasse erfolgreich lesen und schreiben lernen, ergaben sich viele mögliche Aktivitäten, die Kindergärtnerinnen unbewusst mit den Kindern durchführen und die grundlegend für die Lesevorbereitung sind, so z.B. das Als-ob-lesen- Spiel oder einer Geschichte in einem Bilderbuch folgen. Alle diese Tätigkeiten verdienen im Kindergarten mehr Aufmerksamkeit. Nach der Alphabetisierung in den ersten Schuljahren erhalten die Strategien für das verstehende Lesen einen zunehmend wichtigeren Stellenwert. (5) Produktion mündlich (= monologisches Sprechen): Für Kinder im Kindergarten und in der Primarschule ist das kohärente und nachvollziehbare Sprechen während mehr als einer Minute ein schwieriges Unterfangen. Nichtsdestotrotz beginnt sich diese Kompetenz sehr früh zu entwickeln, und die Möglichkeiten der Förderung sind auch im frühen Schulalter sehr vielfältig. In den oberen Schulen erhalten das Vortragen, die Stellungnahmen und vor allem die Strategien zur Vorbereitung z.B. eines Kurzvortrages einen wichtigen Stellenwert. (6) Produktion schriftlich (= Verfassen längerer Texte): Wie bei der „Rezeption schriftlich“ könnte man meinen, dass im Kindergarten dieser Bereich ausgeklammert werden kann. Aber auch hier lässt sich bei den Kindern das Verfassen eines Textes auf spielerische Art und Weise einüben, z.B. mit einem Kritzelbrief an die Mutter oder mit gezeichneten Geschichten. In den oberen Schulen stehen Fragen des Textaufbaus, der Textkohärenz, der Verständlichkeit im Vordergrund. (7) Reflexion über Sprache (Language Awareness, Wortbildung, Satzbau, Textstruktur usw.): In diesem Bereich geht es um Sprachliches auf der Metaebene. Im Unterricht sollen die Lernenden die Möglichkeit erhalten, über sprachliche Besonderheiten zu reflektieren und dadurch ein tieferes Verständnis von sprachlichen Phänomenen zu entwickeln. Dieser Bereich ist nicht gleichzusetzen mit dem klassischen Grammatikunterricht. Es geht hier vor allem um die Wahrnehmung sprachlicher Besonderheiten. Im Bereich der Wortschatzarbeit lernen die Kinder im Kindergarten z.B. „Reimpaare erkennen“. Auf der Sekundarstufe I lernen die Schülerinnen und Schüler zu einem (Fach-)Begriff eine Wortfamilie bzw. ein Wortfeld zu erstellen. Das Wahrnehmen, wie Wörter zusammengesetzt sind, woher sie kommen, nach welchen Kriterien ein Text aufgebaut ist oder nach welchen Normen die mündliche Kommunikation funktioniert, ist eine wichtige Voraussetzung für einen erfolgreichen Sprachgebrauch. Claudio Nodari 234 Jedes Sprachprofil umfasst somit sieben Fertigkeitsbereiche. Die sprachlichen Handlungen, die die Lernenden im Unterricht einüben sollen, sind in globale und detaillierte Deskriptoren eingeteilt. Dazu ein Auszug aus dem Sprachprofil III (5.-7. Schuljahr). III-4. Rezeption schriftlich Globale Deskriptoren Die Lernenden sollen im Unterricht … Detaillierte Deskriptoren Sie erhalten die Gelegenheit, Folgendes zu tun: III-4.1 längere Lesetexte global verstehen III-4.1.1 den wesentlichen Inhalt von Sachtexten zu verschiedenen Themen verstehen und wiedergeben III-4.1.2 die Handlung einer längeren Geschichte verstehen und zusammenfassen III-4.1.3 in einem längeren Text erkennen, welches die wichtigsten Personen, Episoden und Ereignisse sind III-4.2 kürzere Texte und grafische Darstellungen im Detail verstehen III-4.2.1 einer einfachen Anleitung (Bastelanleitung, Kochrezept, Experiment) folgen und entsprechend handeln III-4.2.2 einen kurzen Sachtext (Lehrbuchtext, Definition, Lexikoneintrag) im Detail verstehen und in Form eines Spickzettels zusammenfassen III-4.2.3 einfache grafische Darstellungen lesen und kommentieren III-4.3 gezielt einzelne Informationen aus Texten und grafischen Darstellungen entnehmen III-4.3.1 auf Grund von Aufträgen gesuchte Informationen im Text finden III-4.3.2 in einem Info-Blatt oder einer Anzeige die gesuchten Informationen finden III-4.3.3 Textstellen mit Informationen aus Grafiken, Tabellen oder Bildern verknüpfen III-4.3.4 in einer grafischen Darstellung (Tabelle, Diagramm, Landkarte) gesuchte Informationen finden Sprachprofile - ein Konzept zur Sprachförderung 235 III-4.4 Strategien des verstehenden Lesens anwenden III-4.4.1 sich auf Grund des Titels und dazugehöriger Tabellen und Grafiken eine Vorstellung darüber machen, was im Text steht III-4.4.2 den Aufbau eines Textes erkennen (Titel, Untertitel, Zwischentitel, Abschnitte, Einleitung, Hauptteil, Schluss) III-4.4.3 unbekannte Wörter, die in einem Text auftauchen, in einem Wörterbuch nachschlagen III-4.4.4 unbekannte Wörter aus dem Zusammenhang erschließen III-4.4.5 Schlüsselwörter und zentrale Sätze erkennen und unterstreichen Abb. 2 Der Nutzen einer solchen Auslegung für die Lehrpersonen ist einerseits, dass die für den Schulerfolg zentralen Fertigkeiten im Überblick erfasst sind. Andererseits kann die Lehrperson in Bezug auf ihren Unterricht einschätzen, welche sprachlichen Handlungen zu einem bestimmten Unterrichtsvorhaben passen. Im Grunde beschreiben die detaillierten Deskriptoren konkrete Aufgabenstellungen, die eine Lehrperson dem Alter der Lernenden entsprechend umformulieren kann. Zum Deskriptor „III-4.3.3 Textstellen mit Informationen aus Grafiken, Tabellen oder Bildern verknüpfen“ könnte im Fach Geografie ein Text mit Tabellen zum Einsatz kommen. Die Aufgabe würde dann lauten: „Vergleicht die Informationen im Text mit den Angaben in der Tabelle. Unterstreicht in der Tabelle die Angaben, die im Text beschrieben werden.“ Eine so gestaltete Sprachförderung unterstützt zudem das Verständnis der Fachinhalte. Das Lernen der Fachinhalte hängt wesentlich davon ab, wie sie sprachlich erfasst und verarbeitet werden. Insofern wird der Fachunterricht mit Sprachförderung nicht zweckentfremdet; die Sprachförderung führt eher zu einer besseren Aneignung der Fachinhalte selbst. Auch im Fremdsprachenunterricht (Französisch oder Englisch) können sprachlogische und strategische Kompetenzen aus den Sprachprofilen gefördert werden. Müssen die Lernenden zum Beispiel einen Text auf Französisch hören und verstehen, kommen strategische Kompetenzen zum Zuge, wie sie in den Sprachprofilen beschrieben sind. Insofern können viele Sprachhandlungen aus den Sprachprofilen III und IV auch bei tiefem sprachlichem Niveau umgesetzt werden. Die Gesamtheit der Sprachprofile Claudio Nodari 236 bezieht sich zwar auf die deutsche Sprache. Es spricht jedoch nichts dagegen, dass die gleichen Kompetenzen in den Kursen für Heimatliche Sprache und Kultur (HSK) 5 angestrebt werden. Aus der Zweisprachigkeitsforschung ist bekannt, dass eine koordinierte Zweisprachigkeit (= muttersprachliche Kompetenz in zwei Sprachen) sich auf die kognitive Entwicklung des Menschen positiv auswirkt. Insofern wäre es wünschenswert, dass auch Lehrpersonen der HSK-Kurse die Erstsprachförderung nach den Sprachprofilen ausrichten würden. Ein Sprachprofil ist eine Ergänzung zu den bestehenden Fachlehrplänen der entsprechenden Stufe und beschreibt die Ziele der Sprachförderung in allen Fächern. Selbstverständlich kann eine Fachlehrperson nicht alle Deskriptoren umsetzen, erst das Zusammenwirken aller Unterrichtsfächer ergibt eine vollständige Abdeckung der Sprachförderung. Dies erfordert periodische Absprachen im Lehrerteam. Auch sollen nicht alle Fertigkeitsbereiche gleichzeitig gefördert werden. Ideal ist es, wenn sich ein Team während eines Quartals auf Teilaspekte einigt (z.B. Rezeption schriftlich und Reflexion über Textstrukturen und Wörter) und diese dann gezielt und intensiv umsetzt. Die Sprachprofile liefern für diese Absprachen das Vokabular und die Systematik, um über Sprachförderung zu sprechen und fächerübergreifend zu planen. Zurzeit verfügen wir noch nicht über Daten der Wirksamkeit der Sprachförderung durch die Sprachprofile. Die positiven Reaktionen vieler Lehrpersonen, die bereits mit den Sprachprofilen arbeiten, lassen hoffen, dass dank den Sprachprofilen die zur Verfügung stehende Unterrichtszeit intensiver für die Sprachförderung genutzt wird. Damit wäre das wichtigste Ziel dieses Instruments erreicht. Literaturverzeichnis CUMMINS, Jim (2000), Language, Power and Pedagogy. Bilingual Children in the Crossfire, Clevedon: Multilingual Matters LTD. DA RIN, Denise/ Nodari, Claudio (2000), Interkulturelle Kommunikation - wozu? Theoretische Grundlagen und Bestandsaufnahme von Kursangeboten, Bern, Schweizerische Nationale UNESCO-Kommission, Sektion Bildung und Gesellschaft (Bezug gratis: Fax: 0041 31 3241070). ERZIEHUNGSDEPARTEMENT KT. BASEL, Hrsg. (2006), „Sprachprofile für die Volksschule Basel-Stadt - Ein Konzept zur Sprachförderung in allen Fächern“, in: http: / / www.edubs.ch/ die_schulen/ schulen_bs/ sprachunterricht/ sprachprofile.pt. 5 Für einige der Herkunftssprachen werden in der Schweiz zusätzliche Kurse in heimatlicher Sprache und Kultur (HSK) angeboten, meist 3-4 Lektionen wöchentlich. Die Kurse werden von den entsprechenden offiziellen Landesvertretungen oder von privaten Trägervereinen organisiert, finden in der Regel in den Räumlichkeiten der öffentlichen Schule, jedoch meist außerhalb des schulischen Stundenplans, statt. Die Lehrpersonen werden von den Trägerorganisationen gestellt und entlohnt, während die Infrastruktur von den Gemeinden kostenlos zur Verfügung gestellt wird. Sprachprofile - ein Konzept zur Sprachförderung 237 GILL, Bernhard (2005), Schule in der Wissensgesellschaft. Ein soziologisches Studienbuch für Lehrerinnen und Lehrer, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. GLABONIAT, Manuela et al. (2002), Profile deutsch. Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen, München: Langenscheidt. PORTMANN-TSELIKAS, Paul R. (1998), Sprachförderung im Unterricht. Handbuch für den Sach- und Sprachunterricht in mehrsprachigen Klassen, Zürich. RAVITCH, David (1995), National Standards in American Education, Washington, DC: Brookings Institution Press. SCHWEIZERISCHE NATIONALE UNESCO-KOMMISSION (2001), Bildungsziele angesichts wachsender gesellschaftlicher Komplexität. Manifest der Sektion Bildung und Gesellschaft, Bern (Bezug gratis: Fax 0041 31 3241070). Antonie Hornung Verhinderte Textkompetenz? Are you sure, it’s not an English text? (mein Deutsch lernender, amerikanischer Nachbar, angesichts der Konfrontation mit den Charakteristika einer Easy-Reader-Version) 1 Alltägliche Schludrigkeit und bewusste Textdestruktion … Auch in allen öffentlichen Räumen des Bundes wie Behörden, Gerichte oder Stiftungen sollen Nichtraucher vor dem Passivrauchen geschützt werden. … (Berliner Morgenpost, Donnerstag, 15. Februar 2007, S. 1: „Rauchen in Zügen, Taxen und Behörden wird verboten“) … Sie heißt Glocoprotein 120 und kann durch einen b12 genannte Antikörper lokalisiert werden. … (Berliner Morgenpost, Donnerstag, 15. Februar 2007, S. 9: „Schwachpunkt im Aids-Virus entdeckt“ - WISSEN) … Shane Gibson wird beschuldigt, ihr aus persönlichem Motiven vorschnell eine Aufenthaltsgenehmigung erteilt zu haben. … (Der Tagesspiegel, Nr. 19461, Donnerstag, 15. Februar 2007, S. 36: „Anna Nicole Smith, Model, hinterlässt der Nachwelt einen Film.“ - WELTSPIEGEL) … Folgt man der Untersuchung der Historiker, dann bildete sich eine Elite heraus, die ab 1941 von der „passiven zur aktiven Kollaboration“ wechselte und so etwas wie eine „belgische Variante von Vichy“ erschaffte. … (Süddeutsche Zeitung, Nr. 38, Donnerstag, 15. Februar 2007, S. 11: „Heute schauen wir in den Spiegel“ - FEUILLETON) … Die Betriebskosten eines freiberuflichen Übersetzer machen etwa dreißig Prozent seiner Einnahmen aus; … (Süddeutsche Zeitung, Nr. 38, Donnerstag, 15. Februar 2007, S. 14: „Eine Gegenrechnung“ - LITERATUR) Antonie Hornung 240 Eine Stichprobe aus der Zeitungslektüre an einem beliebigen Tag: Die Printmedien, die immerhin für einen stattlichen Anteil der Bevölkerung 1 den schriftsprachlichen Input darstellen, nehmen es mit ihrem hauptsächlichen Medium, der Sprache, nicht mehr so genau. Seit infolge der Abschaffung des Bleisatzes mit den Setzern auch die Korrektoren aus der Zeitungswelt verstoßen wurden, sind Schreib-, grammatikalische und andere Fehler auch in angesehenen Tageszeitungen keine Rarität mehr. Nachdem der „Dativ dem Genitiv sein Tod“ 2 geworden ist, geht es ihm nun selbst an den Kragen. Und auch mit vielen anderen Deklinationsendungen macht die Hektik der alltäglichen Textproduktion an der Tastatur oft kurzen Prozess. Man liest darüber hinweg und merkt sich den Fehler, d.h. das Gehirn speichert die Variante offensichtlich dann, wenn sie häufiger vorkommt, sodass man sie bei Gelegenheit auch selbst benützt, gleichzeitig erkennend, dass man eigentlich etwas falsch macht. Wer täglich liest, weiß das aus Erfahrung. Wer aber auf derartige Phänomene verweist, wird leicht scheel angesehen, haftet ihr oder ihm doch der Geruch des/ der krittelnden Oberlehrers/ Oberlehrerin an. Aus linguistischer Sicht hingegen darf man sich mit Interesse und vielleicht sogar Faszination dem Phänomen des Sprachwandels hingeben, es erforschen und als BeobachterIn Distanz und Neutralität wahren, ja vielleicht sogar heimlich sich daran ergötzen, gilt doch der Wandel einer Sprache auch als Beweis ihrer Lebendigkeit. Für den/ die DeutschlehrerIn hingegen stellt sich die Frage anders, hat er/ sie doch den Auftrag, künftige Generationen in den richtigen - und dafür werden ihm/ ihr die Normen von der zuständigen Bildungsbürokratie und den in ihr einflussreichen FachkollegInnen gesetzt - Gebrauch der deutschen Sprache einzuführen und einzuüben, und dies - so bekräftigen es aktuelle Theorien des Lernens - anhand von authentischem Textmaterial. Dessen öffentlich zugängliche Formen aber kümmern sich je länger je weniger um sprachliche Normen, um Textmusterwissen und um gattungsrelevante Fragen. Beeindruckendes Beispiel für den weit vorangeschrittenen Verlust eines literarischen Textbegriffs ist die aktuelle Tendenz, qualitativ hochstehende 1 Auflagenstärke: a) Berliner Morgenpost (Springer-Verlag): ca. 150.000 (http: / / www.aboszene.de/ berliner_morgenpost_steigert_auflage_s19.html [5. April 2007]) b) Der Tagesspiegel: 147.356 (http: / / www.tagesspiegel.de/ mediadaten/ print/ pdf/ Auflagenmailing_IV.06_mail.pdf) [25. April 2007]) c) Süddeutsche Zeitung: Täglich werden ca. 200.000 Exemplare gekauft: (http: / / www. sueddeutsche.de / app/ service/ mediadaten_pdf/ Pendlerstudie_stand 140605.pdf [25. April 2007]). Die Süddeutsche Zeitung erscheint in einer Auflage von ca. 450.000 und 550.000 (samstags) (http: / / www.sueddeutsche.de/ app/ service/ mediadaten_pdf/ Argumente.pdf [25. April 2007]) 2 Vgl. Bastian Sicks Bestseller (2004). Verhinderte Textkompetenz? 241 Texte der deutschen Literaturgeschichte in light-Ausgabe auf den Markt zu bringen 3 . Begründet wird die textzerstümmelnde Aktion wie folgt: Klassiker für ungeübte Leserinnen und Leser Viele Jugendliche finden heute keinen Zugang mehr zu klassischen Texten. Das Verständnis und das Lesevergnügen scheitern oft an den sprachlichen Hürden. Die Reihe „einfach klassisch“ macht auch ungeübte Leserinnen und Leser mit klassischen Stoffen bekannt und versucht, ihr Leseinteresse zu wecken. • Die Originaltexte sind gekürzt und sprachlich vereinfacht, ungebräuchliche Wörter durch geläufige ersetzt, schwer verständliche Satzkonstruktionen aufgelöst. • Die Bearbeitung hält sich dabei so nah wie möglich an das Original, um literarische Eigenart und Intention der ursprünglichen Fassung zu erhalten. • Die zeitgemäße Gestaltung, der zweifarbige Druck, die Bilder und Fotos, die Info-Kästen, die klare Gliederung der Texte in Abschnitte, die Verständnisfragen nach jedem Abschnitt helfen bei der Lektüre. „Einfach klassisch“ erleichtert den Zugang zu klassischen Texten und weckt Lesevergnügen, was sich positiv auf den Unterricht auswirkt: Das hat die Praxis gezeigt. (http: / / www.cornelsen.de/ cgi/ WebObjects / Katalog Plus.woa / wo/ 3.18.CORKPComponent.8.1.CORKPComponent.4 [4. April 2007]). Hier wird Pädagogik light geboten: Nicht die Lesenden erarbeiten sich den Text, sondern der Text wird dem Niveau der Lesenden angepasst. Je simpler, umso erfolgreicher. Realisiert werden kann eine derartige Aktion nur von Ignoranten, denjenigen nämlich, die tatsächlich immer noch glauben, dass sich Textualität lediglich auf der Inhaltsebene abspiele. 4 In der Fremdsprachendidaktik haben Textzerstörungen nach dem Modell „einfach klassisch“ in Form von Easy Readers Tradition und trotz aller kognitiv-emotional ausgerichteten Lehr- und Lernforschung nach wie vor Erfolg. Wie sie mit dem authentischen Text umgehen, und warum 3 Zum öffentlichen Echo des Programms „einfach klassisch“ eines Schulbuchverlags, der in seinem Bauch ehedem angesehene Schulbuchverlage birgt, und anderer deutschsprachiger Verlage vgl. beispielsweise Hartung (2004). Aufschlussreiche Erkenntnisse über Lernmotivation und forma mentis gewisser Jugendlicher von heute finden sich in einem Blog zum Thema „Klassiker in moderner Sprache - ein Frevel? “ (http: / / www. lehrerfreund.de/ in/ schule/ 1s/ klassiker-moderne-sprache/ [5. April 2007]) 4 Die gleiche Ignoranz erweist sich in den inzwischen berühmt-berüchtigten PISA-TESTS, für die der Anspruch der Authentizität zwar gestellt, aber nicht wirklich umgesetzt wurde: Die von den Teilnehmerländern eingereichten Originale wurden zuerst ins Französische oder Englische übersetzt, um dann wieder in die jeweilige Landessprache zurückübersetzt zu werden. Was dabei herauskam, hat Ina Karg dankenswerterweise minutiös untersucht (Karg 2005a und 2005b). Antonie Hornung 242 hierbei von einer Verhinderung von Textkompetenz gesprochen werden kann, soll im folgenden Beitrag ausführlicher dargelegt werden. 2 Texte im Schulalltag Auf der Suche nach einem bestimmten Text, vielleicht ist er gerade vergriffen, vielleicht ist die Lehrperson in Zeitnot, verwöhnt auch durch das Angebot der Gutenberg-Fundgrube auf der Internet-Hauptseite des Spiegel, greift sie ins weltweite, digital vorfindliche Arsenal und fischt einen Text heraus, den sie als wunderbare Erzählung kennt und der kurz nach Weihnachten im Unterricht seinen besonderen Platz hat: Marie-Luise Kaschnitz, Das dicke Kind. Mit „Es war Ende Januar, bald nach den Weihnachtsferien …“ ist der Text durch die Googlesche Suchmaschine leicht aufzufinden. 5 Und das schnell Gesuchte und Gefundene ist eine Trouvaille in Fragen der Textkompetenz, entpuppt es sich doch bei genauerem Lesen schnell als das Opfer einer vermutlich wohlmeinenden Verstümmelungstaktik. 2.1 Zahlen und Fakten Die von der Autorin als solche bezeichnete Erzählung Das dicke Kind erschien 1952 im gleichnamigen Erzählband. Eine Ich-Erzählerin begegnet, an ihrem Geburtstag in den Fotos der Vergangenheit wühlend, sich selbst in Gestalt eines dicken, pubertierenden Mädchens, das zu ihr zu Besuch kommt. Im Verlauf eines kurzen Nachmittags Ende Januar wird aus dem passiven, doch gierig belegte Brote verschlingenden Kind, das, der schönen, leichten Schwester nacheifernd, in der Dämmerung noch Schlittschuhlaufen geht, beim Einbruch ins Eis eine aktiv um ihr Leben kämpfende, junge Frau. Die Raupe verläßt ihren Kokon. Kaschnitz’ feinsinnige Erzählung ist in einer raffinierten Rückblendetechnik geschrieben, einer Technik, die die Verwischung der Grenzen von Zeit und Raum erlaubt und des Rätsels Lösung erst am Schluss offenbart, und dies auch nur bei genauem Lesen. Das Foto, von dem im Text die Rede ist, existiert in Wirklichkeit (Gersdorff 1997, Abb. 4); der Text hat einen autobiographischen Kern. Er ist Teil der literarischen Aufarbeitung einer Kindheit als dritte Tochter vor dem vierten Kind, dem Sohn, im Hause eines adeligen preußischen Generals. „Ja, das dicke Kind bin ich selbst. Die Schwester ist meine Schwester Lonja, der See ist der Jungfernsee bei Potsdam. Wir haben dort in der Nähe gewohnt. Wir sind viel Schlittschuh gelaufen, und ich bin auch einmal eingebrochen, aber - wie das dicke Kind - nur einen Meter tief. Ich war auch ein braves, schläfriges und viel essendes 5 home.zcu.cz/ ~golcakov/ kind.doc [20. Januar 2007]. Verhinderte Textkompetenz? 243 Kind, aber eben eines mit vielen Ängsten und eines, das bei jeder Gelegenheit zu heulen anfing“ (Kaschnitz, in: Gersdorff 1997, 24). Die Originalerzählung (Ausgabe Kaschnitz 1964) besteht aus 2.582 Wörtern, die zu 133 Sätzen kombiniert wurden. Das ergibt im Durchschnitt 19,41 Wörter pro Satz, was einen differenzierten Umgang mit der deutschen Syntax erwarten lässt. Dem gegenüber umfasst die aus dem Netz gefischte Kurzversion 1.667 Wörter; bei 160 Sätzen ergibt das einen Wort/ Satz- Quotienten von 10,42. Die Sätze sind also im Durchschnitt gut halb so lang wie diejenigen des Originals. Auf der Suche nach den Kürzungskriterien erfahre ich die wahre Herkunft des im Netz veröffentlichten Texts: Kaschnitz, M. L.: Kurzgeschichten. Easy Readers B. Kopenhagen: Aschehough, 1975. ISBN 87-11-09085-5. Zwar werde ich bei Aschehough nicht mehr fündig, wohl aber bei Klett: Kaschnitz, Marie Luise: Kurzgeschichten, Stuttgart: Klett, o.J. (Easy Readers/ Leicht zu Lesen, Stufe B = 1200 Wörter), Thema: literarische Erzählungen, Unheimliches, Alltag 6 . Auch das wesentlichste der Kürzungskriterien erfahre ich durch diese Verlagsankündigung: Leicht zu Lesen [angelsächsische Titel-Orthographie sic! ]. Ganz nebenbei und offensichtlich ohne literaturwissenschaftliche Bedenken wurde beim Reduktionsprozess aus der ursprünglichen Erzählung auch noch eine Kurzgeschichte. Kürze und leichte Lesbarkeit, was immer das heißen mag, sind also die Leitlinien der textuellen Veränderung. 2.2 Streichkonzert Merkwürdigerweise hat die Lektüre der für den Fremdsprachenunterricht gekürzten Version bei der muttersprachlichen Lehrerin und in ihrer Klasse mit muttersprachlichen Lernenden keineswegs den Eindruck leichter Lesbarkeit erzeugt; im Gegenteil, der Text wirkt an manchen Stellen seltsam, inkohärent und sprachlich banal, so z.B. wenn das zwölfjährige Mädchen in einem unmodernen Mantel die Wohnung der Ich-Erzählerin betritt, während es in Kaschnitz’ Originalversion einen altmodischen Lodenmantel trägt. Oder wie kann man einen Satz wie Der Tag für die Bücher war es nicht verstehen, ohne die authentische Formulierung … jedenfalls nicht an dem zum Ausleihen bestimmten Tag zu kennen? Bereits diese wenigen Beispiele belegen die Vermutung, dass treffende Ausdrücke zugunsten von so genannt einfacheren, alltagssprachlichen gestrichen wurden. Die Aufteilung der teilweise komplexen Sätze der Autorin in vorwiegend kurze, überschaubare Aussagesätze - nichts anderes bedeutet der niedrige Wort/ Satz-Quotient - verfolgt das gleiche Ziel: Fremdsprachige sollen mit derartig aufgearbeiteten Texten Einblick in Geschichten aus der deutschen Literatur erhalten und wohl auch ihr Deutsch weiterentwickeln. Heiligt der Zweck die Mittel? Und: Macht dieser Zweck Sinn? Denn es geht bei derartigen Operationen eindeutig nicht um den authentischen Text, seine literarisch einmalige 6 http: / / www.lektorklett.com.pl/ index.php? pid=101&productid=144 [3. April 2007]. Antonie Hornung 244 Gestalt, seine sprachliche Verwirklichung, sondern um Inhalte. Damit wird zum einen ein Textverstehensmodell kommuniziert, das auf sprachlichgedankliche Komplexität um des kleinsten gemeinsamen inhaltlichen Nenners willen verzichtet, zum anderen wird Sprache bewusst auf das bereits Gelernte bzw. leicht Verständliche reduziert. Wichtige Charakteristika der deutschen Sprache und des deutschen literarischen Texts werden durch einen Fleischwolf der Internationalisierung gedreht; was herauskommt, sind Stief-Burger. Ein punktuell minutiöser Vergleich von Original und Easy Reader soll diese Behauptung im Folgenden belegen und die Argumentationsgrundlage für ein didaktisches Prinzip liefern, das sich dem authentischen Text in seiner Originalität verpflichtet fühlt und textverändernde Operationen der verstehenden Annäherung, etwa mündliche oder schriftliche Reformulierungen, den Lernenden zur Aufgabe macht. 2.2.1 Wortschatz 7 Ein Blick auf die Verben, die der oder die VerfasserIn der Easy-Reader- Version verschmäht hat (vgl. die folgende Zusammenstellung; starke Verben sind fett gedruckt; trennbare Verben sind fett und kursiv gesetzt), zeigt das folgende Bild: Von den 106 getilgten bzw. ersetzten Verben, die hier dank Wordsmith Tools in alphabetischer Reihenfolge aufgelistet wurden, sind 19 (18 %) trennbare (darunter neun starke) Verben; insgesamt sind 34 (31,5 %) starke (davon neun trennbare) Verben; besonders auffallend ist auch die Gruppe der insgesamt 19 (18 %) Verben mit Vorsilben, darunter sieben mit der Vorsilbe be-, sechs mit der Vorsilbe er-, vier mit der Vorsilbe ver-, zwei mit der Vorsilbe vor-. Vollständig entfernt wurden aus dem Original auch sämtliche Konjunktivformen (Konj. I von sein und müssen; Konj. II von sein, haben, geben und werden). Liste 1: Von Kaschnitz im Original verwendete und im Easy Reader getilgte Verben: achten darstellen hinausstreben tränken ändern dasitzen hinauswandern treten anhaben deuten hinsetzen tropfen ankündigen drehen hocken überqueren ärgern durcheinanderwühlen mögen überzeugen aufbrechen eintreten müssen (Konj. I) umgeben aufgeben empfinden nicken umwenden aufknöpfen sich entschließen niedersetzen verbringen aufregen erfüllen ragen vereisen aufreißen sich erinnern an rennen vermeiden aufrichten erregen richten verstimmen auftauchen erschrecken (intrans.) ruhen verzehren 7 Vgl. die Auflistung des gesamten Wortschatzes der beiden Fassungen in alphabetischer Reihenfolge (mit Wordsmith erfasst) im Anhang. Verhinderte Textkompetenz? 245 aufzeichnen erschrecken (trans.) rutschen verziehen ausfüllen erwidern schaffen vornehmen ausgehen fallen scheinen vorstoßen ausleihen fassen schichten wachsen ausstoßen festhalten schmatzen waten beachten fressen schweben werden (Konj. II) bebauen frieren sein (Konj. I) werden/ geworden beeilen geben (Konj. II) sein (Konj. II) winken behandeln geschehen sitzen wittern belustigen gleiten spüren wundern bemühen haben (Konj. II) starren ziehen beschleunigen hängen strecken zurückschrecken beugen heraufziehen strömen zuwenden bieten herumdrehen suchen bluten herumwandern tanzen brechen hierherlocken tauchen Unter den im Easy Reader neu verwendeten 23 Verben (vgl. die folgende Übersicht) befindet sich - mit Ausnahme von antworten, wo man von Vorsilbe im strengen Sinne nicht mehr sprechen kann - kein Verb mit Vorsilbe; die hier verwendeten zusätzlichen zehn (43,5 %) starken (davon vier trennbare) Verben gehören mit Ausnahme von geraten und leihen zu den wichtigsten und häufig gebräuchlichen Alltagsverben. Fünf (21,7 %) Verben (davon vier starke) sind trennbare Verben. Liste 2: Im Easy Reader neu verwendete Verben: antworten geraten lachen schreien bauen hassen laufen spazieren dastehen herumfahren leeren weggehen festmachen hochziehen leihen wünschen fühlen können meinen zeigen geben lächeln schreiben Die vorliegende Ministatistik zeigt klar, dass mit der Weglassung Verben gestrichen wurden, die für fremdsprachige Deutschlernende semantische, grammatikalische und syntaktische Herausforderungen darstellen, die man ihnen auf diese Weise erspart. Es handelt sich dabei aber um Verben, mit denen die Autorin ihre Sicht der Geschichte in differenzierter und treffender Weise gestaltet. Deren Tilgung trägt zur Banalisierung und zur Entfremdung des ursprünglichen Texts bei. Die Entfernung der Konjunktivformen zeitigt die gleiche Wirkung. Warum eigentlich muss man diese Konjunktive weglassen, handelt es sich doch um wenige und einfache Konjunktivformen. Und: Ist es wirklich so schwierig oder unmöglich, die Distinktion zwischen gebe und gäbe lautlich und semantisch wahrzunehmen? Sind nicht gerade Unterschiede Anlass zum Lernen, weil Denken? Was hier an Verben neu verwendet wurde, bestätigt nur die Erziehung zu Bescheidenheit in Sprache und Denken: Nicht mit einem Angebot an Antonie Hornung 246 treffenden Ausdrücken sollen die Lesenden angeregt und gefordert, sondern im Gewussten bestätigt werden. Diese These kann anhand einer Analyse aller Wortarten aus dem Symbolfeld mühelos untermauert werden. Man vergleiche hierzu die vergleichende Wortschatzliste im Anhang. Einige markante Beispiele 8 seien hier aber noch in ihrem Kontext vorgeführt, um die sinn- und textzerstörende Funktion der verbalen Ersatzstrategie deutlich zu machen: Beispiel 1: Generalisierung anstelle von Präzision durch Ersatz von Verben, Nomen und Adjektiven Original: 34) Dann saß es wieder da und ließ seine trägen kalten Blicke im Zimmer herumwandern, und es lag etwas in seinem Wesen, das mich mit Ärger und Abneigung erfüllte. Easy Reader: 34) [Es] ließ seine langsamen, kalten Blicke durch das Zimmer gehen. 34a) Etwas in seiner Art gab mir ein unangenehmes Gefühl. Original: 55) Ich weiß nicht, sagte das Kind, und wie es dasaß in seinem haarigen Lodenmantel, glich es einer fetten Raupe, und wie eine Raupe hatte es auch gegessen und wie eine Raupe witterte es jetzt wieder herum. Easy Reader: 55a) Und wie es da saß in seinem haarigen Mantel, sah es aus wie eine fette Raupe. 55b) Wie eine Raupe hatte es auch gegessen, und wie eine Raupe bewegte es nun wieder seine Nase. Original: 59) Was für ein albernes, weißes Kleid, was für ein lächerlicher Stehkragen, dachte ich, als das Kind nach dem Essen seinen Mantel aufknöpfte. Easy Reader: 59) „Was für ein dummes weißes Kleid, was für ein hässlicher Stehkragen! “ dachte ich, als das Kind seinen Mantel öffnete. Beispiel 2: Veränderung der Erzählhaltung und Perspektive durch Austausch von Wörtern und Phraseologismen Original: 28) Diese Antwort belustigte mich und ich trug sie auf der Karte ein, … Easy Reader: 28) Diese Antwort machte mir Spaß, und ich schrieb sie auf die Karte. Original: 103) Dieses unerwartete Bild erregte mich so sehr, daß ich das fremde Kind beinahe aus den Augen verlor. 8 Die Zitate sind kursiv wiedergegeben; die geänderten Passagen wurden recte gesetzt. Auf einander bezogene Wörter oder Satzpassagen beider Versionen wurden zwecks Hervorhebung jeweils zusätzlich fett gedruckt. Verhinderte Textkompetenz? 247 Easy Reader: 103) Bei diesem Anblick hatte ich beinahe das fremde Kind vergessen. Original: 111) Diese Seufzer liefen in der Tiefe hin wie eine schaurige Klage, und ich hörte sie und die Kinder hörten sie nicht. Easy Reader: 111) Aber weder die Dicke noch ihre Schwester merkten etwas. 2.2.2 Syntax und Kohärenz Konnektoren 9 sind bekannterweise Wörter, die für den textuellen Zusammenhalt von zentraler Bedeutung sind. Damit Lernende Textkompetenz erwerben und diese auch weiter entwickeln können, brauchen sie dafür treffende Beispiele. Gerade im Fremdsprachenunterricht, wo man aus verschiedenen Gründen immer wieder auf einfache Satzmodelle rekurriert, ist also die Leseerfahrung kontexteingebundener Konnektoren und, damit verknüpft, die Gewöhnung an differenziertere und komplexere Satzmodelle eine Notwendigkeit. Ein Blick auf die Konnektoren, die dem vereinfachenden Rotstift des Easy Readers zum Opfer gefallen sind (vgl. Liste 3), bestätigt die bereits erkannte Kürzungsstrategie: Was auch nur im geringsten schwierig erscheinen könnte, wurde zugunsten einfacher, meist unverbundener Sätze getilgt. Sämtliche Pronominaladverbien außer dabei und davon wurden weggelassen. Entfernt wurden auch die subordinierenden Konjunktionen, die komplexere logische Funktionen ermöglichen, wie beispielsweise alle konzessiven (obgleich und dreimal obwohl), aber auch während, die temporale Konjunktion der Gleichzeitigkeit. Der mit weil eingeleitete Nebensatz wurde nur ein einziges Mal beibehalten (Satz 10); viermal wurde er durch einen neuen Satz ersetzt. Um Begründung soll es in der leicht lesbar sein sollenden Kurzversion wohl nicht gehen. Dieser Verdacht wird bestätigt durch die generelle Streichung des von Kaschnitz insgesamt achtmal verwendeten denn, das im Original fünfmal einen Satz begründend einleitet und ihn damit logisch an die vorhergehende Aussage andockt. Was bei derartigem Kürzen textuell passiert, sei durch die beiden folgenden Beispiele vorgeführt: Beispiel 3: Tilgung logischer Verknüpfungen Original: 57) Aber dann ging ich doch hinaus und holte Brot und Wurst, und das Kind starrte darauf mit seinem dumpfen Gesicht, und dann fing es an zu essen, wie eine Raupe frißt, langsam und stetig, wie aus einem inneren Zwang heraus, und ich betrachtete es 9 Zur Definition und Abgrenzung der Konnektoren vgl. das Projekt „Handbuch der deutschen Konnektoren“: http: / / www.ids-mannheim.de/ gra/ konnektoren/ [6. April 2007]. Antonie Hornung 248 feindlich und stumm. 58) Denn nun war es schon soweit, daß alles an diesem Kind mich aufzuregen und zu ärgern begann. Easy Reader: 57) Aber dann ging ich doch hinaus und holte Brot und Wurst. 57a) Und das Kind sah es an mit seinem leeren Gesicht, und dann fing es an zu essen. 57b) Wie eine Raupe hat es gegessen, langsam und sicher, und ich betrachtete es böse. 58) Nun war es schon so weit, dass ich alles an diesem Kind hasste. Original: 14) Möchtest Du ein Buch? fragte ich. 15) Das dicke Kind gab wieder keine Antwort. 16) Aber darüber wunderte ich mich nicht allzu sehr. 17) Ich war es gewohnt, daß die Kinder schüchtern waren und daß man ihnen helfen mußte. 18) Also zog ich ein paar Bücher heraus und legte sie vor das fremde Mädchen hin. Easy Reader: 14) „Möchtest du ein Buch? “ fragte ich. 15) Das dicke Kind gab wieder keine Antwort. (Es fehlen 16 und 17.) 18) Ich zog ein paar Bücher heraus und legte sie vor das fremde Mädchen hin. Einen weiteren Beitrag zur textuellen Verflachung des Easy Reader leistet das Weglassen von Adverbien, die logische Gedankenzusammenhänge verdeutlichen. Eigentlich, freilich, gewissermaßen lassen sich Fremdsprachigen zugegebenermaßen nicht ganz leicht erklären. Vielleicht könnte aber eben dies der Grund sein, sie an ihrem angestammten Platze im authentischen Text zu belassen, damit sie in ihrer kontextuellen Verflechtung Schritt für Schritt wahrgenommen und längerfristig auch verstanden und gelernt werden können. Beispiele für die Notwendigkeit eines solchen Vorgehens kenne ich aus meinem fremdsprachendidaktischen Alltag zur Genüge. So hat beispielsweise das italienische infatti, wörtlich mit in der Tat übersetzt, im Deutschen in den allerwenigsten Fällen seinen richtigen textuellen Platz genau dort, wo sein italienisches Pendant üblicherweise seinen Sitz im Satz hat. Oder senz’altro, das im Italienischen häufig in mündlichen Kommunikationssituationen verwendet wird, erzeugt, wird es im gleichen Kontext auf Deutsch als ohne weiteres gebraucht, nur Irritation und nicht den gewünschten Mitteilungseffekt . Liste 3: Von Kaschnitz verwendete und im Easy Reader getilgte Konnektoren: also ehe mittlerweile soweit damit eigentlich obgleich trotzdem daran etwa obwohl (3) überdem darauf freilich seltsam vollends Verhinderte Textkompetenz? 249 darüber gewissermaßen sonderbar vordem denn (8) keineswegs sonst während (2) Was durch die gezielten Tilgungen von nicht alltäglichen Wörtern aller Wortarten erreicht wurde, wird durch die Auflösung von Hypotaxen, die, wenn immer möglich, in parataktische Reihen verwandelt wurden, noch verstärkt. Welche Konsequenzen derartige Veränderungen für das Textganze bedeuten, soll im folgenden Kapitel gezeigt werden. 2.2.3 Textualität Wenn in diesem Beitrag die Frage nach dem Erwerb von Textkompetenz durch Textrezeption ins Blickfeld gerückt wird, darf die Untersuchung der Textualität beider miteinander verglichenen Textversionen nicht fehlen. Marie Lusie Kaschnitz’ Erzählung Das dicke Kind ist ein literarischer Text. Insofern gehört er einer speziellen Art von Texten an, die sich in ihrer Fiktionalität und in ihrer Gestaltetheit nach Gattungsregeln und nach künstlerischen Kriterien zu richten haben. Sie sind in Inhalt, Gestalt und Sprache Ausdruck einer persönlichen Schreibintention, die in ihrem Gesamt das Artefakt konstituiert. Nun soll hier keineswegs eine puristische Position vertreten werden, die jedwede Umarbeitung von literarischen Texten im Unterricht, seien das Formen der Perspektiveverschiebung, des Um- und Weiterschreibens u.v.a.m. ablehnen würde. Im Gegenteil, produktive Aneigungsformen von Texten durch Schreibübungen aller Art sind der Verfasserin seit langem bekannt, vertraut und lieb. Was im vorliegenden Kontext aber von Bedeutung scheint, ist die Tatsache, dass der originale Text für den Easy Reader mit einer eindeutigen Intention (vgl. hierzu später) verstümmelt wurde und damit als Medium der Vermittlung von Textkompetenz außer Betracht fällt, und zwar deshalb, weil die Kürzungs- und Streichprozesse den Text seiner Textualität beraubt haben. Ein Text ist eben nicht eine Ansammlung von grammatikalisch richtigen und einfach zu verstehenden Sätzen. Dass gerade der literarische Text mit seinem Reichtum an Sprache - oder auch mit Kargheit -, mit Treffsicherheit, mit Perspektivierung, mit Metaphorik, mit Verschlüsselung und Entschlüsselung, mit einem Gestaltkonzept, mit verschiedensten Vernetzungsebenen u.a. Charakteristika und nicht zuletzt mit seinem Rhythmus wirken will, macht seine unverletzliche Textualität aus. Am Beispiel der Rhythmisierung von Kaschnitz’ Original und dem, was in der vereinfachten Version davon übrig geblieben ist, möchte ich in einem letzten Argumentationsschritt vorführen, warum ich die Prozedur der Vereinfachung im Easy Reader für gescheitert halte. Da elektronische Analyseprogramme für komplexe Satzmodelle und ihre Verknüpfung im Text (noch) nicht zur Verfügung stehen, musste ich mich auf eine relativ simple Prozedur beschränken; das Ergebnis scheint mir aber höchst aufschlussreich. Für das vorliegende Schaubild (vgl. das Diagramm Antonie Hornung 250 auf Seite 252) wurden die Wörter je Satz in Kaschnitz’ Original sowie die Wörter je Satz bzw. je parataktisch aufgelöste Einzelsätze im Easy Reader ausgezählt. Diese Ergebnisse wurden in Excel übertragen und als Diagramm dargestellt, das scherenschnittartig die kompositorischen Unterschiede der beiden Textversionen abbildet: Die schwarz gezogene, scharf gezackte Skyline der in ihrer Länge stark differierenden Sätze des Originals bildet den Hintergrund, vor dem sich in Weiß die ziemlich ausgeglichene Voralpenlandschaft der Easy-Reader-Sätze ausbreitet, denen immer dort, wo ein längerer Satz in mehrere Einzelsätze aufgeteilt wurde, ein grauer (zweiter Satz), ein gepunkteter (dritter Satz) oder ein quer gestrichelter (vierter Satz) Hügel vorangestellt wurde. Was die Rhythmisierung des Originals bedeutet, lässt sich aus diesem Diagramm ablesen, dass Kaschnitz in ihrem Text häufig zwischen kurzen und längeren bis sehr langen Sätzen wechselt. Auf diese Weise ergibt sich in den ersten beiden Dritteln (bis etwa Satz 90) eine Dreiteilung. Erzählpassagen mit komplexeren Formulierungen wechseln mit kurzsatzigen Dialogpassagen. Steigerung und Verdichtung finden jedoch im letzten Drittel des Textes statt, wo die Sätze insgesamt länger werden und auf einen einzigen Höhepunkt im Satz 113) mit 94 Wörtern zusteuern. Der kürzeste Satz 83) umfasst drei Wörter, und er befindet sich am Ende des zweiten Drittels, ein Schlüsselsatz - wie auch Satz 113) -, gibt er doch Auskunft über die beneidetete Schwester des dicken Kindes und zudem einen wichtigen Deutungshinweis, was den Easy Writer aber nicht davon abgehalten hat, Satz 83) ganz zu streichen. Beispiel 4: Satzlängenspannweite Original Original: 83) Sie macht Gedichte. Original: 113) Denn sonst hätte sich die Dicke, dieses ängstliche Geschöpf, nicht auf den Weg gemacht, sie wäre nicht mit ihren kratzigen unbeholfenen Stößen immer weiter hinausgestrebt, und die Schwester draußen hätte nicht gewinkt und gelacht und sich wie eine Ballerina auf der Spitze ihres Schlittschuhs gedreht, um dann wieder ihre schönen Achter zu ziehen, und die Dicke hätte die schwarzen Stellen vermieden, vor denen sie jetzt zurückschreckte, um sie dann doch zu überqueren, und die Schwester hätte sich nicht plötzlich hoch aufgerichtet und wäre nicht davon geglitten, fort, fort, einer der kleinen einsamen Buchten zu. Easy Reader: 113) Die Dicke machte sich nun auf den Weg, und immer weiter hinaus lief sie. 113a) Die Schwester draußen lachte und drehte sich auf der Spitze ihres Schlittschuhs. 113b) Die Dicke hatte Angst vor den schwarzen Stellen, sie wollte um sie herumfahren und fuhr dann doch hinüber. - 113c) Und dann lief plötzlich die Schwester davon, weit fort, zum anderen Ufer. Verhinderte Textkompetenz? 251 Dass die Leichtleseversion fern ist von dieser Dynamik, macht schon der erste Blick auf das Schaubild deutlich. Hier liegt die Spannweite zwischen den Wörtern pro Satz zwischen zwei (Satz 38a) und 34 Wörtern im Schlusssatz (Satz 133). Die rhythmische Dreiteilung der ersten beiden Drittel des Texts ist zwar noch schwach erkennbar, aber entschieden weniger ausgeprägt als im Original; anstelle der dramatischen Verdichtung im letzten Drittel aber findet sich hier die pure syntaktische Monotonie: Durch die Aufteilung der langen Sätze wird rhythmisches Gleichmaß erzeugt, alles andere als eine Sprachgestaltung, die dem Inhalt die nötige Kraft verleiht. Beispiel 5: Satzlängenspannweite Easy Reader Easy Reader: 38a) „Lies jetzt.“ Easy Reader: 133) Und ich weiß, dass ich die Papiere auf meinem Schreibtisch in Unordnung fand und zwischen ihnen ein altes Bildchen von mir selbst: in einem weißen Kleid mit Stehkragen, mit wasserhellen Augen und sehr dick. Original: 133) Und daß ich dann die Papiere auf meinem Schreibtisch durcheinandergewühlt fand und irgendwo dazwischen ein altes Bildchen, das mich selbst darstellte, in einem weißen Wollkleid mit Stehkragen, mit hellen wässrigen Augen und sehr dick. Dieser bescheidene Ansatz zu einem Vergleich der Textrhythmisierung durch Satzlänge genügt bereits, um deutlich zu machen, wie weit die Easy- Reader-Version sich vom Originaltext entfernt. Eine differenzierte vergleichende Analyse der Satzbaumuster könnte den Eindruck der Verstümmelung noch unterstreichen. Deshalb sei ein letzter schärferer Blick auf den zentralen Satz 113) (siehe Bsp. 4) geworfen. Ein mit dem kausalen denn eingeleiteter negativierter Konditionalsatz, in dem sich elf verschiedene Aussagen ineinander ballen, wird im Easy Reader durch eine Reihe von acht aneinander gereihten Aussagen, die auf vier Sätze verteilt sind, ersetzt. Alles Hauptsätze, entweder mit und verbunden und zusammengezogen (in 113; 113a; 113c) oder gereiht (113b). Große Langeweile, während Kaschnitz die höchste Dramatik des drohenden Verhängnisses syntaktisch verdichtet, dies durch den dreimaligen durch und eingeleiteten Subjektwechsel - die Dicke a), b) - die Schwester c), d), e), f) - die Dicke g), h), i), j) - die Schwester k), durch die Steigerung der syntaktischen Komplexität (a) und b) sind Hauptsätze, c), d), e) sind zusammengezogene Hauptsätze, an e) wird ein Finalsatz gehängt; g) ist ein Hauptsatz mit angehängtem Relativsatz h), an den wiederum ein Finalsatz angehängt ist i) und j) und k) wiederum sind zwei Hauptsätze, wobei dem zweiten noch, eingeleitet und verstärkt durch das repetierte fort, eine ausführliche Ortsadverbiale nachgestellt wird. Antonie Hornung 252 Original: 113) a) Denn sonst hätte sich die Dicke, dieses ängstliche Geschöpf, nicht auf den Weg gemacht, b) sie wäre nicht mit ihren kratzigen unbeholfenen Stößen immer weiter hinausgestrebt, c) und die Schwester draußen hätte nicht gewinkt d) und gelacht e) und sich wie eine Ballerina auf der Spitze ihres Schlittschuhs gedreht, f) um dann wieder ihre schönen Achter zu ziehen, g) und die Dicke hätte die schwarzen Stellen vermieden, h) vor denen sie jetzt zurück- schreckte, i) um sie dann doch zu überqueren, j) und die Schwester hätte sich nicht plötzlich hoch aufgerichtet k) und wäre nicht davon geglitten, fort, fort, einer der kleinen einsamen Buchten zu. Abb. 1: Textrhythmisierung durch Satzlänge (Satzlänge des Originaltexts: schwarz; Easy-Reader-Version: Satz 1 von aufgeteilten Sätzen: weiß, Satz 2: grau, Satz 3: gepunktet, Satz 4 gestrichelt) 3 Schlussbukett Easy Reader sind gezielt vereinfachte Texte, die Menschen, „die zu verschiedenen Graden beim Lesen beeinträchtigt sind“, den „Zugang zu Kultur, Literatur und Information“ (Tronbacke 1999, 2) gewährleisten sollen. Das Easy-Reader-Konzept hat zwei etwas unterschiedliche Auslegungen. Einerseits wird darunter die sprachliche Abänderung eines Textes verstanden, so daß der Text leichter zu lesen ist, die Komplexität des Inhalts aber nicht verändert wird; andererseits kann es eine Vereinfachung des Textes sowohl auf sprachlicher als auch auf inhaltlicher Ebene bedeuten (Tronbacke 1999, 2). 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 1 7 13 19 25 31 37 43 49 55 61 67 73 79 85 91 97 103 109 115 121 127 133 Verhinderte Textkompetenz? 253 Als die beiden Zielgruppen von derartigen Texten werden „Menschen mit einer Behinderung, die ständig Easy-Reader-Material brauchen“ wie auch „Leser mit begrenztem Sprach- oder Lesevermögen, die diese Art von Material für einen begrenzten Zeitraum gebrauchen können“ (Tronbacke 1999, 4), bezeichnet. Fremdsprachenlernende werden hier bewusst an die Seite von Menschen gestellt, die an einer „geistigen Behinderung“ leiden, bei denen aufgrund von „Leseschwierigkeiten“ eine „Diskrepanz zwischen der Intelligenz und Interessiertheit“ besteht, die „Gehirnstörungen und Defizite in Aufmerksamkeit, Motorik und Wahrnehmung“ haben, oder auch „autistische“ und „Menschen mit angeborenem Hörschaden, seh- und hörgeschädigte Menschen“, solche mit „Aphasie“ und - last but not least - „ältere, teilweise senile Menschen“ (Tronbacke 1999, 5 ff.). Erstere hingegen sind „Menschen, die eine andere Sprache als Muttersprache sprechen, Menschen mit begrenzter Ausbildung, oder sogar muttersprachliche Kinder“ (Tronbacke 1999, 8). Als Teilgruppen werden „Einwanderer und andere Zweitsprachler“ genannt, wie auch „funktionale Analphabeten und andere benachteiligte Menschen“ und „Kinder“ („bis ungefähr zum vierten Grundschuljahr“) (Tronbacke 1999, 8). Fremdsprachenlernende sind - nach diesem Verständnis, dessen Problemlastigkeit von Tronbacke sehr wohl erwähnt wird - behinderte Menschen. D.h. es fehlt ihnen etwas, das sie aber - im Unterschied zu den anderen hier genannten Gruppen - noch erwerben können und sollen, nämlich ein zunehmend komplexeres Sprach- und Kulturverständnis. Das im Easy Reader vorgeführte Streichkonzert ist ein Wettkampf um die beste didaktische Vermeidungsstrategie, werden doch fast alle Klippen, an deren Erklimmung sich Deutschlernende möglichst üben sollten, bewusst umschifft. Der Wortschatz ist reduziert auf alltagssprachliche Wörter; die Angst vor der Inversion führt zu ihrer Tilgung, wo immer das möglich ist; Hypotaxen werden aufgelöst zugunsten von einfachen Sätzen; wenn überhaupt Nebensätze verwendet werden, sind es Relativsätze usw. Nun gilt zweifellos Vygotskijs Erkenntnis der approximativen Nähe beim Lernen (Vygotskij 1987), d.h. dass der neu zu erwerbende oder zu lernende Stoff zwar fordern, aber nicht überfordern sollte. Nur gilt beim sprachlichen Lernen ebenso, dass, je weniger und je reduzierteren Input einer erhält, auch der Output entsprechend dürftiger gerät. Weil also unser sprachliches Produktionspotential in der Regel geringer ist als unser Rezeptionspotential, können wir vieles, was wir in einer fremden Sprache durchaus verstehen, selbst nicht genau so formulieren, wie es vielleicht einem/ einer muttersprachlichen SprecherIn geläufig ist. Wenn sich aber das Sprachmaterial, das uns zur Rezeption angeboten wird, lediglich an unseren Produktionsfähigkeiten orientiert, können wir nichts Neues lernen. Daraus folgt, dass die sprachlichen und textuellen Angebote, die wir Lernenden machen, immer über ihre Kompetenzen hinausgehen sollten. Ähnliches gilt auch für den Erwerb der Muttersprache. An die Problematik von Erkenntnissen, wie sie Basil Bernstein schon in den 1960er Antonie Hornung 254 Jahren, wenn auch aus forschungsmethodischen Gründen vielfach angegriffen, formuliert hat, 10 wagt man sich heute, gezwungen durch die Vielfalt der Anforderungen in den multilingualen und multikulturellen Klassenzimmern der Gegenwart, erst langsam wieder heran (vgl. z.B. Ehlich/ Hornung 2006). Eine wichtige Frage ist in der Tat, ob bislang angewendete Strategien zu den erstrebten Ergebnissen führen können, hat sich doch die Einsicht in Spracherwerbsprozesse aufgrund wichtiger neurobiologischer Forschungen (Tomasello 2005; Rizzolatti/ Siningaglia 2006) mit der schrittweisen Ablösung vom Diktat der Universalgrammatik erheblich geweitet. Mit guten Gründen darf heute angenommen werden, dass Kinder, deren Sprachlichkeit von Anfang an wenig stimuliert wurde, weniger sprachliches Ausdruckspotential zur Verfügung haben als Kinder, die vielfältigen sprachlichen Anreizen ausgesetzt wurden und für die das Vorhandensein von Büchern und die Fähigkeit, diese zu lesen, von klein auf Selbstverständlichkeit war (vgl. hierzu die Forschungsergebnisse von Liv S. Clasen et al. 2004). Wenn vielen jungen Menschen Textkompetenz heute zu fehlen scheint, sind dafür vielleicht auch die - gesellschaftlichen und schulischen - Strategien der Textvermittlung verantwortlich zu machen. Dazu gehört die Überschüttung mit medialen Produkten minderer Qualität, dazu gehören die eingangs erwähnten und sich ständig häufenden sprachlichen Schludrigkeiten 11 , dazu gehört auch die pädagogisch-didaktisch motivierte Simplifizierung von Texten, wie sie die Vermarkter der „einfach klassisch“- Produkte favorisieren. Die Strategie, die mit Easy Readers verfolgt wird - durchaus verständlich und verteidigbar für die Gruppen der wirklich behinderten Bürgerinnen und Bürger -, ist eine der Anpassung des zu Lernenden an vermutete nicht vorhandene Fähigkeiten der Rezipierenden. Es ist die Intendierung einer Behinderung, von der man aber nicht weiß, ob sie real existiert oder nur aus einem Teufelskreis der Bequemlichkeit heraus erzeugt wird. Wenn aber Lernen durch die hier angesprochene Art der Anpassung - im Italienischen wird sie gerne als Appiattimento (Verflachung) bezeichnet - gefördert wird, besteht die Gefahr der Unterforderung. Unterforderung ist alles andere als motivierend; sie erzeugt auch Disziplinprobleme 12 . 10 Vgl. hierzu insbesondere Atkinson (1985) und Bernstein (1970). 11 Vielleicht muss man es ironisch als Ironie des Schicksals bezeichnen, wenn die - mit zahlreichen Anglizismen versetzte - Übersetzung der Richtlinien für Easy-Reader- Material ins Deutsche den folgenden, doch keinesweges folgenlosen Übersetzungsfehler schon im Untertitel beinhaltet: Titel originelle Version auf English … 12 Verwiesen sei hier beispielsweise auf ein im Frühjahr 2007 in der Stadt Zürich aktuelles Problem: Eine Mittelstufenklasse von 21 Schülerinnen und Schülern hat es geschafft, innerhalb von zwei Jahren sechs [! ] erfahrene Lehrkräfte zu verschleißen. Dass man Jugendliche, die sich am heiterhellen Nachmittag die Zeit mit Chatten über „wer hat lust auf intiemtalk? “ [sic! ] (ein Beispiel für viele ähnliche aus einem Chat von Teenagern in http: / / www.schuelerprofile.de/ am Dienstag, 17. April 2007, zwischen 15.30 und 16.00) vertreiben, mit anbiedernden Textlein vom Computer weglocken kann, wage ich Verhinderte Textkompetenz? 255 Wenn Texte schwer zu verstehen sind, stellen sie eine Herausforderung dar - für die Lehrperson und für die Lernenden. In keiner Klasse sind alle gleich, SchülerInnen können einander helfen, sie können von einander lernen, in der Regel wollen sie auch lernen. Sie wollen sich ausdrücken können und ein umfangreiches Vokabular zur Verfügung haben; sie suchen Synonyme, sie fragen nach treffenden Ausdrücken, und sie freuen sich, wenn sie eine richtige Hypotaxe zustande gebracht haben. Es ist nicht so, dass sie Kleist nicht lesen wollten, und mit den Erzählungen von Friedrich Dürrenmatt, der ein großer Kleistverehrer war und sich an dessen Syntax bewusst geschult hat, beschäftigen sich jugendliche LeserInnen - auch Fremdsprachige - mit großem Interesse und Vergnügen. Es ist Aufgabe der Lehrperson, Strategien zum Verständnis von Texten zu vermitteln. Dazu gehören zahlreiche Formen des Sprechens über Texte, dazu gehören alle möglichen Verfahren der produktiven Aneignung von Texten, vom Rezitieren, Inszenieren, Reduzieren, Umformulieren, Perspektivieren, vom Zeichnen und Malen bis zum Exzerpieren, Zusammenfassen, Kommentieren und Interpretieren; dies kann in Einzel-, Partner- und in Gruppenarbeit erfolgen. Lernende dürfen an Texten arbeiten, dürfen sie verändern, dürfen sie reformulieren, sie dürfen sie auch verschandeln, um sich in sie hinein zu begeben. Wichtig ist, dass sie nicht früh schon auf ein reduziertes Sprach- und Textmusterwissen festgelegt werden, sondern dass sie mit Qualität und Vielfalt konfrontiert werden. Wenn es denn Sinn macht, eine Sprache zu unterrichten, dann doch die Sprache in ihrer ganzen Vielfalt, ihrem Formenreichtum, in ihrer Textfülle und in ihrer Schönheit. Literaturverzeichnis ATKINSON, Paul (1985), Language, Structure and Reproduction. An introduction to the sociology of Basil Bernstein, London: Methuen. BERNSTEIN, Basil (1970), Soziale Struktur, Sozialisation und Sprachverhalten. Aufsätze 1958-1970, Amsterdam: de Munter. CLASEN, Liv S. et al. (2004), „Dynamic mapping of human cortical development during childhood through early adulthood“, in: http: / / www.pnas.org/ cgi/ reprint / 0402680101v1.pdf. EHLICH, Konrad/ Hornung, Antonie (2006), Praxen der Mehrsprachigkeit, Münster: Waxmann. zu bezweifeln. Vielleicht sind Teenager einfach so, vielleicht ist da auch einfach vieles schief gelaufen, sehr früh schon, und unter Einsatz des Billigbabysitters Fernsehen. Vielleicht wären gerade solche Jugendliche mit schwierigen (sprachlichen und mathematischen) Aufgaben und mit Aussichten auf einen Beruf und Sitz im Leben zu motivieren. Und vielleicht sollte man sich in der Tat einer engagierten Familienpolitik, die bereits Kleinstkindern eine Kognition, Emotion und Interaktion und damit von früh an Sprachlichkeit fördernde Krippenumgebung schaffen möchte, nicht länger verschließen. Antonie Hornung 256 GERSDORFF, Dagmar von (1997), Marie Luise Kaschnitz. Eine Biographie, Frankfurt am Main/ Leipzig: Insel (= it 1887). HARTUNG, Manuel J. (2004), „Coole Klassiker“, in: http: / / www.zeit.de / 2004/ 31/ C- Klassiker [4. April 2007]. HORNUNG, Antonie (2002), Zur eigenen Sprache finden. Modell einer plurilingualen Schreibdidaktik, Tübingen: Niemeyer (= RGL 234). KARG, Ina (2005a), „Die Sprache, die PISA spricht. Beobachtungen zur sprachlichen Qualität einiger Texte und Aufgaben der deutschen Testinstrumente“, in: Aptum, Heft 1/ 2005, 83-95. KARG, Ina (2005b), Mythos Pisa. Vermeintliche Vergleichbarkeit und die Wirklichkeit eines Vergleichs, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. 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VYGOTSKIJ, Lev Semenovic (1934; dt. 1969; 1986), Denken und Sprechen, Frankfurt am Main: Fischer (herausgegeben von Johannes Helm). Verhinderte Textkompetenz? 257 Anhang Alphabetischer und quantitativer Wortschatzüberblick der beiden Fassungen O = Original; ER = Easy Reader; kursiv: nur im Original oder im Easy Reader verwendet. O ER Abend 1 1 aber 23 16 abgestoßen 1 - Abneigung 1 - Ach 1 - Achter 1 - achtete 1 - albernes 1 - alle 2 1 alles 8 4 allzu 1 - als 8 5 also 1 - altes 1 1 altmodischen 1 - am 7 2 an 22 15 Anblick 1 1 ander… 4 1 andere 1 1 ändern 2 - Anfang 1 1 angefangen 1 2 angenehm 1 1 Angesicht 1 - Angst 3 5 ängstliche 1 - anhatte 1 - anmaßend 1 - anmutige 1 - Anspruch 1 - Antlitz 1 - Antwort 2 3 antwortete - 1 Arbeit 2 2 arbeitete 1 1 Ärger 1 - ärgern 1 - Arm 1 - Armlängen 1 - Antonie Hornung 258 Art 2 3 auch 11 7 auf 27 21 aufbrachen 1 - Aufbrechen 1 - Aufforderung 1 - aufgerichtet 1 - aufgerissen 1 - aufgezeichnet 1 - aufknöpfte 1 - aufs 1 - auftauchten 1 - aufzugeben 1 - aufzuregen 1 - Auge 1 - Augen 5 4 Augenblick 2 - aus 17 7 Ausdruck 2 - Ausleihen 1 - auszufüllen 1 - auszugehen 1 - auszuleihen 1 - auszustoßen 1 - bald 2 2 Ballerina 1 - Bauch 1 1 beachtete 1 - bebaut 1 - beeilte 1 - Befreiung 1 - begann|en, beginnen 6 5 Begriff 1 - behandelte 1 - behilflich 1 - bei 1 2 beim 1 1 Bein 1 1 beinahe 1 1 bekannt 2 2 bekommst 1 1 Adj. belegten 1 - belustigte 1 - bemerkte 1 2 bemühte 1 - beschleunigte 1 - besondere 1 1 besonders - 1 Adv. bestimmt 1 1 Verhinderte Textkompetenz? 259 Adj. bestimmt… 3 1 Besuch 1 1 betrachtete 1 1 Bett 1 1 beugte 1 - bewegte 1 1 Bewegung 1 - bewußt 1 - Bewußtsein 1 - Bild 1 - Bildchen 1 1 bist 1 1 bitte 1 1 bleiben 1 2 Bleistift 1 - Blicke 2 1 blickte 1 1 blieb|en 1 1 bluteten 1 - Bogenlampen 1 - Bohlen 1 - Böschung 1 - böse 1 2 bot 1 - brach … herein 1 - brachte 2 - brauchte 1 1 Brett - 1 bricht 1 - bröckelnden 1 - Brot 3 3 Brüder - 1 Buch 1 1 Bücher 5 5 Bücherwand 1 1 Buchten 1 - Buden 1 - Butterbrot - 1 da 8 5 dabei 3 2 Dächern 1 - dachte 6 6 damit 1 1 Dämmerung 1 - Dampfersteg 3 5 dann 22 16 daran 3 - darauf 2 - darstellte 1 - Antonie Hornung 260 darüber 2 - das 67 46 dasaß 1 - dass 22 14 dastand - 1 davon 1 1 dazwischen 1 - deine 3 3 dem 25 13 den 19 14 denen 2 - denn 8 - der 37 11 des 5 1 deutete 1 - deutlich 1 1 Deutsch 1 1 dich 2 2 dick 16 14 Dicke 7 8 die 54 37 dies 2 2 diese… 21 10 dieselben 3 2 dir 1 - doch 13 13 dort 5 3 dorthin 1 1 Drängen 1 - draußen 2 2 drehte 1 1 dringlichen 1 - du 16 15 dummes - 1 dümmsten - 1 dumpf 3 - dunkel - 3 dunkler 2 - dünn 1 1 durch 1 2 durcheinandergewühlt 1 1 Ecke 1 1 egal 1 - ehe 2 - eigentlich 1 - ein… 68 33 Einbrechen 1 - Eingangstür 1 1 eingetreten 1 - Verhinderte Textkompetenz? 261 einige 2 2 einmal 1 1 eins 1 1 einsam 2 - Eis 5 5 Eisdecke 1 - eisig 1 - eiskalt - 1 Eislaufplatz 1 - empfand 1 - Ende 1 2 entfernt 1 - entgegen 1 - entliehenen 1 - entschlossen 1 - er 2 1 Erbarmen 1 - erfüllt 2 - erinnere 2 - erkannt 1 2 Erleichterung 1 - ernst 1 - errät 1 - erraten 2 1 erregte 1 - erreichen 2 3 Erscheinung 1 - erschien 2 2 erschreckt 1 - erschrocken 1 - erst 3 1 Erstaunen 1 - erwartet 1 1 erwiderte 2 - erzählte 1 1 es 55 52 essen 3 4 etwa 1 - etwas 9 6 Fach 1 - fallen 2 - fand 1 1 faßte 1 - fast - 1 Faulheit - 1 feines - 1 fest 1 - festzuhalten 1 - festzumachen - 1 Antonie Hornung 262 fett 2 2 Fettkloß 1 - Fettkugel - 1 fielen … ein 4 1 fing 1 2 Finger 3 1 Fläche 2 - Flecken 1 1 Flut 1 - Föhnwolken 1 - folgen 2 1 fordernde - 1 fort 5 4 Fragen 1 1 fragte 18 16 freilich 1 - Freitag 1 1 fremd 6 6 Freundinnen 1 - freundlich 2 2 frißt 1 - früher 1 1 fühlte 1 2 fuhr - 1 für 3 3 Fuß 1 - gab 3 4 gäbe 2 - Galerie 1 - Gamaschen 1 1 Gang 1 1 ganz 8 4 gar 5 3 Garten 1 1 gebaut - 1 geboren 1 1 Gedanken 1 - Gedichte 1 - gedreht 1 - Gefahr 1 1 gefriert 1 - Gefühl 1 2 Gegenwart 1 - gegessen 1 1 geglaubt 1 1 geglitten 1 - geh|en 5 7 gehabt 1 1 gehasst 1 1 Verhinderte Textkompetenz? 263 gekränktes 1 - gelacht 1 - Geländer 2 - gemacht 2 2 genau 4 4 gerade 2 3 geraten - 1 Geräusch 1 - gerichtet 1 - geringste 1 - gern 1 2 geschah 2 - geschickt 1 - Geschöpf 1 - Geschrei 1 - Geschwister 1 - Gesicht 6 6 Gespinstes 1 - Gestalt 1 - gestrickte 1 - getanzt 1 - Gewalt 1 - gewesen 2 1 gewinkt 1 - gewiss 2 1 gewissermaßen 1 - Gewitter 1 1 Gewittersängerin 1 - gewohnt 1 1 geworden 1 - gewünscht - 1 gibt - 2 ging 2 4 glänzend - 1 glänzte 1 1 glaube, glaubte 2 1 gleich 5 4 gleichen 3 1 Glieder 1 - glitzernd 1 - glühende 1 - Grauen 1 - grausam 2 - große 3 1 gut 3 3 Haar 1 1 haarigen 1 1 habe 3 3 Haken 1 - Antonie Hornung 264 Hand 2 2 Hände 4 2 hängen 1 - hart - 1 hässlicher - 1 hasste - 1 Hast 3 1 hat 5 5 hatte 21 20 hätte 6 - Hause - 2 Häuser 2 3 Heimweg 1 - heißt 1 1 helfen 3 2 hell 3 1 heraufzuziehen 1 - heraus 2 1 hereingekommen 1 1 herum 3 - herumdrehte 1 - herumfahren - 1 herumwandern 1 - hielt 2 1 hier 1 - hierhergelockt 1 - Himmel 1 - hin 3 1 hinab 1 - hinaufziehen 1 1 hinaus 4 5 hinausgestrebt 1 - hinauszugehen 1 1 hinauszuwandern 1 - hinein 1 1 hinsetzten 1 - hinter 2 2 hinüber - 1 hinunter 2 1 hob 1 1 hoch 1 - höchsten - 1 hochzuziehen - 1 hockte 1 - holen 2 1 holte 1 1 Holze 1 - hörte 5 1 hübsches 1 1 Verhinderte Textkompetenz? 265 ich 115 90 ihm, ihn 6 4 ihnen 2 2 ihr… 8 4 im 9 4 Imbiß 1 - immer 4 3 in 24 14 inneren 1 - ins 4 1 irgendwo 2 - ist 2 2 ja 6 5 Jahre 2 2 Januar 1 1 jedenfalls 1 - jemand 2 1 jetzt 15 6 kalt 3 3 kam|en 8 6 Kampf 1 - kann, kannst 2 4 kannte … aus 1 2 Karte 2 1 kaum 1 1 keine 5 3 keineswegs 1 - kenne 1 1 Kind 43 38 Kind… 10 6 Kindheit 2 - Klage 1 - Kleid 1 2 klein 3 1 komm 3 2 können - 1 konnte 6 7 Kopf 1 1 Kopfsprung 1 - Körper - 1 Korridor 1 - kratzigen 1 - Kreise 1 - Küche 1 - kühlen 1 1 kündigte 1 - kurz … 1 4 Lächeln 1 - lächelte 1 1 Antonie Hornung 266 lächerlicher 1 - lachte - 1 lag 5 1 Land 1 - Adv. lang|e 2 1 Adj. lang… 3 1 langsam 1 2 langsamen 1 1 lästiges 1 - laufen - 1 läuft 1 1 Leben 2 1 lebensgefährlich 1 1 leeren 1 - legen … 4 4 leicht 1 1 Leidenschaft 1 - leihen - 1 Leihkarte - 1 leise 1 1 lesen 2 2 liebsten 2 1 lief 2 3 lies 1 1 ließ 3 1 Lippen 1 - lockiges 1 - Lodenmantel 2 - Luft 1 - Lust 1 1 mach … 6 5 Mädchen 2 2 magst 1 1 Mal 2 - man 5 3 manchmal 1 1 Mantel 2 3 mehr 6 6 Mehrzahl 1 - mein… 21 10 meinte - 1 meisten 1 - Menschennatur 1 - merkten - 1 merkwürdiges - 1 Meter 3 - mich 29 7 mir 23 15 mit 15 9 Verhinderte Textkompetenz? 267 mittlerweile 1 - möchtest 3 3 mögen 1 - Mond 1 - müde - 1 Mund - 1 Musik 1 1 muss … 6 5 müsse, müssen 2 - nach 4 3 Nachbarin … 1 2 Nachbarschaft 1 - Nachmittag 1 - nächste 1 1 Nacht 1 - nachts 1 1 Nägeln 1 - nahe 1 - nahm 1 1 nämlich 1 2 Nase - 1 natürlich 2 2 nein 4 4 nennen 3 3 neuem 1 - neugierig 1 - nicht 40 27 nichts 8 6 nickte 1 - niedergesetzt 1 - niemals 1 1 noch 5 2 nun 8 13 nur 11 7 ob 2 1 oben 1 - obersten 2 - obgleich 1 - obwohl 3 - oder 4 2 paar 7 3 Papiere 1 1 Peinigung 1 - Pfahl 1 - Plätze 1 1 plötzlich 5 5 Rachsucht 1 - ragten 1 - rannte 1 - Antonie Hornung 268 Rasenden 1 - rät 1 1 Raupe 5 5 Rechenschaft 1 - richtig 1 1 rief 1 1 Riemen 1 - Ringe 1 - Risse 1 1 Ruf 1 - ruhen 1 - ruhig 1 1 rührte 1 1 runden 1 1 rutschte 1 - sagen 1 1 sagte 24 21 sah 9 13 Samstag 1 1 saß … 4 5 schaffen 2 - Schale 1 - Schaum 1 - schäumendes 1 - schaurige 1 - scheint 1 - schichten 1 - schläfrig 1 - schließen 1 1 Schlittschuhe… 5 5 Schlittschuhlaufen 1 2 Schloß 1 - Schlüssel 2 - schmatzen 2 - Schmerz 1 1 schmerzlich 1 - Schnee 1 - Adj. schnell 1 1 Adv. schnell 3 - schneller 1 2 Schollen 1 - schon 3 2 schön 1 1 schrecklich 1 - schreiben 1 2 Schreibtisch 4 2 Schreien - 1 schrie 1 1 schrieb - 1 Verhinderte Textkompetenz? 269 Schritt|e 4 1 schüchtern 1 - Schule 1 1 Schulter 1 - schwarz … 7 5 schwebten 1 - schwer 1 - Schwere 1 - Schwester 9 10 schwimmt 1 1 See 4 2 Seeufer 1 - sehen 8 7 sehnsüchtig 1 - sehr 6 3 sei 1 - sein … 23 16 selbst 1 1 seltsam 2 - setzte 2 2 Seufzer 2 - sich 15 7 sicher 1 1 sie 30 25 sieht 1 1 Silber - 1 silbrig 1 - sind 2 - singt 3 3 sitzt 1 - so 11 7 soll 3 2 sollten 1 1 Sommer 1 1 sonderbar 2 - sondern 5 3 sonst 1 - soweit 1 - Spaß 1 1 spaßeshalber 1 - später 1 1 spazieren - 1 Spaziergang 1 - Spiegelbild 1 1 Spitze 1 1 sprach 1 1 sprechen 1 1 springt 1 1 Sprungbrett 1 - Antonie Hornung 270 spüren 2 - Stadt 2 2 stand|en 8 5 starrte 1 - Steg 2 - Stehkragen 2 2 steht 1 1 Stelle|n 3 1 stetig 1 - still - 1 Stöhnen 1 - störten 1 3 Stöße 1 - stoßen 2 1 Straße 3 1 streckte 1 - strömte 1 - Stück 1 - stumm 1 - suchte 1 - Tablett 2 - Tag 1 2 Tänzerin 1 - tat 1 1 tauchte 1 - Tauwetter 2 - Tee 1 1 tief 2 - Tiefe 1 - tiefschwarz 1 1 Tier 1 1 Tisch 1 2 Tod 3 - Todesgefahr 1 1 törichtsten 1 - träge 3 - tragen, trug 2 1 tränken 1 - trat 2 - Trauer 1 - Adj. traurig 1 - Adv. traurig 1 1 Treppe 2 - tropfte 1 - trotzdem 1 1 trüb 1 - Trübe 1 - tue 1 1 Tür 1 1 Verhinderte Textkompetenz? 271 über 6 - überall 2 - überdem 1 - überqueren 1 - überrascht 1 - überzeugt 1 - Ufer 2 4 um 9 4 umgeben 3 - Umtausch 1 - umwandte 2 - unangenehmes - 1 unbeholfen 2 - und 147 75 unerwartet 1 - ungeduldig 1 - unhörbar 1 - unmodern - 1 Unordnung - 1 unser 2 1 unten 2 1 unter 4 2 Unterhaltung 1 1 verändert 1 1 Veränderung 1 - verbracht 1 - vereist 1 - vergessen 1 2 Verhältnis 1 - verlieren 2 1 vermieden 1 - verschwand 2 2 verstimmte 1 - versuchte 1 1 vertreibt 1 - Verwandlung 1 - verzehren 1 - verzog 1 - verzweifelt 1 - viel - 1 vielleicht 3 3 viere 1 - voll 1 3 vollends 1 - völlig 1 1 vom 1 1 von 14 10 vor 11 5 vordem 1 - Antonie Hornung 272 vorher 2 2 vorn - 1 vornahm 1 - vorstieß 1 - vorwärts 1 - wahr 1 1 während 2 - Walde 1 - Wäldern 2 2 wandte 2 - wann 1 1 war|en 26 18 wären 3 - wärmer - 1 relativ und interrog. was 8 7 wäss(e)rig 2 - Wasser 5 2 wasserhell 1 2 Wassermann 2 2 watete 1 - weder - 1 Weg 3 3 weg 1 - weggehen - 1 weich 1 1 Weiher 1 - Weihnachtsferien 1 1 weil 5 1 Weile 1 - Weise 1 1 weiß … 8 9 Adj. weit 1 - Adv. weit 1 3 weiter 3 3 welchen 3 - Welt 1 - wenig 3 - wenn 7 2 werden 1 1 Wesen 2 - wie 25 18 wieder 14 9 Wiesen 1 1 will, willst 2 2 Willen 1 1 winkte 1 - Winter 1 1 wir 3 2 Verhinderte Textkompetenz? 273 wird 1 1 wirklich 1 1 witterte 1 - wo 1 2 Wochentag 1 - wohl 3 1 wohnten 1 1 Wolken 1 1 Wollkleid 1 - wollte 2 6 wuchs 1 - wunderte 1 - Wunsch 1 - würde 1 - wurde, worden 4 4 Wurst 1 1 wusste 3 4 Zeichen - 2 zeigten - 11 Zeit 1 2 zerbrach 2 1 ziehen, zieht 2 - Zimmer 5 3 zog 4 1 zu 26 16 Züge 1 1 zugleich 3 1 zuliebe 1 - zum 2 1 zurück 1 - zurückbringen 1 1 zurückschreckte 1 - zusammen 1 1 zustande 1 - Zustimmung 1 - Zwang 1 - Zweifel 1 - zweite 1 - zwischen 1 1 zwölf 1 1 Christian Fandrych „Aufgeklärte Zweisprachigkeit“ in der Germanistik außerhalb des deutschsprachigen Raums 1 Lernziel sprachlich-akademische Handlungsfähigkeit Die Vermittlung einer angemessenen Sprachkompetenz im Germanistikstudium im nicht-deutschsprachigen Raum ist vielerorts eine der zentralen Problemstellungen, gerade angesichts der oft gehörten Klage über den Rückgang an Sprachkenntnissen bei StudienanfängerInnen. Wie auch immer man diese Klage bewerten mag, unbestritten ist sicherlich, dass das (der Einfachheit hier weiter als „Germanistik“ bezeichnete) Studienfach „Deutsch/ German Studies“ in mehrerlei Hinsicht vor einer Ausdifferenzierung und wachsenden Heterogenität steht, sowohl was die eigene inhaltliche Ausrichtung, als auch was die Sprach- und Bildungssozialisation und die Interessenprofile der Studierenden betrifft (siehe ausführlicher Fandrych 2006a). Vor diesem Hintergrund muss auch die Frage nach der Sprachvermittlung im Studium und ihrer konzeptionellen Ausrichtung neu gestellt werden. Dabei möchte ich für eine Neuausrichtung plädieren, die zum einen in realistischer Weise die Bedingungen, unter denen die Fach- und Sprachvermittlung steht, zur Kenntnis nimmt, die andererseits aber auch orientiert ist an Erkenntnissen, wie sie in den letzten Jahren im Kontext der Academic-Literacy- (siehe etwa Street 1999; Turner 1999) und Textkompetenz-Forschung (siehe Portmann-Tselikas 2002; Schmölzer-Eibinger 2002) erarbeitet wurden. Im Zentrum einer solchen Neuausrichtung steht das umfassende Lernziel „wissenschaftssprachliche Handlungsfähigkeit“ in einem recht umfassenden Sinne: Hierunter sollen all diejenigen (mündlichen und schriftlichen) sprachlichen Verwendungsbereiche zusammengefasst werden, die für die Bewältigung eines Studiums essentiell sind. Ähnlich, wie dies für die Textkompetenz im schulischen Bereich formuliert wurde (vgl. Portmann-Tselikas 2002), handelt es sich hierbei häufig um an Texten orientierte, sach-fachliche Sprachverwendungsweisen, die nicht unabhängig vom Gegenstand und der mit ihm verbundenen Denk- und Argumentierweisen erworben werden können (von der Rezeption wissenschaftlicher Literatur, Vorlesungen und Seminardiskursen bis zur eigenen mündlichen und schriftlichen Produktion, etwa in Form von Seminararbeiten, Referaten, Seminarbeiträgen etc.). Nicht ausgeschlossen werden sollen aber auch studienorganisatorische Text- und Diskursarten (wie Sprechstunden- Christian Fandrych 276 gespräche, Flurgespräche u.Ä.). Ich argumentiere dabei vorwiegend anhand einer Studiensituation, in der die Studierenden bereits gute Fortgeschrittenenkenntnisse (etwa auf Niveau B1/ B2) aufweisen, aber ich denke, dass zumindest die Grundprinzipien auch auf Studiengänge übertragbar sind, bei denen die Studierenden die Sprachkompetenz erst von Grund auf erwerben müssen. 1 2 Probleme mit der allgemeinen Wissenschaftssprache Ein paar Beispiele sollen verdeutlichen, vor welchen Herausforderungen die Sprachdidaktik an einer Germanistik-Abteilung stehen kann: 2 Beleg 1) M.N., koreanisch-englische Muttersprachlerin, Bildungshinter- grund teils in Deutschland, schreibt im 2. Semester eine Seminar- arbeit zum Thema „Zweisprachigkeit“ auf Englisch. Es handelt sich um eine „Zitatencollage“ aus verschiedenen relevanten Einführungswerken; es gibt keinerlei Abstraktion; ebenso fehlt ein eigener, kritisch-bewertender Standpunkt. Die Studentin hat deutliche Probleme, sich von den Quellen zu lösen. Beleg 2) A.L., ein deutscher Muttersprachler, der in seinem zweiten Jahr Germanistik studiert, gibt mehrere Seminararbeiten (auf Deutsch und auf Englisch) ab, die ebenfalls fast nur aus Zitatencollagen bestehen (wobei alle Quellen mit bibliographischen Hinweisen angegeben werden), die Textbausteine aus der Sekundärliteratur werden hier und da gekürzt, leicht modifiziert und etwas geglättet, sodass sie sich einigermaßen harmonisch in den Gesamttext fügen. Beide Studierende mussten sich vor einem universitären Disziplinarausschuss verantworten, wegen Plagiarism. Dies sind keine Einzelfälle - sie sind nur besonders auffällig, auch, weil beiden Studierenden eigentlich von Seiten der DozentInnen viel zugetraut worden war. Beide haben ein grundsätzliches Problem mit dem Verarbeiten von wissenschaftlichem Wissen, und verbunden damit mit dem eigenen universitären Schreiben. Viele Studierende mit den unterschiedlichsten Biographien und Bildungswegen haben ähnliche Probleme - ob sie nun deutscher, englischer, polnischer, koreanischer oder finnischer Herkunft sind, und unabhängig davon, wie gut sie im umgangssprachlichen Kontext Deutsch (oder Englisch) sprechen. 3 1 Einen Einblick in die Vielfalt der Deutsch-bezogenen Studiengänge im europäischen Raum gibt etwa Altmayer (2001). 2 Die Beispiele entstammen meinem ehemaligen Arbeitskontext am German Department des King’s College London. Namen und Fallumstände wurden leicht abgewandelt, um die Persönlichkeitsrechte der Studierenden nicht zu gefährden. 3 Damit soll nicht behauptet werden, dass die je spezifische kulturelle Schreibsozialisation ohne Einfluss wäre - aber sie scheint nicht der einzige Einflussfaktor zu „Aufgeklärte Zweisprachigkeit“ in der Germanistik 277 Neben solchen grundlegenderen Problemen mit dem Verfassen von universitären Texten zeigen sich viele spezifisch wissenschaftssprachliche Problemfälle, die teilweise vielleicht gerade auch durch den Sprachunterricht mit induziert werden: Beleg 3) In diesem Aufsatz wird es von drei verschiedenen Ansichten apropos des kindlichen Erwerb der Bedeutung und Wortschatz handeln. Die Linguistiker, die für diesen drei Theorien verantwortlich sind, sind alle in gewissem Maße Piaget schuldig, aber was wir herausfinden möchten, ist die Tiefe dieses Schuld. Beleg 4) Die Frage der Erklärung dieses Phänomens ist eine der interessantesten im Vergleich und Studium der verschiedenen Theorien des Bedeutungs- erwerbs, also sollten wir hier etwas Zeit nehmen, ihre Charakteristika genauerer zu untersuchen. Neben einigen grammatisch-morphologischen Problemen finden sich in Beleg (3) vor allem eklatante Schwierigkeiten mit der allgemeinwissenschaftssprachlichen bzw. bildungssprachlichen Idiomatik: Ein notorischer Problemfall im Deutschen ist die Konstruktion X handelt von. Aber auch die grammatisch korrekten Formulierungen für eine Theorie verantwortlich sein; jemandem etwas schuldig sein; Tiefe der Schuld sind in solch einem Text problematisch: Sie suggerieren (deplatzierte) moralische Urteile, da die entsprechenden Ausdrücke in dieser Form nicht Teil der allgemeinen deutschen Wissenschaftssprache sind (anders als etwa der englische Ausdruck to be indebted to). In Beleg (4) wird einerseits die Nominalisierung übertrieben (was eventuell durch den Sprachunterricht induziert ist): Die Frage, wie man dieses Phänomen erklären kann ... hätte für weniger Komplikationen gesorgt. Sich Zeit nehmen für ist nicht Teil der allgemeinen deutschen Wissenschaftssprache - hier rekurriert die allgemeine deutsche Wissenschaftssprache auf Ausdrücke des Ferne-Nähe-Bildbereichs (eingehen auf etc., siehe Fandrych 2006b). Probleme mit der Textstruktur zeigt das folgende Beispiel (es handelt sich um den ersten Abschnitt einer studentischen Seminararbeit): Beleg 5) Der Gebrauch von Anglizismen in den deutschen Massenmedien des 21. Jahrhunderts 1. Einleitung Dieser Aufsatz wird sich in folgende Hauptbereiche gliedern. Auf die Einleitung folgt im zweiten Kapitel ein Überblick über das Phänomen von Anglizismus in der deutschen Sprache. Dazu gehören die terminologischen Grundlagen des Begriffs Anglizismen. sein. Ebenso hilft natürlich eine gute allgemeinsprachliche Kompetenz bei der Vermeidung fundamentaler grammatikalischer Fehler. Trotzdem kommt es auch bei Studierenden mit guten bis sehr guten allgemeinsprachlichen Kenntnissen immer wieder zu gravierenden Problemen bei der wissenschaftssprachlichen Kompetenz. Christian Fandrych 278 Der dritte Teil wird die linguistischen Differenzen behandeln, wobei die lexikalischen, semantischen, morphologischen und phonologischen Faktoren, sowie die Aussprache, überblickt werden. Im vierten Teil wird ... Hier fällt neben der inadäquaten Tempuswahl vor allem auf, dass der Textaufbau nicht den Erwartungen eines/ einer deutschen Lesers/ Leserin entspricht. Wie etwa Thielmann (1999) gezeigt hat, beginnen deutsche wissenschaftliche Artikel und (in Anlehnung daran) auch Seminararbeiten meist mit einer Begründung der Themenwahl: Es wird erklärt, welche Relevanz das Thema in einem breiteren Kontext und im engeren Forschungskontext hat, statt unmittelbar mit einer Serie von Advance Organizers textkommentierend zu beginnen, wie dies in unserem Beispiel der Fall ist. 4 Auf die nicht zulässige Verbalisierung (überblickt werden), durch die eine feste Kollokation modifiziert wird, soll weiter unten noch kurz eingegangen werden. Die Belege 1-5 illustrieren spezifische studentische Schwierigkeiten mit dem wissenschaftlichen Schreiben. Aus den Erfahrungen, die viele KollegInnen und ich an britischen Hochschulen gemacht haben, spiegeln sich diese Schwierigkeiten auch im mündlichen Bereich wider: Auch am Ende ihres Studiums fällt bei britischen Germanistikstudierenden auf, dass ihre mündlichen Leistungen stark schwanken: Während es ihnen oftmals leicht fällt, flüssig und auch recht idiomatisch über persönliche Erfahrungen, Gefühle und Ansichten zu sprechen, stellt das Zusammenfassen und kritische Bewerten von größeren Mengen von Sachinformationen oder von anspruchsvolleren Fach- oder Publizistiktexten nach wie vor eine große Herausforderung dar. Vielfach verlieren sie sich in Details, schaffen es nicht, sich etwa bei kritischen Zusammenfassungen mehrerer Artikel von der Text- Chronologie zu lösen und auch sprachlich eigenständig und abstrahierend zusammenzufassen. Bei der Bewertung rettet sich so mancher Studierende dann in subjektiv-pauschalisierende Urteile, statt mit Bezug auf Text und Thema argumentativ vorzugehen. Sobald die Ebene des fachbezogenen argumentativen Diskurses verlassen wird, bessert sich die sprachliche Leistung deutlich. Dass solche Befunde keine Einzelfälle sind, zeigt eine Reihe jüngerer Publikationen zur wissenschaftssprachlichen Kompetenz (vgl. Ortner 2002; Hornung 2002; Jones/ Turner/ Street 1999). Meiner Erfahrung nach stehen wir hier vor einem Problem, das bis jetzt von Linguistik, Sprachdidaktik und Sprachlehr- und -lernforschung noch nicht ausreichend reflektiert oder gar empirisch untersucht worden ist. Während es im Kontext etwa des Deutschen und Englischen als Zweitsprache zumindest einige Ansätze auch im Bereich der Linguistik gibt, sachfachbezogene (Text-) Sprachkompetenzen stärker zum Gegenstand der Reflexion und auch der empirischen Forschung zu machen (vgl. für den deutschsprachigen Kontext etwa Schmölzer-Eibinger 2002, für den englischsprachigen Kontext etwa Leung et al. 2001), sind die für ein Hochschul- 4 Zu Textkommentierungen vergleiche Fandrych/ Graefen 2002. „Aufgeklärte Zweisprachigkeit“ in der Germanistik 279 studium notwendigen sprachlichen Anforderungen („akademische Textkompetenz“ bzw. „wissenschaftssprachliche Handlungsfähigkeit“) und vor allem entsprechende didaktische und methodische Ansätze noch kaum thematisiert oder formuliert worden. 5 Dies gilt auch für die Germanistik/ German Studies: In den deutschsprachigen Ländern gibt es immerhin einige Ansätze, die darauf abzielen, die Vermittlung von Wissenschaftssprache gezielter und auf empirischer Basis anzugehen (siehe etwa Graefen 2004). Im Bereich der Germanistik im nicht-deutschsprachigen Raum findet die Diskussion aber nur sporadisch statt (vgl. Harden 1998; Reershemius 2001; Rösler 2001). Das mag mit vielen Faktoren zusammenhängen - vielleicht auch damit, dass die Sprachpraxis von vielen FachwissenschaftlerInnen nicht so ganz ernst genommen wird (nicht nur, wie Kern/ Schultz 2005 das beschreiben, im Bereich der literaturwissenschaftlich orientierten Fremdsprachenphilologien - LinguistInnen, HistorikerInnen und SozialwissenschaftlerInnen teilen diese Auffassung häufig auch). Gleichzeitig ändern sich die Rahmenbedingungen für das Germanistikstudium in vielen Ländern aber derzeit recht dramatisch - und auch deswegen ist eine gründliche Reflexion über die sprachpraktischen Studienanteile, aber auch die gesamte Studienausrichtung, zentral. Ich möchte dies am Beispiel Großbritanniens etwas genauer verdeutlichen. 3 Hochschulsprachdidaktik an britischen Deutschabteilungen: Rahmenbedingungen und Prinzipien 3.1 Zunehmend heterogene Studierendenprofile Großbritannien ist eines der Länder, die mit Macht danach streben, sich im Zuge der Globalisierung des tertiären - und teilweise auch: sekundären - Bildungsmarktes fest auf der Gewinnerseite zu etablieren. Das führt dazu, dass wir es mit einer zunehmend internationalen Studierendenschaft zu tun haben, und zwar auch in der Germanistik/ den German Studies, zumal in den Metropolen. Viele Studierende stammen aus asiatischen, osteuropä- 5 Erste Ansätze zu einer empirischen Untersuchung verschiedener Text- und Diskursarten im deutschsprachigen Kontext liegen mit Wiesmann 1999, Moll 2001, Trautmann 2004 und Guckelsberger 2005 vor; siehe auch die Beiträge in OBST - Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie, Heft 59. Im englischsprachigen Raum wird die Diskussion seit einigen Jahren - teils unter etwas anderen Vorzeichen - intensiver geführt. Einige eher anthropologisch-kulturwissenschaftlich und pädagogisch ausgerichtete Ansätze betonen die Wichtigkeit einer neuen, kritisch-umfassend angelegten Schreibbzw. Textdidaktik, die auch die Trennung von Sprach- und Fachdidaktik tendenziell aufhebt und jedenfalls das Schreiben als stark sozial und kulturell geprägte Tätigkeit auffasst, woraus unter anderem die Schlussfolgerung gezogen wird, dass eine Schreib- und Textdidaktik heute zunehmend auch multimedial und prozessual angelegt werden solle, vgl. etwa Kern 2000; Kern/ Schultz 2005; Jones/ Turner/ Street 1999. Christian Fandrych 280 ischen, aber auch aus den deutschsprachigen Ländern, was durch europäische Mobilitätsprogramme noch verstärkt wird. Gleichzeitig sind aber die Sprachkompetenzen und das Studierfähigkeitsprofil auch der britischen SchulabgängerInnen zunehmend heterogen. Das betrifft natürlich zum einen das Deutsche, aber zum anderen auch bestimmte Sprachkompetenzen im Englischen. Teils ist dies sicher auch dem soziokulturellen Hintergrund der Studierenden geschuldet: Studierende aus so genannten „bildungsfernen“ Familien (oft mit „Migrationshintergrund“) finden zunehmend Eingang in britische Studiengänge. 6 Und ganz allgemein finden sich - gerade in den Metropolen - die verschiedensten Konstellationen und Schattierungen an individueller Mehrsprachigkeit unter den britischen Studierenden. Aber allgemein scheint sich der Trend zu verstärken, dass die SchulabsolventInnen ganz generell häufig Schwächen in bestimmten studienrelevanten Bereichen haben. Es scheinen insbesondere die eher formalen und textbezogenen Sprach- und Arbeitskompetenzen zu sein, die wir zunehmend weniger bei den Studierenden voraussetzen können - in der Muttersprache, und deutlicher noch in der Fremdsprache -, und zwar im Mündlichen wie im Schriftlichen. Diese Situation hat etwa in Großbritannien dazu geführt, dass die Hochschulen ihre Angebote zum wissenschaftlichen Arbeiten und Schreiben (wohlgemerkt - für das Englische) grundsätzlich neu überdenken und ausbauen, häufig mit e-learning-Elementen. Kernprinzip ist, dass Study Skills nicht (nur) separiert und losgelöst von den Lehrveranstaltungen vermittelt und eingeübt werden sollen, sondern gezielt mit den Fachinhalten und der je spezifischen Fachpraxis zusammen behandelt werden. Es muss wohl in diesem Kontext nicht betont werden, dass diese Study Skills ganz elementar sprachlichen Charakter haben. Diese Situation koinzidiert mit einer rasanten Veränderung im Bereich „Literalität“: Durch die zunehmende Technologisierung und Vernetzung entstehen nicht nur neue Arten von Texten, sondern auch neue Formen des Umgangs mit Texten und neue Lernformen. Dies stellt neue Anforderungen an die Textkompetenz (nicht zuletzt der Lehrenden). 7 6 Die entsprechenden Newspeak-Ausdrücke heißen im britischen Kontext „students from non-traditional backgrounds“ und „ethnic communities“. 7 Auf einiges davon weisen auch etwa Kern/ Schultz 2005 hin. Es soll hier nicht spekuliert werden, inwiefern das Entstehen der Neuen Medien, die Diversifizierung der Textarten und des Umgangs mit Texten auch zu einer Aufweichung von traditionell für elementar gehaltenen Textnormkompetenzen verantwortlich sind. Tatsache ist, dass sich das Kompetenzprofil der StudienanfängerInnen heute deutlich von den Studienanfänger-Profilen etwa vor 30 Jahren unterscheidet. Dabei sollten aber die hinzugewonnenen Text- und Arbeitskompetenzen auch nicht aus dem Auge verloren werden. „Aufgeklärte Zweisprachigkeit“ in der Germanistik 281 3.2 Anforderungen an die Hochschulsprachdidaktik im nicht-deutschsprachigen Raum - und (fehlende) Antworten (am britischen Beispiel) Inhalte und Ausrichtung der Germanistik bzw. der German-Studies- Studiengänge sind in den letzten Jahren auch im deutschsprachigen und nicht-deutschsprachigen Kontext intensiv diskutiert worden (vgl. Probst/ Schmitz 2002; Neuland/ Ehlich/ Roggausch 2005). Wie auch immer man inhaltlich German Studies oder Germanistik im nicht-deutschsprachigen Raum definiert und ausrichtet, die Sprachkompetenz muss im Mittelpunkt dieser Definition stehen. Die Spezifik der Sprachkompetenz als Teil eines Studiums ist aber, dass sie die Studierenden für eine ganz bestimmte Sprachverwendung vorbereitet: die im weitesten Sinne akademische Sprachverwendung. Das bedeutet, dass Studierende in die Lage versetzt werden müssen, in der fremden Sprache in einem akademischen Rahmen arbeitsfähig zu werden und ein Bewusstsein für sprachliche und interkulturelle Divergenzen und Konvergenzen im Vergleich zu ihrer eigenen Sprache bzw. zu der jeweiligen Studiersprache zu entwickeln. Auf welchem sprachlichen Niveau die Texte und akademischen Sprachverwendungssituationen jeweils angesiedelt sind, ist eine andere Frage. Aber die Grundlagen für die Entwicklung einer kritisch-akademischen Textkompetenz sollten schon im Grundstufenbereich gelegt werden. Die Entwicklung einer angemessenen Sprachkompetenz als entscheidende Kernkompetenz eines Deutsch-Studiums ist auch für den Arbeitsmarkt relevant, vgl.: If Modern Languages has any meaning and coherence, it is provided by the centrality of the target language, which underpins and suffuses all aspects of the degree, provides a peg on which to hang the disparate elements of study of the target culture(s) and acts as the common thread linking all students, whether major, minor, specialist or non-specialist. Without language at its heart, Modern Languages lacks a solid disciplinary core (Klapper 2006, 7). Die Vermittlung eben dieser Kernkompetenz stößt aber auf erhebliche Herausforderungen - ich nenne hier nur einige wenige, die Liste ließe sich leicht verlängern. (a) Eingangsniveau: Wie erwähnt ist das Eingangsniveau der Studierenden häufig sehr heterogen - selbst dann, wenn sie alle über einen vergleichbaren Bildungsabschluss in der Fremdsprache verfügen (etwa Abituräquivalenz). Es gibt aber natürlich vielfach auch Studiengänge, bei denen die Studierenden als Null-Anfänger mit dem Deutschstudium beginnen. (b) Fossilisierung und fehlendes Instrumentarium: Fortgeschrittene Lernende bringen häufig Fossilisierungen in ihrer Sprachkompetenz mit, die nur schwer reparativ zu überwinden sind. Gleichzeitig hat häufig die Vernachlässigung einer praxisbezogenen Grammatikkompetenz und der Sprachaufmerksamkeitsarbeit (vgl. Portmann-Tselikas 2003) in der Christian Fandrych 282 Schule dazu geführt, dass Studierende kaum autonom an ihrer eigenen Sprachkompetenz arbeiten können. (c) Zeitbeschränkungen: In Großbritannien sind die Studiengänge so organisiert, dass für die Sprachpraxis oftmals nicht mehr als 4 bis 6 Stunden pro Woche zur Verfügung stehen. Das ist angesichts der oft dürftigen Sprachkompetenz selbst von Studierenden mit guten Abiturnoten in Deutsch sehr wenig. Wenn Germanistik/ German Studies nur noch als Teil einer Fächerkombination oder als Nebenfach gewählt wird, verschärft sich das Problem. (d) Fehlende Integration: Sprachpraxis und Fachunterricht sind häufig nicht aufeinander abgestimmt - was teilweise auch an institutionellen Bedingungen liegt. Mehr dazu weiter unten. (e) Year abroad: In Großbritannien kommt hinzu, dass die Studierenden in den ersten beiden Studienjahren auf ihr Auslandsjahr vorbereitet werden müssen, das sie im dritten Studienjahr meist als Programmstudierende oder Teaching Assistants absolvieren. So steht der Sprachunterricht unter dem zusätzlichen Druck, auf die Text- und Diskursformen und wissenschaftsbzw. bildungssprachlichen Anforderungen des Auslandskontextes in angemessener Weise vorbereiten zu müssen, wo doch noch so viele fundamentalere Probleme zu bearbeiten sind. Für all diese Herausforderungen ist die Hochschulsprachdidaktik an Deutschabteilungen häufig nur unzureichend gerüstet. Es kann an dieser Stelle nicht darum gehen, eine wirkliche Bestandsaufnahme der Sprachpraxis auch nur der britischen Germanistik-Studiengänge vorzunehmen. 8 Meiner Erfahrung nach sind aber die folgenden „subjektiven Theorien“ oder impliziten Annahmen zur Sprachpraxis im Germanistikbereich - bis auf wenige Ausnahmen - immer noch vorherrschend: (a) Sprachunterricht im Germanistikstudium ist essentiell eine praktische und technische Tätigkeit, die wahre intellektuelle Herausforderung wird im Fachstudium (also in den Fach-Lehrveranstaltungen) geleistet. (b) Sprachlehrpläne können demzufolge unabhängig von den anderen Lehrveranstaltungen entwickelt werden; Sprachkurse kann man an Lehrbeauftragte delegieren, oder die Studierenden können allgemeinsprachliche (Fortgeschrittenen-)Kurse an Sprachenzentren besuchen. (c) Das Fachstudium erfolgt in der Ausgangssprache; die Zielsprache als Unterrichtssprache würde das intellektuelle Niveau zu sehr beeinträchtigen und zu einer drastischen Reduktion der Inhalte führen. Wichtige Sekundär- und Primärliteratur sowie andere Hilfsmittel sind 8 Einen guten Überblick über die gegenwärtige Situation in Großbritannien gibt Klapper (2006), dem das Verdienst gebührt, die spezifische Sprachvermittlungssituation an (britischen) Hochschulen überblicksartig darzustellen. Leider bezieht aber auch Klapper das Verhältnis von Fach- und Sprachunterricht nicht in seine Reflexionen mit ein. Wohl auch deswegen geht er auf die spezifischen Anforderungen einer akademischen Textkompetenz nicht ein. „Aufgeklärte Zweisprachigkeit“ in der Germanistik 283 jedoch teilweise in der Zielsprache verfasst bzw. teils ausschließlich in der Zielsprache verfügbar. (d) Sprachunterricht besteht im Wesentlichen aus Grammatik, Textproduktion (meist in Form von Essays), Übersetzen (meist literarischer Texte), Konversation oder (in moderneren Ansätzen): aus Grammatik und den vier Fertigkeiten mit dem Ziel, allgemeinsprachliche und allgemeinbildungssprachliche Kenntnisse (auf fortgeschrittenem Niveau) zu vermitteln. (e) Sprachunterricht im Fortgeschrittenenbereich ist thematisch-kulturell orientiert; der Schwerpunkt liegt auf der Erweiterung des Inhaltswortschatzes, auf allgemein-argumentativen Wendungen und auf den typischen Mittelstufenbis Oberstufengrammatikthemen (die von erweiterten Partizipialattributen bis zu komplexen Satzgefügen reichen). Bei einem solchen Konzept, das Sprachkurse und Fachstudium deutlich trennt, besteht zunächst die Gefahr, dass die Sprachkurse als allgemeinsprachliche Kurse konzipiert werden, die nicht gezielt mit den fachlichen Studieninhalten und deren sprachlichen Anforderungen verzahnt sind. Man arbeitet vorzugsweise mit Presseartikeln oder Mitschnitten aus dem Fernsehen. Mündliche Prüfungen kreisen ebenfalls um Themen aus der Medienberichterstattung, man sucht mit Vorliebe potentiell kontroverse Themen wie „Genmanipulation“, „Kopftuchurteil“, „Klimawandel“ oder (in Großbritannien) „die Europäische Union“, damit die Studierenden etwas zu sagen haben und vielleicht sogar eine kontroverse (stark subjektiv gefärbte) Diskussion zustande kommt. Häufig wird daher nicht systematisch der Zusammenhang zwischen eigenständiger Informationserarbeitung, -aufbereitung, Abstraktion und eigenem, problemorientiertem, fachbezogenem Schreiben oder Vortragen vermittelt. Dem weitgehenden Ausblenden angemessener fach-/ sachbezogener Inhalte im Sprachunterricht und der sprachlichen Dimension von wissenschaftlichem Arbeiten entspricht auf Seiten der Fachseminare das weitgehende Ausblenden von sprachlichen Fragestellungen. Beidem liegt implizit die Annahme zugrunde, dass wissenschaftliches Wissen prinzipiell sprachunabhängig sei - oder aber, dass man die spezifisch wissenschaftssprachliche Syntax, Idiomatik, Textkompetenz „nebenbei“ miterwirbt, ohne sie gezielt einüben zu müssen. Ich will für die Konsequenzen eines solchen Konzepts ein scheinbar ganz harmloses Beispiel anführen: In keiner Fortgeschrittenengrammatik bzw. keinem Mittelstufenlehrwerk fehlen die Konnektoren als Thema. Meist wird ihre Behandlung verbunden mit Übungen zur Nominalisierung und Verbalisierung, wie etwa in Beleg 6: Beleg 6) Aufgabe: Nominalisieren der Angabesätze Weil die Bernhardiner so übermütig waren, haben sie den Rum aus- gesoffen. Christian Fandrych 284 Der Hans kommt über Unterammergau, denn in Oberammergau herrscht Lawinengefahr. 9 Offenbar ist die Beispielwahl davon motiviert, etwas unterhaltsamere Themen zu wählen, vielleicht in der Hoffnung eines mnemonischen Effekts (ob das gelingt, ist eine andere Frage). Kritisch anzumerken ist aber, dass für die nominalisierten Varianten (Aufgrund des Übermuts der Bernhardiner ...) schwer eine realistische Textsorte vorstellbar ist - jedenfalls außerhalb humoristischer Texte. Schwerer wiegt jedoch vielleicht (und da trifft die Kritik viele Fortgeschrittenenmaterialien), dass solche Übungen meist losgelöst von Textsortenspezifik und textuellen Funktionen von Nominalisierung und Verbalisierung präsentiert werden (so dient die Nominalisierung in Fachtexten häufig der kondensierten Wiederaufnahme von als prinzipiell bekannt vorausgesetzter Information; in Werbetexten erfüllt sie andere Funktionen etc.). Implizit spiegeln derartige Übungen zudem eine grundsätzliche Kompositionalität und Regularität von sprachlichen Einheiten vor, die in der Wirklichkeit weit weniger gültig ist: Dem Lernenden wird vermittelt, dass man praktisch alles gleichermaßen regelgeleitet verbalisiert oder nominalisiert ausdrücken kann. Dass es einen recht großen Bereich an Ausdrücken der allgemeinen Wissenschaftssprache gibt, der idiomatisch mehr oder weniger festgefügt ist - und eben nicht beliebig umformbar - gerät darüber aus dem Blick. Dies könnte eine Ursache für Fehler darstellen, wie wir sie in Beleg 5 oben bereits angesprochen haben (etwas soll ... überblickt werden für einen Überblick geben über). Die Funktionalität und spezifische wissenschaftssprachliche Bedeutung vieler Wendungen gerät so im Sprachunterricht erst gar nicht in den Blick. Die Annahme, Sprache sei Instrument, Werkzeug der Wissenschaft, aber habe möglichst transparent zu sein und wenig zu stören, die implizit einer solch strikten Zweiteilung von Sprach- und Fachunterricht zugrunde liegt, kommt nicht von ungefähr. Sie reicht in der westlichen intellektuellen Tradition mindestens bis zur Aufklärung zurück, wie dies etwa Bazerman (1988), Kretzenbacher (1992; 1995), Turner (1999) und Ehlich (2000) zeigen: In the enlightenment, the epistemological role of language had switched from that of revealing the intention of a divine logos to that of communicating clearly the knowledge of science, from being a palimpsest or trace, as it were, to being the vehicle of the rational or scientific mind (Turner 1999, 149). Turner spricht vom „discourse of transparency” (Turner 1999, 149), Kretzenbacher (1995) vom „window pane style“. 10 Wie wir aber nicht zuletzt 9 Das Beispiel entstammt Wolfgang Rug, Andreas Tomaszewski (1993), Grammatik mit Sinn und Verstand, Stuttgart, 122. 10 Diese Sprachauffassung war mit einem bestimmten Rationalitätsbegriff und einer spezifischen positivistischen Epistemologie eng verbunden, aber auch mit bestimmten Auffassungen zum Sprachstil und zur Textorganisation. Diese Konventionen oder gar Normen wurden so selbstverständlich, dass man verleitet war, ihre Universalität anzunehmen, und jedenfalls davon ausging (und in homogenen Gruppen von „Aufgeklärte Zweisprachigkeit“ in der Germanistik 285 dank der kontrastiven Wissenschaftssprachforschung seit einiger Zeit wissen, sind Formeninventar, Diskurs- und Textformen keineswegs so universell, wie das lange angenommen wurde. 11 Es zeigt sich vielmehr, dass Wissenschaftssprache in ihrer Funktionalität nur vernünftig in enger Verzahnung mit der wissenschaftlichen Praxis vermittelt und erworben werden kann (siehe Ortner 2002; Hornung 2002), und dies gilt nicht weniger für Formulierungsroutinen, Kollokationen und lexikalisches Ausdrucksinventar (vgl. Graefen 2004; Fandrych 2006b). Was bedeutet nun aber die Tatsache, dass der Zusammenhang zwischen Sprache und Inhalt - bzw. wissenschaftlichem Denken - ein ganz essentieller und fundamentaler ist, für eine Didaktik des Deutschen im Rahmen von Germanistikstudiengängen? Die wichtigste Schlussfolgerung scheint mir zu sein, dass die Kompetenz in allgemeiner Wissenschaftssprache und die Vertrautheit mit wichtigen Text- und Diskursarten von fundamentaler Bedeutung für das fremdsprachliche Studium ist - und zwar, wohlgemerkt, im nicht-deutschsprachigen Raum in beiden (Bezugs-)Sprachen. Des Weiteren ist es ein Fehlschluss zu glauben, dass Studierende diese Kompetenz beiläufig erlernen - weder in ihrer Muttersprache, noch in der Fremdsprache. Wissenschaftliche Sprach- und Textkompetenz ist eine komplexe, sehr spezifische Kompetenz, die nur graduell und durch gezielte Praxis erworben werden kann. Um es mit Ortner (2002) zu sagen: Die Bildungs-, Wissenschafts- und Fachsprachen sind keine Vokabelsammlungen, sondern das Sediment einer Praxis - in die Novizen eingeführt werden müssen. Wer mit Vokabeln nicht in Texten, also in Verfahrenszusammenhängen, arbeitet, der beherrscht sie nicht (Ortner 2002, 244). 4 „Aufgeklärte Zweisprachigkeit“ und Orientierung an wissenschaftlicher Handlungsfähigkeit: didaktische Prinzipien für das methodische Vorgehen Im folgenden Abschnitt möchte ich jetzt charakterisieren, wie ein hochschuldidaktisches Vorgehen auszusehen hätte, das versucht, Sprach- und Fachkurse aufeinander abzustimmen und als gemeinsames Lehr-/ Lernziel die wissenschaftliche Handlungsfähigkeit in beiden Sprachen anzustreben. Bevor dies geschieht, soll ein kurzer Exkurs die wichtigsten Überlegungen des Konzepts der „aufgeklärten Einsprachigkeit“ in Erinnerung zurückrufen, wie es Butzkamm Anfang der 70er Jahre entwickelt hat. Studierenden bis vor einiger Zeit vielleicht auch eher annehmen konnte), dass sie keine wesentlichen Lernprobleme bereiten sollten. 11 Vgl. etwa Clyne (1987); Thielmann (1999); Fandrych/ Graefen (2002). Christian Fandrych 286 4.1 „Aufgeklärte Einsprachigkeit“ In seinem Buch „Aufgeklärte Einsprachigkeit“ (1978, [1973]) forderte Butzkamm eine „Entdogmatisierung“ der einsprachigen Methode im „elementaren“ Fremdsprachenunterricht, also des ausschließlichen Gebrauchs der Zielsprache möglichst von der ersten Stunde an. Butzkamm begründet sein Plädoyer gegen die strikte Einsprachigkeit unter anderem mit der „unwillkürlichen“ Präsenz der Erstsprache im Fremdsprachenlernprozess: Denken und Fühlen der LernerInnen seien zunächst „muttersprachlich geprägt“ (Butzkamm 1978, 177). Der neue Lernstoff müsse notwendigerweise „an die gesamte (muttersprachlich vermittelte) frühere Erfahrung“ anknüpfen, wenn die Aneignung erfolgreich sein wolle. Für das effektive Herstellen solcher Anknüpfungs- und Verbindungsleistungen aber seien bilinguale „Techniken“ am besten geeignet (Butzkamm 1978, 177). An vielen Stellen, so zeigt Butzkamm, kann der Einsatz der L1 der Lernenden im Unterricht den Lernweg verkürzen, den Unterrichtsdiskurs entlasten und an entscheidenden Stellen die unwillkürliche Präsenz der Muttersprache sichtbar und der Reflexion zugänglich machen (vgl. Butzkamm 1980, wo dieses Konzept weiter ausgearbeitet wird). Manches an diesem Ansatz erinnert an neuere fremdsprachendidaktische Überlegungen, etwa im Kontext der „Sprachaufmerksamkeit“ (language awareness), die rezeptive und verarbeitungsorientierte Prozesse des Sprachenlernens stärker in den Vordergrund rücken und der sprachvergleichenden Reflexion einen wichtigeren Platz einräumen (vgl. Portmann-Tselikas 2003). Allerdings gesteht Butzkamm der Muttersprache insgesamt doch eher eine Hilfsfunktion zu; andere Aspekte des Sprachunterrichts sind weitgehend einsprachig in der Zielsprache durchzuführen - etwa die „Sprachanwendungsphase“ (Butzkamm 1978, 178-179). Dies ist im hier vorgestellten Ansatz etwas anders (siehe unten). 4.2 Sprachkurse: Prinzipien und allgemeine Lernziele Wie bereits erwähnt, sollten sich meiner Überzeugung nach sprachpraktische Kurse als Teil von Fremdsprachen-Studiengängen deutlich an der allgemeinen Wissenschaftssprache und den Text- und Diskursformen (auch den informelleren! ) des Hochschulkontextes orientieren. Es ist dabei im Einzelfall zu entscheiden, wie intensiv neben den so genannten „rezeptiven“ Fertigkeiten auch die produktiven wissenschaftssprachlichen Fertigkeiten in der Fremdsprache zum Thema gemacht werden. Folgende Textkompetenz-Strategien stehen dabei unter anderem im Vordergrund: • Lese- und Verstehensstrategien (populär-)wissenschaftlicher Texte; Exzerpte anfertigen; abstrahieren und bewerten, einordnen, sich distanzieren „Aufgeklärte Zweisprachigkeit“ in der Germanistik 287 • effektive Verwendung von Hilfsmitteln (Wörterbücher, Grammatiken, Fachlexika, verlässliche Online-Ressourcen etc.) • Hör- und Aufzeichnungsstrategien (Vorlesungen, Diskussionen, Referate) • daran anknüpfend: Interventionsstrategien (nachfragen, widersprechen, Verfahrensfragen klären, unterbrechen, Rederecht sichern etc.) • größere Informationsmengen abstrahierend zusammenfassen und einordnen • einen eigenen Standpunkt entwickeln und sprachlich ausdrücken • Standpunkte anderer DiskussionsbeiträgerInnen/ AutorInnen nuanciert bewertend sprachlich darstellen • Textproduktion: Textstruktur-/ Textmusterwissen; textkommentierende Handlungen; Bewertung von rezipierter Literatur • Sprechstundenstrategien • Arbeitsgruppen-Strategien Auch die Auswahl lexikalischer, grammatikalisch-textlinguistischer und phonetisch-rhetorischer und fertigkeitenbezogener Lernziele ist an der allgemeinen Wissenschaftssprache und einer überwiegend fach-/ sachbezogenen Sprachverwendung zu orientieren. Natürlich kommen autonomen und reflektiven Arbeitsverfahren sowie dem kompetenten Handhaben ausgewählter Hilfsmittel wichtige Funktionen zu, die alle hier nicht näher beschrieben werden können. Wie dies bereits angeklungen ist, ist schon allein aus Zeitgründen der Sprachunterricht als alleiniger Vermittler relevanter Sprachkenntnisse im Hochschulalltag überfordert. Im Folgenden möchte ich darum etwas konkreter zeigen, wie Sprachkompetenz in allgemeiner Wissenschaftssprache auch in den Seminaren gefördert werden kann. 4.3 Kritische bilinguale Sprachreflexion in Seminarveranstaltungen In den britischen German-Studies-Studiengängen finden sich derzeit vor allem zwei Ansätze, was die Sprachverwendung in den so genannten content courses anbetrifft: (a) Traditionelles Modell: Der Seminardiskurs wird einsprachig auf Englisch durchgeführt. An Stellen, an denen es zu größeren Verständnisschwierigkeiten (etwa bei der Lektüre der Primär- oder Sekundärliteratur) kommt, werden wichtige Begriffe und Passagen auf Englisch geklärt, diskutiert, manchmal übersetzt. Wo die deutsche Sprache explizit thematisiert wird, handelt es sich meist gerade nicht um Wissenschaftssprachliches, sondern um Auszüge aus literarischen Texten; die (Lese- und Text-)Kompetenz in allgemeiner Wissenschaftssprache wird also dadurch nicht gefördert. Oberflächlich betrachtet hat diese Methode den Vorteil, dass man „schneller zum eigentlichen intellektuellen Inhalt“ Christian Fandrych 288 vorstößt und die Kommunikation nicht durch sprachliche Barrieren aufgehalten wird. Als Lehrender muss man sich zudem nicht mit Fragen der Wissenschaftssprachdidaktik befassen, sondern kann so tun, als sei zumindest die rezeptive Wissenschaftssprachkompetenz bei den Studierenden vorhanden oder aber als würde sie sich mit der Zeit beiläufig einstellen. (b) „Immersionsmodell“: Hier ist die Sprache des Lehr- und Lerndiskurses Deutsch, das Englische hat nur eine Hilfsfunktion. Nach diesem Modell wird in Großbritannien eher in nicht-traditionellen Hochschulen unterrichtet (etwa an der Aston University, vgl. Reershemius 2001). Die Vorteile liegen auf der Hand: die Studierenden werden in ein Sprachbad getaucht und verwenden das Deutsche auch außerhalb der Sprachkurse; sie werden zudem vertraut mit deutschsprachigen Diskurs- und Textarten, obwohl auch dies sich nicht notwendigerweise automatisch ergibt. Das Hauptgegenargument gegen dieses Konzept ist wohlbekannt: es besteht nach Auffassung vieler die Gefahr, dass solche Seminare in Wirklichkeit zur Verlängerung von Sprachkursen werden, dass die Sprachprobleme vieler Studierender eine angemessene inhaltliche Progression und intellektuelle Tiefe verhindern (vgl. ausführlicher Harden 1998; Rösler 2001; 2006). Diese Argumente sind meines Erachtens nicht einfach von der Hand zu weisen, auch wenn VertreterInnen dieses Konzepts meinen, sie seien in der Praxis nicht zutreffend (vgl. Reershemius 2001; Fandrych/ Reershemius 2005). Ich sehe eine Hauptschwäche von Ansatz (b) v.a. darin, dass auch hier eigentlich kein Platz für die Entwicklung einer kritischen, zweisprachigen Sprachbewusstheit im Wissenschaftskontext vorgesehen ist. Dies aber scheint mir gerade einer der Hauptzwecke (und eine wichtige Besonderheit) eines German-Studies-Studiengangs außerhalb des deutschsprachigen Raumes zu sein: wer etwa in London Deutsch studiert, sollte in beiden Sprachen gebildet und sprachlich angemessen über German matters reden können und auch ein Bewusstsein entwickeln für die Spannungen und Schwierigkeiten, die sich aus der Alterität der beiden Sprachen und wissenschaftlichen Sprachtraditionen ergeben. Daneben präsupponiert der Immersionsansatz, dass wir es mit weitgehend homogenen Gruppen von Studierenden englischer Muttersprache zu tun haben - eine Voraussetzung, die so heute nicht mehr stimmt. Studierende aus dritten Ländern - und deutsche Muttersprachler - haben sich aber bewusst dazu entschieden, German Studies etwa in Großbritannien zu studieren, statt an einer deutschsprachigen Hochschule, und wenigstens „Aufgeklärte Zweisprachigkeit“ in der Germanistik 289 hier hat auch das Wissenschaftsenglische seinen natürlichen Platz. 12 Darum favorisiere ich Ansatz (c): (c) „Aufgeklärte Zweisprachigkeit“: In diesem Modell ist der systematische Aufbau einer bilingualen Sprachbewusstheit ein wichtiges Lernziel unter anderen. Die Verbindung von Fachlichkeit und Spracharbeit muss sich wie ein roter Faden durch alle Veranstaltungen eines German Departments ziehen, wobei die Schwerpunkte in Sprachkursen und Seminaren durchaus deutlich unterschiedlich ausfallen sollen (vgl. auch Rösler 2001, 403). Ich plädiere dafür, dass zumindest einige (Mischmodell), am liebsten aber alle Seminarveranstaltungen Phasen in jeder der beiden Sprachen vorsehen und als Minimum Lesestrategien und Studiertechniken im Wissenschaftsdeutschen explizit thematisieren. Wo sich das anbietet, können Seminare diese aufgeklärte Einsprachigkeit dann auch systematisch zu einer bewussten aufgeklärten Zweisprachigkeit ausbauen. Man kann den Anteil der Zielsprache am Diskurs im Fachseminar auch staffeln - sodass es einige deutlich zweisprachig angelegte Seminare gibt, und andere, in denen etwa vor allem wichtige rezeptive oder studiertechnikbezogene Aspekte des Zielsprachengebrauchs thematisiert werden (wie etwa Exzerpieren, Konsultation von Nachschlagewerken etc.). Wie dies Rösler (2001, 402) andeutet, ist die Zweisprachigkeit im Fachseminar allerdings nicht zum „Nulltarif“ zu haben. Sie erfordert gründliche didaktische Vorbereitung und das Beschreiten von hochschuldidaktischem Neuland. Als wichtiges Prinzip für die zweisprachige Arbeit hat sich dabei in meiner Erfahrung die Phasenaufteilung erwiesen: Bestimmte Aktivitäten sollten nach Möglichkeit primär in einer vorher vereinbarten Sprache durchgeführt werden. Erklärungen, Zusammenfassungen und andere kurze metakommunikative Hilfestellungen sowie studentische Verständnisfragen oder andere Interventionen sind natürlich immer auch in der jeweils anderen Sprache „erlaubt“, sollten aber nicht zu einem dauerhaften Wechsel in die andere Sprache führen. Ansonsten artet die Kommunikation leicht in ein mehrsprachiges „Wirrwarr“ aus und der Sprachlerneffekt sinkt rapide ab. Solche Phasen können von kurzen, aufgabenbezogenen Aktivitäten bis hin zu mehreren Sitzungen reichen. Es ist auch sinnvoll, mit den Studierenden möglichst früh die Sprachenwahl der verschiedenen Phasen festzulegen, sodass diese entsprechend vorbereitet und damit vorentlastet werden können. Das zweisprachige Arbeiten kann dann durch eine Vielzahl von methodischen Verfahren unterstützt und entlastet werden - etwa durch die Bildung von mehrsprachigen Arbeitsgruppen, durch lexikalische Vor- 12 Ganz abgesehen von der Tatsache, dass die Vermittlung der englischen Bildungs- und Wissenschaftssprache zum Bildungsauftrag von Hochschulen wie dem King’s College London gehört. Christian Fandrych 290 entlastung mithilfe von Kopien oder simultan per PowerPoint (siehe Rösler 2006, 232), durch Nachliefern von Zusammenfassungen in der Ausgangssprache der Studierenden, durch Lehrende oder Studierende, durch Bildung von spezifischen Arbeitsgruppen, deren Aufgabe es ist, Verständnisprobleme zu entdecken und zu bearbeiten etc. Im Folgenden soll anhand eines Seminarplans exemplarisch gezeigt werden, wie eine Integration von fach- und sprachbezogenem Arbeiten aussehen könnte (es handelt sich um einen Auszug eines Seminars zum Thema „Wortbildung im Deutschen“, das ich am King’s College London gehalten habe): Beleg 7) Phasen und Aktivitäten in einem zweisprachigen Fachseminar „Soziolinguistische Aspekte der deutschen Wortbildung“ 13 Sitzungen 1-3 Principles 1: Structural aspects (derivation, compounding, conversion, nonmorphematic word formation processes) Einführende Literatur wird auf Englisch gelesen, entsprechende deutsche Terminologie und deutsche Beispiele werden erarbeitet bzw. mit dem englischen Material verglichen. Arbeitsblätter mit Aufgaben und Beispielen (englisch/ deutsch) Arbeitssprache: Englisch, Kontrastsprache: Deutsch; englische und deutsche Beispiele und Definitionen Aufgabentypen: Leseaufgaben, um die Aufmerksamkeit der Studierenden auf spezifische linguistische und konzeptuelle Aspekte der wissenschaftlichen Texte zu fokussieren, um LeserInnen zu aktivieren und Lesen verbindlicher zu machen Aufgaben zum wissenschaftlichen Arbeiten: Auffinden und Vergleichen von Definitionen und Erklärungen in sprachwissenschaftlichen Lexika und Online-Ressourcen (etwa grammis); Umgang mit und Bewertung von solcher Information Sitzungen 4-7 Principles 2: Semantic aspects (nonce formations, motivation, lexicalisation, transparency vs. opaqueness, figurative meanings, types and reasons for lexicalisation) Wichtige Definitionen werden teils in englischsprachiger, teils in deutscher Sekundärliteratur erarbeitet und jeweils verglichen; Unterschiede und terminologisch-konzeptuelle Schwierigkeiten werden exemplarisch diskutiert (etwa beim Thema „Motivation/ Lexikalisierung/ Idiomatisierung“). Arbeitssprachen: Englisch und Deutsch (jeweils entsprechend der Sekundärliteratur) Beispiele in beiden Sprachen 13 Eine Sitzung dauert 50 Minuten. Einige Arbeitsformen und Prinzipien sind von Schmölzer-Eibinger (2002) und Hornung (2002) beeinflusst. „Aufgeklärte Zweisprachigkeit“ in der Germanistik 291 Aufgaben: Die Studierenden müssen eine Belegsammlung mit deutschen Beispielen anlegen, die die verschiedenen semantischen Prozesse verdeutlichen; Arbeit mit etymologischen Lexika und deutschsprachiger Einführungsliteratur Aufgaben zum wissenschaftlichen Arbeiten: Sitzung beschäftigt sich ausschließlich mit Lesestrategien für deutschsprachige wissenschaftliche Texte, etwa: Textrekonstruktionen (anhand von Schlüsselwörtern, thematischen Sätzen, Überschriften, graphischen Darstellungen und Text- Puzzles); Fragen zum Text formulieren und in Gruppenarbeit beantworten etc. Beispiel: Select 5 expressions/ collocations that seem to be difficult to handle and try to explain these to the class; discuss formulation patterns/ collocations as part of ordinary academic language; list three things you have learned and three things you haven’t yet understood from the text; discuss these in your group. Sitzungen 8-11 Language acquisition and lexical creativity (…) Aufgaben u.a.: Gruppenreferate von empirischen Fallstudien zum Erwerb von Wortklassen und Wortbildung; Sekundärliteratur teils englisch, teils deutsch; die Arbeitsgruppen sollten möglichst gemischt sein, was die L1 der Studierenden angeht. Referate werden auch als Diskursform thematisiert, Präsentationstechniken geübt. Vortragssprache = Sprache der Sekundärliteratur, aber die Studierenden müssen Zusammenfassungen in der jeweils anderen Sprache geben Sitzungen 12-16 Word formation and youth jargon; word formation in advertising (…) Aufgaben (u.a.): Ausführlichere Beschäftigung mit deutschsprachiger Sekundärliteratur (allgemeines wissenschaftssprachliches Vokabular, Kollokationen, illokutive Funktionen, Formen der Bewertung, Distanzierung etc.); Arbeit mit empirischen Daten und eigenständigere Analyse und Bewertung von authentischen Beispielen; Produktion kurzer deutschsprachiger Texte zur Auswertung eigener empirischer Analyse (…) (…) (insgesamt 22 Sitzungen) Der hier nur grob skizzierte erste Teil des Seminars richtet sich an Studierende im zweiten Jahr des BAs. Die ersten Sitzungen thematisieren neben einigen morphologischen Grundbegriffen insbesondere Verstehensstrategien und Studiertechniken wie Texterschließung. Definitionen und wichtige Terminologie werden zweisprachig erarbeitet; der Gebrauch wichtiger linguistischer Hilfsmittel wird ebenfalls eingeübt. Der zweite Block an Sitzungen thematisiert insbesondere semantische Aspekte der Wortbildung. Es werden gezielt Aufgaben zur allgemeinen Wissenschaftssprache integriert, insbesondere zur Textorganisation und zu Verstehensstrategien und Strategien zum Umgang mit wissenschaftlichen Fachtexten in der Zielsprache. In den Sitzungen 8-11 werden unter anderem die Vorbereitung Christian Fandrych 292 und das Halten von Kurzreferaten eingeübt, wobei hier in sprachlich möglichst gemischten Gruppen gearbeitet wird. Das Prinzip, dass zu jedem Referat eine Zusammenfassung in der jeweils anderen Sprache gegeben werden muss, ermöglicht eine bewusste Reflexion der sprachlich-konzeptuellen Kontraste und Parallelen und ermöglicht die schrittweise Einübung in die wissenschaftliche Sprachproduktion in beiden Sprachen. In den Sitzungen 12-16 sollen Studierende lernen, mit einem kleinen eigenen Korpus möglichst selbständig zu arbeiten; Ergebnisse eigener empirischer Analysen sollen präsentiert und zusammengefasst werden. Grundlage ist die vertiefte Lektüre zielsprachlicher (also deutscher) Sekundärliteratur und die sprachliche Auseinandersetzung mit wichtigen sprachlichen Handlungen und dem jeweils entsprechenden allgemein-wissenschaftssprachlichen Ausdrucksbzw. Formulierungsinventar (vgl. dazu Beispiel 8 unten). Ein solches Programm ist anspruchsvoll und verlangt den Studierenden und DozentInnen mehr Vorbereitung ab als manch herkömmliches Seminar. Sicherlich wird nicht jede Lehrveranstaltung so ausführlich auch sprachliche Aspekte explizit thematisieren und einüben. Zumindest einige Seminare aber sollten dies gezielt tun, denn der Lerneffekt an fachlich-sprachlicher Reflexion und auch Kompetenz (und auch die studentischen Rückmeldungen im Falle des von mir gehaltenen Seminars) scheinen ein solches Vorgehen sehr deutlich zu rechtfertigen. 14 Um zu zeigen, wie aufgabengesteuert-erklärende, auf Aufmerksamkeit fokussierende Textarbeit aussehen könnte, soll hier noch kurz ein Auszug aus einem Arbeitsblatt präsentiert werden, das ebenfalls im Zusammenhang mit diesem Seminar entwickelt wurde (es gehört zum Thema Word formation and youth jargon, vgl. Beispiel 7 oben): Beleg (8) Worksheet: Focus on Academic German Previous activities: You should all have read the following article (and looked up unfamiliar words/ expressions where necessary): Eva Neuland, „Subkulturelle Sprachstile Jugendlicher heute. Tendenzen der Substandardisierung in der deutschen Gegenwartssprache“, in: Eva Neuland, Hrsg. (2003), Jugendsprache - Jugendliteratur - Jugendkultur, Frankfurt/ M: Peter Lang, 131-148. Purpose: This worksheet has been designed to help you learn more about the form and function of some frequent expressions in „Everyday Academic German“. You should use it alongside the original article to gain a better idea of the textual chronology and some important expressions that „drive” German academic texts. The main aims are to raise your awareness of important academic language structures and to encourage you to use some of these formulations in your own writing. The examples are listed in chronological order; their main function(s), meaning(s) and linguistic makeup are explained. 14 Genaueres könnten natürlich erst größere empirische Untersuchungen ergeben. „Aufgeklärte Zweisprachigkeit“ in der Germanistik 293 Formulating the research task/ research question (cf. page 131) Welche Ursachen, welche Bedeutungen, welche Folgen haben solch unterschiedliche Sprachgebrauchsweisen? [1] Lässt sich die Vielfalt der jugendsprachlichen Erscheinungsweisen überhaupt noch sinnvoll und erklärungskräftig ordnen? [2] Diesen Fragen will der Beitrag nachgehen. [3] [1] X hat bestimmte Ursachen/ bestimmte Bedeutungen/ bestimmte Folgen: note that research problems are often formulated as questions [2] X lässt sich sinnvoll ... ordnen: Note the impersonal style, using a reflexive construction with lassen; Task: What would a similar question look like in English? [3] Der Autor/ der Beitrag geht einer Frage nach: untersucht eine Frage/ ein Problem Task: Note the path-metaphor in the last example: We are „following a question” in a virtual „space of knowledge”. There are quite a few collocations in English and German that conceptualize problem solving and the methods of problem solving with similar imagery - but they do not always directly correspond to each other. Collect at least three such expressions/ collocations in both languages: German: English: Describing concrete examples (134) Die einzelnen Beispiele sind jedoch durch eine Vielzahl weiterer Auffälligkeiten gekennzeichnet. [1] [...] In den sprechsprachlichen Beispielen (5, 6) findet sich eine Reihe phonetischer Verschleifungen. [2] [...] In allen Beispielen sind syntaktische Besonderheiten zu entdecken ... [3] The author uses three different formulations to describe in more detail the features of some linguistic examples. They are all useful for your own academic writing. [1] ein Text/ Beispiel/ Umstand ... ist durch ... gekennzeichnet: hat ... Merkmale, ist charakterisiert durch; [2] In ... findet sich eine Reihe von/ finden sich viele ...: man kann sie finden, erkennen; note the impersonal style with lassen; who is the implicit agent? [3] etwas ist zu entdecken: here: etwas kann entdeckt werden/ man kann es entdecken; entdecken is almost a synonym for finden here, but note the different impersonal constructions Task: Check what other meanings ist + zu + infinitive-constructions can have. Securing the first results (135) Versuchen wir, die Vielzahl der sprachlichen Auffälligkeiten zusammenzufassen, so ist festzustellen, [1] dass diese allesamt Abweichungen von der Hochbzw. Standardsprache darstellen. [2] Christian Fandrych 294 Task: Rephrase the first clause (Versuchen wir …) using a wennconstruction: [1] es ist festzustellen: man kann als Ergebnis festhalten, dass .../ man kann konstatieren, dass ...; note that this is a very frequent expression in German for expressing a (first) result; note that the impersonal ist + zu + infinitiveconstruction is used again; dass diese allesamt Abweichungen von … [2] darstellen: darstellen is a very useful verb to avoid the use of the rather bland sein. Moving on to the next problem (134/ 135): Fragen wir nun in einem nächsten Schritt, [1] welche Beschreibungs- und Erklärungskategorien die Sprachwissenschaft zur systematischen Analyse solcher Erscheinungen bereithält. Fragen wir nun in einem nächsten Schritt: Wir wollen nun in einem nächsten Schritt fragen ; note that the „transition between“ (der Übergang zwischen) two subchapters is again verbalised in the form of a path-concept: der nächste Schritt; English uses similar expressions note the use of the planning expression nun; this is typical of formulations characterising textual/ thematic transitions in German (compare English now) note the personification of Sprachwissenschaft, die … bereithält. Task: Complex abstract nouns such as Beschreibungs- und Erklärungskategorien are rather more frequent in German than they are in English. How would you translate these compounds into English? Describing (and criticizing) scholarly approaches (135): Die traditionelle Dichotomie der Sprachwissenschaft zur Bezeichnung von Sprachunterschieden innerhalb der Muttersprache lautete: Hochsprache und Dialekt. [1] [...] Der Hoch- und Schriftsprache werden die ursprünglichen Basisdialekte gegenübergestellt, [2] die sich durch eigenständige Systemstrukturen vor allem auf der Ebene der Lautung ... auszeichnen. ... [1] Die traditionelle Dichotomie der Sprachwissenschaft ... lautete: The use of traditionelle could indicate that this might no longer be the case (at least from the author’s point of view); note that Sprachwissenschaft is again personified; lautete is almost synonymous with war; [2] Der Hoch- und Schriftsprache werden die … Basisdialekte gegenübergestellt: Note the concrete spatial image here: a dichotomy/ fundamental binary distinction is explained with the image of positioning them at opposite ends in a space; note the passive voice as another frequent impersonal construction in academic German. (…) „Aufgeklärte Zweisprachigkeit“ in der Germanistik 295 Ziel der Aufgaben ist es vor allem, Sprachaufmerksamkeit auf bestimmte Formulierungsweisen und ihre pragmatischen Funktionen zu fokussieren. Dabei geht es um essentielle sprachliche Handlungen wie Fragestellungen formulieren, sprachliche Beispiele beschreiben und auswerten, Ergebnisse festhalten, zu einem neuen Aspekt voranschreiten, oder aber - was häufig besonders schwierig ist - bestimmte Positionen anderer zu beschreiben und sich davon zu distanzieren. So wird nicht nur die Funktion bestimmter sprachlicher Mittel in der deutschen Wissenschaftssprache deutlich, sondern es wird eine Grundlage geschaffen für eine funktional orientierte wissenschaftssprachliche Reflexion. Und diese - nicht der reine Vergleich formaler Mittel - sollte schließlich in einem aufgeklärt zweisprachigen Ansatz im Mittelpunkt stehen. Es ließen sich an geeigneter Stelle dann auch produktive Aufgaben anschließen, die hier nicht im Mittelpunkt stehen. 5 Schlussbemerkungen Ich denke, ein bewusster zweisprachiger Ansatz und eine Konzentration auf Formen und Funktionen der allgemeinen Wissenschaftssprache können zumindest helfen, einige der notorischen Probleme der Deutsch- Studiengänge im nicht-deutschsprachigen Raum zu lösen. Das ist kein einfacher Weg, und diese Vorschläge treffen in der Praxis auf viele Widerstände. Um einen solchen Ansatz weiterzuentwickeln, bedarf es noch viel Grundsatzarbeit sprachvergleichend-empirischer Art, empirisch fundierter Untersuchungen und Reflexionen der Hochschulpraxis im deutsch- und nicht-deutschsprachigen Raum, sowie didaktischer Planung und Innovation. Sicherlich ist auch die richtige Mischung und Dosierung von Sprach- und Fachfokus, von Anforderungsniveaus und methodischem Vorgehen in jedem Fall immer wieder neu zu bestimmen. Aber ich denke, dass die skizzierten Ansätze Schritte in die richtige Richtung sind, und die oft als „Defizit“ empfundene Konstellation der so genannten Auslandsgermanistik so auch zum Positiven gewendet werden könnte und sollte: die Chance zur konkreten Zweisprachigkeit anhand eines intellektuell anspruchsvollen Gegenstands sollte genutzt werden, statt sie mit einsprachigen Ansätzen zu verspielen. Sie stellt (auch) eine entscheidende Schlüsselqualifikation bereit, die auf dem Arbeitsmarkt durchaus von hohem Stellenwert sein kann. Literaturverzeichnis ALTMAYER, Claus (2001), „Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache in nichtdeutschsprachigen Ländern I: Europäische Perspektive“, in: Gerhard Helbig et al. (Hrsg.), Deutsch als Fremdsprache. Ein internationales Handbuch, Band 1, Berlin/ New York, 124-140. Christian Fandrych 296 BAZERMAN, Charles (1988), Shaping Written Knowledge. The Genre and Activity of the Experimental Article in Science, Wisconsin. 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Hans Drumbl Sprachunterricht und Ausbildung zur Mehrsprachigkeit Bilder, Gedanken, Erinnerungen 1 Abstoßen In einem denkwürdigen Gespräch im Berlin der 1920er Jahre spricht André Gide mit Walter Benjamin über seine Beziehung zur deutschen Kultur und greift dabei auch das Thema des Fremdsprachenerwerbs auf. Gide, der sich über längere Zeit hinweg von der deutschen Kultur entfernt und sich der englischen gewidmet hatte, erwähnte Benjamin gegenüber: „Da machte ich eine merkwürdige Entdeckung. Mit dem Lesen ging es nach dieser zehnjährigen Pause nicht schlechter, sondern besser.“ Benjamin, ein aufmerksamer Beobachter sprachlicher Phänomene, betont, dass Gide in seinem Bericht eine Erkenntnis ganz besonders hervorhebt: „Es ist nicht die Verwandtschaft zwischen Deutsch und Englisch, was mir die Sache leichter machen ließ. Nein, eben dies, daß ich von meiner eigenen Muttersprache abgestoßen hatte, das gab mir den Elan, mich einer fremden zu bemächtigen.“ 1 Dann kommt Gide auf den für das Erlernen einer Sprache ausschlaggebenden Moment zu sprechen. „Beim Sprachenlernen ist nicht das Wichtigste, welche man erlernt; die eigene zu verlassen, das ist ausschlaggebend. Auch versteht man sie (d.i. die eigene Sprache) im Grunde erst dann.“ Gide erinnert an ein Wort des französischen Seefahrers Louis Antoine de Bougainville: „Als wir die Insel verließen, gaben wir ihr den Namen Ile du Salut.“ Und daran schließt er nun - wie Benjamin fasziniert anmerkt - den wunderbaren Satz: „Ce n'est qu’en quittant une chose que nous la nommons.“ - „Erst wenn wir von etwas scheiden, geben wir ihm einen Namen.“ Das Eigene ist ein Schlüssel für die Begegnung mit dem Fremden. Worauf es ankommt, ist, bewusst vom Eigenen „abzustoßen“. Nach dem „Abstoßen“ vom Eigenen kann man einen Blick zurückwerfen, der Erkenntnisse verspricht, die nicht so leicht zu erlangen wären, wenn man auf dem Boden des Eigenen verblieben wäre. Eine Metapher spricht uns an und verspricht, Dienste zu leisten als Vehikel der eigenen Gedanken, wenn das in ihr ausgedrückte Bild einem 1 Walter Benjamin, „Gespräch mit André Gide“ (1928), in: Walter Benjamin (1980), Gesammelte Schriften IV, Buch 2, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 506. Hans Drumbl 300 Bild entspricht, das wir uns bereits selbst von den Tatsachen in der Welt gemacht haben. Ein Bild begegnet einem anderen Bild und sie wachsen aneinander, miteinander. So erging es mir mit Gides Metapher vom Abstoßen, die auf den ersten Blick einleuchtet als Bild einer geistigen Tätigkeit, das man als LernerIn von Sprachen und bei der Beobachtung anderer LernerInnen nachvollziehen kann. Das Bild wirkt erkenntniserweiternd auch in Hinblick auf LernerInnen, die augenscheinlich nicht imstande sind, von der Erstsprache „abzustoßen“ wie andere Lernende der selben Gruppe und die mit ihrem Bedürfnis, jedes einzelne Wort der zu lernenden Sprache aus der Muttersprache herzuleiten, zurückbleiben und den Anschluss an die Lernergruppe verlieren. In diesem Sinn erachte ich die Worte Gides als grundlegend für den Fremdsprachenunterricht. Im „Abstoßen“ wird eine Intentionalität verwirklicht, die allein der Sprache gilt, die nichts aussagt über das Verhältnis zum Ort des Herkommens und dem der erwünschten Ankunft. Keiner dieser Orte ist positiv oder negativ besetzt und es bedarf keiner besonderen Strategien, keiner Kunstgriffe, um sich von dem einen zu lösen und den anderen zu erreichen. Es sind die Orte des Eigenen und des Fremden, die beide „gelernt seyn müssen“ (Hölderlin). Der Schwerpunkt liegt im Anspruch, den die Fortbewegung von einem Ort zum anderen hin stellt, nicht die Erfahrung des Fremden oder die der Differenz zwischen dem Eigenen und dem Anderen (Drumbl 2000). Die eigentliche Kraft des Bildes liegt vielleicht im Moment der Erkenntnis - nach dem Abstoßen von der Insel, wenn die Erfahrung mit dem Neuen ganz frisch ist und unbelastet von den Erfahrungen, die aus der Zeit vor der Ankunft auf der Insel stammen. Beginnen wir also mit der Frage nach den Merkmalen der Sprache, die den Lernenden auffallen, wenn ihr Blick nach dem Abstoßen zurückfällt auf den Ort, den sie gerade verlassen haben. Welche Eigenschaften von Sprachen werden transparent - werden erkennbar und erkannt - im Moment des Sprachgebrauchs durch Lernende der Sprache, ist die neue Fragestellung. Besitzen die Sprachen Merkmale, die den Lernenden „entgegenkommen“, die es ihnen gestatten, falls sie diese Merkmale wahrnehmen, von den Sprachen - der eigenen wie der fremden - abzustoßen? Sind es vielleicht gerade diese Merkmale der Sprache, die der erfolgreiche Lernende im Moment des Lernens wahrnimmt? Welchen Namen können wir diesen Merkmalen der Sprache geben, nachdem wir sie aus der Distanz betrachtet haben, das heißt, welche Eigenschaft der Sprache, die in der Erfahrung des Lernens gewonnen wird, tritt so stark in den Vordergrund, dass sie unsere Wahrnehmung der Sprache bestimmt? Und gelingt das Abstoßen dann nicht, wenn an Stelle dieses „funktionalen“ Bildes ein anderes, ein traditionelles Bild von Sprache sich Sprachunterricht und Ausbildung zur Mehrsprachigkeit 301 einstellt, ein Bild, das, schon von seiner Herkunft her, die neue Sprache mit der Muttersprache eng verknüpft und so das Abstoßen verhindert? 2 Eigenschaften von Gegenständen unseres Gebrauchs werden vor dem Hintergrund der eigenen Erfahrung wahrgenommen und bestimmbar. So ist jedes Nachdenken über Sprache von den Erfahrungen mit dem Gebrauch der Sprache mitbestimmt, auch von den Erfahrungen in Schule und Unterricht, von den Diskursen über Sprache und Lernen in Theorie und Praxis. 2 Zentrum und Peripherie Ein Hindernis auf dem Weg, eine beim Lernen gewonnene Anschauung der Sprache in der Erfahrung zu verankern, war zweifellos die Trennung des Gegenstandes der Sprachwissenschaft in einen Kernbereich (core), dem allein die Syntax angehören sollte, und in eine „Peripherie“, die stark von sprachlichen Erscheinungen geprägt war, die dem Lernenden als Hindernisse auffallen, die aber von den Erforschern der zentralen Anliegen als bloße „Epiphänomene“ des Sprachlichen angesehen wurden. Zu diesem Thema gab es jüngst eine polemische Auseinandersetzung, die in der Geschichte der Sprachwissenschaft vielleicht einmal als Wendepunkt angesehen werden wird. In einem Aufsatz zur phylogenetischen Deutung der Sprache geben Hauser, Chomsky und Fitch (2002) als Minimalanforderung für die Entwicklung der Sprache die genetisch verankerte Befähigung des Menschen zur Rekursivität an. Diese Fähigkeit ist nicht spezifisch für Sprache und könnte entstanden sein „to solve other computational problems such as navigation, number quantification, or social relationships“. Damit ist eine klare Linie vorgezeichnet, die Chomskys Minimalist Program implizit eine Schlüsselrolle zuspricht. Eine zentrale Rolle in der Darstellung der „Faculty of Language“ im engen Sinn (FLN) wird der inneren Sprache zugewiesen („I-Language“), während alle „externen“ Elemente der Sprachproduktion der theoretisch belanglosen Sprachbefähigung im weiten Sinn (FLB) zugewiesen werden. In the varieties of modern linguistics that concern us here, the term „language“ is used quite differently to refer to an internal component of the mind/ brain (sometimes called „internal language“ or „I-language“). We assume that this is 2 Die Fragen stecken ein Programm für Forschung und Lehre ab, das wir an der Arbeitsstelle Korpus-Südtirol zu bearbeiten versuchen. Neben Alison Wray, der wir auch den „Namen“ für das Neue verdanken (Wray 2002; Wray/ Perkins 2000), geben die Arbeiten von Michael Tomasello (2003) entscheidende Impulse. Siehe dazu auch Goldberg (2003 und 2006) und die in der Literaturliste angeführten korpuslinguistischen Arbeiten (Belica 2001; Fraas 2001; Steyer 2004). Die Grundlage für die Rezeption dieser neuen Ansätze verdanke ich Elizabeth Bates (Bates/ Carnevale 1993; Bates/ Dale/ Thal 1995). Hans Drumbl 302 the primary object of interest for the study of the evolution and function of the language faculty. Die Bevorzugung der „inneren Sprache“ geht Hand in Hand mit der Bevorzugung der Syntax als ausschließlichem Faktor der Sprachbefähigung im engen Sinn (FLN): FLB as a whole thus has an ancient evolutionary history, long predating the emergence of language, and a comparative analysis is necessary to understand this complex system. By contrast, according to recent linguistic theory, the computations underlying FLN may be quite limited. In fact, we propose in this hypothesis that FLN comprises only the core computational mechanisms of recursion as they appear in narrow syntax and the mappings to the interfaces. Heißt das nun, dass der Kernmechanismus der Rekursivität ausschließlich in der „eng gefassten“ Syntax in Erscheinung tritt oder aber in der Syntax und dazu auch im „Mapping to the interfaces“? Dass den hochkarätigen Autoren an einer so entscheidenden Stelle eine sprachliche Ungenauigkeit unterläuft, kann als Lapsus gedeutet werden, der Verdrängtes wieder an die Oberfläche bringt. Verdrängt wird in dieser Bestimmung der engen Sprachbefähigung nämlich all das, was „draußen“ vor sich geht, was mit der im „Inneren“ angesiedelten Kompetenz durch die Interfaces verbunden ist: der Sprech- und Hörapparat im weitesten Sinn, das Gedächtnis, Interaktion, Handeln sowie die dazu gehörigen sprachlichen Gebrauchsformen und Texte. Hauser/ Chomsky/ Fitch haben Widerspruch von berufener Seite erfahren. Nachdem Steven Pinker und Ray Jackendoff in einem ersten Widerspruch mit dem Florett ihre Gegenposition abgesteckt hatten (Jackendoff/ Pinker 2005a) und in der Antwort wie kleine Schuljungen abgekanzelt wurden, sie hätten die grundlegende terminologische Differenzierung zwischen eng bzw. breit gefasster Sprachbefähigung nicht richtig verstanden (Hauser/ Chomsky/ Fitch 2005), sprechen sie die Kritik am Schluss ihres zweiten Gegenspruchs ohne versöhnliche Umschreibungen aus (Jackendoff/ Pinker 2005b, 223): The upshot is that syntax (and hence syntactic recursion) is not to be regarded as the central generative capacity in language, from which all productivity in expression derives. Rather it is a sophisticated accounting system for marking semantic relations so that they may be conveyed phonologically. Die Bestimmung eines Kernstücks, „core“, sprachlicher Funktionalität und die Gleichsetzung dieses Kerns mit der Syntax in engem Sinn, führt zum Ausschluss all jener sprachlichen Phänomene aus dem Kernbereich theoretischer Fragestellungen, die in Chomskys Sicht einer unbedeutenden „Peripherie“ angehören, „phenomena that result from historical accident, dialect mixture, personal idiosyncrasies, and the like“ (Chomsky/ Lasnik 1993). Dazu gehören alle holistischen Phänomene der Sprache, Mehr-Wort- Ausdrücke, idiomatische Ausdrücke, Valenzstrukturen, sprachliche Konstruktionen, wie sie beim kindlichen Spracherwerb zu finden sind. Sprachunterricht und Ausbildung zur Mehrsprachigkeit 303 Auf dem Höhepunkt der kritischen Auseinandersetzung zur Frage nach dem Ursprung der menschlichen Sprache findet sich folgende Grundsatzerklärung von Pinker und Jackendoff zur Rolle von Idiomen und Mehr- Wort-Konstruktionen für die Sprachtheorie, die es verdient, hervorgehoben zu werden: First, idioms and constructions are as specific to language as any other syntactic phenomenon. That is, they do not come for free with understanding the concepts underlying word meanings, and therefore cannot be relegated to FLB. Second, idioms and constructions are not „peripheral“ to language on any ordinary understanding of that word. We know of no accurate estimates, but the number of idioms and constructions that speakers know appears to be of comparable magnitude to the number of words. Furthermore, an examination of any stretch of actual language shows that idioms and constructions make up a substantial proportion of speakers’ usage (Jackendoff/ Pinker 2005b, 221). Dieses Plädoyer zugunsten der idiomatisch geformten Sprache, also jener sprachlichen Phänomene, die im Alltag gehäuft auftreten und im Sprachunterricht sowohl der Erstals auch der Zweitsprache Deutsch besonders markant in Erscheinung treten, knüpft ein Band zwischen Sprachtheorie und Sprachlern-Praxis, wie es in den letzten fünfzig Jahren in so klar formulierter Form nicht zur Verfügung stand. Mit der Überwindung der „Core- Periphery“-Dichotomie verlieren die Praxis und die Instrumente, die für die Praxis Bedeutung haben, den Ruf, sich mit irrelevanten Epiphänomenen der Sprache abzugeben. Damit ist auch ein Weg eröffnet, die Arbeit mit Korpora unbelastet von theoretischen Vorurteilen in die Theorie-Diskussion einzubringen. 3 Ein Blick zurück Drei Jahrzehnte ist es her, dass Eugenio Coseriu, auf dem Jahreskongress der italienischen Deutschlehrervereinigung Adilt auf die Frage aus dem Publikum, warum er im umfassenden Panorama der Sprachwissenschaft im 20. Jahrhundert Chomsky mit keinem Wort erwähnt habe, antwortete: „Weil die Lehre Chomskys nicht zur Sprachwissenschaft gehört.“ Im selben Jahr hielt Chomsky seine „Pisan Lectures“, mit denen eine umfassende Rezeptionswelle seiner Gedanken in Europa einsetzte. Zwanzig Jahre zuvor, also vor mehr als einem halben Jahrhundert, am 11. September 1956, hatte Chomsky mit seinem Vortrag „Three Models for the Description of Language“ den Grundstein zur kognitiven Revolution im Bereich der Linguistik gelegt. Mit einem Schlag war die Linguistik von der Oberfläche des Papiers, wo sie als Schrift erscheint oder der Luft, auf der die Schallwellen ihre Pflicht erfüllen, verschwunden und zur Wissenschaft geworden, die es mit Hypothesen geistiger Aktivitäten zu tun hat. „The grammatical rules that govern phrases and sentences are not behavior. They are mentalistic hypotheses about the cognitive processes responsible for the Hans Drumbl 304 verbal behaviors we observe“, fasst George Miller in seinem Rückblick zusammen (Miller 2003, 142), der bei demselben Treffen an jenem denkwürdigen Tag seinen berühmt gewordenen Vortrag über die magische Zahl Sieben gehalten hatte. Hypothesen haben die Funktion in den Nachfolgeprozessen der Verifizierung oder Falsifizierung zum Wissen der jeweiligen wissenschaftlichen Disziplin beizutragen. Diese Verifizierung ist im Fall der Hypothese von Chomsky - so der Tenor einer großen Zahl von kritischen Arbeiten aus den letzten Jahrzehnten - durch die Chomsky-Schule nicht erfolgt. Heute stellt sich die Frage nach der Bedeutung dieser Hypothese nicht allein in der Perspektive der Pertinenz, die Coseriu ins Treffen geführt hatte, sondern auch innerhalb von Chomskys eigenem theoretischem Rahmen. Und die Antwort - eine Antwort - die heute neben dem Erbe Chomskys besteht, ist, dass zwar der Ausgangspunkt anzuerkennen sei, Sprache in Form von Hypothesen über die kognitiven Prozesse beim Sprachgebrauch zu definieren und zu beschreiben, dass aber die von Chomsky gegebene Beschreibung durch andere, plausiblere Modelle ersetzt werden kann. Im Laufe dieser seit mehreren Jahrzehnten geführten Diskussion, gab es einen Moment des Umschwungs, der vom vorgeblichen Nachweis des definitiven Beweises sich schlagartig in das Gegenteil kehrte, dass ein empirischer Nachweis für die Annahme einer angeborenen Sprachbefähigung des Menschen mit Hilfe dieses „Beweisstücks“ eben nicht erbracht wurde. 1969 wandte sich die Mutter eines Kindes mit Williams-Beuren- Syndrom, der die sprachlichen Eigenheiten ihres Kindes aufgefallen waren, an Noam Chomsky mit dem Hinweis, diese Phänomene seien sicher von wissenschaftlichem Interesse. Chomsky gab den Fall an Ursula Bellugi in La Jolla weiter, die sofort die außerordentliche Bedeutung dieses Syndroms für die Sprachwissenschaft erkannte. So entstand ein erstes Corpus an Untersuchungen und Veröffentlichungen zur Sprache der Williams-Patienten (Singer et alii 1997). Steven Pinker hat in einem brillant formulierten apodiktischen Artikel in Nature und in seinem Bestseller „The Language Instinct“ die (präsumtive) Summe dieser Arbeiten und Erfahrungen gezogen. Die ungestörte Kompetenz auf dem Gebiet der Formen der regelmäßigen Verben gegenüber dem gestörten Gebrauch der unregelmäßigen Verben verlange nach einem Modell der Sprachverarbeitung, bei dem der Zugriff auf die Lexik (die unregelmäßigen Verben werden nicht als „Grammatik“, sondern als eigene lexikalische Einheiten gespeichert und aufgerufen) und der Zugriff auf die „Grammatik“ der Sprache in getrennten Bahnen verlaufen. Der empirische Nachweis einer gesonderten Verarbeitung für die Grammatik hatte für Pinker den Status eines Kronzeugen für die Existenz eines autonomen Grammatik-Moduls im Gehirn des Menschen, also auch für die grammatische Theorie der Universalgrammatik, Sprachunterricht und Ausbildung zur Mehrsprachigkeit 305 die in ihrer Eigenwertung einfach die komplementäre Seite des spezifischen Funktionalitätsmoduls des Gehirns darstellt. Diese Hypothesen hatten weit reichende Folgen nicht nur für die Theoriediskussion, sondern auch für viele Bereiche der angewandten Linguistik. Der empirische Nachweis eines genetisch determinierten autonomen Grammatikmoduls implizierte - so lautete die Folgerung von Pinker - die Bestätigung der generativen Grammatik und ihrer Annahme einer Universalgrammatik (Pinker 1991 und 1994). Das Verhalten der jungen Menschen mit Williams-Syndrom schien auch aus didaktischer Sicht von besonderem Interesse, weil es auf den ersten Blick gerade das Gegenteil des typischen Schülerverhaltens in unseren Klassenräumen darstellt. Williams-Patienten zeigen oft übertriebene Kommunikationsbereitschaft und Eloquenz, großes Kommunikationsbedürfnis und eine unbremsbare Redebereitschaft mit systematischen Sprachfehlern, die in der überschwänglichen Kommunikation kaum auffallen. Das Gegenbild dazu ist der gesteuerte Spracherwerb unter den in Italien damals üblichen Bedingungen in Schule und Universität. Massive Misserfolge in kommunikativen Situationen, rigides Verhalten, Angst, Stress, zwanghaftes Auswendiglernen, Zurückdrängen individueller Kreativität, Trennung von Emotion, Intention und Sprechen, negative Selbsteinschätzung und Hemmungen beim Schreiben und Sprechen, verfrühte Fossilisierungserscheinungen im Bereich der Grammatik und der Prosodie. Dazu kamen aber immer wieder vereinzelte positive Momente wie unerklärliche Lernerfolge, die nicht auf bestimmte Merkmale der SchülerInnen zurückgeführt werden konnten 3 . Diese in grober Annäherung feststellbare Antinomie war der Ausgangspunkt der Untersuchung im umfassenderen Kontext der Erforschung von Lernervariablen in unterschiedlichen Momenten des Lernens und Sprechens. Diese grundlegende Haltung im Bereich der Beobachtung des gesteuerten Spracherwerbs führte dazu, die Stütze eines theoretischen Modells zu suchen. Und dieses Feld war in jenen Jahren von Chomsky besetzt 4 . In dieser Phase der Unsicherheit schien es notwendig, die Entscheidung für oder gegen Chomsky erneut zu bedenken. So entstand die Diplomarbeit meiner Schülerin Grazia Vittigni über die sprachlichen Eigenheiten von Patienten mit Williams-Syndrom. 5 Vor dem Hintergrund so weit reichender Folgen, die auf einigen wenigen Aspekten des Sprachverhaltens aus einer genetisch bedingten Behinderung basieren, schien es notwendig, einen Blick auf die wissenschaftliche Erforschung des Williams-Syndroms zu werfen. Diese Überprüfung auf der Ebene der Textualität der Forschungsliteratur leistete 3 Drumbl/ Missaglia 1997; Missaglia 1999. 4 Zur Wirkung von Chomsky auf dem Gebiet der Femdsprachendidaktik in Italien vgl. die Beiträge von Little und Taylor in Little 1995, 21-107. 5 Maria Grazia Vitigni (1998/ 99), Aspetti linguistici nella sindrome di Williams, tesi di laurea, Università Cattolica del Sacro Cuore, Milano. Hans Drumbl 306 Grazia Vittigni in ihrer Diplomarbeit, indem sie den Gang der Argumente und Gegenargumente genau verfolgte, dabei aber auch die jeweils beschriebenen Untersuchungsbedingungen mitanalysierte. Das Ergebnis dieser Arbeit war eindeutig. Aus dem vorliegenden Untersuchungsmaterial und seiner Erforschung war es nicht möglich, Konsequenzen der Art abzuleiten, wie dies Pinker in seinem Forschungsüberblick getan hatte. 4 Lernen oder Nicht-Lernen Die neu erwachte Vorsicht bei der Beurteilung der Daten, die aus dem Sprachverhalten von Williams-PatientInnen herzuleiten waren, diente als Ausgangspunkt für weitere Fragen nach möglichen Blickweisen auf die Daten von SprecherInnen mit „abweichendem“ Verhalten, wie wir es bei vielen unserer LernerInnen des Deutschen beobachten konnten. Zurückblieb, neben der Erkenntnis, auf welche Art und Weise einflussreiche Lehrmeinungen weltberühmter Forscher empirisch abgesichert waren, die Begegnung mit der Stimme einer Forscherin, Elizabeth Bates, die sich aus der Sekundärliteratur zum Williams-Syndrom durch die Klarheit und Ausgewogenheit des Urteils deutlich abhob. Ihre Arbeiten waren empirisch ausgerichtet und berücksichtigten andere Sprachen neben dem Englischen (Bates et alii 1995 und 1997). In den letzten 30 Jahren war es keineswegs selbstverständlich, empirische Daten zum Spracherwerb als Grundlage für die Theoriebildung zu verwenden. Schon der Anspruch, den Prozess, an dessen Ende die normale Sprachkompetenz von Kindern im Schulalter steht, als „Lernprozess“ zu untersuchen, war kontrovers; folgte man den Chomsky-Hardlinern, war jeder Hinweis auf Lernen „überflüssig“: I, for one, see no advantage in the preservation of the term learning. We agree with those who maintain that we would gain in clarity if the scientific use of the term were simply discontinued ... 6 In einer solchen Situation, war allein die Fülle der empirischen Arbeiten, die mit dem Namen von Elizabeth Bates und ihrer MitarbeiterInnen verbunden waren, ein klares Signal. Die Frage nach der Erlernbarkeit der Sprache wurde von Bates und ihren internationalen Arbeitsgruppen als Frage nach konkreten Momenten des Lernens untersucht. Als Ergebnis, das zugleich einen neuen Ausgangspunkt darstellte, stand bald fest, dass Spracherwerb durch eine Fülle von Varietäten von Lernverhalten charakterisiert ist. Ein Jahrzehnt, um die Grundlagen für eine umfassende Datenerhebung zu schaffen, gefolgt von einer Fülle von Spezialuntersuchungen des Spracherwerbs. 6 Piatelli-Palmarini 1989, 2. Seit 10 Jahren informiert Piatelli-Palmarini als einziger Autor die Leser der Tageszeitung Corriere della Sera über den Bereich der Kognitionswissenschaften. Sprachunterricht und Ausbildung zur Mehrsprachigkeit 307 Ich referiere nur das Problem des so genannten „vocabulary burst“, das rapide Anwachsen des aktiven Wortschatzes bei Kindern im Alter zwischen 14 und 24 Monaten. In regelmäßigen Abständen wurden neue Hypothesen aufgestellt oder alte erneuert, um für diesen offensichtlichen Moment der Diskontinuität eine Erklärung zu finden. Die plötzliche Erkenntnis, dass Dinge Namen haben, eine Veränderung der Sicht auf die Welt, die neue kognitive Bewältigung der Erfahrung mit Hilfe von Kategorien, schließlich phonetische Aspekte der Lautproduktion. Jede dieser als kausaler Faktor namhaft gemachten Eigenschaften der Lernenden müsste knapp vor dem Einsetzen des „burst“ ihre Wirksamkeit aufgenommen und somit den enormen Zuwachs an Wörtern ermöglicht haben. Allen Untersuchungen, die zu diesen Ergebnissen geführt haben, war gemein, dass sie mit ganz wenigen Versuchspersonen durchgeführt worden waren 7 . Bei einer Untersuchung mit 1.500 Versuchspersonen war jedoch kein einem burst (an Stelle der Metapher des burst wird in jüngeren Arbeiten spurt verwendet) entsprechender Moment der Diskontinuität festzustellen. Die Varietät der zeitlichen Fenster, in denen die 50-Wort-Schwelle erreicht wurde, hat das Bild des „Sprunges“ aufgehoben. An seine Stelle trat das Bild der Kontinuität: die Kontinuität einer Entwicklung, die einer Funktion entspricht, die von der Menge des aktiven Wortschatzes abhängt und die für das Wachstum des Lexikons bis zu einer bestimmten Gesamtmenge von Wörtern im persönlichen Wortschatz ihre Wirkung beibehält. Die Funktion entspricht den beobachtbaren Daten, die keinen Moment einer extern motivierten abrupten Diskontinuität erkennen lassen. Die Konkurrenzsituation gegenüber dem Modell der angeborenen Sprachbefähigung und der Universalgrammatik als Voraussetzung für den Spracherwerb war damit vollständig. In langjähriger Zusammenarbeit mit Jeff Elman entwickelte Bates ein Bild der Sprache mit folgenden Schwerpunkten: (a) Sprache wird gelernt, (b) Lernen ist durch eine große Vielfalt unterschiedlicher Reaktionen der Lernenden bestimmt, (c) der Lernprozess kann beobachtet und beschrieben werden, (d) der Lernprozess kann als konnektionistisches Modell simuliert werden. Die empirischen Arbeiten, mit deren Hilfe immer mehr und immer genauere Relationen zwischen außersprachlichen und sprachlichen Fakten bestimmt werden können, erobern immer mehr Terrain, gefolgt von Modellbildungen zur sprachlichen Form (Tomasello 2003), die ebenfalls mit den empirischen Arbeiten von Elizabeth Bates in Verbindung stehen (Tomasello/ Bates 2001). 7 Ich referiere nach der gerafften Zusammenschau der Probleme in Bates/ Carnevale 1993, der die Literaturangaben entnommen werden können. Alle zitierten Arbeiten von Elizabeth Bates stehen im Internet frei zur Verfügung. Hans Drumbl 308 5 Ein Modell für Sprach- und Textkompetenz Die Grundlage ist ein Modell der kognitiven Tätigkeit des Menschen, das entscheidende Impulse durch Elizabeth Bates erhalten hat, das „Competition Model“. Kognitive Prozesse laufen in einem Prozess der „Competition“ ab, jeder Prozess tritt in Bezug auf andere als Konkurrent in Erscheinung, der sich gegen Mitkonkurrenten um die verfügbaren Ressourcen bemüht. Die Muttersprache und jede weitere Sprache stehen zueinander in einem Verhältnis der Konkurrenz. Die Muttersprache schirmt sich gegen fremde Einflüsse ab (entrenchment), jede weitere Sprache muss eine entsprechende Konsistenz erreichen (Resonanz), um selbst in der Folge den Prozess des Abschirmens zu aktivieren (Hernandez et alii 2005). Elizabeth Bates und ihre MitarbeiterInnen haben herausgefunden, dass die Beziehung zwischen den ersten syntaktischen Konstruktionen und dem Wortschatz stärker ist als die Korrelation der beiden Kompetenzen zum Lebensalter - (nicht haltbare) Korrelationen, die mit der modularen Sicht der Sprachkompetenz verträglich waren. Das rasche Ansteigen der gelernten Wörter kann jetzt mit Hilfe der neuen Kategorien erklärt werden: Das Bild, das sich mir spontan einstellt, ist das von einem Ort, an dem die Sprachproduktion vorbereitet und ausgeführt wird. Im Fall des missglückten Lernens werden die Einzelteile des Sprechaktes von außen - als übersetzte Versatzstücke - in den Ort hereingeholt, dort zusammengesetzt und nach dem Output wieder an den Ort, von dem sie stammen, zurückgegeben, das heißt vergessen. Das andere Bild ist das eines Ortes, an dem die Einzelteile bereits vorhanden sind und immer wieder neu zusammengesetzt werden können. Neue Teile kommen hinzu und werden nach dem ersten Gebrauch zusammen mit den alten abgelegt und stehen für künftige Sprechakte wieder zur Verfügung. Bedingung für das rasche Anwachsen des Wortschatzes ist die Anwesenheit einer bestimmten Mindestmenge an Wörtern, ca. 50, die bereits im Gedächtnis verankert sind und gleichsam als Plattform für den „Ort“ der Sprache dienen. Besteht dieser Ort mit seiner sprachlichen Grundausstattung, können neue Wörter dort in vernetzter Form untergebracht werden. Neue Wörter brauchen, um sich „heimisch“ zu fühlen, die Umgebung von Wörtern, mit denen zusammen sie in Zukunft in den Sprechakten gemeinsam vorkommen werden. Dieses „Wissen“ um die anderen Wörter, mit denen zusammen das einzelne Wort gebraucht werden wird, hilft dem neuen Wort, seinen „Ort“ im Gedächtnis zu finden, den Ort, wo es im Gedächtnis verankert wird. Es ist also ein Schwellenwert einer bestimmten Zahl von Wörtern zu überschreiten, bevor neu hinzukommende Wörter spontan die ihnen angemessenen „Mitspieler“ finden können (die „Resonanz“) zu denen sie sich gesellen, um zusammen mit ihnen im Gedächtnis gespeichert zu werden. Die Vernetzung der gespeicherten Elemente gehört zur spezifischen Sprachunterricht und Ausbildung zur Mehrsprachigkeit 309 Qualität des Speicherns und des retrieval, des Wiederfindens der neu gelernten Wörter. Die Wörter sind vernetzt, miteinander verwoben, sie bilden Grundelemente für den Gebrauch, die analog zu Texten gebildet sind. Diese neuen Erkenntnisse bedeuten, dass die alten Erklärungen - falls sie falsch sind - nicht nur falsch, sondern auch schädlich sind. Schädlich, weil sie nicht nur keine neue Erkenntnis mit sich bringen, sondern weil sie das Entstehen neuer Erkenntnis verhindern. Hätte der burst etwas mit der Fähigkeit des Kindes zu tun, Kategorien zu bilden oder mit der Einsicht in den Prozess der Namensgebung oder der „Notwendigkeit“ der Denotation, dann wäre keine Brücke zum Lernen von Erwachsenen und zum Zweitspracherwerb möglich. Wird der Prozess aber als interne Funktion der Menge an Wörtern bestimmt, die in einen funktionalen Zusammenhang zu einander treten, dann könnten die Prinzipien auch in anderen Lernsituationen, so beim schulischen Erlernen einer Fremdsprache von Bedeutung sein. Im Fall des Zweitspracherwerbs tritt das neue sprachliche System zum ersten in Konkurrenz. Die Trägheit lässt uns die erste Sprache bevorzugen, die erste Sprache bleibt dominierend, solange in der zweiten eine ungenügende „Resonanz“ ausgebildet wurde, die den einzelnen Wörtern Rückhalt in der Verknüpfung mit den „gewohnten“ Wörtern des normalen Sprachgebrauchs verschafft. Erst wenn eine bestimmte Quantität von miteinander verknüpfbaren sprachlichen Elementen fest im „Ort“ der Sprache verankert ist, kann die zweite Sprache gegenüber der ersten als Alternative im Produktions- und Lernprozess auftreten und sich in der Konkurrenzsituation behaupten. Die relative Größe und Konsistenz ist wegen der Eigenschaft der Sprache wichtig, sich gegenüber Einflüssen von außen abzuschirmen („entrenchment“). Dieses Bild passt zur Metapher des „Abstoßens“ und zu den Erfahrungen bei der Beobachtung der guten und der schlechten Lernenden der Zweitsprache Deutsch. Die „guten“ Lernenden haben einen „Ort“ für die neue Sprache, den sie aufsuchen, den sie abschirmen können, den sie erweitern und von dem aus sie Weltwissen mit der Sprache verbinden können. Es ist der Ort, an dem Texte in der zweiten Sprache entstehen können. Dieses Bild, das Lernhemmungen, Lernerfolge und Textkompetenz eng miteinander in Verbindung setzt, entsteht als Mosaik aus einer Vielfalt von Einzeluntersuchungen, die auf Impulse von Elizabeth Bates zurückzuführen sind. Es passt zu dem, was wir bisher beobachten konnten, ohne über die Kategorien zu verfügen, die uns jetzt zur Verfügung stehen. Diese Kategorien werden uns weiter helfen, so wie Zitate helfen, die unsere Erfahrungen in ein besonderes Licht rücken. Als ich vor mehr als dreißig Jahren meine erste Stelle als Lektor für Deutsch antrat, und mit realistischem Sinn erkennen musste, dass damit das Unterrichten der Sprache zu meinem Beruf geworden war, hatte ich aus Hans Drumbl 310 meinen Studienjahren einen Satz von Gian Battista Vicos Traktat De nostri temporis studiorum ratione präsent, der sich als erster Wegweiser anbot, sich in all diesen Jahren bewährt hat und der nun auch diese Gedanken und Erinnerungen begleiten soll: Die unklugen Gelehrten, die geradewegs vom allgemeinen Wahren auf das Einzelne losgehen, durchbrechen die Verschlingungen des Lebens. Die Klugen aber, die über die Unebenheiten und Unsicherheiten der Praxis das ewige Wahre erreichen, nehmen, da es auf geradem Wege nicht möglich ist, einen Umweg; und die Gedanken, die sie fassen, versprechen für lange Zeit, soweit es die Natur zuläßt, Nutzen 8 . 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At sapientes, qui per agendorum obliqua et incerta ad aeternum verum collimant, quia recta non possunt, circumducunt iter; et consilia expediunt in temporis longitudinem, quantum natura fieri potest, profutura”, aus: Gian B. Vico, Vom Wesen und Weg der geistigen Bildung, übertragen von Walter F. Otto (1974), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 63. Sprachunterricht und Ausbildung zur Mehrsprachigkeit 311 DRUMBL, Johann (2003), Das Sprachen-Portal. Inferenz und Spracherwerb in mehrsprachiger Lernumgebung, Meran: AlphaBeta. DRUMBL, Johannn/ Missaglia, Federica (1997), „Prosodie und Inferenz in zweisprachiger Lernumgebung. Neue Ansätze für Deutsch als Fremdsprache in Italien“, in: L’analisi linguistica e letteraria, V, 391-418. FRAAS, Claudia (2001), „Usuelle Wortverbindungen als sprachliche Manifestation von Bedeutungswissen. Theoretische Begründung, methodischer Ansatz und empirische Befunde“, in: Henrik Nikula, Robert Drescher (Hrsg.), Lexikon und Text, Vaasa, 41-66. 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Drumbl@unibz.it; 1987-1991 Ordentlicher Professor „Deutsche Sprache“ an der Scuola Superiore di Lingue per Interpreti e Traduttori der Universität Triest, 1991- 1998 an der Katholischen Universität Mailand und Brescia, 1998-2001 an der Fakultät für Lettere e Filosofia der Universität Modena, seit 2001 an der Fakultät für Bildungswissenschaften der Freien Universität Bozen; Arbeitsschwerpunkte: Zweitsprachenerwerbs- und Unterrichtsforschung im bilingualen und multilingualen Kontext, Zweitsprachendidaktik, Untersuchungen zu Fossilisierungserscheinungen beim Spracherwerb, Schreibprozessforschung, Sprachkontaktforschung. Fandrych, Christian (Leipzig), Prof. Dr., Universität Leipzig, Herder- Institut, Beethovenstraße 15, D-04107 Leipzig, E-Mail: fandrych@unileipzig.de; Professor für Linguistik des Deutschen als Fremdsprache am Herder-Institut der Universität Leipzig, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Deutsch als Fremdsprache an der Universität München (1991-1993), DAAD- Lektor in Mexiko-Stadt (1993-1996), 1996-2006 Lecturer/ Senior Lecturer am German Department des King’s College London; Arbeitsschwerpunkte: Wortbildung und Wortbildungsdidaktik, Wortschatzdidaktik, Textlinguistik, Wissenschaftssprache, Funktionale Grammatik, Kontrastive Linguistik, Pädagogische Grammatik und Lehrerausbildung. Feilke, Helmuth (Gießen), Prof. Dr., Justus-Liebig-Universität Gießen, Institut für Germanistik, Otto-Behaghel-Straße 10 B, D-35394, E-Mail: helmuth.feilke@germanistik.uni-giessen.de; Professor für Germanistische Linguistik und Sprachdidaktik an der Justus- Liebig-Universität Gießen, 1996-1998 Hochschuldozent Universität Siegen, 1998-2001 Professor für Germanistische Linguistik und Didaktik an der Universität Bielefeld; 314 Arbeitsschwerpunkte: Sprachtheorie, Lexikologie und Idiomatik, Sprachliche Kompetenz, Schreibforschung und literale Kompetenz, Schriftspracherwerb, Sprachdidaktik. Hornung, Antonie (Modena/ Zürich), Prof. Dr. phil. I, IGB, Beckenhofstraße 35, CH-8006 Zürich, E-Mail: antonie.hornung@smile.ch; unterrichtet am Liceo Artistico der Kantonsschule Freudenberg Deutsch als Erst- und Zweitsprache, arbeitet seit 1989 als Fachdidaktikerin am Institut für Gymnasial- und Berufspädagogik der Universität Zürich und lehrt „linguistica tedesca“ an der Universität Modena e Reggio Emilia, Leitung eines interuniversitären Forschungsprojektes zum Thema „Lingue di cultura in pericolo? Il caso del tedesco e dell’italiano nella formazione accademica“; Arbeitsschwerpunke: Schreibdidaktik, wissenschaftliches Schreiben, Textkompetenz, Immersion/ bilingualer Unterricht, Unterrichtskommunikation mit sprachlich heterogenen Lerngruppen, Deutsch als Wissenschaftssprache, Sprach(en)politik. Jakobs, Eva-Maria (Aachen), Univ.-Prof. Dr., RWTH Aachen, Institut für Sprach- und Kommunikationswissenschaft (ISK), Templergraben 83, D- 52062 Aachen, E-Mail: e.m.jakobs @tk.rwth-aachen.de; Studium der Germanistik und Kunstgeschichte, Promotion und Habilitation in Germanistischer Linguistik, lehrt seit 1999 am ISK der RWTH Aachen, Direktorin des Instituts für Industriekommunikation und Fachmedien (RWTH Aachen), Mitglied der acatech (Konvent der Technikwissenschaften der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften e.V.), Vizepräsidentin der Gesellschaft für Angewandte Linguistik; Arbeitsschwerpunkte: Textlinguistik, Technik- und Unternehmenskommunikation, Textverständlichkeit/ Usability, Textproduktion. Klotz, Peter (Bayreuth), Prof. Dr., Universität Bayreuth, Universitätsstraße 30, D-95440 Bayreuth, E-Mail: peter.klotz@uni-bayreuth.de; seit 1998 Professor für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur an der Universität Bayreuth, Gymnasiallehrer von 1971-1976, Assistenz und Ratsstelle an der Universität München von 1976-1998; Arbeitsschwerpunkte: Grammatik-, Schreib-, Textdidaktik, Textwissenschaft, textnahe Leseweisen in der Literaturdidaktik, Dialektologie, Syntax. Krumm, Hans-Jürgen (Wien), O. Univ.-Prof. Dr., Universität Wien, Institut für Germanistik/ DaF, Dr.-Karl-Lueger-Ring 1, A-1080 Wien, E-Mail: hans-juergen.krumm@univie.ac.at; seit 1.3.1993 O. Universitätsprofessor für Deutsch als Fremdsprache am Institut für Germanistik der Universität Wien, 1975-1993 O. Professor für Sprachlehrforschung am Zentralen Fremdspracheninstitut der Universität Hamburg, Mitglied u.a. des wiss. Beirates der Österreich-Kooperation, des 315 Kuratoriums für das Österreichische Sprachdiplom Deutsch, des Fachbeirats des Sprachenzentrums der Universität Wien, Vorsitzender des Fachbeirats des Österreich-Instituts; Arbeitsschwerpunkte: Sprachwissenschaftliche Grundlagen des Deutschen als Fremdsprache, Mehrsprachigkeit, Interkulturelle Kommunikation und Interkulturelles Lernen, Lehrverhalten, Lehrwerksforschung, Sprachenpolitik. Nodari, Claudio (Zürich), Prof. Dr., IIK, Sumatrastraße 1, CH-8006 Zürich, E-Mail: claudio.nodari@iik.ch, Homepage: www.iik.ch; Leiter des Instituts für Interkulturelle Kommunikation und Dozent für Didaktik des Deutschen als Zweitsprache an der Pädagogischen Hochschule Zürich; Arbeitsschwerpunkte: Lehrwerke für Deutsch als Zweitsprache, Konzepte zur Sprachförderung in allen Fächern, Weiterbildung und Schulprojekte zur Sprachförderung in mehrsprachigen Schulen. Ortner, Hanspeter (Innsbruck), Ao. Univ.-Prof. Dr., Universität Innsbruck, Institut für Germanistik, Innrain 52, A-6020 Innsbruck, E-Mail: Hanspeter. Ortner@uibk.ac.at, Homepage: http: / / www.uibk.ac.at/ germanistik/ mitarbeiter/ ortner_hanspeter/ ; Arbeitsschwerpunkte: Schreibtheorie, Schreibunterricht, Verhaltenslinguistik. Peltzer-Karpf, Annemarie (Graz), Ao. Univ.-Prof. Dr., Karl-Franzens-Universität Graz, Institut für Anglistik, Heinrichstraße 36/ II, A-8010 Graz, E- Mail: annemarie.peltzer@uni-graz.at; Leitung der Abteilung für Spracherwerbsforschung und Kognitionswissenschaft; Projekte zu verschiedenen Varianten des Erst- und Fremdsprachenerwerbs, darunter Studien zum Spracherwerb bei blinden und gehörlosen Kindern, eine Langzeitstudie zum frühen bilingualen Fremdsprachenerwerb (1998 Europäisches Siegel für Spracheninitiativen) und eine Langzeitstudie zum bilingualen Spracherwerb in der Migration (Alter 6-10), Wissenschaftliche Begleitung von Sprachförderprogrammen; Arbeitsschwerpunkte: dynamische Systemtheorie und kognitive Neurowissenschaften (1991 Sandoz-Preis für Biologie). Perrin, Daniel (Winterthur), Prof. Dr. phil., Zürcher Hochschule Winterthur ZHW, Institut für Angewandte Medienwissenschaft IAM, Postfach 805, Zur Kesselschmiede 35, CH-8401 Winterthur, E-Mail: daniel.perrin@zhaw.ch, Homepage: http: / / www.iam.zhaw.ch; Professor für Medienlinguistik, leitet das Institut für Angewandte Medienwissenschaft IAM der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften; Arbeitsschwerpunkte: Medienlinguistik, Textlinguistik, Textproduktionsforschung, berufliches Schreiben, Professionalisierung der Kommunikation, Wissenstransfer der Linguistik, Kommunikationsberatung. 316 Sauer, Christoph (Groningen), Dr., Universität Groningen, P.O. Box 716, NL-9700 AS Groningen, E-Mail: c.l.a.sauer@rug.nl; Universitair Docent (Senior Lecturer) in Medientheorie und Kommunikationsanalyse an der Universität Groningen, Communicatieen Informatie- Wetenschappen (CIW - Communication Studies), Sprach- und Medienwissenschaftler im Bereich Communication Studies seit 1992; Arbeitsschwerpunkte: Pragmatik, Diskursanalyse, Kommunikation in der Politik, Medientheorie, Textverständlichkeitsforschung und Theorie multimodaler Kommunikation, versucht, Bühlers Organon-Modell und Ansätze der Funktionalen Pragmatik sowie Konzepte der rhetorischen Kommunikation als Grundmodelle für eine pragmatisch inspirierte Medientheorie aufzugreifen und weiterzuentwickeln. Scherner, Maximilian (Münster), em. O. Univ.-Prof., Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Germanistisches Institut, D-48143 Münster, Johannisstraße 1-4, E-Mail: m.scherner@uni-muenster.de; Studium der deutschen, lateinischen und mittellateinischen Philologie, Philosophie und Pädagogik in Mainz, Wien, München und Münster, 1969 Promotion zum Dr. phil. in Münster, Gymnasiallehrer, 1973-1975 Wiss. Ass. in Münster, dort Habilitation 1975, 1975-1978 Wiss. Rat und Prof. in Köln, 1978-2005 Univ.-Prof. für deutsche Sprache (Schwerpunkt: Textlinguistik) in Münster; Arbeitsschwerpunkte: Textlinguistik, Texttheorie, Textverarbeitung, Textdidaktik, Begriffsgeschichte linguistischer Termini, Bezüge zwischen Literaturwissenschaft und Linguistik. Schmölzer-Eibinger, Sabine (Graz), Ao. Univ.-Prof. Dr., Karl-Franzens- Universität Graz, Institut für Germanistik, Mozartgasse 8/ II, A-8010 Graz, E- Mail: sabine.schmoelzer@uni-graz.at; Außerordentliche Professorin für Sprachlehrforschung und Deutsch als Fremd-/ Zweitsprache am Institut für Germanistik (Germanistische Linguistik/ DaF), Habilitation im Bereich Textkompetenz und Lernen in der Zweitsprache (2007), langjährige Tätigkeit als Lehrerin, Lehrbuchautorin und Lehrerfortbildnerin für Deutsch als Fremd-/ Zweitsprache, Lehrbeauftragte an den Universitäten Wien und Modena; Arbeitsschwerpunkte: Fremd-/ Zweitsprachenerwerb und -didaktik, Schreibdidaktik, Entwicklung und Förderung von Textkompetenz im Kontext von Mehrsprachigkeit und Migration. Thonhauser, Ingo (Genf), Dr., Université de Genève, Département de langue et de littérature allemandes, 5 rue De-Candolle, CH-1211 Genève 4, E-Mail: ingo.thonhauser@lettres.unige.ch; Lehrbeauftragter der Université de Genève, Lektor Bilingue plus am Lern- und Forschungszentrum Fremdsprachen (LeFoZeF) der Uni- 317 versität Freiburg (Schweiz), Lehrer für Deutsch als Fremdsprache und Dozent im Bereich Angewandte Linguistik an Universitäten in Österreich, Großbritannien, im Nahen Osten und derzeit in Genf und Fribourg, Beratertätigkeit für die Vereinten Nationen im Irak und in Rumänien; Arbeitsschwerpunkte: Literalität, Mehrsprachigkeit, Deutsch als Fremdsprache. Weidacher, Georg (Graz), Mag. Dr. phil., Karl-Franzens-Universität Graz, Institut für Germanistik, Mozartgasse 8/ I, A-8010 Graz, E-Mail: georg. weidacher@uni-graz.at; Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanistik der Karl- Franzens-Universität Graz, Abteilung für germanistische Linguistik, Gastlektor an den Universitäten Groningen (NL), Ljubljana (SLO) und Shkoder (ALB), Studium der Germanistik, Anglistik und Allgemeinen Sprachwissenschaft in Graz und an der Brookes-University, Oxford (GB); Arbeitsschwerpunkte: Allgemeine und Angewandte Textlinguistik, Kognitive Linguistik, Medienlinguistik, Kommunikationstheorie, linguistische Pragmatik, Sprache und Manipulation, Sprache und Literatur. Tabula gratulatoria GERHARD AUGST Siegen UELI BACHMANN Zürich CAMILLA BADSTÜBNER-KIZIK Gda sk UWE BAUR Graz JÜRGEN BAURMANN Wuppertal MICHAEL BECKER-MROTZEK Köln ANDREA BERTSCHI-KAUFMANN Aarau PETER BIERBAUMER Graz KLAUS-BÖRGE BOECKMANN Wien RAINER BOHN Jena CHRISTIAN BRAUN Graz ALBERT BREMERICH-VOS Duisburg-Essen URSULA CHRISTINE BÜNGER Berlin MONIKA CLALÜNA Luzern MONIKA DANNERER Salzburg RUDOLF DE CILLIA Wien PIOTR DOBROWOLSKI Graz HANS DRUMBL Bozen CHRISTA DÜRSCHEID Zürich ULRIKE EDER Wien KONRAD EHLICH München BRIGIT ERIKSSON Zürich RENATE FAISTAUER Wien CHRISTIAN FANDRYCH Leipzig HELMUTH FEILKE Gießen ILONA FELD-KNAPP Budapest ALWIN FILL Graz ROLAND FISCHER Linz HANNE GEIST Køge INGRID GOGOLIN Hamburg SUSANNE GÖPFERICH Graz NORBERT HABELT Wien WOLFGANG HACKL Innsbruck MONIKA HELLER Innsbruck URSULA HIRSCHFELD Halle-Wittenberg WALTER HÖFLECHNER Graz DORIS HÖHMANN Sassari GERTRUD HÖLLERBAUER Wien ANTONIE HORNUNG Modena/ Zürich MARTINA HUBER-KRIEGLER Graz BRITTA HUFEISEN Darmstadt BERNARD IMHASLY New Delhi EVA-MARIA JAKOBS Aachen EVA-MARIA JENKINS Wien 320 PETER KLOTZ Bayreuth WILFRIED KRENN Graz HANS-JÜRGEN KRUMM Wien EVELINE KRUMMEN Graz THOMAS LINDAUER Aarau ANGELIKA LINKE Zürich GERHARD MELZER Graz IMKE MOHR Wien ANDREA MOSER-PACHER Graz BEATRIX MÜLLER-KAMPEL Graz CLAUDIO NODARI Zürich MARKUS NUSSBAUMER Bern BRIGITTE ORTNER Wien HANSPETER ORTNER Innsbruck DANIEL PERRIN Winterthur ANNEMARIE PELTZER-KARPF Graz THORSTEN POHL Münster CHRISTOPH SAUER Groningen KARIN SCHAFFER Graz MAXIMILIAN SCHERNER Münster MANFRED SCHEWE Cork MANFRED SCHIFKO Graz URSULA SCHLEICH Graz SABINE SCHMÖLZER-EIBINGER Graz URSULA SCHWAB-HARICH Graz PETER SIEBER Zürich HORST SITTA Zürich BRIGITTE SORGER Wien/ Brno KARL SORNIG Graz ANDREA STANGL Wien BERND STEINBAUER Graz AFRA STURM Aarau INGO THONHAUSER Genf ELEKTRA TSELIKAS Graz ROBERT VELLUSIG Graz HELMUT JOHANNES VOLLMER Osnabrück GEORG WEIDACHER Graz ERIKA WINDBERGER-HEIDENKUMMER Graz ARNE WROBEL Ludwigsburg VERA WURNIG Graz GERTRUDE ZHAO-HEISSENBERGER Wien ARNE ZIEGLER Graz WOLFGANG ZYDATISS Berlin Arbeitskreis Deutsch als Fremdsprache in der Schweiz - AKDAF, Hedingen Institut für Slawistik der Karl-Franzens- Universität Graz