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Handeln mit Dichtung

2020
978-3-7720-5672-7
A. Francke Verlag 
Sandra Schneeberger
10.2357/9783772056727
CC BY-SA 4.0https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de

Die Prosa-Edda ist der wichtigste sprach- und dichtungstheoretische Text des skandinavischen Mittelalters. Sie wird in diesem Band einer ganzheitlichen und systematischen Lektüre unterzogen und als Form kultureller Sinnstiftung gelesen. Ausgangspunkt der Lektüre ist die Leitthese, dass die Prosa-Edda nicht nur ein Lehrwerk für skaldische Dichtung ist, sondern sich umfassend und mit einem sprach- und medientheoretischen Ansatz für Sprache, Erzählen und Dichtung interessiert. Im Zentrum der vorliegenden Arbeit steht Codex Upsaliensis DG 11 4to (ca. 1300). Die Zusammenstellung verschiedenster medialer Phänomene macht die Edda-Version in dieser Handschrift so einzigartig: Neben den bekannten Texten finden sich genealogische Listen, grammatische Diagramme und Bilder, die alle Organisationsformen von Wissen darstellen, welche bisher noch ungenügend in eine Lektüre der Prosa-Edda eingeflossen sind. Eine solche Lektüre der vielfältigen Inhalte von Codex Upsaliensis wird durch den Theorieansatz der literarischen Performativität systematisiert. Dieser Diskurs ist in der skandinavistischen Mediävistik bislang noch nicht sehr bekannt. Er bietet jedoch ein theoretisches Begriffsinventar, das über mediale Grenzen hinweg anwendbar ist und sich für die Lektüre der Prosa-Edda als sehr produktiv erweist.

Handeln mit Dichtung Literarische Performativität in der altisländischen Prosa-Edda Sandra Schneeberger Beiträge zur Nordischen Philologie Herausgegeben von der Schweizerischen Gesellschaft für Skandinavische Studien Redaktion: Jürg Glauser (Basel/ Zürich), Klaus Müller-Wille (Zürich), Hans-Peter Naumann † (Zürich), Anna Katharina Richter (Zürich), Lena Rohrbach (Basel/ Zürich), Lukas Rösli (Berlin), Thomas Seiler (Bø) Beirat: Michael Barnes (London), François-Xavier Dillmann (Paris), Stefanie Gropper (Tübingen), Annegret Heitmann (München), Andreas Lombnæs (Kristiansand) Ausführliche Angaben zu den Mitgliedern der Redaktion sowie zu deren Aufgaben und Funktionen finden sich auf der Homepage der Schweizerischen Gesellschaft für Skandinavische Studien (http: / / www.sagw.ch/ sgss). Band 63 · 2020 Sandra Schneeberger Handeln mit Dichtung Literarische Performativität in der altisländischen Prosa-Edda Sandra Schneeberger Universität Zürich Deutsches Seminar Abteilung für Nordische Philologie Schönberggasse 9 CH-8001 Zürich https: / / orcid.org/ 0000-0002-6986-5761 Gedruckt mit Unterstützung der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften. Die vorliegende Arbeit wurde von der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich im Herbstsemester 2017 auf Antrag der Promotionskommission, Prof. Dr. Jürg Glauser (hauptverantwortliche Betreuungsperson) und Prof. Dr. Karl G. Johansson, als Dissertation angenommen. © 2020 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 1661-2086 ISBN 978-3-7720-8672-4 (Print) ISBN 978-3-7720-5672-7 (ePDF) ISBN 978-3-8233-0211-7 (ePub) Umschlagabbildung: Symphonia-Diagramm (DG 11 4to, 47r), Uppsala-Eddan, DG 11, Digitalisat. Uppsala universitetsbibliotek (http: / / urn.kb.se/ resolve? urn=urn: nbn: se: alvin: portal: record-54179). Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® 7 1 9 1.1 9 1.2 13 1.2.1 13 1.2.2 15 1.3 17 1.3.1 18 1.3.2 20 1.4 21 2 23 2.1 23 2.2 25 2.2.1 25 2.2.3 31 2.2.4 41 2.2.5 43 2.3 46 2.3.1 46 2.3.2 47 2.4 50 2.4.1 50 2.4.2 52 2.4.3 54 2.4.4 55 2.5 57 3 59 3.1 59 3.2 61 3.2.1 63 3.2.2 63 3.2.3 69 3.2.4 76 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bisherige Forschung zur Prosa-Edda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neuer Zugang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Korpus: Was ist die Prosa-Edda? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lektüreschwerpunkt Codex Upsaliensis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weitere handschriftliche Überlieferung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufbau der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literarische Performativität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Performative - an ugly word“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungsüberblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklungslinien des Performativen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neuere und ältere Literaturwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Skandinavistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Performativität und Rhetorik - eine Abgrenzung . . . . . . . . . . . . . . Literarische Performativität in der skandinavischen Mediävistik . . . . . . Die Prosa-Edda als schriftlich konzipiertes Werk . . . . . . . . . . . . . . . Vergleichbarkeit und Eingrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Drei Aspekte literarischer Performativität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sagen als Tun . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wiederholung/ Wiederholbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rahmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literarische Performativität: Ein Beispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erstes Fazit und Ausblick auf die Lektüren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Welt erfassen - Welt verfassen: Performatives Erzählen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lektüre der erzählenden Teile der Prosa-Edda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prolog - Ein vermeintlich eindeutiger Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das paradoxe Verfahren der Rahmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Thema der Sprache im Prolog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Multimediale Anfänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 78 3.3.1 80 3.3.2 83 3.3.3 93 3.3.4 117 3.4 117 3.4.1 118 3.4.2 126 3.5 133 4 135 4.1 135 4.2 136 4.2.1 142 4.3 144 4.3.1 147 4.3.2 155 4.3.3 163 4.4 164 4.4.1 165 4.4.2 169 4.4.3 185 4.5 186 5 189 191 195 197 Gylfaginning - Die Welt erzählen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theoretische Vorbemerkungen I: Sagen als Tun . . . . . . . . . . . . . . . Zwei Arten von Wissensdialog: Die Anhäufung von Bedeutung . Theoretische Vorbemerkungen II: Wiederholung/ Wiederholbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literarische Performativität in medialer Variation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Genealogie und Enzyklopädie: Drei Arten von Listen . . . . . . . . . . . Gylfi multimedial: Ein rahmendes Ende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit Liber primus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Welt verfassen - Welt erfassen: Performative Gelehrsamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . Lektüre der gelehrten Teile der Prosa-Edda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Skáldskaparmál - Wie skaldische Dichtung relevant bleibt . . . . . . . . . . . . Schreibdenken: Skáldskaparmál als Momentaufnahme eines Denkprozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischen Bild und Text - Der 2. Grammatische Traktat . . . . . . . . . . . . . . Bildhafter Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Texthafte Bilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Háttatal: Eine neue Form für das skaldische Gedicht . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Versverzeichnis: Erinnerungshilfe und Schreibakt . . . . . . . . . . Háttatal: Ein didaktisches Lobgedicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit Liber secundus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abschluss und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abstract & Keywords . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Herbstsemester 2017 von der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich auf Antrag der Promotionskommission, bestehend aus Prof. Dr. Jürg Glauser als hauptverantwortlicher Betreuungsperson und Prof. Dr. Karl G. Johansson, als Dissertation angenommen. Für den Druck wurde die Arbeit leicht überarbeitet. Ich danke den Herausgebern der Beiträge zur Nordischen Philologie herzlich für die Aufnahme in ihre Reihe. Entstanden ist die Arbeit im Rahmen meiner Anstellungen an der Universität Zürich, zuerst als Doktorandin im Nationalen Forschungsschwerpunkt „Medienwandel - Medien‐ wechsel - Medienwissen. Historische Perspektiven“ und später als Assistentin am Lehr‐ stuhl für Nordische Philologie am Deutschen Seminar. Mein Dank gilt allen, die mich während meiner Doktoratsphase unterstützt und begleitet haben. Besonders Prof. Dr. Jürg Glauser bin ich zu grossem Dank verpflichtet. Bereits im Studium hat er mein Interesse für die altnordische Literatur geweckt und mich so überhaupt erst auf die Idee gebracht, eine Dissertation anzugehen. Ich bedanke mich für die stets konstruktiven und kritischen Gespräche zum Projekt und die langjährige Betreuung und Förderung. Seine Offenheit und sein Interesse haben mich immer wieder bestärkt, in neue Richtungen zu denken. Mein Dank gilt auch Prof. Dr. Karl G. Johansson, der die Arbeit als Zweitbetreuer mit Interesse mitverfolgt und betreut hat. Seine Einladung an das Institutt for lingvistiske og nordiske studier an der Universität Oslo ermöglichte mir eine konzentrierte Schreibphase und anregende Diskussionen mit ihm und den dortigen Kolleginnen und Kollegen. Dem Doktoratsprogramm Medialität - Historische Perspektiven der Universität Zürich danke ich für die finanzielle Unterstützung bei meinem Auslandsaufenthalt. Ein grosses Dankeschön gebührt den Kolleginnen und Kollegen an der Abteilung für Nordische Phi‐ lologie am Deutschen Seminar. Die positive Arbeitsatmosphäre im Altnordisch-Büro schätzte ich sehr, herzlichen Dank, Ranka Hafstað und Kevin Müller. Die täglichen Dis‐ kussionen über Fachliches und Ausserfachliches waren mir Inspiration und Motivation. Dr. Lukas Rösli danke ich besonders für den regen Austausch über „die Edda“. Ohne die Unterstützung meiner Familie wäre diese Dissertation nie entstanden. Ich danke meinen Eltern dafür, dass sie mich immer gefördert und begleitet haben. Meiner Mutter danke ich ganz besonders für die sorgfältige Lektüre dieser Arbeit. Schliesslich richtet sich mein herzlichster Dank an Oliver Baumann, der meinen Ideen immer interes‐ siert zuhörte und mich unterstützte - und das auch ganz ohne Verbindungen zur altnordi‐ schen Literatur. Meilen, Juni 2020 Sandra Schneeberger 1 Die Prosa-Edda ist nicht zu verwechseln mit der ebenso berühmten Lieder-Edda. Die Namensähn‐ lichkeit entstammt einer komplizierten Überlieferungsgeschichte. Die Lieder-Edda umfasst sog. Götter- und Heldenlieder, wobei sie sich in mythologischen Stoffen und Formen mit Teilen der Prosa- Edda überschneidet. Das wichtigste Textzeugnis der Lieder-Edda ist der Codex Regius (GkS 2365 4to) von ca. 1270. Die Prosa-Edda wird früher, nämlich um das Jahr 1220 datiert, existiert jedoch nur noch in Handschriften ab ca. 1300. U.a. ist auch die Prosa-Edda in einem Codex Regius überliefert, diese Handschrift trägt allerdings die Sigle Gks 2367 4to. 2 Zur Überlieferungssituation der P-E vgl. Kapitel 1.3. 1 Einleitung 1.1 Vorbemerkungen Die mittelalterliche altisländische Literatur zeichnet sich durch eine aussergewöhnliche Vielfalt an volkssprachlichen Formen aus. Im Vergleich zu kontinentaler volkssprachlicher Literatur reflektiert sie bereits sehr früh und in vielschichtiger Weise in Dichtung (Skaldik und eddische Helden- und Götterlieder) und Prosa (Sagas und Sachtexte wie z. B. gramma‐ tische Traktate) die eigene Sprache und die damit verbundenen Möglichkeiten des Erzäh‐ lens in der Volkssprache. Dabei werden traditionell mündliche Literaturformen neuen schriftlichen Modellen von Erzählen und Sprachverständnis angepasst. Das Medium Schrift wird von Beginn seines Aufkommens im 11. Jahrhundert mit aktivem und selbstreflexivem Interesse verwendet. Ganz grundsätzliche Fragen werden angesprochen: Wie schreibt man in der Volkssprache? Was kann Erzählen leisten? Wie legitimiert man schriftliche Dichtung und Erzählung? Man könnte annehmen, derartige Fragen würden vor allem in gelehrter Literatur diskutiert. Doch die Möglichkeiten und Grenzen von Sprache sind implizit und explizit immer auch Thema in der eddischen und skaldischen Dichtung sowie in der Sagaliteratur. Besonders deutlich zeigt sich das altisländische Sprachinteresse in der sogenannten Prosa-Edda, dem wichtigsten sprach- und dichtungstheoretischen Text des skandinavischen Mittelalters. Auf sehr komplexe Weise werden in diesem vielschichtigen Werk eine tradi‐ tionelle Beschreibung der heidnischen Götterwelt und eine christliche Stil- und Verslehre mit weiteren Inhalten zu einem umfassenden Sprach-Experiment verflochten. 1 Die Prosa-Edda (von nun an P-E) wird in Einführungen und allgemeinen Überblicks‐ werken meist als aus vier Teilen bestehend beschrieben, wobei diskutiert wird, welcher Teil zu welchem Zeitpunkt entstanden ist. Das Werk wird dem Isländer Snorri Sturluson (1178/ 9-1241) zugeschrieben, allerdings ist keine der erhaltenen Handschriften der P-E auf ihn zurückzuführen. 2 Der Überblick von John Lindow in Old Norse-Icelandic Literatur. A Critical Guide fasst die allgemein anerkannten Annahmen in Bezug auf den Gehalt und die Entstehungsgeschichte der P-E zusammen: Snorri apparently began the Edda, his first literary work, within a few years of his return to Iceland. It is well known that he intended it as a handbook of poetics, primarily of the meter and diction of skaldic verse. […] it began with a creative act, Snorri’s composition of his Háttatal (enumeration 3 Lindow, John: Mythology and Mythography. In: Clover, Carol und John Lindow (Hg.): Old Norse- Icelandic Literature. A Critical Guide. Toronto 2 2005 [1985], S. 21-68, hier S. 34-35. 4 Bergsveinn Birgisson: The Old Norse Kenning as a Mnemonic Figure. In: Doležalová, Lucie (Hg.): The Making of Memory in the Middle Ages. Leiden/ Boston 2000, S. 199-214, hier S. 200. of meters), an elaborate skaldic poem honoring King Hákon Hákonarson and Jarl Skúli. […] The next stage of composition, resulting in the section entitled Skáldskaparmál (poetic diction), con‐ centrates on the metaphoric and metonymic explanation and clarification of skaldic verse, the kennings and heiti. It is largely a series of lists of kennings and heiti for various concepts, but in explanation of some of the kennings Snorri recounts the mythical or heroic narrative behind them. […] In Gylfaginning (Deluding of Gylfi), the section now thought to have been composed next, the emphasis is shifted: here is only narrative, and indeed only mythic narrative, without reference to skaldic verse. […] In the extant manuscripts these three sections occur in reverse order from that just given and are preceded by a prologue which provides a euhemeristic view of the Norse gods, deriving them from men of Asia. 3 Es gibt einige vergleichbare mittelalterliche Poetiken, die P-E unterscheidet sich von ihnen in einem wichtigen Punkt: Sie ist in der Volkssprache, d. h. in Altisländisch, verfasst und nicht in Latein. Das aussergewöhnliche Werk steht seit mehreren Jahrhunderten als wichtiges Zeugnis im Zentrum der Beschäftigung mit der altnordischen Literatur. Forschungsgeschichtlich ist der P-E seit dem 19. Jahrhundert meist ein philologisch ausgerichtetes Interesse an altertumskund‐ lichen Fragen beschieden. Es geht hauptsächlich um die Frage nach den Quellen des Werks und damit zusammenhängend um die nordische Mythologie. Daneben entwickelte sich ab den 1980er Jahren ein sprach- und dichtungstheoretisches Forschungsinteresse, das sich auf die Skaldik, eine besondere Gattung der nordischen Dichtung, richtet. Diese beiden Forschungs‐ bereiche wurden und werden zumeist getrennt betrachtet, weil sie als nur lose miteinander verbunden gedacht werden. Der Ansatz der vorliegenden Arbeit ist ein anderer: Der Aus‐ gangspunkt ist ein Versuch, das Werk als Form kultureller Sinnstiftung in seiner Vielfältig‐ keit - und damit auch in seiner Uneindeutigkeit - ernst zu nehmen und so die verschiedenen Inhalte und Formen zusammen zu lesen. Momente der Sinnstiftung finden sich in der P-E da, wo das Verhältnis zu ihrem „Untersuchungsobjekt“, der skaldischen Dichtung oder allge‐ meiner zur Sprache und Erzählen in Volkssprache, ausgelotet wird. Die P-E ist für die Überlieferung und das Verständnis der Skaldik von zentraler Bedeutung. Ein kurzer Exkurs zu dieser aussergewöhnlichen nordischen Dichtung hilft zu sehen, wes‐ halb. Bergsveinn Birgisson beschreibt das skaldische Gedicht als wichtiges Medium einer (vormittelalterlichen) Elite. Die Fähigkeit, skaldische Verse dichten zu können, ermöglicht den Produzenten, den Skalden, einen hohen gesellschaftlichen Rang: The genre of skaldic poetry seems to have been developed in some courtly milieux of Norway in the ninth century, but it is mostly promoted by Icelandic poets, the so-called skalds, after the conversion in Scandinavia around 1000 AD. The Old Norse skald was highly valued in society, primarily because of his skills in making poems on the heroic deeds of kings and royalty, thereby rendering them persistent in the memory of the Scandinavian oral society. The skald is frequently shown as the king’s closest adviser, both in personal and political affairs. 4 10 1 Einleitung 5 Uecker, Heiko: Geschichte der altnordischen Literatur. Stuttgart 2004, S. 234f. 6 Eine Übersicht über die Skaldik-Forschung bietet u. a. Frank, Roberta: Skaldic Poetry. In: Clover, Carol J. und John Lindow (Hg.): Old Norse-Icelandic Literature. A Critical Guide. Toronto 2005, S. 157-197. 7 Vgl. z. B. Glauser, Jürg (Hg.): Skandinavische Literaturgeschichte. Stuttgart 2006, S. 40. 8 Glauser (Hg.): Skandinavische Literaturgeschichte, S. 5. Glauser hebt weiter hervor, dass die Skaldik eine von Gewalt geprägte Dichtung ist, was sich sowohl inhaltlich wie auch in der poetischen Sprache der Skaldik selbst zeigt, vgl. dazu S. 33-40. 9 Glauser (Hg.): Skandinavische Literaturgeschichte, S. 37f. Skalden übernehmen mit ihrer Dichtung eine Erinnerungsfunktion in der mündlichen Ge‐ sellschaft. Diese Funktion beschränkt sich jedoch nicht nur auf Preisdichtung, denn es kann in den verschiedensten Situationen gedichtet bzw. vorgetragen werden: Es gibt skaldische Gedichte, die einen Feind durch spöttische Behauptungen angreifen, solche, die als Gegen‐ geschenk für materielle Geschenke dienen oder Gedichte, die Trauerarbeit um verlorene Söhne leisten. Heiko Uecker fügt weitere Möglichkeiten an: […] schildbeschreibende und genealogische Gedichte sind ebenso überliefert, heidnisch-mytho‐ logischer Stoff wird ebenso gestaltet wie christliche Lehre. Könige und Helden der Vorzeit konnten besungen werden, mit einem gut gemachten Gedicht konnte man sein Leben retten, man drückte seine Träume aus, man gab politischen Rat. 5 Skaldische Gedichte (und damit die Skalden) haben eine Wirkmacht in der Welt. Das lässt bereits der Begriff „Skalde“, der etymologisch wohl mit dem deutschen „schelten“ verwandt ist, vermuten. 6 Deutlicher wird es, wenn man sog. nið-Dichtung, d. h. Schmähdichtung be‐ trachtet. Schmähdichtung gibt dem Skalden die Möglichkeit, durch bestimmte Arten von Versen Feinde öffentlich zu verspotten und zu diffamieren. Die damit zusammenhängenden gesetzlichen Verbote solcher Verse zeigen, was für eine starke pragmatische Funktion der Dichtung zugesprochen worden ist. 7 Glauser fasst die formalen Besonderheiten dieser wirkmächtigen Dichtung wie folgt zu‐ sammen: Es handelt sich bei der Skaldik um eine Dichtung, deren wichtigste formale Charakteristika die Strophenform (in der Regel acht Zeilen, die in zwei Hälften aufgeteilt werden), der in aller ger‐ manischen Dichtung verbreitete Stabreim und die ebenso raffinierte Verwendung rhetorischer Mittel wie Synonyme, Metaphern, Metonymien (kenningar, heiti) sind. 8 Die Skaldik-Forschung beschäftigt sich eingehend mit den komplexen und herausfor‐ dernden poetischen Umschreibungen, den kenningar und heiti. Erstere sind zwei- oder mehrgliedrige Umschreibungen, die meist auf mythologischem Wissen aufbauen und damit spielen: Die skaldische Variationskunst besteht darin, dass in den Texten ein Spiel mit bekannten Erzäh‐ lungen stattfindet, auf welche in ausgeklügelten Verfahren verwiesen wird. Diese Allusionen sind zum einen rein inhaltlicher Art […]. Häufiger kommt jedoch vor, dass die Anspielungen Teile der Kenningar sind und in diesen Fällen beruht das skaldische Erzählen auf dem komprimierten Ab‐ rufen von Stoffen und Texten, so dass in den Kenningar eigentlich Kürzestnarrationen entstehen. Indem die Kenning immer auf Texte ausserhalb der konkret vorliegenden Strophe hindeutet, erhält das Dichten der Skalden etwas grundlegend Grenzüberschreitendes. 9 11 1.1 Vorbemerkungen 10 Uecker: Geschichte der altnordischen Literatur, S. 234. 11 Snorri Sturluson: Edda. Háttatal. Faulkes, Anthony (Hg.), Oxford, 1991, S. xix. Kevin Wanner sieht nicht nur kulturelle Gründe für das schwindende Interesse an der Skaldik, sondern auch soziale und politische Faktoren, vgl.: Wanner, Kevin J.: Snorri Sturluson and the Edda. The Conversion of Cultural Capital in Medieval Scandinavia. Toronto 2008, v. a. Kapitel 5. „A Poet in Search of an Audience: The Diminishing Prestige-Value of Skaldic Poetry“. 12 Vgl. z. B. Snorri Sturluson: Edda. Faulkes, Anthony (Übers. und Hg.), London 1995, S. xiii. Die Entschlüsselung der Anspielungen und Wortspiele in den Versen haben für den Rezi‐ pienten wohl ebenso ihren Reiz, wie der Akt der Verschlüsselung derselben für den Skalden. Doch solche poetischen Verfahren machen die Lektüre von skaldischer Dichtung noch anspruchsvoller als sie bereits ist: Die Überlieferungssituation ist komplex, anders als z. B. in eddischer Dichtung wird zwar bei zahlreichen skaldischen Gedichten der Namen des Dichters genannt, doch die zeitliche Einordnung ist sehr schwierig. Es existieren keine Originalhandschriften der bis in vorschriftliche Zeit zurückreichenden Dichtung. So können zwischen der Entstehung eines Gedichts und seiner schriftlichen Fixierung mehrere Jahrhunderte liegen. 10 Skaldische Verse sind häufig in Sagatexten als Zitate bestimmter Figuren überliefert. Gedichte werden dazu auseinandergenommen und nur die passenden Verse in den Prosatext eingefügt, was die Rekonstruktion eines Gesamtgedichts erschwert. Diese kleinteilige Überlieferungssituation macht die Prosa-Edda zu einem so wichtigen Werk für die Erforschung der Skaldik. In der P-E sind auf engstem Raum ein grosser Teil der überlieferten skaldischen Dichtung und der zugehörigen Namen von Skalden zusam‐ mengetragen. Diese Sammlung sowie die dichtungstheoretischen Aspekte machen die P-E zu einer der zentralen Quelle für das heutige Wissen über die Skaldik. Doch die P-E erweist sich auch als ein Werk, das zeigt, welchen Wandel die skaldische Dichtung von ihren (angenommenen) Ursprüngen im 9. Jahrhundert bis ins späte Mittel‐ alter unterliegt. Die P-E wird häufig als ein Hinweis auf das schwindende Interesse an der komplexen Dichtung verstanden: Das Wirkungspotenzial der Skaldik scheint im 13. Jahr‐ hundert nicht mehr in der gleichen Stärke vorhanden wie in vorliterarischer Zeit. Neue Medien kommen auf und übernehmen gewisse Funktionen, die bislang der Skaldik zuge‐ sprochen worden sind, wie u. a. Faulkes schreibt: But as means of preserving the memory of historical events, as well as an organ of royal propa‐ ganda, skaldic poetry was being superseded by the written prose saga - had indeed been since the time of King Sverrir - and as a part of the ritual and entertainment of the court was being super‐ seded by various kinds of prose narrative, including translated romances; taste in poetry was moving to favour the ballad and its derivatives; in Iceland a new genre, the rímur, was to replace skaldic verse as a medium of entertainment both written and oral. 11 Die P-E wolle die Skaldik erhalten und an die neuen medialen Möglichkeiten anpassen, so die gängige Erklärung dafür, dass so spät in der Entwicklungsgeschichte der skaldischen Dichtung noch ein Lehrbuch dazu verfasst worden sei. 12 Aber die P-E ist nicht nur an poetischer Sprache und deren Machtpotenzial interessiert, sondern viel allgemeiner an den Möglichkeiten, die sich aus dem verständigen Umgang mit Sprache ergeben. Im wahrscheinlich bekanntesten Abschnitt der P-E, in Gylfaginning [dt. Gylfis Täuschung], geht es um die tiefgreifende Frage, ob der gesamte nordische Kosmos 12 1 Einleitung 13 In den Lektürekapiteln wird jeweils ein kurzer Überblick über die bisherige Forschung gegeben. Lindow fasst die ältere Forschung in diesem Bereich in einem Überblick über die Editionsgeschichte zusammen, vgl.: Lindow: Mythology, S. 35f.; eine umfassende Übersicht leistet auch die Einleitung in: Snorri Sturluson. Gylfaginning. Texte, Übersetzung, Kommentar. Lorenz, Gottfried (Hg., Übers., Komm.), Darmstadt 1984 (= Texte zur Forschung 48), S. 1-43. in einer Erzählung erfasst werden kann, bzw. ob diese Welt gar erst durch eine Erzählung erschaffen wird. Liest man die P-E unter einer gesamtheitlichen und sprachzentrierten Perspektive, so zeigt sich, wie durchwoben das Werk von solchen poetologischen Momenten ist. Mit einer derartig ausgerichteten Lektüre wird auf verschiedenen Werkebenen sichtbar, in welch komplexer Weise hier über Sprache, Dichtung und das Erzählen als Möglichkeit der Sinn‐ stiftung nachgedacht wird. Wie spielerisch und produktiv dieses Nachdenken ist, zeigen die zahlreichen verschiedenen Um- und Neusetzungen der Inhalte der P-E. Das Werk wird bis in die frühe Neuzeit (und in gewisser Weise durch wissenschaftliche und populäre Be‐ arbeitung bis heute) als Autorität für Sprach- und Dichtungsfragen wahrgenommen und dabei immer wieder an aktuelle Voraussetzungen angepasst. Eine dieser Umsetzungen, die man auch als Momentaufnahme einer Sprachreflexion bezeichnen könnte, steht in dieser Arbeit im Vordergrund: Es ist die Version der Prosa-Edda im Codex Upsaliensis DG 11 4to. Diese Handschrift von ca. 1300 bietet einen besonders interessanten Einblick in das Selbstverständnis mittelalterlicher Literatur. Sie ist deshalb ausserordentlich spannend, weil sie die Vielfältigkeit der Sinnstiftung mit und in Sprache medial variantenreich reflektiert: Das Potenzial von Schrift und Bild wird explizit und im‐ plizit demjenigen der mündlichen Vermittlung gegenübergestellt, was ein differenziertes Medienbewusstsein sichtbar macht. Eine systematische und gesamtheitliche Lektüre der P-E soll dieses Medienbewusstsein besser fassen und so eine neue Perspektive auf das Sprachdenken des mittelalterlichen Islands ermöglichen. Das bedeutet auch, die P-E nicht nur fragmentarisiert zu lesen: Wie oben zitiert, werden „kanonisch“ bloss vier Teile zur P-E gezählt - diese Arbeit schlägt vor, den Begriff Prosa-Edda zu öffnen und auf zusätzliche Inhalte auszuweiten. 1.2 Fragestellung 1.2.1 Bisherige Forschung zur Prosa-Edda Wie oben angesprochen, lässt sich die Edda-Forschung grob in verschiedene - grundsätz‐ lich philologische - Bereiche teilen. Auf der einen Seite steht am Anfang der wissenschaft‐ lichen Beschäftigung mit der P-E im 19. Jahrhundert der thematisch-stoffliche Bereich und damit die nordische Mythologie im Zentrum. Hier interessieren vor allem der Prolog, Gyl‐ faginning und einzelne Teile von Skáldskaparmál. Die Forschungslandschaft hierfür ist enorm weit gefächert, häufig handelt es jedoch um quellenkritische, religionswissenschaft‐ liche oder aber auch narratologische Fragen. 13 Häufig mit solchen Fragen verbunden, steht auf einer anderen Seite ein materialgerichteter Zugang mit dem Schwerpunkt auf die hand‐ schriftliche Überlieferungssituation. Besonders in der frühen Phase der Edda-Forschung, 13 1.2 Fragestellung 14 Lassen, Annette: The Uppsala Edda. DG 11 4to by Snorri Sturluson. Review. In: Journal of English and Germanic Philology 114/ 1, 2015, S. 121-123, hier S. 121. (Meine Hervorhebungen) 15 Sävborg, Daniel: Heimir Pálsson: Snorri Sturluson, The Uppsala Edda DG 11 4to. Review. In: European Journal of Scandinavian Studies 45/ 1, 2015, S. 92-126, hier S. 94. Zwar dient Sävborgs Rezension hier als Beleg für die traditionelle Herangehensweise Pálssons, doch in seiner Kritik fügt sich Sävborg natürlich auch selbst in die Reihe der Edda-Forscher, die sich für stemmatologische Fragen interes‐ sieren. die geprägt von editorischen Fragen ist, liegt der Schwerpunkt auf der Erschliessung des „besten“ Edda-Textes. Das Ziel ist, so nahe wie möglich an die Urfassung, bzw. möglichst nahe an den Text des angenommenen Verfassers, Snorri Sturluson, heranzukommen. Mit den Entwicklungen der new philology kommen auch in der skandinavistischen Mediävistik neue Fragen auf und man beginnt sich von der reinen Stemma-Forschung zu entfernen sowie einzelne Textzeugnisse für sich stehend zu betrachten. Trotz der häufigen Beteuerung skandinavistischer Mediävisten, man folge den Prämissen der new philology und suche nicht mehr nach einer „Urfassung“ eines Textes, findet man bis heute solche Ansätze. Bei‐ spielhaft für viele andere steht hier Annette Lassens Rezension von Heimir Pálssons Edition des Codex Upsaliensis: Snorri’s Edda has been transmitted in four almost complete manuscripts and in a number of frag‐ ments. Generally, the Codex Regius of Snorri’s Edda (GKS 2367 4to) is believed to come closest to Snorri’s original. This manuscript is thought to have been written in the first quarter of the fourteenth century. The Codex Trajectinus (Utrecht 1374), which is a copy from ca. 1595 of a now lost medieval manuscript, is closely related to the Codex Regius. From ca. 1350, we have the Codex Wormianus (AM 242 fol.), which preserves a text of Snorri’s Edda with a number of learned in‐ terpolations. Finally, there is the Codex Upsaliensis (DG 11 4to), believed to be slightly older than the Codex Regius and written ca. 1300, which preserves a third redaction of the text that is generally considered to be abridged in comparison to the other redactions. 14 Obwohl Lassen hier die allgemeine Meinung zitiert und später bestätigt, dass alle Versionen der Edda von Interesse sind, lassen die hervorgehobenen Aussagen eine Wertung der ver‐ schiedenen Manuskripte vermuten. Auch Heimir Pálssons Edition selbst verfolgt sehr tra‐ ditionell die Suche nach der dem „Original“ ähnlichsten Version der Edda, wie Daniel Säv‐ borg in seiner Rezension dazu zeigt: Heimir Pálsson claims, in conflict with the standard view, that U represents an earlier version than RTW, but that also the RTW version is, to a large extent, a work by Snorri, who made a new version of his own work; Heimir Pálsson even claims he can place the two versions in distinct parts of Snorri’s biography. Where previous scholars have seen shortening in the U text Heimir Pálsson often sees expansion in RTW. Where the versions diverge more, he instead argues that RTW and U are based on different oral versions and thus not have a common at all original. 15 Es sind Zuschreibungen dieser Art sowie die bloss vermeintlich eindeutige Bestimmung der Edda als „Snorri’s Edda“, die diese Arbeit bestärken, bestimmter den Überlegungen der new philology zu folgen und jede überlieferte Handschrift als eigenständiges Werk, das eine genaue Untersuchung lohnt, anzusehen. Thomas Krömmelbein ist ein früher Vertreter eines solchen erweiterten Verständnisses der P-E. Er hebt die Leistung jedes einzelnen Verfassers 14 1 Einleitung 16 Krömmelbein, Thomas: Creative Compilers. Observations on the Manuscript Tradition of Snorri’s Edda. In: Úlfar Bragason (Hg.): Snorrastefna 25.-27. júlí 1990. Reykjavík 1992 (= Rit Stofnunar Sigurðar Nordals 1), S. 113-130, hier S. 125. 17 Für den dichtungstheoretischen Zugang zur Prosa-Edda siehe v. a. Clunies Ross, Margaret: Skáldskaparmál: Snorri Sturluson’s „ars Poetica“ and Medieval Theories of Language. Odense 1987 (= The Viking Collection 4); Dies.: A History of Old Norse Poetry and Poetics. Cambridge 2005; Guðrún Nordal: Tools of Literacy: The Role of Skaldic Verse in Icelandic Textual Culture of the Twelfth and Thirteenth Centuries. Toronto 2001. 18 Zum Korpus vgl. Kapitel 1.3. einer Version der P-E hervor mit dem Ziel „[…] to sharpen our perception of the macroform Snorra Edda and thus of its preserved final states.“ 16 Erst ab den 1980er Jahren eröffnet sich durch dichtungstheoretische Fragen ein weiterer Bereich in der Erforschung der Prosa-Edda: Nun interessieren neben den mythographischen Texten auch die nicht-erzählenden Teile von Skáldskaparmál oder das Versmassverzeichnis Háttatal. Deren Analyse zielen darauf ab, die Skaldik als Dichtungsgattung besser zu ver‐ stehen. 17 Die verschiedenen Forschungsbereiche nähern sich der Suche nach einer übergreifenden Funktionsbestimmung für die P-E an. Es ist allgemein anerkannt, die Edda als eine ars poetica für die skaldische Dichtung zu bestimmen. Angelegt als Handbuch für angehende Dichter bzw. Skalden, unterrichten die mythographischen Teile über die Inhalte der Dich‐ tung (die nordische Mythologie), während die anderen Teile über die formalen Bedingungen (z. B. die Arten der dichterischen Umschreibung) Auskunft geben. Trotz diesem gemein‐ samen Verständnis bleibt meist eine Trennung der Forschungsbereiche bestehen: Entweder man interessiert sich für die erzählenden Teile der P-E oder für ihre poetologischen Aspekte. Was fehlt, ist ein verbindender und gesamtheitlicher Blick auf das Gesamtwerk, das heute Prosa-Edda genannt wird. 18 1.2.2 Neuer Zugang Diese Arbeit versucht, die P-E unter einer Perspektive zu lesen, welche die oben beschrie‐ benen getrennten Forschungsbereiche verbindet. Das Ziel ist eine ganzheitliche Lektüre, die beide Bereiche der P-E - den thematischen und den sprachtheoretisch interessierten - verknüpft. Die gelehrte sprachtheoretische Ebene soll in den Zusammenhang mit einer literaturwissenschaftlichen (narratologischen) Perspektive gebracht werden. Dieser Ansatz soll nicht nur poetologische Verfahren offenlegen und das avancierte Medienwissen der Prosa-Edda sichtbar machen: Er schliesst auch die Frage nach der Überlieferung und Kom‐ pilation der Texte mit ein und öffnet so den Blick auf die mediale Dynamik in der isländi‐ schen Literatur des 13. Jahrhunderts. Die Grundlage der Arbeit bildet die Beobachtung, dass in der P-E auf vielfältige Weise über Sprache, Dichtung und Erzählen als je spezifische Arten von Kommunikation nach‐ gedacht wird. Das geschieht, indem mit traditionellen Erzählformen (eddischen Liedern, genealogischen Narrativen etc.) gespielt und dabei die Grenzen und Möglichkeiten eines neuen Erzählens ausgelotet werden. Die verschiedenen Texte machen Gebrauch von der Möglichkeit, durch Sprache und Erzählen die Welt zu vermitteln und zu ordnen sowie die 15 1.2 Fragestellung 19 Vgl. Kapitel 1.3. 20 Jürg Glauser bezeichnet die P-E als „ein Text, der sich mit Grenzen auseinandersetzt, ja sich über Grenzen definiert […]“. In: Ders.: Wenn Mythen implodieren. Grenzüberschreitendes Erzählen als mediales Phänomen - das Beispiel der altisländischen „Prosa-Edda“. In: NCCR Mediality Newsletter Nr. 11, 2014, S. 3-7. Online: www.mediality.ch/ download/ nfs_newsletter_14_11.pdf. (Abgerufen am 26.02.2020) eigene Vermittlung zu hinterfragen. Die P-E ist sich ihrer literarischen Konstruiertheit also sehr bewusst und thematisiert sie auf vielen Ebenen. So drehen sich nicht nur die als „prag‐ matisch“ bezeichneten Textteile (wie z.b. die Versmasslehre Háttatal und Teile der Dich‐ tungslehre Skáldskaparmál) um Dichtung, indem sie deren Funktionsweisen erklären. Die dichtungstheoretischen Teile stehen auch in einer engen Beziehung zu denjenigen Text‐ teilen, die auf den ersten Blick wenig mit einer Dichtungslehre verbindet. Tatsächlich zeigen aber auch diese Texte grosses Interesse an sprachtheoretischen Fragestellungen: Sowohl im Prolog als auch in Gylfaginning und Skáldskaparmál geht es um Dichtung, Erzählen und deren Potenzial zur Sinnstiftung in der Welt. Deshalb gehören auch sie in eine an sprach‐ theoretischen Fragen orientierten Lektüre miteinbezogen. In eine solche Lektüre gehören zudem auch Texte, die bis anhin nicht unter dem „Titel“ Prosa-Edda verstanden werden: Je nach überlieferter Handschrift sind es unterschiedliche Texte, die sich an den kanonischen Edda-Text angliedern. 19 Für diese Arbeit sollen alle Texte des Codex Upsaliensis miteinbezogen werden. So gehören zur P-E plötzlich auch ein gram‐ matischer Traktat oder verschiedene genealogische Listen. Ebenso müssen die verschie‐ denen medialen Phänomene integriert werden: Neben dem Text kommen in Codex Upsa‐ liensis Illustrationen und diagrammatische Formen hinzu, zusätzlich sind die Eigenheiten des Layouts zu beachten. Liest man die Inhalte, Formen und Besonderheiten einer Hand‐ schrift im Kontext, erlaubt das neue Einsichten sowohl für die jeweiligen Einzeltexte wie auch für das Gesamtwerk. Der Fokus der folgenden Lektüre liegt deshalb auf den Stellen, die sichtbar machen, was für ein Bild von Sprache, Literatur und deren Bedingungen und Möglichkeiten die Prosa- Edda in U vertritt bzw. entwirft. Interessant dafür sind auffällige Bruchstellen oder Mo‐ mente der Grenzüberschreitung zwischen verschiedenen, d. h. alten und neuen Modellen des Erzählens. 20 Von Interesse sind solche Stellen gerade deshalb, weil sie der Diskussion um das Potenzial von Sprache eine weitere Dimension hinzufügen. Nicht immer ist nämlich klar, ob es sich um provozierte Brüche und Grenzüberschreitungen handelt oder ob es un‐ bewusst entstandene Uneindeutigkeiten sind. An den mythographischen Textteilen der P-E lässt sich die Absage an mythologische Konzepte mitverfolgen, die aber gleichzeitig als Grundlage der traditionellen skaldischen Dichtung präsentiert werden. Sowohl die heidnische Mythologie als auch (damit un‐ trennbar verbunden) die skaldische Dichtung werden von einem Bestreben zur Erneuerung und Aktualisierung erfasst: Die P-E sucht nach einer Möglichkeit, die einheimische kultu‐ relle Praxis auch für die Gegenwart relevant zu erhalten. Das Werk stellt die Frage nach der Vermittelbarkeit der mündlichen einheimischen Dichtung im Kontext der lateinischen Buchkultur: Wie erklärt man eine Dichtung, die von 16 1 Einleitung der Uneindeutigkeit lebt und sich selbst als „verhüllt“ bezeichnet, wenn das höchste Ziel der lateinischen Gelehrsamkeit die eindeutige Beschreibung und Erfassung der Welt ist? Die gleichzeitige Orientierung an den skaldischen Vorbildern der Vergangenheit und die lustvolle Annahme der neuen sprachlichen Möglichkeiten der Buchkultur gehören zu den interessantesten Strategien textueller Selbstbehauptung in der Prosa-Edda. Die selbstre‐ flexive Art und Weise mit einer solchen medialen Dynamik umzugehen, ist einzigartig in der volkssprachlichen Literatur des skandinavischen Mittelalters. Die textuellen und materiell-medialen Strategien, die für eine Überwindung der Geltungs‐ krise der alten sprachlichen Modelle (und damit für das durch die Dichtung vermittelte, eigene kulturelle Gedächtnis) erprobt werden, sollen systematisch beschrieben werden. Damit kann ein möglichst breiter Überblick über in der P-E entworfenen Modelle von Er‐ zählen und dem Verständnis von Sprache gewonnen werden. Für den Überblick werden ausgewählte Stellen verschiedener Werkteile einer Lektüre unterzogen. Die Auswahl ist keinesfalls erschöpfend, sie repräsentiert aber wichtige Momente in der mittelalterlichen isländischen Diskussion der Möglichkeiten und Grenzen von Sprache. Im Kern geht es dabei immer um die Frage, wie sich in einem Text und durch einen Text Sinn und Bedeutung generieren lassen. Um die Lektüre zu systematisieren wird ein Theorieansatz an die P-E herangetragen, der in den letzten Jahren in den verschiedensten Disziplinen vielfältig erprobt und diskutiert worden ist. Es handelt sich dabei um den Diskurs des Performativen oder der Performati‐ vität, der in der skandinavistischen Mediävistik bislang noch nicht sehr bekannt ist. In je unterschiedlicher Weise geht es in diesem Diskurs um das Potenzial von Sprache und sprachlichen Handlungen, Einfluss auf die Wirklichkeit nehmen zu können. Das ist der Schnittpunkt mit der P-E, der eine Lektüre des mittelalterlichen Werks entlang bestimmter Prämissen des aktuellen Diskurses lohnend machen kann. 1.3 Korpus: Was ist die Prosa-Edda? Die Prosa-Edda ist eine moderne Erfindung: Es gibt kein einzelnes Werk, das diesen Namen trägt, sondern verschiedene Versionen in unterschiedlicher Gestalt, an und mit denen über viele Jahrzehnte gearbeitet worden ist. In einem ersten Schritt gilt es folglich zu klären, was es eigentlich ist, was wir Prosa-Edda nennen: Von den mittelalterlichen Texten selbst spricht bloss eine Version von der Edda. Die Bezeichnung findet sich in einer Rubrik im Codex Upsaliensis. Das, was in Editionen aus dem 19. und 20. Jahrhundert und häufig auch in aktuellen Übersetzungen als Prosa-Edda präsentiert wird, entspricht nicht dem, was uns in der titelgebenden Version von Codex Upsaliensis überliefert ist. Möchte man sich mit der Prosa-Edda in der Form, wie sie uns in den mittelalterlichen Handschriften entgegentritt beschäftigen, so stellt sich zusätzlich die Frage, welches die beste Version ist. Die älteste oder die vollständigste Version? Diese Schwierigkeiten stemmatologischer Forschung be‐ treffen diese Arbeit nicht, denn gemäss den Überlegungen der new philology hat jede mit‐ telalterliche Handschrift ihren eigenen Wert und ist ein eigenständiges Werk, das eine Lek‐ 17 1.3 Korpus: Was ist die Prosa-Edda? 21 Ein wegweisender Vertreter dieser Herangehensweise ist Cerquiglini, Bernard: Eloge de la Variante: Histoire Critique de la Philologie. Paris 1989. 22 Vgl. Kapitel 3.2.3. 23 Wobei Gylfaginning so nicht direkt als Titel genannt wird, vgl. Kapitel 3.2.3. 24 Vgl. die digitalisierte Ausgabe der Uppsala-Edda auf dem Portal Alvin: Plattform för digitala samlingar och digitaliserat kulturarv: www.alvin-portal.org/ alvin/ imageViewer.jsf ? dsId=ATTACHMENT-0001 &pid=alvin-record%3A54179&dswid=-961. (Abgerufen am 26.02.2020) 25 Konsequenterweise sollte der Titel meiner Arbeit daher eigentlich „Literarische Performativität im Codex Upsaliensis“ lauten. 26 Für einen genauen Überblick über die verschiedenen Teile von U sowie die Handschriftengeschichte vgl. z. B. Krömmelbein: Creative Compilers, S. 113-130; Nordal: Tools of Literacy, S. 50-55. türe lohnt. 21 Es ist deshalb wichtig, sich immer im Klaren zu sein, was man genau meint, wenn man von der Prosa-Edda spricht. Wie erwähnt, betitelt eine Rubrik am Anfang von Codex Upsaliensis bestimmte Textteile als Edda und führt weiter aus, dass sie von Snorri Sturluson zusammengesetzt resp. ge‐ dichtet seien. 22 Allerdings entsprechen die in der Rubrik genannten Texte nicht den Be‐ standteilen, die tatsächlich im Codex Upsaliensis zu finden sind. Definiert man das Werk rein textimmanent und hält sich an die angegebenen Teile, so beschränkt sich die Prosa- Edda auf einen Prolog, Gylfaginning, Skáldskaparmál sowie Háttatal. 23 Ausschliesslich diese Teile schreibt die Rubrik in U dem Kompilator Snorri Sturluson zu und nennt sie Edda. Die folgenden Lektüren zeigen, dass zu den genannten Teilen noch weitere Inhalte dazutreten. Die materielle Einheit des Textes entspricht folglich nicht der textuellen Einheit. Die Überlieferung der P-E in spätmittelalterlicher bis in frühneuzeitlicher Zeit zeigt aber auch, dass das Werk je nach Kopieranlass unterschiedlich aufgefasst worden ist. Zur Ver‐ einheitlichung und Kanonisierung auf vier Texte ist es erst während der neuzeitlichen Be‐ schäftigung mit der P-E gekommen. Die folgenden Lektüren sollen auch die zusätzlichen Bestandteile der Handschriften in den Blick nehmen und so ein flexibleres und offeneres Verständnis der P-E schaffen. 1.3.1 Lektüreschwerpunkt Codex Upsaliensis In letzter Zeit sind neue Editionen der einzelnen Edda-Handschriften erschienen und auch verschiedene Arten von Digitalisaten machen die Arbeit nahe an den Handschriften ein‐ facher. 24 Codex Upsaliensis DG 11 4to (von nun an U genannt) steht im Zentrum dieser Arbeit. Die Wahl fällt nicht auf diese Edda-Version, weil U die älteste erhaltene Edda-Hand‐ schrift ist, sondern aufgrund der zahlreich enthaltenen verschiedenen medialen Phäno‐ menen, die diese Handschrift so einzigartig machen. Als Kompilation konzipiert, bilden die unterschiedlichen Teile zusammen den Codex Upsaliensis. 25 Die Handschrift wird auf ca. 1300 datiert und enthält mehrere Teile, die nicht dem ka‐ nonischen Bild der P-E entsprechen, das durch die modernen Editionen und Übersetzungen vermittelt wird. 26 Mit dem kanonischen Text werden auch genealogische Listen, gramma‐ tische Diagramme und Bilder zusammengestellt. Diese Bestandteile sind alles Organisati‐ onsformen von Wissen, die bisher noch ungenügend in eine Lektüre der Prosa-Edda ein‐ geflossen sind. Im Vergleich zu den komplexen medialen Phänomenen in U sind in Codex Wormianus (W) und Codex Regius (R) keine derart unterschiedlichen Ausprägungen der 18 1 Einleitung 27 Beck, Heinrich: Die Uppsala Edda und Snorri Sturlusons Konstruktion einer skandinavischen Vorzeit. In: Scripta islandica 2007 (= Isländska sällskapets årsbok 58, 2007), S. 5-33, hier S. 9. 28 Für einen paläographischen Überblick vgl. z.B.: Mårtensson, Lasse: Skrivaren och förlagan. Norm och normbrott i Codex Upsaliensis av Snorra Edda. Oslo 2013. 29 Glauser: Implosionen mythischen Erzählens, S. 116. Buchkultur zu finden. Zwar überliefert W die vier Grammatischen Traktate zusammen, was für eine sprachzentrierte Lektüre der Edda interessant erscheint. Allerdings fehlen in W die Diagramme des Zweiten Grammatischen Traktats und damit die spezifische mediale Aus‐ gestaltung des Textes. Es ist wichtig, solche Eigenheiten in eine rein textbasierte Lektüre einzubeziehen, vor allem, wenn dahinter so klare planerische Absichten wie in U erkennbar sind. Diese planerischen Absichten werden in der Forschung nicht immer gesehen: Mehr‐ fach wird der Version der P-E, wie sie uns im Codex Upsaliensis vorliegt, ein unzusam‐ menhängender Kompilationscharakter zugeschrieben. So meint z. B. Heinrich Beck: Der Schluss liegt nahe: Der Codex Upsaliensis ist keine Komposition, in der die Teile einem Ge‐ samtplan folgen. Es ist eher der Gedanke einer Kompilation zu erwägen, d. h. einer Sammlung von Materialien, die ungleichen Alters oder abweichender Konzeption sein konnten. Auch der Ein‐ schub des Skáldatal mitsamt den Sturlungen-Materialien und die Einbeziehung des sog. 2. Gram‐ matischen Traktates sprechen für den Kompilationsgesichtspunkt. 27 Dass eine Kompilation nicht per se aus unzusammenhängenden Texten besteht, wird im Codex Upsaliensis allerdings sehr deutlich. Gerade die Einfügung der von Beck genannten Listen (Skáldatal etc.) stellt einen klaren Rahmen für die Lektüre der Kompilation dar. Wie zu zeigen sein wird, wirken die verschiedenen Texte aufeinander ein und sollten deshalb unter einer gemeinsamen Perspektive gelesen werden. Auch die mise en page und die ge‐ samte Handschriftenkomposition stützen den Befund, dass Codex Upsaliensis unter einer gesamtheitlichen Perspektive betrachtet werden sollte. Darauf deuten sowohl die Lagen‐ bindung als auch die einzige vorkommende Hand hin. Die verschiedenen Bestandteile, die uns heute noch vorliegen, sind absichtlich zusammengestellt worden. Aufgrund der Über‐ lieferungsgeschichte fehlen einzelne Seiten oder Teile sind nicht mehr lesbar, zusätzlich wurden auch spätere Papierseiten eingefügt. Dennoch scheint die Handschrift als solche als Gesamtheit verstanden werden zu wollen. 28 Aber auch über die Inhalte lässt sich die planerische Zusammengehörigkeit fassen. Jürg Glauser sieht diese in U durchaus gegeben: Der Codex Upsaliensis enthält somit in seiner Gesamtheit als Anthologie Aussagen zu den zen‐ tralen Aspekten der altnordischen Dichtung. Über Themen und Stoffe wird in den theologischen und mythographischen Abschnitten des Prologs und in Gylfaginning gehandelt, formale Phäno‐ mene wie Metrik, Rhetorik, Poetik sind ausführlich in den Skáldskaparmál theorisiert und im Widmungsgedicht Háttatal exemplifiziert, pragmatische Seiten der Sprache finden ihre Erörterung in der Phonologie des Zweiten Grammatischen Traktates und Literaturgeschichte wird in den Dichterlisten des Skaldatal skizziert. Das Ganze wird in den beiden kurzen Abschnitten Ættertala Sturlunga und Lögsögumannatal schliesslich in einen konkreten isländischen soziokulturellen Kontext gestellt. 29 19 1.3 Korpus: Was ist die Prosa-Edda? 30 Snorri Sturluson: The Uppsala-Edda. Heimir Pálsson (Hg.). London 2012. (Von nun an abgekürzt zu Uppsala Edda) 31 Snorre Sturlasons Edda. Uppsala-Handskriften DG 11. Grape, Anders (Hg.), Stockholm/ Uppsala 1962 sowie: Snorre Sturlasons Edda. Uppsala- Handskriften DG 11, II. Grape, Anders et al. (Hg.), Uppsala 1977. 32 Edda Snorra Sturlusonar (= Edda Snorronis Sturlæi). Sumptibus legati Arnamagnæani. 3 Bände. Nach‐ druck: Otto Zeller, Osnabrück 1966 (Editio princeps: Legati Arnamagnæani, Hafnia 1848-1887). 33 Nordal fasst die Überlieferungssituation der Prosa-Edda detailliert zusammen, vgl. Nordal: Tools of Literacy, S. 46-50. 34 Auf dieser Handschrift basiert auch Codex Trajectinus (Utrecht 1374), der eine Abschrift auf Papier aus der Zeit um 1600 ist. Als Pergamentvorlage wird eine Kopie einer mit R verwandten, allerdings verlorenen, Handschrift bestimmt. 35 Vgl. Kapitel 4.3. 36 Nordal: Tools of Literacy, S. 55-57. Karl G. Johansson analysierte W eingehend: Johansson, Karl G.: Studier i Codex Wormianus: skrifttradition och avskriftsverksamhet vid ett Isländskt skriptorium under 1300-talet. Göteborg 1997. 37 Nordal: Tools of Literacy, S. 56-68; Uppsala Edda, Introduction: xxx-xliii. Als Ausgangspunkt der Lektüren dient in dieser Arbeit die Edition von Codex Upsaliensis von Heimir Pálsson aus dem Jahr 2012, die einen wichtigen Beitrag für die neuere Edda- Forschung darstellt. Pálsson bleibt so nahe wie möglich am Text von U und interpoliert nur in den Fussnoten. 30 Pálsson begründet seine Edition auf der Faksimile-Ausgabe von Anders Grape. Das zweibändige Werk mit Transkription, paläographischem Kommentar und einer ausführlichen Einleitung ist - gemeinsam mit der digitalen Web-Version der Bibliothek von Uppsala - auch für diese Arbeit von grossem Wert. 31 Für den Vergleich der verschiedenen Handschriftentexte von RTW bleiben die drei Bände der Edda Snorra Sturlusonar aus dem 19. Jahrhundertweiterhin sehr hilfreich. 32 Vertiefende Einblicke in die Gestaltung von U bieten die jeweiligen Lektürekapitel. 1.3.2 Weitere handschriftliche Überlieferung Die Prosa-Edda ist in zwei weiteren mittelalterlichen Handschriften überliefert: Codex Re‐ gius (GKS 2367 4to, von nun an R) wird auf ca. 1300-25 datiert und auf Grund des gut erhaltenen Zustands häufig als Grundlage für Editionen oder Übersetzungen genommen. 33 Zusätzlich zu den kanonischen Texten sind in R eine Liste mit sog. Þulur sowie zwei skal‐ dische Gedichte (Jómsvíkingadrápa und Málsháttakvæði) überliefert. 34 Codex Wormianus (AM 242 fol., von nun an W) ist in Bezug auf die Handschriftengrösse und den Inhalt die grösste Version der Prosa-Edda. W stammt ca. von 1350 und umfasst neben den kanonischen Texten der Edda vier grammatische Traktate. Der sog. 2. Gram‐ matische Traktat ist auch in U zu finden, die Versionen unterscheiden sich allerdings im Text und nur in U sind zwei Diagramme, die den Text zu erklären helfen, eingefügt. 35 W enthält zudem das eddische Gedicht Rígsþula sowie eine fragmentarische Liste von ókent heiti.  36 Zusätzlich sind mehrere Fragmente von Skáldskaparmál überliefert, die je nach Ver‐ sion einmal eher mit R oder dann mit W verbunden gedacht werden. 37 20 1 Einleitung 1.4 Aufbau der Arbeit Dieser Einleitung folgt eine Hinführung auf die theoretische Perspektive, unter der die Lektüren der Prosa-Edda vorgenommen werden (2. Kapitel). Der dafür zentrale Begriff der literarischen Performativität wird mithilfe eines Überblicks über das Performative und seine rhizomatischen Ausformungen in verschiedensten Disziplinen erarbeitet. Darauf folgen zwei Hauptkapitel, in denen ausgewählte Stellen der Prosa-Edda vertieft beleuchtet werden. Das erste der beiden Lektürekapitel widmet sich den erzählenden Teilen des Werks, die sich mit der Frage nach dem Sinnstiftungspotenzial von verschiedenen Narrativen beschäftigen (3. Kapitel). Die Reflexion der eigenen Arbeit am Mythos wird in diesen Teilen ebenso thematisiert wie die adäquate mediale Vermittlung von genealogischen Wissensbeständen. Das nächste Lektürekapitel beschäftigt sich mit den verschiedensten sprachtheoretischen Aspekten innerhalb der sprachgelehrten Teile der P-E (4. Kapitel). Anders als den erzäh‐ lenden Teilen geht es diesen Texten nicht darum, die „Welt“ sprachlich zu fassen, sondern darum, die Sprache als Grundlage einer jeden sprachlichen Gestaltung der Welt in all ihren Facetten zu begreifen. Die Kapitel enden jeweils mit einer kurzen Zusammenfassung. Zum Schluss werden die gesamten Beobachtungen zusammengefasst und ein Fazit gezogen (5. Kapitel). Dabei werden auch die während der Arbeit aufgetretenen Schwierigkeiten thematisiert sowie in einem Ausblick auf mögliche weiterführende Fragen verwiesen. 21 1.4 Aufbau der Arbeit 1 Cavanaugh, Jillian: Performativity. In: Oxford Bibliographies in Anthropology, 2015. www.oxfordbibl iographies.com/ view/ document/ obo-9780199766567/ obo-9780199766567-0114.xml. (Abgerufen am 26.02.2020) 2 Austin, John L.: Performative Utterances. In: Urmson, James O. und Geoffrey J. Warnock (Hg.): Philosophical Papers. Oxford 3 1979 [1961], S. 233. 3 Vgl. Barton, Ulrich und Rebekka Nöcker: Performativität. In: Ackermann, Christiane und Michael Egerding (Hg.): Literatur- und Kulturtheorien in der germanistischen Mediävistik - Ein Handbuch. Berlin/ Boston 2015, S. 408. 2 Literarische Performativität 2.1 „Performative - an ugly word“ Dieses Kapitel bildet die theoretische Grundlage für die vorliegende Arbeit. Dabei steht der Diskurs des Performativen resp. der Performativität im Fokus. Mit einem solchen Fokus wird eine Lektüre der Prosa-Edda vorgeschlagen, die ein neues Licht auf dieses so bekannte Werk des nordischen Mittelalters werfen soll. Für ein Werk, das sich auf so komplexe Weise mit den Möglichkeiten und Grenzen von Sprache und Literatur befasst, kann ein theoreti‐ scher Zugang, der sich mit der Macht von Sprache beschäftigt, neue Einsichten ermögli‐ chen. Inwiefern der Performativitätsdiskurs einer erneuten Lektüre der P-E dienen kann, wird im Folgenden beleuchtet. Bereits lange vor dem in den 1990er Jahren propagierten performative turn ist der Begriff der Performativität in vielen verschiedenen Disziplinen zu finden. Schon seit ca. 1950 wird über Performanz, das Performative oder eben die Performativität diskutiert. Dementspre‐ chend vielfältig sind die Definitionen und Gebrauchsfelder der Begriffe. Als erste Annähe‐ rung soll an dieser Stelle die Definition von Jillian Cavanaugh dienen: „Performativity is the power of language to effect change in the world: language does not simply describe the world but may instead (or also) function as a form of social action.“ 1 Sprache wird hier die Fähigkeit zugeschrieben, die Wirklichkeit zu verändern und nicht nur der reinen Beschrei‐ bung der Welt zu dienen. Der Ausgangspunkt des Performativitätsdiskurses liegt in der Sprachphilosophie. John L. Austin versucht Mitte des 20. Jahrhunderts, eine spezifische Kategorie sprachlicher Äus‐ serungen zu fassen und benennt sie mit dem, wie er sagt, hässlichen Wort performative. 2 Der substantivierte Begriff der Performativität kommt erst später in Gebrauch: Ebenfalls in der Sprachphilosophie, allerdings auch in der Linguistik sowie in kultur- und sozialwis‐ senschaftlichen Disziplinen. In den beiden letzteren bezeichnet er den Vollzugscharakter kommunikativer Handlungen und den Inszenierungscharakter sozialer Praktiken. 3 Die Be‐ griffe des Performativen und der Performativität unterscheiden sich weiter vom Begriff der Performanz. Es sind z. B. die Theaterwissenschaften, die stärker auf den Begriff Performanz fokussieren, indem sie damit den Aufführungscharakter von Handlungen bezeichnen. Die weitläufigen Entwicklungen der verschiedenen Begriffe und Anwendungen werden von mehreren Seiten immer wieder kritisiert: Performativität sei ein modischer umbrella 4 Grage, Joachim und Stephan Michael Schröder: Performativität und literarische Praktiken: Zum Er‐ kenntnispotential einer Verschränkung von Performativitätsforschung und Praxistheorie. In: Dies. (Hg.): Literarische Praktiken in Skandinavien um 1900. Fallstudien. Würzburg 2012, S. 7-37, hier S. 14. 5 Schumacher, Eckhard: Performativität und Performance. In: Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften. Wirth, Uwe (Hg.), Frankfurt a. M. 2002, S. 383-403, hier S. 383. 6 Eine allzu detaillierte Diskussion der zahlreichen Konzepte des Performativen ist an dieser Stelle nicht sinnvoll. Für die vertiefte Beschäftigung mit der Forschungsgeschichte des Performativen sei daher auf verschiedene Einführungen etc. zum Thema verwiesen, die Liste ist keinesfalls abschlies‐ send: Zur Verwendung des Begriffs in der Sprachphilosophie vgl. Krämer, Sybille: Sprache, Sprechakt, Kommunikation. Sprachtheoretische Positionen des 20. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 2001. Weitere Überblickswerke oder Einführungen: Fischer-Lichte, Erika und Christoph Wulf (Hg.): Theorien des Performativen. Berlin 2001; Fischer-Lichte, Erika: Performativität. Eine Einführung. Bielefeld 2012; Velten, Hans Rudolf: Performativitätsforschung. In: Methodengeschichte der Germanistik. Schneider, Jost (Hg.), Berlin/ New York 2009, S. 549-571; Velten, Hans Rudolf: Performativity and Performance. In: Travelling Concepts for the Study of Culture. Neumann, Birgit und Ansgar Nünning (Hg.), Berlin/ New York 2012, S. 249-267. term geworden und trage zu wenig analytische Kraft in sich, heisst es in vielen Einfüh‐ rungen zum Thema. Stellvertretend für derartige Bedenken stehen Joachim Grage und Ste‐ phan Michael Schröder: Mit den Begriffen Performativität, Performanz, performance hat sich ein interbzw. transdiszipli‐ näres Cluster von Begrifflichkeiten entwickelt, deren enge etymologische Verwandtschaft leicht darüber hinwegtäuscht, dass diese Termini in den einzelnen Disziplinen bzw. Problemfeldern durchaus Heterogenes bezeichnen und den interbzw. transdisziplinären Dialog zugleich ermög‐ lichen und erschweren. 4 Ähnlich formuliert es Eckhard Schumacher, er weist aber (wie auch Grage/ Schröder) darauf hin, dass gerade die Uneindeutigkeiten, die durch die verschiedenen Konzeptverwen‐ dungen zustande kommen, häufig als produktiv verstanden werden: Einleitungen zu Texten, die sich mit Konzeptionen von Performance oder Performativität ausein‐ andersetzen, sind häufig dadurch gekennzeichnet, dass sie zunächst die verschiedenen, durchaus gegenläufigen Lesarten der Begriffe in Anthropologie, Theaterwissenschaften, Sprachphilosophie, Texttheorien oder Cultural Studies betonten, um diese Gemengelage in weiteren Schritten dann als tendenziell produktive Ausgangsbasis für die jeweils anvisierte spezifische Konzeptualisierung zu bestimmen. 5 Auch in dieser Arbeit kommt der Diskurs des Performativen zum Einsatz, weil seine breiten Anwendungsfelder produktiv scheinen für eine Lektüre altnordischer Literatur. Ein ge‐ wisses Unbehagen bleibt, ausgelöst durch eine zu wenig präzise Bestimmung der Begriff‐ lichkeiten und ihre Anwendung in den verschiedensten Feldern. Daher ist es sinnvoll, einen Überblick über die Forschungsgeschichte des Performativen zu geben, um die produktiven Aspekte des Diskurses zu sichten. Dies soll hier allerdings eher als Abgrenzung und Her‐ leitung der in dieser Arbeit benötigten Konzepte geschehen, als in einem umfassenden Überblick. 6 Zuerst werden die forschungsgeschichtlichen Verzweigungen im chronologi‐ schen Verlauf und in den verschiedenen Disziplinen betrachtet und versucht, wichtige As‐ pekte herauszukristallisieren. Zentral für diese Arbeit ist ein spezifisches Verständnis von Performativität: die literarische Performativität mit einer mediävistischen Perspektive. Ihr 24 2 Literarische Performativität 7 Austin, John L.: Performative Utterances, S. 233. Seine Sprechakttheorie wurde als solche erst posthum herausgegeben: Austin, John L.: How to do things with words. The William James lectures delivered at Harvard University in 1955. Cambridge/ Mass. 1962. Hier verwendet wird die dt. Bear‐ beitung: Austin, John L.: Zur Theorie der Sprechakte (= How to do things with words). Dt. Bearbei‐ tung v. Eike von Savigny. Stuttgart 2002. 8 Austin: Zur Theorie der Sprechakte, S. 153ff. (11. Vorlesung). wird deshalb ein eigenes Unterkapitel gewidmet. Im Hauptteil der Arbeit - den Lektüren - wird sie vertieft behandelt und auf ihre Nützlichkeit für die Arbeit mit den Texten geprüft. 2.2 Forschungsüberblick Man kann einen Forschungsüberblick zum Begriff der Performativität entlang verschie‐ dener Linien nachzeichnen. Ein chronologisches Vorgehen bietet sich an, allerdings wird das leicht unübersichtlich, da sich die Entwicklung des Begriffs in verschiedenen Diszi‐ plinen gleichzeitig abspielt. Deshalb folgt dieser Überblick den chronologischen Entwick‐ lungen innerhalb einzelner Fachrichtungen. Da sich die Diskurse gegenseitig beeinflussen und befruchten, kann die Aufteilung nicht völlig streng ausfallen. Damit ist auch impliziert, dass eine einheitliche Theorie des Performativen weder möglich noch erstrebenswert ist. 2.2.1 Entwicklungslinien des Performativen Ihren Anfang nimmt die Performativitätsforschung wie oben erwähnt in der Sprachphilo‐ sophie. John L. Austin ist der Begründer der Sprechakttheorie und des Begriffs performative. Er versucht 1955 seine Einführung des „neue(n) und hässliche(n) Wort(es)“ zu begründen: You are more than entitled not to know what the word ‚performative‘ means. It is a new word and an ugly word, and perhaps it does not mean anything very much. But at any rate there is one thing in favour, it is not a profound word. 7 Das englische Adjektive performative leitet sich laut Austin vom Verb to perform (dt. voll‐ ziehen, ausführen, leisten; aber auch aufführen) ab. Austin bemerkt, dass man mit Sprache nicht nur etwas in der Welt beschreiben oder behaupten, sondern auch etwas tun kann. Mit performative bezeichnet er dementsprechend Äusserungen, die im Vollzug des Sprechakts soziale Wirklichkeit herstellen und grenzt sie anfangs von den konstativen Äusserungen ab. Konstative Äusserungen können wahr oder falsch sein, performative jedoch nicht, sie können nur gelingen oder misslingen. Austin macht deutlich, dass jede sprachliche Äus‐ serung immer auch die Möglichkeit des Misslingens bzw. Scheiterns beinhaltet. Schliesslich verwirft er die Zweiteilung von konstativ und performativ, da jeder konstativen Äusserung immer auch eine performative Dimension eigne und umgekehrt bei performativen Akten auch der Wahrheitsgehalt bedeutsam sei. 8 Deshalb nennt er schliesslich nur eine kleine Klasse von Äusserungen (explizite) performative Äusserungen. Diese vollziehen gleichzeitig das, was sie besagen und ändern dementsprechend die Wirklichkeit. Dazu müssen sie je‐ doch in den Kontext formaler oder informeller Institutionen eingebettet sein, sonst tritt keine Veränderung ein. Ein bekanntes Beispiel für eine durch einen institutionellen Kontext 25 2.2 Forschungsüberblick 9 Austin: Zur Theorie der Sprechakte, S. 121f. 10 Vgl. z. B. Searle, John R.: Was ist ein Sprechakt? In: Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften. Wirth, Uwe (Hg.), Frankfurt a. M. 2002, S. 83-104. 11 Derrida, Jacques: Signatur Ereignis Kontext. In: Randgänge der Philosophie. Engelmann, Peter (Hg.), Wien 2 1999 [1988], S. 345. Original: Derrida, Jacques: Marges de la Philosophie. Paris 1972. 12 Vgl. z. B. Barton und Nöcker: Performativität, S. 412f.: „Indem sich jedes Zeichen bei der Iteration auf ein anderes Zeichen beziehe, eigne ihm das wesentliche Merkmal der Schrift (als geschriebene Sprache), die ihrerseits als Zeichen von Zeichen gilt, insofern sie lautsprachliche Repräsentationen in graphische Symbole transkribiert.“ 13 Derrida: Signatur Ereignis Kontext, S. 346. gestützte performative Äusserung, ist: „Sie sind jetzt Mann und Frau“ - ausgesprochen vom dazu autorisierten Pfarrer bei der Eheschliessung in der Kirche. Austin konzentriert sich in seinen Überlegungen zum Performativen auf den Gebrauch von Äusserungen in „normaler Sprache“. Er unterscheidet sie von einem „nicht ernsthaften“ Gebrauch: „Es gibt die Auszehrung der Sprache, parasitären Gebrauch unterschiedlicher Art usw.: man kann sie in unterschiedlicher Weise ‚nicht ernsthaft‘ oder ‚nicht ganz normal‘ gebrauchen.“ 9 Performative Äusserungen können demnach z. B. nicht glücken, wenn sie in einem Gedicht vorkommen oder auf der Theaterbühne vorgetragen werden. Es ist diese Ausklammerung von bestimmten Äusserungssituationen, die John Searle und Jacques Der‐ rida den Begriff des Performativen weiterentwickeln lassen. 10 Während sich Searle auf die von Austin begründete Theorie beruft und eine allgemeine Sprechakttheorie entwickelt, stellt Derrida das Konzept grundsätzlich in Frage: Denn ist nicht schliesslich, was Austin als Anomalie, Ausnahme, ‚unernst‘ das Zitieren (auf der Bühne, in einem Gedicht oder in einem Monolog), ausschliesst, die bestimmte Modifikation einer allgemeinen Zitathaftigkeit - einer allgemeinen Iterierbarkeit vielmehr -, ohne die es sogar kein ‚geglücktes‘ per‐ formative gäbe? So dass - als paradoxe, aber unvermeidliche Konsequenz - ein geglücktes performa‐ tive notgedrungen ein ‚unreines‘ performative ist, um das Wort wieder aufzunehmen, das Austin später vorschlägt, wenn er eingesteht, dass es kein ‚reines‘ performative gibt. 11 Derrida denkt ausgehend vom Sprechakt über die Sprache als Ganzes nach. Er setzt ent‐ gegen Austin voraus, dass jedes Zeichen iterierbar und damit zitierbar und eigentlich gra‐ phematischer Natur ist. 12 Somit ist jede performative Äusserung nach einem „iterierbaren Muster konform“ und als „Zitat identifizierbar“. 13 Dies gilt sowohl für Äusserungen, die Austin als „normal“ bezeichnet, als auch für solche, die gemäss ihm „parasitär oder un‐ normal“ sind. Für diese Arbeit ist die Bestimmung des Performativen als im Wesen iterierbar zentral. Sybille Krämer arbeitet ein wichtiges Merkmal im Denken der Wiederholung bei Derrida heraus, das für die Lektüren der Prosa-Edda relevant sein wird: Das klassische philosophische Denken der Wiederholbarkeit folgt dabei dem Primat des Univer‐ sellen: Wiederholung setzt Allgemeinheit voraus. Doch Derridas Denkbewegung führt zu einem anderen Ergebnis: Es ist die Wiederholung, die Allgemeinheit, Identität und Idealität überhaupt erst erzeugt und stabilisiert: ‚…Idealität ist aber nur das gesicherte Vermögen der Wiederholung.‘ Doch insofern jede Wiederholung ein Anderswerden des Wiederholten einschliesst, sind Repro‐ duktion bzw. Repetition nicht bloss als Aktualisierung eines vorgängigen Schemas verstehbar, 26 2 Literarische Performativität 14 Krämer: Sprache, Sprechakt, Kommunikation, S. 239f. Für weitere Entwicklungen des sprachphiloso‐ phischen Verständnisses siehe auch: Velten, Hans Rudolf: Performativität - Ältere deutsche Lite‐ ratur. In: Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine Einführung in neue Theoriekonzepte. Benthien, Claudia und Hans Rudolf Velten (Hg.), Hamburg 2002, S. 220: „Die Bemühungen Austins und Searles um den Sprechakt wurden von Jacques Derrida und Jonathan Culler kritisiert und weitergeführt, die beide von unterschiedlichen Positionen her darauf hinweisen, dass der Kontext einer Äusserung prinzipiell unendlich und daher von der Intention des Sprechers nicht beherrschbar sei. Von dort entwickelt Derrida auch sein Konzept der aufgeschobenen Bedeutung (différance), mit welchem er die grundsätzliche Instabilität semantischer Bezüge aufdeckte und damit deutlich machte, dass nicht nur der Gebrauch der Sprache, sondern auch der von Texten in hohem Masse performativ ist.“ 15 Barton und Nöcker: Performativität, S. 408. 16 Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 29. 17 Fischer- Lichte, Erika: Grenzgänge und Tauschhandel. Auf dem Wege zu einer performativen Kultur. In: Theater seit den 60er Jahren: Grenzgänge der Neo-Avantgarde. Fischer-Lichte, Erika et al. (Hg.), Tübingen/ Basel 1998, S. 13-15. sondern bergen einen Überschuss, der das Schema verändert und sprengt - doch eben nur, wenn dieses Schema zugleich auch aufgegriffen und bestätigt wird. 14 Wie sich in den Lektüre-Kapiteln zeigen wird, ist die Wiederholung und das Zitat ein grundlegendes Prinzip der Textgestaltung in der Prosa-Edda. Eine detaillierte Auseinan‐ dersetzung mit den Begrifflichkeiten findet in Kapitel 2.4.2 statt. Der Begriff Performanz findet unabhängig von der sprachphilosophischen Diskussion auch in der Linguistik Verbreitung. Noam Chomsky unterscheidet im Anschluss an Ferdinand de Saussures Konzept von langue und parole „die ‚Performanz‘ (engl. performance) als den konkret-aktualen Gebrauch sprachlicher Äusserungen von der ‚Kompetenz‘ (engl. compe‐ tence), dem allgemeinen Regel- und Kenntnissystem, das die konkreten Sprachäusserungen determiniert.“ 15 Diese Linie wird für die vorliegende Arbeit nicht weiterverfolgt. Auch in den Künsten wurde das Performative in den 1960er Jahren immer zentraler, dazu schreibt Erika Fischer-Lichte: Ob bildende Kunst, Musik, Literatur oder Theater - alle tendieren dazu, sich in und als Aufführungen zu realisieren. Statt Werke zu schaffen, bringen Künstler zunehmend Ereignisse hervor, in die nicht nur sie selbst, sondern auch die Rezipienten, die Betrachter, Hörer, Zuschauer involviert sind. 16 Der Ereignisbegriff ist zentral für diese Diskurse des Performativen. Weiter fokussiert sich Fischer-Lichte in ihren Ausführungen auf das Theater und den Begriff der Inszenierung und Aufführung. Sie vergleicht: Was Austins Sprechakttheorie für die Erkenntnis von Sprache leistete, vollbrachte das „untitled event“ im Hinblick auf das Theater. Es liess schlagartig deutlich werden, was Theatermacher und Zuschauer immer schon intuitiv gewusst und praktiziert haben: dass Theater sich nicht in einer referentiellen Funktion erschöpft, sondern immer auch eine performative wahrnimmt. Mit dem besonderen Verhältnis der performativen Funktion zur referentiellen definiert es Theater neu als die performative Kunst schlechthin. Aufgrund dieses neuen Theaterbegriffs konnte Theater nun als ein kulturelles Modell begriffen werden. 17 27 2.2 Forschungsüberblick 18 Fischer-Lichte: Grenzgänge, S. 13-15. 19 Vgl. z. B. Schechner, Richard: Performance Theory. New York 2010; Schechner, Richard: Theater-An‐ thropologie. Spiel und Ritual im Kulturvergleich. Reinbek 1990. 20 Fischer-Lichte: Grenzgänge, S. 12. 21 Zitat Singers aus Fischer-Lichte: Grenzgänge, S. 13. 22 Fischer- Lichte: Grenzgänge, S. 13. 23 Vgl. z. B. Velten: Performativität, S. 217-219; zu den Arbeiten Turners vgl. z.B.: Turner, Victor: Das Ritual: Struktur und Antistruktur. Frankfurt a. M. 2000. 24 Velten: Performativität, S. 217-219. Damit einher gehe auch eine Veränderung der lange Zeit vorherrschenden Vorstellung der „Welt als Text“ hin zu der Vorstellung der „Welt als Performance“: „Unsere zeitgenössische Kultur lässt sich als eine Kultur der Inszenierung beschreiben oder auch als eine Inszenie‐ rung von Kultur. In allen gesellschaftlichen Bereichen wetteifern einzelne und gesellschaft‐ liche Gruppen in der Kunst, sich selbst und ihre Lebenswelt wirkungsvoll in Szene zu setzen.“ 18 Parallel zu den Entwicklungen in den Künsten vergleicht Richard Schechner 19 in seiner Theater-Anthropologie die dramatische Inszenierung mit derjenigen von Ritualen, womit die Wechselbeziehungen zur Begriffsentwicklung in den Sozialwissenschaften deut‐ lich werden. Die Sprachphilosophie und die Künste sind nicht die einzigen Felder, in denen der Begriff des Performativen mit traditionellem Verständnis bricht. Während - wie eben geschildert - die Vorstellung der Welt als Text durch die Vorstellung der Welt als Performance ersetzt wird, verändert sich auch das Verständnis von Kultur und wird in diesem Sinne neu gedacht. Kultur wird nicht mehr als durch Texte (oder andere Artefakte) geschaffen resp. manifes‐ tiert angesehen, sondern eben auch durch „Performances“, die eine ebenso konstituierende Funktion für Kultur besitzen. 20 Dadurch rücken neue Gegenstände in den Blick der For‐ schung. Der amerikanische Ethnologe Milton Singer führt den Begriff der cultural perfor‐ mance ein, den er bestimmt als: „particular instances of cultural organization, e.g. weddings, temple festivals, recitations, plays, dances, musical concerts etc.“ 21 Nach Singer formuliert eine Kultur in derartigen cultural performances ihr Selbstverständnis und Selbstbild, das sie so vor ihren Mitgliedern und Fremden dar- und ausstellt: For the outsider, these can conveniently be taken as the most concrete observable units of the cultural structure, for each performance has a definitely limited time span, a beginning and an end, an organized programme of activity, a set of performers, an audience and a place and occasion of performance. 22 Unter anderem diese offene Definition von performance führt in den 1970er Jahren dazu, dass sich die sozialwissenschaftliche und die theaterwissenschaftliche Forschung annähern. Auch der britische Ethnologe Victor Turner beschäftigt sich mit cultural performances, d. h., mit einer bestimmten Art davon. Er untersucht die Parallelen, die das Ritual mit dem Theater hat und definiert das Ritual als Schwelle oder Übergang „zwischen zwei stärker gefestigten Feldern kultureller Aktivität.“ 23 Die Eigenschaft der Liminalität ist für die De‐ finition der Performativität in verschiedenen Bereichen sehr wichtig geworden 24 und wird 28 2 Literarische Performativität 25 Vgl. z. B. die Dissertation von Heiniger, Anna Katharina: On the Threshold. Experiencing Liminality in the Íslendingasögur. Reykjavík 2018. 26 Vgl. z. B. www.performance.uni-hamburg.de. (Abgerufen am 26.02.2020) 27 Posselt, Gerald und Matthias Flatscher: Sprachphilosophie - Eine Einführung. Wien 2016, S. 240. 28 Barton und Nöcker: Performativität, S. 415. 29 Barton und Nöcker: Performativität, S. 415. 30 Posselt und Flatscher: Sprachphilosophie, S. 243. auch in der altnordischen Mediävistik diskutiert. 25 In Singers und Turners Nachfolge ent‐ wickelt sich ein breites neues Forschungsfeld, das sich mit je unterschiedlichen Arten von cultural performances auseinandersetzt: Alle kulturellen Praktiken, denen eine bestimmte Aufführungsdimension eigen ist - z. B. Feste und Spiele, aber auch Vorträge oder Filmvor‐ führungen - werden in diesen performance studies in den Blick genommen. Ganz gemäss der eigenen Definition beschäftigen sich die performance studies jedoch nicht nur auf einer Reflexionsebene mit solchen kulturellen Praktiken, sondern auch auf einer ausführenden bzw. selbsttätigen Ebene. Künstlerische und wissenschaftliche Herangehensweise über‐ kreuzen sich. 26 Die Philosophin Judith Butler interessiert sich ebenfalls für die performativen Sprechakte und könnte daher gut auch bei den sprachphilosophischen Theorien genannt werden. Sie dehnt ihren Gebrauch allerdings auch auf nichtsprachliche Akte aus und bringt den Körper, Politik und Gesellschaft in den Blick: [Es] zeigt sich, dass die Frage, wie das komplexe Verhältnis von Sprechen und Handeln zu denken ist, immer auch auch ein körperliches Subjekt impliziert, das geschlechtlich und ethnisch kodiert ist und das durch Formen der Anrufung und der Adressierung gleichermassen konstituiert und bedroht wird. 27 Im Rahmen der gender studies analysiert sie „[…] unter Bezugnahme u. a. auf Austin, Turner, Derrida und Jacques Lacan - mit der Kategorie der ‚Performativität‘ die kulturelle Konsti‐ tution des sozialen und des biologischen Geschlechts (gender vs. sex). 28 Butler untersucht Performativität unter einer diskurstheoretischen Perspektive „als die ständig wiederho‐ lende und zitierende Praxis, durch die der Diskurs die Wirkung erzeugt, die er benennt.“ 29 Damit schliesst sie an demselben Punkt in Austins Theorie an wie Derrida. Allerdings fo‐ kussiert sie nicht auf sprachliche Äusserungen, sondern auf körperliche Handlungen: Sprechen selbst ist ein körperlicher Akt, der von körperlichen Gesten begleitet, durch diese ersetzt oder konterkariert werden kann. So kann der mit einer performativen Äusserung vollzogene Sprechakt durch die Körpersprache oder begleitende Handlungen unterminiert oder in sein Ge‐ genteil verkehrt werden. Umgekehrt reicht manchmal eine einfache körperliche Geste, um einen wirkungsvollen Sprechakt zu vollziehen. In diesem Sinne markiert der Körper nach Butler „die Grenze der Intentionalität des Sprechaktes“: Als ein grundlegend körperlicher Akt sagt der Sprechakt immer mehr oder sagt es in anderer Weise, als er es sagen will, wobei es nicht nur das Subjekt, sondern auch der Körper ist, der „spricht“. 30 Wie Derrida sieht Butler die Möglichkeit des Misslingens als notwendige Möglichkeit eines jeden Sprechaktes. Sie führt weiter aus, dass gerade dadurch, dass jeder Sprechakt ein kör‐ perlicher und damit teils unbewusster Akt ist, sich dieser auch immer einer intentionalen 29 2.2 Forschungsüberblick 31 Posselt und Flatscher: Sprachphilosophie, S. 247. 32 Hetzel, Andreas: Performanz, Performativität. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 10: Nach‐ träge A-Z, Tübingen 2012, S. 839-862, hier S. 851. 33 Hetzel: Performanz, Performativität, S. 851. 34 Fischer-Lichte: Grenzgänge, S. 15f. 35 Bucher, André: Text und Performanz. Walter Serners Kriminalgeschichten. In: Sabel, Barbara und André Bucher (Hg.): Der unfeste Text. Perspektiven auf einen literatur- und kulturwissenschaftlichen Leitbegriff. Würzburg 2001, S. 7-23, hier S. 12. Kontrolle entzieht. Butler interessiert sich für die Gewalt, die mit Sprache ausgeübt werden kann und kommt so in das Feld der politischen Sprache. Auch hier schliesst sie an Derrida an und übernimmt den Begriff der Iterabilität und entwickelt ihn weiter im Hinblick auf seine ethischen und politischen Konsequenzen. 31 Während die sprachphilosophische Strömung der Performanzdiskussion an Fluss verlor, erlebt sie in kulturwissenschaftlicher Ausrichtung seit den 1990er Jahren eine neue Blüte. Die Entwicklungen, welche die Literaturwissenschaft stark mit der Kulturwissenschaft verbunden denken, führen dazu, dass die beiden Disziplinen im Bereich des Performativen eng verknüpft sind. Andreas Hetzel verortet den Aufschwung des Performativen im deutschsprachigen Raum v. a. in dem von der DFG geförderten Sonderforschungsbereich Kulturen des Performativen: „Performativität wird in den entsprechenden Teilprojekten we‐ niger als neues Paradigma beansprucht, denn als offenes Forschungsprogramm, als Kon‐ stellation kulturwissenschaftlicher Fragen inhaltlicher und methodologischer Art.“ 32 Hetzel sieht diese Offenheit als Möglichkeit, sich neueren Kunstformen zu nähern: „Gerade für das Verstehen neuerer Kunst- und Kulturformen erweist sich der performative turn der Kunstwissenschaften dabei als äusserst fruchtbar, scheitern hier doch, wie Fischer-Lichte betont, traditionelle ästhetische Leitunterscheidungen wie die zwischen Werk, Produzent und Rezipient.“ 33 Dass sich diese Offenheit nicht nur für die Erforschung neuerer Kunst‐ formen als hilfreich erweist, sondern auch bei der Arbeit an vormodernen Kulturphäno‐ menen, zeigt sich in der breiten Annahme des Diskurses. Die strikte Trennung in ein „vor“ und „nach“ dem performative turn, wie sie u. a. Fischer- Lichte konstatiert, ist aber nicht sinnvoll. 34 Zwar treten mit dem performative turn neue Aspekte von Kultur in den Blick und der bisher vernachlässigte Bereich des Performativen rückt in den Fokus. Aber es ist nicht hilfreich, den bisherigen Textbegriff zugunsten eines Performancebegriffs aufzugeben. Besser ist es, das Performative im Rahmen des Textes zu betrachten. So sagt z. B. André Bucher: Denn der Text hat selbst eine eminent performative Dimension, die sich zwar im Konkreten von derjenigen einer künstlerischen Performance unterscheidet, im Prinzipiellen aber keineswegs. Auch ein Roman muss geschrieben und gelesen werden, auch ein Theaterstück inszeniert und die Inszenierung rezipiert, auch ein Gedicht muss vorgetragen oder still im Fauteuil goutiert werden, und ohne diese Vollzüge sind sie nicht. 35 Ein Text existiert nicht ohne Performanz, umgekehrt gibt es keine Performanz ohne Text. Daher lohnt sich die Unterscheidung zwischen einer Kultur des Textes und einer postmo‐ dernen Kultur der Performance nicht: „Auch die klassischen Formen der Repräsentation, etwa das aristotelische Drama oder der Entwicklungsroman, sind eminent performativ, 30 2 Literarische Performativität 36 Bucher: Text und Performanz, S. 12. 37 Bucher: Text und Performanz, S. 12f. 38 Bucher: Text und Performanz. S. 13. 39 Culler, Jonathan: Literaturtheorie - Eine kurze Einführung. Übers. aus dem Englischen von Andreas Mahler. Stuttgart 2002, S. 140. Original: Culler, Jonathan: Literary Theory: A Very Short Introduction. Oxford 2011. 40 Culler: Literaturtheorie, S. 141. sofern sie ihre Inhalte nicht nur bezeichnen oder abbilden, sondern überhaupt erst hervor‐ bringen.“ 36 Es sollte folglich nicht zwischen dem Text und der Performanz unterschieden werden, sondern zwischen zwei Dimensionen des Textes: Jeder Text hat eine repräsentative und eine performative Dimension. Erstere „qualifiziert den Text hinsichtlich dessen, was er repräsentiert, hinsichtlich der symbolischen Bedeutungen, die er aufgreift aus dem - historisch, topologisch, metaphysisch oder wie auch spezifizierten - Reservoir des Imagi‐ nären, die er in je spezifischer Weise akzentuiert oder überhaupt erst als solche hervorbringt.“ 37 Die performative Dimension jedoch betrifft den Effekt und die Wirkung, die der Text auslöst. Es geht dabei um die Aufführungsresp. die Vollzugsmomente des Textes sowie die damit verbundenen Veränderungsprozesse. Sowohl die repräsentative als auch die performative Dimension des Textes wirken zusammen, sie sind nicht klar trennbar. Das Was der Darstellung ist notwendig an konkrete Akte und Vollzüge gebunden, die es hervorbringen und immer neu aktualisieren, das Wie wiederum lässt sich nur durch das hindurch fassen, was die Darstellung selbst hervorbringt, oder unter Umständen auch hin‐ tertreibt.“ 38 Mit diesen Beobachtungen wird die enge Verknüpfung des kulturwissenschaft‐ lichen Diskurses mit demjenigen der Literaturwissenschaften deutlich. 2.2.3 Neuere und ältere Literaturwissenschaft Auch in der Literaturwissenschaft entwickelt sich ein eigener Begriff des Performativen resp. von Performativität und einige der oben beschriebenen Diskurse haben sich auf das literaturwissenschaftliche Verständnis ausgewirkt: „In der Literaturtheorie ist immer wieder darauf hingewiesen worden, dass das, was Literatur tut, mindestens genauso viel Beachtung verdiene wie das, was sie sagt […].“ 39 Jonathan Culler vergleicht die literarische mit der performativen Äusserung und stellt fest, dass beide sich nicht auf eine bereits ge‐ gebene Situation beziehen und beide weder wahr noch falsch sind. Zusammenfassend par‐ allelisiert Culler: Kurzum, das Performative lässt einen Sprachgebrauch mit einem Mal zentral erscheinen, der bis dahin immer nur als marginal gegolten hat - einen aktiven, weltentwerfenden Sprachgebrauch, der Ähnlichkeiten zur literarischen Sprache aufweist -, und es bringt uns dazu, Literatur als Handlung oder Ereignis aufzufassen. 40 Auf den Aspekt der Literatur als Ereignis wird später zurückzukommen sein. Es stellt sich zuerst die Frage, inwiefern die literarische Sprache performativ ist bzw. im Sinne von Aus‐ tins Sprechakttheorie glücken oder nicht glücken kann. Durch das Modell des Performa‐ tiven wird nach Culler die Aufmerksamkeit auf die Konventionen gelenkt, die es einer Äusserung ermöglichen, ein Versprechen oder eben Literatur (z. B. ein Sonett) zu sein: „Das 31 2.2 Forschungsüberblick 41 Culler: Literaturtheorie, S. 142. 42 Culler: Literaturtheorie, S. 142. 43 Barton und Nöcker: Performativität, S. 418. 44 Barton und Nöcker: Performativität, S. 418. 45 Barton und Nöcker: Performativität, S. 418. 46 Culler: Literaturtheorie, S. 143. 47 Culler: Literaturtheorie, S. 144. Wiederholung und Wiederholbarkeit werden auch für die Lektüre der Prosa-Edda zentral, vgl. Kapitel 2.4.2. Glücken einer literarischen Äusserung könnte somit auch von ihrem Verhältnis zu den Konventionen einer literarischen Gattung abhängen. Fügt sie sich den Regeln und gelingt dementsprechend als Sonett oder geht sie daneben? “ 41 Weitergedacht könnte das bedeuten, dass ein literarisches Werk erst dann geglückt ist, „wenn es durch Veröffentlichung, Lektüre und allgemeine Anerkennung in vollem Umfang zu Literatur geworden ist, genauso wie eine Wette erst dann zur Wette wird, wenn sie als solche anerkannt wird.“ 42 Das Glücken eines Sprechaktes hängt laut Austin u.a. davon ab, ob er in einem angemes‐ senen Kontext gesprochen wird und z.B. durch die Institution der Kirche oder des Gesetzes legitimiert ist. In gleicher Weise funktionieren auch Texte, die institutionell eingebunden sind (bspw. Gesetzestexte oder Urkunden). Geht man davon aus, dass ein Text das tut, wovon er handelt bzw. die darin thematisierte neue Wirklichkeit auch aussertextuell herstellt (also per‐ formativ ist), so stellt sich die Frage, ob und inwiefern auch literarische Texte, die institutionell nicht gebunden sind, die Wirklichkeit, auf die sie verweisen, erschaffen. Der Begriff des Performativen in der Literaturwissenschaft entwickelt sich vom Sprechakt hin zu Schreib- und Leseakten. Einer der Gründe dafür ist die ursprüngliche Eingrenzung des Begriffs des Performativen auf „realweltliche“ Äusserungen (Austin sieht in der Lite‐ ratur und im Theater nur „parasitäre Formen“ von Sprache). Roland Barthes und Jacques Derrida sind für diese Entwicklung prägend: „Roland Barthes […] setzt Performativität mit Selbstreferentialität gleich. Im Akt des Schreibens, den er als ein Performativ (im Sinne Austins) auffasst, habe die Äusserung keinen anderen Inhalt (keinen anderen Äusserungs‐ gehalt) […] als eben den Akt, durch den sie sich hervorbringt.“ 43 Barthes sieht das Schreiben als ursprungslos und als Gewebe, bestehend aus unzähligen Zitaten an. 44 Auch bei Derrida besteht ein Text aus Zitaten und der Fokus rückt vom Schreiben auf das Lesen: im Leseakt werden diese Zitate in den Leser eingeschrieben. 45 Um nochmals mit Culler zu sprechen: Aber das, argumentiert Derrida, was Austin im Verweis auf so genannte „Normalbedingungen“ ausgrenzt, sind genau die vielfältigen Möglichkeiten, sprachliche Elemente zu wiederholen - und zwar „unernst“, aber auch ernsthaft wie etwa in einem Beispiel oder einem Zitat […] Die Wieder‐ holbarkeit ist ein Grundmerkmal von Sprache, und gerade Performative funktionieren nur dann, wenn sie als Versionen oder Zitate regelgeleiteter Formeln erkannt werden wie etwa: „Ja, ich will“ oder: „Ich verspreche es“. 46 Derrida spricht von einer Grundeigenschaft der Sprache, die er als „generelle Iterabilität“ bezeichnet. Erst durch die Möglichkeit der Wiederholung bekannter Handlungsgewohn‐ heiten (in ernsten wie auch unernsten Kontexten) kann Sprache Handlungen vollziehen und ist nicht nur Übermittler von Informationen. 47 32 2 Literarische Performativität 48 Sasse: Performativität, S. 252. 49 Sasse: Performativität, S. 254. 50 Fischer-Lichte, Erika: Performativität. Eine Einführung. Bielefeld 3 2016 [2012] (= Edition Kulturwis‐ senschaft 10). 51 Fischer-Lichte: Performativität. Eine Einführung, S. 136. Silvia Sasse unterscheidet zwischen zwei möglichen Herangehensweisen in der Literatur‐ wissenschaft: Einerseits spricht man von Performativität oder der Performanz literarischer Texte: […] und bezieht sich auf das Konzept literarischer Performativität bzw. Performanz: auf die Lite‐ rarizität oder Rhetorizität von Sprache. Oder man bezieht sich auf Texte in Performanz, wobei es sich dann um das mediale, situative Bewegen von Texten in Aufführungssituationen, beim Lesen, in Installationen, Aktionen, Filmen handelt - also in künstlerischen Prozessen oder in Prozessen, in denen diese literarischen Texte auftauchen, etwa in den Medien, in der Literaturwissenschaft oder auch vor Gericht. 48 Zum ersten Punkt (literarische Performativität bzw. Performanz) führt Sasse die von der Sprechakttheorie inspirierte Forschung „zur Wirkungsästhetik und Rezeptionsästhetik li‐ terarischer Texte“ an. Auf der anderen Seite kann man von Performance und Performanz in Verbindung mit literarischen Texten sprechen, wenn Texte in bestimmte Kontexte, die den Text kommentieren, gestellt werden. Es geht dann nicht mehr um ihre Textualität, sondern um den Prozess des Aufführens, Ausstellens und Lesens: Dann erscheint die Ereignishaftigkeit von Texten in konkreten Lesesituationen, Installationen oder Aufführungen mit der Ereignishaftigkeit des Textes, seine Performanz mit einer anderen Perfor‐ manz oder Performance konfrontiert. Dabei trifft das raumzeitliche Verhältnis des Textes auf den Raum und die Zeit des Vortrags (konkret erzählte Zeit auf Erzählzeit), die Stimmen des Textes auf die Stimme, die den Text spricht. 49 Obwohl Erika Fischer-Lichte in ihrer Einführung in die Performativität klar einen Schwer‐ punkt auf den Aufführungsbegriff setzt, widmet sie einen Teil ihrer Ausführungen dem Performativen in der Literatur. Sie grenzt dabei literarische Texte von institutionell ge‐ stützten Texten wie z. B. Gesetzestexten oder heiligen Texten ab, ebenso von sog. „verkör‐ perten Texten“ wie slam poetry etc., denen eine Aufführungssituation zugrunde liegt. 50 Fischer-Lichte sieht in der Literaturwissenschaft die Hauptfrage in Bezug auf das Perfor‐ mative darin, „inwiefern literarische Texte etwas zu erzeugen vermögen, was sie selbst noch nicht sind.“ 51 Sie fasst zusammen - und daran lässt sich auch für eine Lektüre der Prosa- Edda anschliessen - was sie unter darunter versteht, literarische Texte unter der Perspektive des Performativen zu betrachten: [das] heisst also, ihre Verfahren offenzulegen, mit denen sie eine neue, ihre eigene, Wirklichkeit konstituieren, und den Möglichkeiten nachzuspüren, wie sie durch diese Wirklichkeit auf ihre Leser einzuwirken vermögen, und vermittelt über die Leser ein kulturelles Wirkpotenzial zu ent‐ falten. Wie sich gezeigt hat, sind literarische Texte - auch in dieser Hinsicht Sprechakten, sym‐ bolischen körperlichen Handlungen und Praktiken und Aufführungen vergleichbar - von Unvor‐ 33 2.2 Forschungsüberblick 52 Fischer-Lichte: Performativität. Eine Einführung, S. 145. 53 Fischer-Lichte: Performativität. Eine Einführung, S. 138. 54 Velten: Performativitätsforschung, S. 549. 55 Für den Präsenzbegriff prägend (jedoch nicht unumstritten) ist: Gumbrecht, Hans Ulrich. Diesseits der Hermeneutik - Die Produktion von Präsenz. Frankfurt a. M. 2004; Erläuterungen auch in: Grag‐ nolati, Manuela und Almut Suerbaum: Introduction. In: Aspects of the Performative in Medieval Cul‐ ture. Dies. (Hg.), Berlin/ New York 2010 (= Trends in Medieval Philology 18), S. 1-15. hersehbarkeit der Lektüre, Ambivalenzen und transformativer Kraft gekennzeichnet, die den Leser für die Zeit der Lektüre und vielleicht sogar über sie hinaus nachhaltig zu verwandeln vermag. 52 In ihrer Einführung fasst Fischer-Lichte zwei Prämissen für die Untersuchung zur Perfor‐ mativität von Texten zusammen: Einerseits wird Lesen als ein Akt der Inkorporation voll‐ zogen und kann damit als Verkörperungsprozess begriffen werden. Weil der Leser in die Welt des Textes eintaucht, kommt er in einen liminalen Zustand, der verschiedene Trans‐ formationen ermöglicht. 53 Zusammenfassend kann man den Diskussionsverlauf in den Literaturwissenschaften als eine Verschiebung der Perspektive weg von der Textbedeutung hin zur Textwirkung be‐ schreiben. Es geht nicht mehr um die Repräsentations- oder Bedeutungsfunktion von Texten, sondern um ihre Handlungs- und Erzeugungsfunktion. Gleichzeitig richtet sich der literaturwissenschaftliche Blick auf die Inszenierung, die Medialität sowie die Selbstrefe‐ rentialität von Texten. 54 Mittlerweile wird die Performativität von Texten auf zwei Ebenen analysiert, die weiter unten genauer beschrieben werden: Die sogenannt strukturelle Per‐ formativität fokussiert darauf, wie der Text macht, wovon er spricht, oder gegebenenfalls etwas Anderes macht, als er behauptet. Die funktionale Performativität hingegen unter‐ sucht, was ein Text beim Rezipienten auslöst. Auch in der mediävistischen Literaturwissenschaft hat das Begriffsfeld des Performativen grossen Einfluss gewonnen. Es werden ebenfalls verschiedene Ansätze verfolgt und wie‐ derum lässt sich keine allgemeingültige Theorie bestimmen. Im Folgenden werden wichtige Schritte in der Entwicklung der verschiedenen Ansätze vorgestellt. Diese tragen ihren Teil zum Zugang bei, der in dieser Arbeit verfolgt wird. Sie greifen in einzelnen Abschnitten bereits auf weiter unten vorgeschlagene Verbindungen in die mediävistische Skandinavistik vor. Viele der hier angeführten Gedanken werden für die Lektüre der P-E von Bedeutung sein, auch wenn sie hier erst unter einer allgemeinen Übersicht vorgestellt werden. Das Performative wird einerseits als wichtige neue Perspektive in unterschiedlichen me‐ diävistischen Philologien akzentuiert, andererseits wird die Arbeit mit dem Begriff gerade für Phänomene der Vormoderne als problematisch angesehen. Im Zug des performance turn der Kulturwissenschaften in den 1990er Jahren wird das Mittelalter verstärkt als eine per‐ formative Kultur bzw. eine Kultur der Performanz angesehen. Im Gegensatz zur Moderne/ Postmoderne, die dabei als Sinnkultur mit einem Fokus auf den Verstand und die Zeit be‐ schrieben wird, kann man das Mittelalter auch als eine Kultur der Präsenz bezeichnen. In einer derartigen Kultur ist die Wahrnehmung durch die körperlichen Sinne die Zugangs‐ form zu Welt bzw. zu Gott. Wichtige Aspekte sind dabei Räumlichkeit, Unmittelbarkeit und Körperlichkeit. 55 Manuele Gragnolati und Almut Suerbaum untersuchen in ihrem Sammel‐ 34 2 Literarische Performativität 56 Vgl. Gragnolati und Suerbaum: Aspects of the Performative, S. 2f. Die klare Zweiteilung in Gumbrechts Modell wird hier nicht weiterverfolgt, der Begriff des Präsenzeffekts ist in einer offeneren Auslegung jedoch hilfreich. 57 Gragnolati und Suerbaum: Aspects of the Performative, S. 2f. 58 Velten, Performativität, S. 229 sowie Bachorski, Hans-Jürgen et al.: Performativität und Lachkultur in Mittelalter und früher Neuzeit. In: Fischer-Lichte, Erika (Hg.): Theorien des Performativen. Berlin 2001 (= Paragrana 10/ 1), S. 157-191, hier S. 170f. Bachorski et al. beschreiben die historischen Impli‐ kationen des Performativen für den Übergang zwischen Mittelalter und früher Neuzeit mit einem „performativen Turn“ von einer Aufführungskultur zu einer Textkultur: „Zu beobachten sind in diesem Zeitraum eine generelle Abnahme, ein Verblassen (fading out) performativer Praktiken und eine gleichzeitige Zunahme textueller Repräsentation, kurz gesagt: ein Wandel von einer Auffüh‐ rungskultur der körperlich-stimmlichen Präsenz zu einer Textkultur mit festen Texten als semioti‐ schen Bedeutungsträgern. Dieser „turn“ beinhaltet nicht einfach eine Ablösung von verschiedenen Kultursystemen, sondern die graduelle Übernahme von Funktionen der Performanz durch Texte, sowie ihre Veränderung bzw. Verschiebung. Dabei sind die Schrifttexte in dieser Übergangszeit in hohem Masse selbst performativ, da sie mit verschiedenen Formen der Aufführung noch stark ver‐ bunden sind, sich mit ihnen vermischen und überlagern.“ 59 Velten, Performativität, S. 229. band von 2010 Aspekte des Performativen in der mittelalterlichen Kultur und heben dabei sog. Präsenzeffekte als wichtig hervor.  56 Verhandlungen der performativen „Präsenz- Kultur“ kann man in kulturellen Erzeugnissen wie z. B. in Texten finden. Die Bedeutung von Körper und Raum als Mittel über und durch das man kommuniziert, wird für und in den neu aufkommenden medialen Möglichkeiten des Mittelalters aktualisiert. Ein Text sollte dieselbe Präsenz haben wie der menschliche Körper: Study of the performative aspects of medieval culture allows a focus on the ways in which medieval texts, but also medieval forms of recording human behaviour and action, manage to convey both presence and absence simultaneously, thereby creating a space which is open to interpretation. In other words, medieval culture could be thought of as a culture in which the written text is endowed with potential to create presence or indeed as a culture of presence that is at the same time aware of the fact that it is liable to be given meaning through interpretation. 57 Eine performative Perspektive auf mittelalterliche Texte bedeutet dementsprechend zu sehen, inwiefern ein schriftlicher Text über seine paradoxe Wirkkraft reflektiert oder über die Unter‐ schiede zur mündlichen Äusserung nachdenkt. Die Macht des geschriebenen Wortes muss sich erst über die Zeit hin entwickeln. In Gebrauchstexten wie z.B. Urkunden etc. bedarf es lange der gleichzeitigen Machtpräsenz oder Machtdemonstration (z.B. durch Siegel). Ebenfalls mit dem Präsenzbegriff arbeitet Hans Rudolf Velten. Er verbindet ihn mit dem Begriff der Aufführung: Weil im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit die Schriftkultur und die mündliche Kultur eng verwoben sind und die Schrift dazu dient, mündliches und kör‐ perliches Wissen zu fixieren und für die neuen medialen Möglichkeiten anzupassen, kann man die mittelalterliche Kultur als eine Aufführungskultur bezeichnen. 58 Velten führt aus: Das Performative spielt als wesentlicher Bestandteil von Präsenz in zahllosen kulturellen Akten wie repräsentativen Herrschaftszeichen, Zeremonial- und Symbolhandlungen, ritualisierten Gesten, Spiel und Wettkampf, in den Inszenierungen von Ritualen religiöser und weltlicher (etwa politischer) Prägung, und eben auch in den verschiedenen Formen der Dichtung und künstleri‐ schen Darstellung eine grosse Rolle. 59 35 2.2 Forschungsüberblick 60 Eming, Jutta: Vorwort. Dies. et al. (Hg.): Mediale Performanzen: Historische Konzepte und Perspek‐ tiven. Freiburg i.B. 2002 (= Litterae 97), S. 9-21, hier: S. 9f. Zum performative turn zwischen Mit‐ telalter und früher Neuzeit, vgl. Fussnote 58 ebd. In literarischen und gelehrten Texten - und damit auch in der P-E - bietet sich die Mög‐ lichkeit, derartige kulturellen Bedeutungsverschiebungen zu thematisieren. Als problematisch wird eine performative Perspektive auf vormoderne Phänomene manchmal deshalb angesehen, weil keine eigene mittelalterliche Theoriebildung zu Fragen des Performativen besteht und mit moderner Theorie an die Kultur des Mittelalters her‐ angegangen wird. Wie alle Disziplinen, die historische kulturelle Praktiken zum Gegen‐ stand haben, kann die mediävistische Literaturwissenschaft keine kulturellen Performances mehr beobachten. Es bleibt für immer unklar, wie diese ausgesehen haben, da weder Tonnoch Bildaufnahmen davon existieren. Erhalten sind einzig Texte, in denen mögliche Spuren solcher Performances enthalten sind - quasi zur Schrift erstarrte Performances. Das Problem einer solchen Auffassung ist, dass immer danach gefragt werden muss, inwiefern sich etwas durch eine Performance Aufgeführtes durch Schrift vermitteln lässt (bzw. auch durch Film- oder Tonaufnahmen). Zwar ermöglicht die Schrift eine Fixierung der flüchtigen Aufführung, sie erlaubt aber auch, die Aufführung umzudeuten und ihr neue Bedeutung zu verleihen. Inwiefern eine verschriftlichte Aufführung eine „reales Aufführungsereignis“ exakt abbildet, kann also nicht mehr bestimmt werden. Wie sich in den hier vorgestellten Überlegungen zum Performativen in vormodernen kulturellen Phänomenen zeigt, muss das aber auch nicht das Ziel sein. So sagt z. B. Jutta Eming (ähnlich wie bereits oben Grag‐ nolati und Suerbaum), dass sich Untersuchungen mit einer performativen Perspektive durchaus lohnen, denn performative Kulturen zeichnen sich immer auch durch ein Reden über performative Phänomene bzw. deren Gestaltung aus. Derartige selbstreflexive Mo‐ mente sind spannend und lohnen eine genaue Untersuchung. Eming sagt zum wichtigsten vormodernen performativen Turn und dessen Reflexion in textuellen Medien: Der zentrale performative turn des 11. und 12. Jahrhunderts, die Etablierung einer Handschrif‐ tenkultur in der Volkssprache, kann beispielsweise nicht ohne Rekurs auf die körpergebundene mündliche Kommunikationssituation erfasst werden. Im Vordergrund steht damit die Frage, wie eine auf Visualität, Mündlichkeit und Performanz basierende Kultur mit textuellen Medien vermittelt wird. Zu den Formen, die sich aus mittelalterlichen Text- und Bildquellen ermitteln lassen, gehören Phänomene inszenierter Körperlichkeit, simulierter Akustik und Visualität, Strategien der Wahrnehmungssteuerung und der affektiven und sinnlichen Beteiligung von Rezipienten. 60 Inszenierte Körperlichkeit und simulierte Akustik bzw. Visualität können z. B. als ein Reden über das Performative gedeutet werden. Ebenso verschiedene Strategien der Wahrneh‐ mungssteuerung oder der Beteiligung des Rezipienten (sowie auf der nächsten Beobach‐ tungsebene die Verhandlung solcher Wahrnehmungssteuerung). Eine forschungsgeschichtliche Wurzel des Performativen in der Mediävistik ist die Orali‐ tätsforschung, die in den 1920er Jahren ihren Anfang nahm und stark von Milman Parry 36 2 Literarische Performativität 61 Vgl. z. B. Parry, Milman: The Making of Homeric Verse: The Collected Papers of Milman Parry. Milman, A. (Hg.), New York 1987; Lord, Albert Bates: The Singer of Tales. Mitchell, Stephen (Hg.), Cambridge 3 2003 (= Harvard Studies in Comparative Literature 24). 62 Ong, Walter J.: Orality, Literacy, and Medieval Textualisation. In: New Literary History 16 (1984), S. 1- 12. Vgl. weiterführend auch Ongs bekanntestes Werk: Orality and Literacy. The Technologizing of the Word. London 1982. Ebenfalls einflussreich waren die Studien von Jack Goody. 63 Vgl. Heslop, Kate u. Jürg Glauser (Hg.): RE: writing. Medial perspectives on textual culture in the Ice‐ landic Middle Ages. Zürich 2018 (= Medienwandel - Medienwechsel - Medienwissen 29). 64 Gragnolati und Suerbaum (Hg.): Medieval Culture ‘betwixt and between’, S. 2. 65 Für einen Überblick vgl. z. B. Mitchell, Stephen: Performance and Norse Poetry: The Hydromel of Praise and the Effluvia of Scorn. The Albert Lord and Milman Parry Lecture for 2001 (= Oral Tradition, 16/ 1), S. 168-202, hier S. 169; Andersson, Theodore M.: The Problem of Icelandic Saga Origins: A Historical Survey, Yale 1964 (= Yale Germanic Studies 1); Byock, Jesse: Saga Form, Oral Prehistory, and the Icelandic Social Context, 1984 (= New Literary History 16), S. 153-73. Vgl. auch Kapitel 2.2.4 für eine Übersicht über die Entwicklungen des Performanzbegriffs in der Skandinavistik. und seinem Schüler Albert Bates Lord geprägt wurde. 61 Untersuchungen in ihrer Tradition stellen die Mündlichkeit vormoderner Gesellschaften als alleinige Medialität dar und be‐ schränken ihre Perspektive darauf. Mit Walter J. Ong erlebte der Begriff der Oralität in den 1980er Jahren wieder einen grossen Aufschwung. In seinem Aufsatz Orality, Literacy, and Medieval Textualisation fordert er die methodische Bearbeitung mündlicher Überliefe‐ rung. 62 Mit dem Begriff der Medialität wird diese Diskussion aktuell wieder aufgenommen und auch in der skandinavistischen Mediävistik untersucht. 63 Im Anschluss an Ong finden sich Positionen, die das enge Neben- und Miteinander von Schriftlichkeit und Mündlichkeit im Mittelalter herausstellen und die Untersuchungen ab‐ seits vom reinen Text ermöglichen. Almut Suerbaum und Manuele Gragnolati bezeichnen die mittelalterliche Kultur denn auch als „betwixt and between“: On the one hand, medieval culture is seen as dominated by the transition from orality to literacy, by a focus on writings, signs, signification, and hermeneutics. On the other hand, aspects of ritual, gesture, and process are at the forefront of current interest. […] Yet the question arises whether such polar oppositions really capture the characteristics of a culture which so often favoured tripartite rather than bipartite structuring, and whether in fact medieval culture is best understood as inhabiting the liminal space, in other words, whether it should, in the title of a recent study, be seen as situated ‚between body and writing‘. 64 In der skandinavistischen Mediävistik beschäftigte eine ähnlich gelagerte Frage: Nämlich die, ob die nordische Literatur ein einheimisches oder ein durch eine Obrigkeit wie die Kirche oder den Adel eingeführtes Produkt sei. Im selben Zusammenhang steht die Frage, ob es sich bei der Sagaliteratur um Geschichtsschreibung (resp. -erzählung) oder um Fiktion handelt. Die sogenannte Freivs. Buchprosa-Debatte zog sich über viele Jahrzehnte hin und sorgt teilweise noch heute für Diskussionen. 65 Der Romanist Paul Zumthor ist in den 1970er Jahren einer der frühesten Verfechter des Performanzbegriffs in der Mediävistik. Er widmete sich dem Begriff von literaturwissen‐ schaftlicher Seite her, versuchte aber ethnologische, theaterwissenschaftliche und sprach‐ philosophische Ansätze miteinander zu verbinden, um so mittelalterliche Liedvorträge sys‐ tematisch analysieren zu können. Hans Rudolf Velten sagt über seine Studien: „Zumthor 37 2.2 Forschungsüberblick 66 Velten: Performativität, S. 220. 67 Velten: Performativität, S. 224f. 68 Müller, Jan-Dirk: Paul Zumthor: Das Mittelalter und die Stimme. In: Grundlagen der Literaturwis‐ senschaft. Exemplarische Texte. Dotzler, Bernhard (Hg.), Köln 1999, S. 169-187, hier S. 170. 69 Rosenstein, Roy: Mouvance. In: Handbook of Medieval Studies. Terms - Methods - Trends. Classen, Albrecht (Hg.), 2010. www.degruyter.com/ view/ product/ 40828. S. 1547. (Abgerufen am 26.02.2020) 70 Für eine umfassende und etwas anders ausgerichtete Diskussion als bei Zumthor vgl. auch Cerquig‐ lini, Eloge de la variante. griff bereits 1972 in seinem Essai de poétique médievale, basierend auf der Grundannahme der Theatralität mittelalterlicher Dichtung, auf den Begriff der performance zurück, um damit die Vokalität und multisensorische Wahrnehmung von künstlerischen Aufführungen zu beschreiben.“ 66 Zumthor schläg den Begriff der vocalité anstelle von oralité für die mit‐ telalterliche Kultur vor. Obwohl die Schrift bekannt ist (und mittelalterliche Literatur heute nur noch als Schriftstück existiert), wird die volkssprachliche mittelalterliche Kultur von der Mündlichkeit bestimmt und die meisten Texte werden vor einem Publikum aufgeführt. Die menschliche Stimme ist das zentrale Medium, die Schrift kommt nur für ausgewählte Zwecke zum Einsatz. Für die Speicherung und Weitergabe von Wissen ist man sowohl auf die Mündlichkeit wie auf die Schriftlichkeit angewiesen. Mit dem Begriff der vocalité wird dieses mediale Miteinander bezeichnet. Deshalb ist es für die Mediävistik zentral, nicht nur den Text zu untersuchen, sondern auch dessen Aufführungsdimension. 67 Jan-Dirk Müller sagt über Zumthor: Er hat […] die Materialität literarischer Kommunikation ins Zentrum der Forschung gerückt, an‐ gefangen von Stoff und Gestaltung der einzelnen Manuskriptseite über die Überlieferungsge‐ schichte bis hin zu der den Texten immanenten Theatralität. Er hat schliesslich das Konzept von mittelalterlicher „Literarität“ von den Vorgaben moderner Schriftkultur befreit, die bislang domi‐ nantes Modell philologischer Praxis war, hat zentrale literaturwissenschaftliche Begriffe wie ‚Text‘, und ‚Werk‘ für das Mittelalter historisch neu bestimmt und damit auch einer neuen Editionspraxis vorgearbeitet, die unter dem Titel ‚New Philology‘ auf eine Revision der Ausgaben mittelalterlicher Texte abzielt. 68 Das Handbook of Medieval Studies fasst die Auswirkungen des von Zumthor eingeführten Begriffs mouvance zusammen: Mouvance remains valid as principle, in theory, but impractical as textual methodology. In her‐ meneutics, however, it continues to define our conception of medieval textuality. Mouvance serves as a critical tool to be applied sparingly in recognizing and confronting the complex representation and interpretation of individual medieval works which are so rarely fixed in a single textual form other than as an always artificially reconstructed, pseudo-authorial archetype or as a sometimes arbitrarily selected, nominally best manuscript. For those who want „the whole story until now“, mouvance alone can accurately tell the tale through its ideal of respect for the multiple textual versions of a work in progress with all their variants, medieval and post-medieval, modern and now post-modern. 69 Zumthors Arbeiten sind wegweisend für die Mediävistik und prägen sie bis heute. 70 Er griff den Entwicklungen der new philology vor, deren Herangehensweise an vormoderne Texte 38 2 Literarische Performativität 71 Schaefer, Ursula: Vokalität. Ein Blick zurück in die Zukunft. In: Balladen-Stimmen. Vokalität als theo‐ retisches und historisches Phänomen. Glauser, Jürg (Hg.), Tübingen 2012, S. 5-21, hier S. 12. 72 Glauser, Jürg: Einleitung. In: Balladen-Stimmen, S. 1-5, hier S. 2. 73 Für Beispiele: Velten, Performativität, S. 229f.; Suerbaum und Gragnolati (Hg.): Medieval Culture ‘bet‐ wixt and between’, 2010. 74 Vgl. z. B. für die Germanistik: Däumer, Matthias: Stimme im Raum und Bühne im Kopf. Über das performative Potenzial der höfischen Artusromane. Bielefeld 2013; für einen Literaturüberblick in An‐ glistik und Romanistik z.B.: Vitz, Evelyn Birge et al. (Hg.): Performing Medieval Narrative. Cambridge 2005. 75 Vgl. z. B. Gvozdeva, Katja et al. (Hg.): Medialität der Prozession: Performanz ritueller Bewegung in Texten und Bildern der Vormoderne: Performance du Mouvement Rituel en Textes et en Images à l’Époque Pré-moderne = Médialité de la Procession. Heidelberg 2011 (= Germanisch-romanische Monatsschrift 39), S. 105-125. 76 Vgl. z. B. Eming, Jutta et al. (Hg.): Mediale Performanzen. Historische Konzepte und Perspektiven. Frei‐ burg i. B. 2002 (= Litterae 97). auch hier für den Umgang mit der P-E von grosser Bedeutung ist. In den beiden Lektüre‐ kapiteln wird das weiter thematisiert werden. Die Grenzen von Zumthors Begriffen liegen jedoch darin, dass sie in den uns überlieferten Texten nur eine Art Reduktionsform einer ursprünglichen Aufführung sehen und ein Text so nur noch eine Dokumentationsfunktion hat. Wie weiter unten beschrieben, fokussieren aktuelle Performativitätstheorien auf den Text selbst und seine Inszenierungsresp. Vollzugsdimension. Die Diskussion um die Gleichzeitigkeit von Mündlichkeit und Schriftlichkeit dauert dennoch an und Ursula Schaefer macht den Begriff der Vokalität dafür stark. Ihre Überle‐ gungen beruhen auf Zumthors Begriff der vocalité: Dieser Begriff [von dem, was kommuniziert wurde] muss zum einen der Tatsache Rechnung tragen, dass auf der Senderseite Schriftliches vorliegt, das auf der Empfängerseite hörend aufge‐ nommen wird. Wie - den gelungenen Kommunikationsakt vorausgesetzt - das Schriftliche ge‐ staltet sein muss, um hörend rezipiert und auch verstanden zu werden, bzw. wie der hörend Re‐ zipierende das Schriftliche versteht, kann schon aus diesem Grund mit einem Textbegriff, der Schreiben und Lesen, vokale Vermittlung und Hören nicht unterscheidet, kaum erfasst werden. Es ist deshalb erneut zuerst zu trennen zwischen schriftlichem und mündlichem Diskurs. 71 Auch in der Skandinavistik wird der Begriff der Vokalität prägend und zeigt sich u. a. für die Lektüre der skandinavischen Ballade als gewinnbringend. Denn diese können nach Jürg Glauser „geradezu als Texte ‚zwischen den Medien‘ - zwischen stimmlicher und (manu‐ skriptbzw. druck-) schriftlicher Transmission - bezeichnet werden.“ 72 Unter einer performativen Perspektive interessieren in der germanistischen Mediävistik zu Beginn vor allem literarische Gattungen wie der Minnesang, Sangspruchdichtung oder frühe geistliche Spiele, heute ist aber auch die Epik im Blick. 73 Ganz im Sinne Zumthors gibt es mehrere Studien zum performativen Potenzial mittelalterlicher Literatur. 74 Im Vor‐ dergrund stehen je nachdem Phänomene wie die Stimme und der Klang, bzw. körperliche Sinne wie das Hören. Ebenfalls von Interesse sind die Aufführungsdimensionen mittelal‐ terlicher Texte. 75 So werden beispielsweise durch Schrift vermittelte Rituale oder Prozes‐ sionen analysiert. Der enge Zusammenhang von Performativität und Medialität kommt auch in den Untersuchungen zur Botenkommunikation oder zum Briefwechsel im Mittel‐ alter zum Tragen. 76 Aktuell wird an einer Verbindung zwischen den Feldern der Performa‐ 39 2.2 Forschungsüberblick 77 Vgl. z. B. Eming, Jutta: Emotionen als Gegenstand mediävistischer Literaturwissenschaft. In: Journal of Literary Theory 1/ 2, 2008, S. 251-273. 78 Velten: Performativitätsforschung, S. 552. 79 Velten: Performativitätsforschung, S. 552. 80 Maassen, Irmgard: Text und/ als/ in der Performanz in der frühen Neuzeit: Thesen und Überlegungen. In: Theorien des Performativen. Paragrana 10/ 1, 2001, S. 291. tivität und der Emotionsforschung gearbeitet, hier sind weitere interessante Fragestel‐ lungen zu erwarten. 77 Wichtig für diese Arbeit sind zwei weitere Kategorisierungen, die in der (germanistisch-) mediävistischen Arbeit mit dem Performativen vorgenommen werden. Eine davon ist oben bereits kurz angesprochen worden und soll hier vertieft werden: Es hat sich als hilfreich erwiesen, eine Trennung von struktureller und funktionaler Performativität vorzunehmen. Funktionale Performativität fragt nach der Wirkung eines Textes, interessiert sich also für eine aussertextuelle Ebene an der Schnittstelle zum Rezipienten. Der Text stiftet Wirklich‐ keit durch Handlungsanweisungen (ein Dialog zwischen Handschrift und Rezipient wird aufgenommen), er fördert z. B. Gemeinschaft (durch die Stiftung des gemeinsamen kultu‐ rellen Gedächtnisses) oder er verändert diese durch die iterativen Inszenierungen be‐ stimmter Inhalte. Im Zusammenspiel mit der medialen Gestaltung wird dieser Wirkungs‐ anspruch gestärkt (oder eben nicht). Strukturelle Performativität interessiert sich demgegenüber für „Performanz im Text“, also z. B. für Strategien, die der Inszenierung von Präsenz, von Mündlichkeit und Körperlichkeit dienen. Dazu gehören beispielsweise fin‐ gierte mündliche Kommunikation, ereignishafte Ausrufe oder die Inszenierung von Emo‐ tionalität. 78 Velten macht aber auf einen wichtigen Punkt aufmerksam: Solche performativen Textstrukturen weisen jedoch weniger auf vorgängige Aufführungen hin, sondern sie sind bewusst gelegte Strategien der Schrift mit der Aufgabe, den Text selbst als Bühne von Aufführungen zu präsentieren. Indem solche Inszenierungen auf ihren eigenen, fingierten und artifiziellen Charakter zurückverweisen, können sie ein distanzierendes, sogar parodistisches Po‐ tential entfalten. 79 Auch Irmgard Maassen weist darauf hin, dass die genannten Textstrategien keine Spuren von „authentischeren oralen Praktiken“ sind, sondern bewusst gelegte Spuren einer Insze‐ nierung von Oralität und Authentizität in einer Schriftkultur. 80 Auch die Lektüren der P-E werden im Hinblick auf diese zwei Dimensionen differenziert. Anschliessend müssen sie jedoch wieder in ihrem Zusammenspiel betrachtet werden, da die eine Dimension nicht ohne die andere existiert. Es wird auch danach zu fragen sein, inwiefern sich die beiden Dimensionen entsprechen oder (bewusst oder unbewusst) Gegensätzliches bewirken. Die zweite der angesprochenen hilfreichen Kategorisierungen betrifft Hans Rudolf Veltens vier heuristische Ebenen zur Untersuchung von Performativität: Die erste Ebene ist die Darstellungsebene, auf der Performances und Handlungen im Text wiedergegeben und verstetigt werden. In der Oralitätsforschung richtet sich die Untersuchung dieser Ebene auf die Restbestände oder Spuren von Aufführungen oder Mündlichkeit. Mit einer performa‐ tiven Perspektive aber wird klar, dass der Text nicht nur als Hilfe für eine Rekonstruktion dient, sondern er „wirkt der Flüchtigkeit von Aufführungen und Gesten entgegen, indem 40 2 Literarische Performativität 81 Velten: Performativität, S. 227. 82 Velten: Performativität, S. 228. 83 Velten: Performativität, S. 228. 84 Velten: Performativität, S. 228. 85 Für einen ersten Überblick vgl. Lönnroth, Lars: Old Norse Texts as Performance. In: Scripta Islandica 60, 2009, S. 49-61. 86 Zur sogenannten Freivs. Buchprosadebatte vgl. auch Kapitel 2.2.3 zur Mediävistik allgemein. er sie fixiert und ihr kulturelles Wissen produktiv verarbeitet.“ 81 Wichtig ist diese Ebene für die Analyse von Re-Inszenierungen von face-to-face-Kommunikationen, Gesten und an‐ deren Körperinszenierungen in Texten. Auf der zweiten Ebene interessiert der vormoderne Text als Material für und von Performance, d. h. erst durch Aufführung wird er zu einem Werk: „Zentral ist dabei die Frage, inwieweit der Text etwa Regieanweisungen oder im aktionistischen Sprechen mit situativen Aktualisierungen kalkuliert, welche durch die von ihm angeregten Formen des Lesens, Vorlesens, Vortragens oder Aufführens entstehen.“ 82 Auch die Materialität des Textes an sich und wie er in aussertextuellen Inszenierungen thematisiert wird, steht auf dieser Ebene im Vordergrund. Für die vorliegende Arbeit wichtiger als die ersten zwei Ebenen sind Veltens dritte und vierte Ebene. Sie wiederspiegeln auf gewisse Weise auch die Kategorisierung von funktio‐ naler und struktureller Performativität. Die dritte Ebene (bzw. im Hinblick auf strukturelle Performativität) befasst sich mit der diskursiven Textebene: „Hier geht es darum, wie Per‐ formances in den narrativen oder dramatischen Vollzug integriert und simuliert werden. Dazu zählen sprachliche Inszenierungen, mittels deren der Text tut, wovon er spricht.“ 83 Auf der vierten Ebene (bzw. im Hinblick auf funktionale Performativität) wird die Erzeu‐ gung von aussertextueller Wirkung durch den Text analysiert. Einerseits geht es um die Fähigkeit von Texten, Rezipienten zu affizieren, also Gefühle auszulösen. Weiter gedacht geht es aber auch um die Fähigkeit des Textes Wirklichkeit herzustellen: Adressaten können modelliert werden, Diskurse, Emotionen, soziale Zusammenhänge und Ähnliches können konstituiert oder verändert werden. 84 Erst in der Verbindung dieser Ebenen bzw. den in ihnen angelegten Reflexionsmomenten wird das Performative zu einer nützlichen Unter‐ suchungsmethode und ermöglicht neue Zugänge zu vormodernen Texten. 2.2.4 Skandinavistik Zwar sind bereits einige Untersuchungen oder Forschungsprojekte in der Skandinavistik entstanden, die sich mit dem Begriff des Performativen den nordischen Materialien annä‐ hern. 85 Allerdings verfolgen diese einen anderen theoretischen Ansatz als die vorliegende Arbeit und so finden sich nur in gewissen Bereichen Anknüpfungspunkte, die für diese Arbeit hilfreich sind. Eine vertiefte Behandlung davon findet jeweils in den Lektürekapiteln statt. In indirekter Weise haben sich Skandinavisten schon früh für Aspekte des Performa‐ tiven interessiert. Die weitreichenden Diskussionen rund um die Herkunft der Sagaliteratur und die Wurzeln der nordischen Dichtung drehen sich unter anderem um die Frage, ob man von einer mündlichen Entstehung bzw. spontanen Aufführung oder von einer schriftlichen Komposition ausgehen muss. 86 41 2.2 Forschungsüberblick 87 Stellvertretend für an Sprechakten und oralen Aufführungsereignissen interessierte Studien z.B.: Amory, Frederic: Speech Acts and Violence in the Sagas. In: Arkiv för nordisk filologi 106, 1991, S. 57- 84; Bax, Marcel und Tineke Padmos: Two Types of Verbal Dueling in Old Icelandic: The Interactional Structure of the senna and the „mannjafnaðr in Hárbarðsljóð“. In: Scandinavian Studies 55, 1983, S. 149-174; Bredsdorff, Thomas: Speech Act Theory and Saga Studies. In: Representations 100, 2007, S. 34-41; Clover, Carol J: The Germanic Context of the Unferþ Episode. In: Speculum 55/ 3, 1980, S. 444-468; Harris, Joseph: Eddic Poetry as Oral Poetry: The Evidence of Parallel Passages in the Helgi Poems for Questions of Composition and Performance. In: Glendinning, Robert (Hg.): Edda: A Col‐ lection of Essays. Winnipeg 1985, S. 210-42; Jóhanna Katrín Friðriksdottir: „Gerdit hon … sem konor adrar.“ Women and Subversion in Eddic Heroic Poetry. In: Acker, Paul (Hg.): Revisiting the poetic Edda. Essays on Old Norse Heroic Legend. New York 2013, S. 117-136; Mitchell, Stephen: Performance and Norse Poetry: The Hydromel of Praise and the Effluvia of Scorn. The Albert Lord and Milman Parry Lecture for 2001 (= Oral Tradition 16/ 1), S. 168-202; Motz, Lotte: The Power of Speech: Eddic Poems and Their Frames. In: Amsterdamer Beiträge zur Älteren Germanistik 46, 1996, S. 105-117; Swenson, Karen: Performing Definitions: Two Genres of Insult in Old Norse Literature. Columbia 1991 (= Studies in Scandinavian Literature and Culture 3); Raudvere, Catharina: The Power of the Spoken Word as Literary Motif and Ritual Practice in Old Norse Literature. In: Viking and Medieval Scandinavia 1, 2005, S. 179-202. 88 Glauser, Jürg: The Speaking Bodies of Saga Texts. In: Quinn, Judy et al. (Hg.): Learning and Under‐ standing in the Old Norse World: Essays in Honour of Margaret Clunies Ross. Turnhout 2007 (= Medieval Texts and Cultures of Northern Europe 18), S. 13-26. Direkter an den Performanzbegriff anknüpfend gibt es einerseits Versuche, die Sprech‐ akttheorie im Sinne Austins an die Sagaliteratur und andere Textgattungen heranzutragen. So werden z. B. die Dichtungsphänomene senna, níð und mannjafnaðr oder auch die Struk‐ turen von Weisheitsdichtung als Sprechakte auf intrawie extratextueller Ebene unter‐ sucht. 87 Zu schnell werden dabei jedoch die Eigenheiten einer spezifischen literarischen Performativität übergangen und der Übertrag auf das „reale Leben“ ausserhalb des Textes gesucht. Ein ähnliches Problem ergibt sich auch bei Ansätzen, die sich eher aus einer ritu‐ altheoretischen Perspektive mit dem Performativen befassen. Verschiedene - literarische - Texte werden als „schriftlich erstarrte“ Aufführungen verstanden bzw. auf Spuren ver‐ gangener Rituale hin gelesen. Da Texte zu den wenigen erhaltenen Quellen für die skan‐ dinavische Mythologie gehören, ist es verständlich, diese auch auf derartige Fragen hin zu untersuchen und es ergeben sich spannende neue Zugänge. Für die vorliegende Arbeit ist eine solche Lektüre jedoch problematisch, da gerade die Mythologie, wie sie in der P-E dargestellt wird, als eine klar für die Schriftlichkeit konzipierte Mythologie verstanden wird. Deshalb steht hier hauptsächlich der Text selbst im Vordergrund. Vertieft mit dem Begriff des Performativen (v. a. in Beziehung mit dem Medialen) in der altnordischen Literatur beschäftigt sich Jürg Glauser. Am Beispiel der Sagaliteratur be‐ spricht er beispielsweise die Voraussetzungen für gelungene und misslungene Kommuni‐ kationsakte. 88 Seine Beobachtungen zu den verschiedenen medialen Umsetzungen und deren Bewertungen in den Texten ebnen den Grund für die vorliegende Arbeit. Glauser weist darauf hin, wie eminent wichtig der Körper für gelungene Kommunikation ist, sei es im mündlichen oder auch im schriftlichen Bereich. In der nordischen Literatur des Mittel‐ alters scheint nur durch den menschlichen Körper eine verlässliche Überlieferung möglich. Die Schrift alleine ist immer korrumpierbar und losgelöst von einem „Medium Körper“ nicht gleich verlässlich wie mit. Die Schrift und mit ihr die Literatur ermöglicht aber auch 42 2 Literarische Performativität 89 Wie eng verknüpft der Begriff des Performativen mit den sog. memory studies ist, zeigt sich z. B. in: Minni and Muninn: Memory in Medieval Nordic Culture. Hermann, Pernille et al. (Hg.), Turnhout 2014 (= Acta Scandinavica 4). 90 Glauser: Speaking Bodies, S. 21. 91 Glauser: Speaking Bodies, S. 26. 92 Rösli, Lukas: Topographien der eddischen Mythen. Eine Untersuchung zu den Raumnarrativen und den narrativen Räumen in der „Lieder-Edda“ und der „Prosa-Edda“. Tübingen 2015 (= Beiträge zur Nordi‐ schen Philologie 55). 93 Vgl. www.skandinavistik.uni-freiburg.de/ forschung/ forschungsprojekte/ litprax. (Abgerufen am 26.02.2020). Natürlich wird der Begriff des Performativen auch in der skandinavischen Literaturwis‐ senschaft bzw. Literatur diskutiert, so kamen diverse Spezialhefte zum Thema heraus: Vgl. z. B. Per‐ formativitet (= Tidskrift för Litteraturvetenskap 37, 2007: 4); Performativitet (Peripeti 2006: 6); Vagant 2007: 1. die Schaffung von neuer Bedeutung, was besonders wichtig ist für eine Erinnerungs‐ kultur, 89 wie sie die das nordische Mittelalter ist. What is especially important in relation to Old Norse literature is the fact that literature may potentially codify diverse versions of the past. Literary texts can accordingly play a prominent role in the founding, recording, transmission, and dissemination of collective memories or myths, but simultaneously the possibility exists for fictional texts to take up alternative versions of the past, the outlines of ‚counter-memories‘. 90 Aber Glauser hebt hervor: Norwegian and Icelandic authors of the thirteenth century thought about the roles, potentialities, and limits of communication - about mediality - along much more differentiated lines than the bipolar configuration orality/ literacy, as their texts demonstrate, both in the sometimes explicitly literaryand mediatheoretical remarks in the prologues, and implicitly in highly complex narra‐ tives […]. 91 Für die P-E versucht die vorliegende Arbeit diese differenzierten Linien aufzuzeigen. Im theoretischen Verständnis ebenfalls sehr eng verbunden ist diese Arbeit mit derjenigen von Lukas Rösli. 92 Rösli kombiniert den Begriff des Performativen mit demjenigen des Raums und macht so beide für narratologische Analysen brauchbar. Vor allem sein Fokus auf die performative Setzung von Anfängen und Enden in der nordischen Mythologie zeigt neue Wege für die Edda-Lektüre auf. Auch in der neueren skandinavistischen Literaturwissenschaft gibt es Arbeiten, die sich mit dem Performativen beschäftigen. Als Beispiel sei hier das DFG-Projekt „Literarische Praktiken in Skandinavien um 1900“ erwähnt, das sich allerdings von einem reinen Per‐ formativitätsbegriff absetzt und ihn mit einem praxeologischen Ansatz ersetzt. 93 2.2.5 Performativität und Rhetorik - eine Abgrenzung Wie meist bei der Arbeit mit neuen Theorie- und Methodenansätzen stellt sich die Frage nach dem Gewinn, der mit ihrer Anwendung zu erwarten ist. Zwar ist ein performativi‐ tätsgeleiteter Ansatz in der Mediävistik nicht mehr wirklich neu, doch gerade in der Skan‐ dinavistik gibt es noch nicht übermässig viele Arbeiten dazu. Es ist daher zu prüfen, was 43 2.2 Forschungsüberblick 94 Häsner, Bernd et al. (Hg.): Text und Performativität. In: Theorien des Performativen. Sprache - Wissen - Praxis. Eine kritische Bestandsaufnahme. Hempfer, Klaus und Jörg Volbers (Hg.), Bielefeld 2011, S. 71. 95 Hetzel: Performanz, Performativität, Sp. 840. 96 Hetzel: Performanz, Performativität, Sp. 852. 97 Hetzel: Performanz, Performativität, Sp. 852. 98 Hetzel: Performanz, Performativität, Sp. 857. 99 Hetzel: Performanz, Performativität, Sp. 857. genau diesen Ansatz für die skandinavistische Mediävistik produktiv macht und wie ältere Forschung darin integriert und weitergeführt werden kann. Es sollte für jede Untersuchung neu entschieden werden, wo die Unterschiede zu etablierten Theorien sind und ob diese allenfalls bessere Analysewerkzeuge darstellen. Dass Texte (oder allgemeiner: Sprache) vielfältig auf die aussertextuelle Welt einwirken und sie auch verändern können, ist nicht erst seit dem Nachdenken über das Performative bekannt. Bereits antike Poetiken weisen auf die „kulturstiftende Potenz der Dichtung“ 94 hin. Um die wirklichkeitsverändernde Macht von Sprachhandlungen geht es zu einem grossen Teil auch in der antiken Rhetorik. Andreas Hetzel betont denn auch die Herkunft des Per‐ formativitätsdiskurses aus der klassischen Rhetorik: Obwohl genuin moderne Begriffe, betonen ‚Performativität‘ und ‚Performanz‘ einen Grundzug des Redeverständnisses der klassischen Rhetorik. Der λόγος gilt den antiken Rhetorikern wesent‐ lich als wirkender Vollzug; er verändert Einstellungen und Situationen, insofern ist er eine wirk‐ same Praxis. Weite Teile des klassisch-rhetorischen Sprachdenkens antizipieren die zeitgenössi‐ schen Theorien des Performativen und der Performanz, die sich ihrer rhetorischen Vorgeschichte selten bewusst sind. 95 Hetzel zeichnet die Vorgeschichte des Begriffs nach und vermutet, sie reiche so weit zurück, wie die menschliche Reflexion auf das Reden selbst. 96 Einen Vorgänger des Performativen im Sinne Austins macht er in der stoischen Dialektik aus: So wird Rede in Rhetorik und Logomystik dezidiert als welterzeugende Kraft interpretiert: beide Traditionen richten sich gegen die intellektualistische Idee der Sprache als System oder Kompe‐ tenz, die dem gewöhnlichen, verkörperten, Wirkungen zeitigenden und schöpferischem Reden vorausginge. 97 In der klassischen Rhetorik der Antike falle der λόγος mit seiner Wirksamkeit zusammen, so Hetzel. Rhetorik könne dabei insgesamt als Vollzugsform von Performativität gelesen werden: „sie lehrt dem Redenden, wie er redend Verständiges über Praxis sagen und durch Reden handelnd auf sie einwirken kann.“ 98 Über Performativität werde in den klassischen Lehrbüchern im Rahmen aller fünf Produktionsstufen der Rede nachgedacht. Am wich‐ tigsten sei sie allerdings in Bezug auf die actio: Ein zuvor gedanklich und/ oder schriftlich konzipiertes (inventio, dispositio) und ausgearbeitetes (elocutio) ‚Stück‘ (Rede, Drama, Musikstück, Aktionskunststück) wird ‚aufgeführt‘, ‚inszeniert‘, in eine wahrnehmbare Handlung (Vortrag, Konzert, performance) umgesetzt. 99 Es ist wichtig, die Rhetorik als Vorgeschichte des Performativitätsbegriffs ernst zu nehmen, gerade wenn man den Begriff auf ein gelehrtes Werk wie die Prosa-Edda anwenden will, 44 2 Literarische Performativität 100 Vgl. z. B. Karl G. Johanssons Rezension von Margaret Clunies Ross’ A History of Old Norse Poetry and Poetics. Cambridge 2005. In: Maal og Minne, 2007, S. 105-114, hier S. 110f. Johansson kritisiert Clunies Ross’ Vermischung der Sprachtheorie mit der altnordischen Dichtung zu einer „indigenous speechact theory“ (S. 111) und plädiert für eine Betrachtungsweise unter einer Perspektive der mittelalter‐ lichen Rhetoriktradition. 101 Eming, Jutta: Emotionen als Gegenstand mediävistischer Literaturwissenschaft. In: Journal of Lite‐ rary Theory 1/ 2, 2008, S. 251-273, hier S. 263f. www.degruyter.com/ view/ j/ jlt.2008.1.issue-2/ jlt.2007.0 18/ jlt.2007.018.xml. (Abgerufen am 26.02.2020) die sich in eine Traditionslinie gelehrter klassischer Texte stellt. Trotz der Nähe der Rhetorik für die Fragestellungen der vorliegenden Arbeit dient hier der Performativitätsdiskurs als theoretische Basis für die Lektüre der Prosa-Edda. Analysen mithilfe der Rhetorik werden zwar als besserer Zugang zu Werken „vor einer Theorie des Performativen“ vorgeschlagen, sie konzentrieren sich aber meiner Meinung nach zu sehr auf rein sprachliche Phänomene bzw. kritisieren einen Performativitätsbegriff nach Austin, der in der vorliegenden Arbeit nicht im Zentrum steht. So kritisiert z. B. Karl G. Johansson berechtigterweise, dass keine Vermischung von moderner Theorie mit vormodernen Inhalten angestrebt werden sollte. 100 Vormoderne Werke nur mit vormoderner Theorie zu untersuchen, verspricht jedoch nicht unbedingt neue Einsichten. Für mediävistische Untersuchungen muss zwingend immer neu abgeklärt werden, ob und inwiefern moderne Theorien als Analysekategorien für mittel‐ alterliche Texte (oder allgemeiner, Phänomene) nutzbar sind. Jutta Eming formuliert die Notwendigkeit des Gebrauchs moderner Theorien in Bezug auf die Emotionsforschung, ihre Aussagen lassen sich aber auch auf die Performativitätstheorien übertragen: Literaturwissenschaftliche Emotionsanalysen setzen sich mit der Frage auseinander, wie eine zu untersuchende Emotion definiert ist, und zwar historisch ebenso wie in der modernen Emotions‐ forschung. Dass beide Wege eingeschlagen werden, sorgt mitunter für Irritation. So wird in der Auseinandersetzung mit der Emotionsforschung vielfach der Einwand vorgebracht, dass nur von „Affekten“ gesprochen werden könne, nicht aber von Emotionen - denn nur „Affekt“ sei ein his‐ torischer Begriff […]. Dem ist grundsätzlich entgegenzuhalten, dass Analysen historischer Lite‐ raturen nicht nur im Rekurs auf die Selbstbeschreibungsmodelle der entsprechenden historischen Kulturen zulässig sind. Tatsächlich wird in der Mediävistik auch nicht so verfahren, sonst hätte zum Beispiel die Systemtheorie nicht ihren prominenten Status in Bezug auf Konzepte von Iden‐ tität, Gesellschaft, Code, amour passion erhalten, analytische Abstraktionen für Verhältnisse in der wirklichen Welt […]. Sonst wäre nicht von Gesellschaft zu sprechen, sondern von ordo, nicht von Genealogie, sondern von art, und - zumindest bei einigen Diskurstypen - nicht von einem Autor, sondern von Gott. 101 Es ist also beiderseits möglich und notwendig, moderne Theorien für die Analyse mittel‐ alterlicher Texte einzusetzen, es kommt auf die Art und Weise der Umsetzung an. In Bezug auf performative Theorien und vormoderne Texte schreibt Alexandra Prica: Der Einbezug weitgehend „überhistorischer“ Theorien in die Analyse eines mittelalterlichen Textes kann nicht grundsätzlich, sondern lediglich selektiv und mit heuristischem Anspruch er‐ folgen. Im Vordergrund steht nicht eine Kritik zeichentheoretischer Positionen, sondern deren Auslotung im Hinblick auf ihre Tauglichkeit als analytische Instrumentarien für den Zugang zum 45 2.2 Forschungsüberblick 102 Prica, Alexandra: Frau Ava, Johannes und Leben Jesu. In: Herberichs, Cornelia und Christian Kiening (Hg.): Literarische Performativität. Lektüren vormoderner Texte. Zürich 2008 (= Medienwandel - Me‐ dienwechsel - Medienwissen 3), S. 85. 103 Vgl. Kapitel 2.2.4. 104 Vgl. Kapitel 2.2.4 für die bisherige Verwendung in der Skandinavistik. Zwar kann man gewissen Teilen der Prosa-Edda eine potentielle Aufführungsmöglichkeit nicht absprechen - sei es als Unter‐ haltung oder im Rahmen einer gelehrten Schüler-Lehrer-Situation. In derartigen Fällen kommt der konkreten Material. Was als „textuelle Performativität“ in den Blick kommen kann, ist auf histo‐ rische Konstellationen zu beziehen und in diesen auf seine Aussagekraft zu prüfen. 102 In diesem Sinne soll auch eine Lektüre der P-E mit einem „doppelten Blick“ vorgenommen werden. Während der moderne theoretische Zugang eine neue Perspektive eröffnen soll, sollen auch spezifische historische Zugänge nicht ausser Acht gelassen werden. Wo immer möglich, sollen theoretische Ansätze oder eher Modelle zu den Möglichkeiten und Grenzen der Sprache und Literatur in der P-E selbst sichtbar gemacht werden. Um die zahlreichen medialen Phänomene in der Prosa-Edda mit in eine Lektüre einzu‐ beziehen, kann ein breiter gefasster moderner Diskurs wie der der Performativität aber weitere Perspektiven eröffnen. 2.3 Literarische Performativität in der skandinavischen Mediävistik Wie im Vorangegangenen gezeigt, verlangt der Begriff des Performativen eine genaue Be‐ stimmung, soll er denn als theoretisches Werkzeug dienen. Die Verwendung des Begriffs in der germanistischen Mediävistik und in Teilen der Skandinavistik wurde bereits ange‐ sprochen. 103 Für die vorliegende Arbeit sind bestimmte Präzisierungen vonnöten. Wie der Forschungsüberblick gezeigt hat, lohnt es sich, gewisse Punkte des rhizomatischen Begriffs performativ so genau wie möglich zu bestimmen, um ein aussagekräftiges Analysewerk‐ zeug zu erhalten. Ob sich mit Hilfe des so erarbeiteten Begriffs neue Perspektiven für die Lektüre der P-E (und evtl. für weitere Texte) eröffnen, wird sich erst im Verlauf der Unter‐ suchung herausstellen. Die folgenden zwei Aspekte setze ich deshalb als Eingrenzung für die anschliessenden Lektüren voraus. 2.3.1 Die Prosa-Edda als schriftlich konzipiertes Werk Anders als in bisherigen skandinavistischen Arbeiten unter dem Begriff des Performativen steht in dieser Arbeit die literarische Performativität im Fokus. Dieser Zugang wurde meines Wissens in der Skandinavistik noch nicht systematisch erprobt. Der Begriff des Performa‐ tiven wird da eher im Hinblick auf die Aufführungssituationen von Texten (wie z. B. von eddischen Gedichten) und im Zusammenhang mit Aspekten der mündlichen Tradierung untersucht. Dabei wird meist ein performance-Begriff verwendet, der aus den Theater- oder der Ritualtheorien stammt. Die P-E, wie sie in der Version von Codex Upsaliensis vorliegt und hier im Zentrum steht, ist ein für eine spezifische Schriftlichkeit konzipiertes Werk und nicht für eine dramatische Aufführung gedacht. 104 Es geht nicht darum, Spuren ur‐ sprünglicher Mündlichkeit oder möglicher Aufführungssituationen im Text aufzuspüren 46 2 Literarische Performativität Begriff der performance zum Zug. Im Fokus dieser Arbeit stehen allerdings Aspekte literarischer Performativität, die - wie sich zeigen wird - anders gelagert sind. 105 Herberichs, Cornelia und Christian Kiening (Hg.): Literarische Performativität - Lektüren vormo‐ derner Texte. Zürich 2008 (= Medienwandel - Medienwechsel - Medienwissen. Historische Perspek‐ tiven 3). 106 Herberichs/ Kiening: Literarische Performativität, S. 5. Im Folgenden gibt es einige Überschneidungen zu den Darlegungen im Forschungsüberblick Kapitel 2.2. Diese sind jedoch notwendig, um die hier spezifische theoretische Herangehensweise darzustellen. und sich so an eine vermeintliche „Urversion“ der P-E anzunähern. Es geht darum, das als Schriftstück konzipierte Werk in seiner Gesamtheit neu zu betrachten und mit Hilfe des Begriffs der literarischen Performativität neue Einblicke zu erhalten. Das erlaubt es, etwas wegzukommen von den vielbesprochenen Fragen nach Oralität und Skripturalität und einen Blick auf eine Kultur zu werfen, in der die Stimme und die Schrift in regem Austausch mit- und nebeneinander existierten. Die These dieser Arbeit ist es, dass die P-E im Codex Upsaliensis als Zeugnis für dieses mediale Miteinander gelten kann. Das Werk thematisiert Sprache, Literatur und Dichtung auf eine einzigartige Weise: Nicht nur die Vermittlung von Wissen über Sprache steht im Zentrum, sondern auch die Frage danach, wie eine solche Vermittlung am besten zu gestalten ist. Anhand der P-E lässt sich der selbstreflexive Prozess dieser Diskussion mitverfolgen, was eine Lektüre im Hinblick auf literarische Performati‐ vität äusserst interessant macht. 2.3.2 Vergleichbarkeit und Eingrenzung Der theoretische Zugang soll für verschiedene Werke brauchbar sein: Ein theoretisches Konzept, das nur für eine einzige Untersuchung funktioniert, ist wenig sinnvoll, da eine Vergleichsmöglichkeit mit anderen Gegenständen fehlt. Deshalb werden hier bestimmte Aspekte literarischer Performativität abgegrenzt, die für die vorliegende Arbeit zentral sind. Das würde in einem zweiten Schritt erlauben, die Aspekte literarischer Performativität der P-E mit denjenigen anderer Werken zu vergleichen. In der weitläufigen Theorielandschaft des Performativen scheint mir ein Ansatz aus der germanistischen Mediävistik besonders interessant, um ihn an altnordischem Textmaterial zu erproben: Cornelia Herberichs und Christian Kiening tragen in ihrem Sammelband zur Literarischen Performativität  105 eine Reihe möglicher Lektüren vormoderner (nicht nur ger‐ manistischer) Texte zusammen. Wie sie zeigen, eröffnen sich neue textuelle Dimensionen durch die performativ orientierten Lektüren - so unterschiedlich die einzelnen Beiträge diese Lektüre auch gestalten. Derartige neue Textdimensionen sind aufgrund des perfor‐ mative turns möglich und nötig, wie Herberichs/ Kiening im Vorwort bestimmen: Der vorliegende Band greift eine Blickwendung auf, die sich in den Kulturwissenschaften der letzten Jahre vollzogen hat: eine Abwendung von der Ermittlung fixierter, stabiler Bedeutungen und eine Hinwendung zur Betrachtung der Dynamiken, mit denen Kulturen Sinn erzeugen - durch Verhandlungen und Verheissungen, mediale Aufladungen und Selbstüberschreitungen. 106 Diese Blickwendung auf das „Ereignishafte“ und „Wirklichkeitskonstituierende“ kultureller Phänomene erfordere neue Analysearten. Ebenfalls zentral sei, dass die genannten Phäno‐ 47 2.3 Literarische Performativität in der skandinavischen Mediävistik 107 Herberichs/ Kiening: Literarische Performativität, S. 5. 108 Herberichs/ Kiening: Literarische Performativität, S. 10. 109 Herberichs/ Kiening: Literarische Performativität, S. 10. mene nicht nur charakteristisch für die rein performativen Künste sind, sondern eben auch für literarische Texte: Literatur ermöglicht die Teilhabe der Lesenden und erfordert sie zugleich. Sie schafft Tatsachen und verändert die Wirklichkeit. Sie stimuliert Reflexionsprozesse und Handlungsvollzüge. Sie ge‐ winnt ihre spezifische Medialität gerade dadurch, dass sie die Vermitteltheit dessen, das sie dar‐ stellt, aufscheinen lässt. 107 Anders als viele Forscher, die sich negativ über die Breite des Begriffs des Performativen äussern, sehen Herberichs/ Kiening den Reiz gerade darin, ein Schnittfeld zwischen all diesen Diskursen zu suchen - das Schnittfeld zwischen dem, was in Kommunikation, und dem, was mit Kommunikation geschieht. Damit ist ein weiterer wichtiger Punkt angespro‐ chen, der für die Wahl der Analysekategorien von Herberichs/ Kiening spricht: Die Verbin‐ dung der beiden Begriffe Performativität und Medialität. Der Charakter des Performativen wird immer auch durch die medialen Gegebenheiten mitbestimmt (und nicht nur durch die sozialen), deshalb müssen sie immer als miteinander verbunden gedacht werden. 108 Wäh‐ rend eine rein sprechakttheoretische Betrachtungsweise oder auch eine auf körperliche performance bezogene Untersuchung eines Gegenstands zu einschränkend ist, erlaubt die Verbindung des Performativen mit dem Medialen eine umfassendere Analyse verschie‐ denster Gegenstände. Es ist klar, dass ein performatives Phänomen je nach medialer Ver‐ fasstheit anders aussieht: Im auf körperlicher Präsenz beruhenden Schauspiel funktioniert es anders als im Film oder in einem literarischen Text. Gerade ein so komplexes und viel‐ schichtiges Werk wie die P-E, das aus ganz unterschiedlichen Medienarten besteht, bedarf einer solchen Offenheit für mediale Gestaltung in der theoretischen Ausrichtung. So können die Charakteristika gelehrter altnordischer Literatur durch die Perspektivierung mit aktuellen theoretischen Zugängen neu ausgeleuchtet werden. Wie einige andere sehen auch Herberichs/ Kiening in der etymologischen Herleitung des Performativen eine Erklärungsmöglichkeit der verschiedenen zu thematisierenden As‐ pekte: to perform bedeutet im Englischen eben nicht nur, etwas konkret zur Aufführung zu bringen (Theater, Oper, Sportereignis etc.), sondern auch etwas auszuführen (z. B. ein Muster oder eine Partitur): „Das Performative besteht insofern nicht nur in dem Einmaligen und Ereignishaften einer bestimmten Aufführung oder Lektüre, sondern auch in der Wie‐ derholbarkeit eines Aktes, der auf paradoxe Weise den Eindruck von Einmaligkeit erzeugen und zugleich mit Dauer versehen kann.“ 109 Das Paradoxe liegt darin, dass die Performanz (= Aufführung) auf der Partitur bzw. dem Muster beruht, die Handlung selbst aber als ein‐ malig wirkt - dieses Paradox kann mit Performativität bezeichnet werden. Es ist dabei ein zentrales Merkmal des Diskurses, die Möglichkeit des Scheiterns der Handlung immer mit‐ zudenken. Herberichs/ Kiening stellen fest, dass Texte im Allgemeinen, literarische Texte aber im Spezifischen, sehr spannende Untersuchungsgegenstände für das Performative sind: 48 2 Literarische Performativität 110 Herberichs/ Kiening: Literarische Performativität, S. 11. 111 Herberichs/ Kiening: Literarische Performativität, S. 12. [Texte] besitzen einerseits spezifische Vollzugsdimensionen, die uns allerdings nicht als konkrete „Aufführungen“ fassbar werden. Sie enthalten andererseits eine Fülle rhetorischer sprachlicher und handlungsbezogener Elemente, die es uns erlauben, Modelle von Vollzügen und Wirkungs‐ möglichkeiten von performativen Akten zu beobachten. […] Vor allem literarische Texte sind in dieser Hinsicht interessant: Durch einen höheren Aufwand an sprachlich-imaginativer Formung charakterisiert, markieren sie ihrerseits das Performative oder stellen es gar aus. Der Blick auf sie kann dazu dienen, Grundzüge performativer Dimensionen im Rahmen von Welten zweiter und dritter Ordnung zu studieren […]. 110 Literarische Texte aus der Vormoderne sind dabei besonders interessant für eine perfor‐ mative Herangehensweise, denn: Sie entstammen einer Kultur, die - wie die Forschung der letzten Jahrzehnte hervorgehoben hat - durch Aspekte wie Körperlichkeit, Mouvance, Ritualität, symbolische Kommunikation, Partizi‐ pation, Plurimedialität gekennzeichnet ist. In ihr scheinen zahlreiche Phänomene, seit der Neuzeit durch codifizierte Regularitäten festgelegt, in konstitutiver Weise auf je neue Verhandlung und Geltungssicherung angewiesen zu sein. 111 Wie bereits gezeigt, sind uns die genannten Phänomene in Gestalt von Aufführungen o. ä. heute nicht mehr zugänglich. In überlieferten Aufzeichnungen - in Texten - sind aber dennoch gewisse Sinnpotentiale enthalten, die es sich zu untersuchen lohnt. Es sind keine minderwertigen Stufen einer einstmals realen Situation, sondern eigenständige und auf die Schriftlichkeit hin komponierte Kunstwerke. Es ist zu hoffen, dass über die Theorien des Performativen, diese (performativen) Aspekte der vormodernen Kultur vertieft betrachtet werden können. Dafür braucht es ein verbindendes Analysewerkzeug. Herberichs/ Kiening nennen drei Aspekte, die sie als charakteristisch für eine Lektüre im Hinblick auf literari‐ sche Performativität in vormodernen Texten ansehen: Die drei Aspekte werden unter Sagen als Tun, Wiederholung/ Wiederholbarkeit sowie Rahmung verschlagwortet. Das performative Potential eines Textes lässt sich an diesen Aspekten sichtbar machen, allerdings geht es nicht um die reine Auflistung einzelner Phänomene. Erst im Zusammenspiel der verschie‐ denen Aspekte wird das Performative als Beschreibungsmodell aussagekräftig. Als Ausgangspunkt für eine neue Lektüre der P-E scheinen diese drei Aspekte vielver‐ sprechend, da sie - wie die Edda - die Diskussion der Bedingungen und Möglichkeiten von Sprache und Literatur in den Blick nehmen. Die drei Aspekte machen das performative Potential des Werks sowohl auf struktureller als auch auf funktionaler Hinsicht sichtbar. Sie sollen als rote Fäden der einzelnen Lektüren dienen und werden bei Bedarf weiterent‐ wickelt. Anders als bei Herberichs/ Kiening werden die drei Aspekte nicht nur auf einer rein textuellen Ebene betrachtet, sondern die ganze Handschrift wird in eine Analyse mitein‐ bezogen (was zwar von Herberichs/ Kiening unter dem Aspekt der Rahmung ebenfalls ge‐ schieht, jedoch umfassender betrachtet werden soll). Gerade die Möglichkeit, mithilfe des theoretischen Zugangs eine verbindende Lektüre der verschiedenen Werkteile vorschlagen zu können, ist das Ziel dieser Arbeit. Eine erste Übersicht über die drei Aspekte literarischer 49 2.3 Literarische Performativität in der skandinavischen Mediävistik 112 Vgl. Kapitel 3 und 4. 113 Als „ursprüngliche Performativa“ bezeichnet Austin bestimmte sprachliche Handlungen, z. B. das Taufen, die Verurteilung oder die Heirat. 114 Krämer, Sybille: Sprache - Stimme - Schrift: Sieben Gedanken über Performativität als Medialität. In: Wirth, Uwe (Hg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt a. M. 2007, S. 323-347, hier S. 334f. 115 Krämer: Sprache, S. 335. Performativität nach Herberichs/ Kiening wird im Folgenden vorgenommen, die Anwen‐ dung resp. eine allfällige Weiterentwicklung geschieht in den Analysekapiteln. 112 2.4 Drei Aspekte literarischer Performativität 2.4.1 Sagen als Tun Unter diesem - etwas sperrigen - Titel werden bei Herberichs/ Kiening Momente be‐ zeichnet, in denen mit Sprache gehandelt wird. Momente also, die an Fragen der klassischen Sprechakttheorie erinnern. In der realen Welt ermöglicht es die soziale Dimension der Sprache in Verbindung mit dem menschlichen Körper, durch Sprache zu handeln bzw. Macht auszuüben. Ebenfalls entscheidend für die Wirkung ist der institutionelle Kontext, in dem etwas durch Sagen getan wird. Sybille Krämer macht in diesem Zusammenhang auf eine - für die vorliegende Arbeit - wichtige Besonderheit von Austins Auswahl der ur‐ sprünglichen Performativa 113 aufmerksam: Ursprüngliche Performativa sind Rituale, Restbestände einer quasi-magischen Praktik im zere‐ moniellen Reden. […] Die illokutionäre Rolle von Äusserungen wird gewöhnlich mit in Zusam‐ menhang gebracht mit ihrer Bindungsenergie, kraft deren der Sprecher eine soziale Beziehung mit dem Adressaten aufnimmt, die auch zukünftige Verpflichtungen einschliesst. Doch der Standes‐ beamte, der traut, der Priester, der tauft, der Richter, der ein Urteil spricht, stiften damit keineswegs eine soziale Bindung zu den Verheirateten, dem Getauften und dem Verurteilten. […] Die ur‐ sprünglichen Performativa gehören nicht der persönlichen Rede an: Hierin wurzelt deren ‚Auf‐ führungscharakter‘, insofern diese Sprechakte nicht einfach an den Hörer, sondern an Zuhörer gerichtet sind […]. 114 Um als ritualisierter Sprechakt wirksam zu sein, braucht es ein Machtgefälle zwischen dem Sprecher und dem Angesprochenen. Die Wirksamkeit liegt nicht in der reinen sprachlichen Form, sondern in den gesellschaftlichen Umständen. Hier wird die enge Verbindung zum weiter unten dargestellten Aspekt der Wiederholung/ Wiederholbarkeit deutlich: Erst im wiederholten Handeln bzw. in wiederholten kulturellen Praktiken ergibt sich die Autorität eines Richters, Priesters etc. 115 Inwiefern die P-E mit einer auf Autoritätsgewinnung aus‐ gelegten Wiederholung als textuelle Strategie arbeitet, wird in Kapitel 2.4.2 beleuchtet. In der literarischen Welt funktioniert sprachliches Handeln anders als in der realen Welt: Das „Handeln“, das in den Texten und durch sie stattfindet, kann von den Geltungsbedingungen alltäglichen Handelns entlastet sein, hat damit aber auch erst einmal eigene Geltungsbedingungen herzustellen. Wortmächtige Akte wie Segen, Gebete oder Verfluchungen besitzen, in Texten mit‐ 50 2 Literarische Performativität 116 Herberichs/ Kiening: Literarische Performativität, S. 13. 117 Herberichs/ Kiening: Literarische Performativität, S. 13. 118 Herberichs/ Kiening: Literarische Performativität, S. 17. geteilt, nicht von vornherein Evidenz, vermag die Schrift doch grundsätzlich ursprüngliche Be‐ deutungen immer auch zu verändern oder ins Latente zu verschieben. 116 In der realen Welt erhält ein Sprechakt durch eine ihm vorausliegende Geltung Wirkkraft. Ein literarischer Text muss diese Verbindlichkeit gleichzeitig konstituieren und auf sich übertragen. Das, worauf er sich stützt, muss er zugleich selbst hervorbringen. Das ermög‐ licht der Literatur immer auch das Spiel zwischen tatsächlicher und behaupteter Geltung und lässt ihre Wirkkraft entweder steigern oder einschränken. Die Evidenz literarischer Sprechakte muss deshalb durch zusätzliche Strategien gewonnen werden: „[…] zum Beispiel durch Anleihe bei onto-theologischen Konzepten, transzendenten Ursprüngen oder recht‐ lich normativen Modellen.“ 117 Für die christliche Vormoderne beruht die Wirkmacht von Sprache auf bestimmten kulturellen Vorbedingungen, nämlich auf: […] dem im Eingang der Genesis entwickelten und im Prolog zum Johannes-Evangelium aufge‐ griffenen Gedanken, die Welt sei durch die zugleich ursprünglichen und ewigen Schöpfungsworte Gottes hervorgebracht und damit Resultat einer Identität von Sprechen und Handeln. Dieser Ge‐ danke bot den Hintergrund und Geltungsrahmen für die Übertragung transzendenter Bedin‐ gungen auf immanente: Das göttlich inspirierte oder autorisierte Wort, die christliche Offenba‐ rungsmacht von Sprache und Schrift, sie ermöglichen es, Texte mit Transzendenzenergie aufzuladen und mit ontologischen Zügen zu versehen - als nicht nur Veranschaulichungen und Repräsentationen, sondern Verkörperungen und Realisationen genuin heilsgeschichtlicher Texte. Auch dort, wo es um die Legitimierung von Herrschaft, die Setzung von Recht oder allgemein die Schaffung von Geltung und Verbindlichkeit ging, spielte der nicht bloss referentielle oder mime‐ tische, sondern performative und vollzugshafte Charakter von Texten eine Rolle. 118 Literarische Texte rufen eine derartige Evidenz nicht einfach auf oder übernehmen sie, sondern sie stellen sie aus und reflektieren sie. So können z. B. intradiegetische Sprach‐ handlungen dem extradiegetischen Handeln des Textes entgegenstehen und so das Paradox des Performativen gerade hervorheben. Wie sich in der Lektüre der P-E zeigen wird, lassen sich performative Aspekte von Sagen als Tun auf verschiedenen Ebenen finden. In Gylfa‐ ginning werden bspw. sowohl auf der Rahmenals auch auf der Binnenebene Eide ge‐ schworen, Flüche ausgesprochen und Versprechen gegeben bzw. gebrochen. Die Genesis und das Johannes-Evangelium als kulturelle Vorbedingungen gelten natürlich auch für das Entstehungsumfeld der P-E, was sich deutlich in der Gestaltung des Prologs und seinen Verbindungslinien zur Konzeption von Gylfaginning zeigt. So kann man z. B. die gesamte Gylfaginning als performativen Sprechakt/ Schreibakt verstehen: Der Text berichtet über die Entstehung und das Wesen des nordischen Kosmos und stellt ihn als Lehre dieser Welt vor. Gleichzeitig stellt er aber auf ausgeklügelte Weise aus, dass diese Welt erst durch seine Erzählung entsteht und nur die konstante Weitererzählung ihr Bestehen sichert. Die Art und Weise, wie ein Text mit solchen Performativa verfährt, hilft dem Sprach- und Litera‐ turverständnis eines Werks nachzuspüren. Gylfaginning scheint der Frage nachzugehen, ob „Welt“ nur im Erzählen hergestellt werden kann. Auf einer rezeptionsästhetischen Ebene 51 2.4 Drei Aspekte literarischer Performativität 119 Vgl. Krämer: Sprache, S. 331. 120 Herberichs/ Kiening: Literarische Performativität, S. 13f. 121 Herberichs/ Kiening: Literarische Performativität, S. 13. 122 Herberichs/ Kiening: Literarische Performativität, S. 13. 123 Herberichs/ Kiening: Literarische Performativität, S. 13. kann man auch nach der Sprechaktintention der P-E in Bezug auf die skaldische Dichtung fragen. Als These liesse sich annehmen, dass die P-E die Skaldik vor dem Verschwinden aus dem kulturellen Gedächtnis retten soll. Die Frage könnte dann lauten: Ist der Sprechakt geglückt? Derartige Zugänge werden in den Lektürekapiteln erprobt. 2.4.2 Wiederholung/ Wiederholbarkeit Ausgehend von Jacques Derridas Gedanken besagen Performativitätstheorien, dass es eine Gelingensbedingung von Handeln mit Sprache ist, dass dieses Handeln (z. B. Zeichen, Wörter, Sätze) wiederholbar ist. Performativität heisst nicht einfach „etwas wird getan“, sondern „ein Tun wird aufgeführt“. Ein derartiges Aufführen ist aber immer auch ein Wie‐ deraufführen. 119 Gleichzeitig ist diese Gelingensbedingung einer sprachlichen Handlung paradox, wie Herberichs/ Kiening zeigen: „Was wiederholt werden kann, stiftet Erwartbar‐ keit, lässt aber auch deren Aushöhlung zu, schafft Stabilitäten, die aber immer auch von Instabilitäten durchdrungen sind.“ 120 Die Wiederholung kann wie ein Zitat sowohl als An‐ knüpfung oder Kontextualisierung gedacht sein, sie kann im Gegenteil aber auch einen Bruch ausstellen und etwas in einen neuen Zusammenhang stellen. Das kulturelle Muster der Iterabilität, das im Modus des wörtlichen Zitierens ein intertextuelles Wiederholungsmuster ist, stellt einen performativen Sprechakt stets in die Reihe der vorausge‐ gangenen Sprechakte und verleiht ihm eine Identität, die eine Voraussetzung für die wirklich‐ keitsverändernde Wirkmacht des Wortes ist. 121 Dieses allgemeingültige Muster ermöglicht es literarischen Texten die Wiederholung als Mittel zu gebrauchen, „sich auf eine Tradition zu beziehen und Anschlusskommunikation herzustellen.“ 122 Es sind solche Anschlussmittel, die dem literarischen Text die Möglichkeit verleihen, mit Bedeutung zu spielen. Nicht nur identische Repetition einer Tradition, son‐ dern auch Abweichungen und Umdeutungen sind möglich. Noch einmal weisen Herbe‐ richs/ Kiening auf das Paradoxe dieser Situation hin: „Demnach ist also die Iterabilität, die im Nicht-Authentischen, im Abgeleiteten, im Nachgeahmten, im Parodierten sich mani‐ festiert, gerade dasjenige, was das Ursprüngliche und Authentische ermöglicht.“ 123 Auch bei diesem Aspekt literarischer Performativität spielt der Kontext der christlichen Vormoderne eine grosse Rolle: Der Rückgriff auf göttlich begründete Ursprünge und autoritative Mo‐ mente der Vergangenheit ist in dieser Kultur zentral und macht Texte zu Wiederholungs‐ ereignissen: Sie nehmen Stoffe auf, die im kulturellen Wissen der Zeit fest verankert sind. Doch sie aktualisieren sie auch, passen sie je anderen Bedingungen und Kontexten an. Sie ermöglichen den affektiven Nachvollzug heilsgeschichtlicher und historischer Gegebenheiten, lenken aber überhaupt das Au‐ genmerk auf den je neuen Vollzug von Gegebenem. Die Texte schaffen damit Raum für die Teilhabe 52 2 Literarische Performativität 124 Herberichs/ Kiening: Literarische Performativität, S. 18. 125 Herberichs/ Kiening: Literarische Performativität, S. 18. 126 Herberichs/ Kiening: Literarische Performativität, S. 18. 127 Hartmann, Karl- Heinz: Wiederholungen im Erzählen: Zur Literarität narrativer Texte. Stuttgart 1979 (= Studien zur allgemeinen und vergleichenden Literaturwissenschaft 17). an der Ordnung der Welt, für transzendente Kommunikation und individuelle Heilssorge. Zugleich erzeugen sie Zeitverhältnisse, in denen sich Vergangenheit und Gegenwart auf komplexe Weise durchdringen. 124 Ob und inwiefern sich diese starke Gewichtung des christlichen Einflusses auch bei einer Poetik der volkssprachlichen Dichtung, die auf - vermeintlich - heidnischem Mythos be‐ ruht, bemerkbar macht, wird sich zeigen. In der Lektüre soll darum darauf geachtet werden, ob sich Unterschiede in der Ausgestaltung des literarischen Verfahrens der Wiederholung erkennen lassen. Ganz klar zentral ist der Aspekt der Wiederholung in der P-E auf der literarischen Ebene des Textes, wie es auch von Herberichs/ Kiening für literarische Texte als charakteristisch dargestellt wird: „Der Anschluss an literarische Traditionen (auf der Ebene von Stoffen, Motiven, Erzählmustern, Strukturen), wird als Bedingung für das Weiter- und Wiedererzählen ausgestellt. Prozesse von Bedeutungsgenese und -übertra‐ gungen werden an Phänomenen der Wiederholung sichtbar gemacht.“ 125 Je nach Gattung des Textes holen derartige Verfahren andere Dinge in den Blick: „In narrativen Texten erlauben gattungstypische Doppelungen eine strukturelle Reflexion von Erzählorganisa‐ tion und -prozess, eine Sinnstiftung, die von vorgängigen Textordnungen sich ableiten oder auch abrücken und wiederum den Elementen innerhalb des jeweiligen Werkes zusätzliche Bedeutungsdimensionen verleihen kann.“ 126 In der Wiederholung liegt die Macht der Um- oder Neudeutung. Gleichzeitig macht die Wiederholung darauf aufmerksam, dass sie „ge‐ macht“ ist. Durch wiederholende Strukturen wird auf den Aufführungscharakter bzw. den jetzt aktuellen Vollzug, die vergangenen und zukünftig möglichen Vollzüge hingewiesen. (Nicht nur) für die P-E bedeutet das die Macht über das, was erinnert werden soll. In Kapitel 3.3.3 stehen so z. B. die wiederholenden Erzählungen der Herkunft der Asen und die Be‐ deutung für die Dichtkunst im Zentrum der Lektüre. Wiederholungen können unterschiedlich ausgestaltet sein und unterschiedliche Funk‐ tionen aufweisen. Karl-Heinz Hartmann stellt verschiedene Varianten zusammen: So können Wiederholungen z. B. bestimmte Elemente sammeln und über die Menge beispiels‐ weise eine allgemeine Gültigkeit vermitteln. Eine übermässige Sammlung kann jedoch auch das Gegenteil bewirken und zu einem Sinnüberschuss und damit möglicherweise zu Be‐ deutungslosigkeit führen. Eine andere Art der Wiederholung ist die Steigerung: „Dabei geht es darum, zu übertreffen und Aufmerksamkeit zu erregen, um allfälligen Innovationsverlust durch mehrmaliges Erzählen auszugleichen. Auch hier kann das durch Ähnlichkeit oder Kontrast erzeugt werden. Eine Wiederholung stellt Gemeinsames und Kohärentes heraus, signalisiert aber auch den Fortlauf der Zeit.“ 127 53 2.4 Drei Aspekte literarischer Performativität 128 Herberichs/ Kiening: Literarische Performativität, S. 14. 129 Herberichs/ Kiening: Literarische Performativität, S. 15. 130 Herberichs/ Kiening: Literarische Performativität, S. 15. 131 Herberichs/ Kiening: Literarische Performativität, S. 15. 132 Herberichs/ Kiening: Literarische Performativität, S. 18. 2.4.3 Rahmung Der dritte Aspekt literarischer Performativität, der für diese Arbeit von grosser Bedeutung ist, ist die Rahmung. Auch die Wirkmacht von Rahmungen ist in verschiedenen Theorien des Performativen bereits hervorgehoben worden. Sprachliche Handlungen können nur innerhalb bestimmter Rahmen bzw. Bedingungen funktionieren. Rahmungen sind sowohl Gelingenswie auch Misslingensbedingungen für sprachliches Handeln. Ähnlich wie die Wiederholung können sie für allgemeine Gültigkeit sorgen, können aber auch performative Akte aktualisieren und in einen neuen Zusammenhang stellen: „[…] etwa wenn ‚eine be‐ stimmte Tätigkeit, die bereits im Rahmen eines primären Rahmens sinnvoll ist, in etwas transformiert wird, das dieser Tätigkeit nachgebildet ist, von den Beteiligten aber als etwas ganz anderes gesehen wird“. 128 In der Kunst, sei es z. B. im Theater oder eben in der Literatur sind derartige Übertragungen möglich und werden gleichzeitig auch als solche kenntlich. Herberichs/ Kiening über den Unterschied von Rahmen alltäglicher Sprechakte und solchen in der Literatur: In literarischen Texten ist dies [das Mitthematisieren des Rahmens] konstitutiv - schon Friedrich Schlegel notierte sich 1797: ‚Jedes Kunstwerk bringt den Rahm[en] mit auf die Welt‘. Es hat ja, wie angedeutet, seine Eigengeltung erst herzustellen, und es tut dies, indem es Rahmenbedingungen entwirft, unter denen jene Geltung sich zu ergeben hätte. 129 Wieder rückt das Performative eine paradoxe Situation in den Blick: Texte sind nicht einfach das Innere, das von dem sie umgebenden Rahmenäusseren bestimmt wird. Das Verhältnis von Innen und Aussen ist komplexer: „[Die Texte] sind vielmehr ein „Inneres“, in dem das „Äussere“ seinerseits enthalten ist - aber eben nur im Modus des „Inneren“, hier also unter den Gegebenheiten von (literarischer Textualität).“ 130 Unter der Rahmung als Aspekt lite‐ rarischer Performativität kann man so die komplexe Schnittstelle zwischen Innen und Aussen eines Textes sehen. Dabei muss man in einer Analyse unterscheiden zwischen dem, „was den Vollzug eines Textes allgemein kulturell und spezifisch situativ bestimmt, und dem, was der Text hinsichtlich seiner eigenen Wirkung und Verdauerung selbst zum Einsatz bringt - durchaus nicht nur in Übereinstimmung mit, sondern oft auch in Abweichung von kulturellen Mustern.“ 131 Zusätzlich zu den textuellen Rahmungen weisen vormoderne Handschriften (ebenso natürlich moderne Werke) auch aussertextuelle Rahmungen auf. Deshalb ist eine Lektüre von Texten, die in solchen Handschriften überliefert sind, nur umfassend, wenn sie auch derartige Rahmen beachtet: „Schon die jeweilige Ausstattung von Codices trägt zur Per‐ spektivierung von Texten bei: Beigegebene Marginalien, Rubrizierungen und Überschriften sind Signale, die auf die Geltung der Texte rückwirken. Verschränkungen von Text und Bild sorgen für wechselseitige Rahmungen.“ 132 Derartige Verschränkungen finden sich mehrere im Codex Upsaliensis, sie führten unter anderem zu seiner Wahl als zentrales Werk dieser 54 2 Literarische Performativität 133 Herberichs/ Kiening: Literarische Performativität, S. 18f. 134 Haeseli, Christa M.: Sprachmagische Texte des Clm 536 (11./ 12. Jahrhundert). In: Herberichs/ Kiening: Literarische Performativität, S. 63-83. Vertiefend vgl. Haeselis Dissertation: Magische Performativität. Althochdeutsche Zaubersprüche in ihrem Überlieferungskontext. Würzburg 2011. Arbeit. Ihre spezifischen Ausgestaltungen werden in Kapitel 3.2 untersucht. Durch eine vergleichende Untersuchung solcher Rahmen liesse sich auch Interessantes über die un‐ terschiedlichen Funktionen der verschiedenen Edda-Versionen sagen, was aber hier nicht im Vordergrund steht. Aber auch andere, der Handschrift beigefügte Texte können die Wahrnehmung eines bestimmten Textes beeinflussen und seinen Deutungsrahmen verän‐ dern. Einen direkten Einfluss auf die Wirkung eines Texts haben natürlich auch rahmende Paratexte: Pro- und Epiloge, Pro- und Epimythien gehören in verschiedenen Textgruppen konstitutiv zur literarischen Struktur. Sie lassen den Akt des Erzählens und die Aktualität des Erzählten auf‐ scheinen; z. B. indem sie Situationen von Mündlichkeit fingieren, die Rezeptionsals eine Dialog‐ ssituation inszenieren und deiktische Verweise einsetzen. Sie pointieren derart die Ereignishaf‐ tigkeit und die Literarizität des Erzählens, ohne selbst ausserhalb des literarischen Textes verortet zu sein. 133 Ein Rahmen kann einem Text Geltung verleihen, dient gleichzeitig aber als Markierung für die prekäre Situation dieser Art von Geltungsstiftung. Ein Rahmen kann immer auch als reflexives Moment eines Textes verstanden werden. Eine der bekanntesten und komple‐ xesten Rahmensituationen im Zusammenhang mit der P-E ist sicherlich in Gylfaginning zu finden. Wie sich da ein rahmender gelehrter Lehrer-Schüler-Dialog mit dem Rahmen eines nordischen Wissenswettstreits verbindet und die verschiedenen literarischen Ebenen ihre Rahmungen ausstellen, ist Thema von Kapitel 3.3.2. 2.4.4 Literarische Performativität: Ein Beispiel Zur Verdeutlichung der oben beschriebenen theoretischen Grundlagen bietet sich der Blick auf einen spezifischen Beitrag aus Herberichs/ Kienings Sammelband zur literarischen Per‐ formativität an. Obwohl die Thematik und die historische Verortung sich scheinbar sehr von der vorliegenden Arbeit unterscheiden, ist Christa Haeselis Beitrag zu den althoch‐ deutschen Zaubersprüchen in ihrem Überlieferungskontext auch interessant im Hinblick auf die Untersuchung der skaldischen Dichtung in der P-E. 134 Haeseli kommt weg von der klassischen Sprechakttheorie und bestimmt auch den Begriff performance neu, indem sie ihn für eine Handschriftenanalyse und die Frage nach Textstrategien zusammendenkt. Dabei verschiebt sich der Fokus der Fragestellung von der realweltlichen Verwendung der Zaubersprüche hin auf Zaubersprüche als schriftliche Texte mit ihren je eigenen Wir‐ kungsstrategien. Der Begriff performance wird dazu im Gegensatz zu seiner üblichen Ver‐ wendung bewusst für den „Auftritt“ eines Textes im schriftlichen Kontext verwendet: Mit diesem Perspektivenwechsel wird gegen die schematische Vorstellung von situativer, wirk‐ mächtiger mündlicher Aufführung versus dauerhaftem, wirkungslosem, schriftlich fixiertem Text argumentiert. Es stellt sich die Frage nach den textuellen Strategien, die darauf abzielen, textü‐ 55 2.4 Drei Aspekte literarischer Performativität 135 Haeseli: Sprachmagische Texte, S. 65. 136 Haeseli: Magische Performativität, S. 16. Ihre Betrachtungen zur Alphabetmagie sind auch für die Lektüre des 2. GTR in Kapitel 4.3 von Interesse. 137 Haeseli: Magische Performativität, S. 25. 138 Haeseli: Magische Performativität, S. 203. berschreitende Wirkung zu erlangen. Dabei werden die sprachmagischen Texte nicht als defizitär, als Überreste einer umfassenderen mündlichen und deshalb nicht mehr zugänglichen performance betrachtet, sondern sie können als eine Art Partitur verstanden werden, welche die Bedingungen von Wirkungsmöglichkeiten erst herstellen und dabei selber performativ verfasst sind. 135 Haeseli zeigt, wie althochdeutsche Zaubersprüche in Handschriften eingefügt werden und da je unterschiedliche performative Wirkung entfalten. Sie fragt dabei nicht nur nach zau‐ berspruchinhärenten performativen Strategien, sondern auch danach, wie die spezifische Eintragungsart und der handschriftliche Kontext als Wirkungssteigerung funktionieren können. Dies ist etwa der Fall, wenn sich Zaubersprüche an kryptographische Alphabete anlagern oder andere auratische Texte als performative Rahmungen nutzen. 136 Aus ihren Ausführungen wird klar, dass die Performativität der Rahmentexte aber nicht einseitig ge‐ dacht werden darf. Die „gerahmten“ Texte wirken genauso auch als performative Rahmen für die sie umgebenden Texte. Deshalb sollte man die Kompositionsprinzipien der Hand‐ schrift ernst nehmen. Dies wird auch für die im Codex Upsaliensis enthaltenen Texte zu beachten sein, sowie auf einer anderen Ebene auch für die Integration skaldischer (und auch eddischer) Strophen in Prosatexte. Die Parallelen von skaldischen Gedichten und Zaubersprüchen mögen etwas gewagt sein, dennoch überschneiden sie sich in gewissen Dingen: Beides sind kulturelle Phänomene aus einer (vermeintlichen) heidnischen und mündlichen Vorzeit. Beide werden im Zusammenhang mit schriftlicher Gelehrsamkeit tradiert und ihnen wird eine hohe sprachliche Wirkmacht zugesprochen. Haeseli zählt vier Aspekte auf, die für ihre Unter‐ suchung literarischer Performativität zentral sind 137 : (1) Die Wirkmacht eines Zauber‐ spruchs ist in einem Text nicht unmittelbar gegeben. Man muss also nach den Mechanismen fragen, die ihre Wirkung im Schriftlichen mitkonstituieren. Unter (2) „wird der Dynami‐ sierungsprozess selbst verstanden, der den Zauberspruch zwischen stillgelegtem Muster und wirkmächtiger Rede oszillieren lässt. Solche Prozesse lassen sich an Umschlagpunkten ausmachen, die in den Zaubertexten angelegt sind.“ Aspekt (3) betrifft die Rahmungen der Zaubertexte, die sich nicht im Anfügen von Rahmenerzählungen oder liturgischen Formeln und Gebeten erschöpfen. Dieser Punkt verbindet sich mit dem Aspekt (4), dem Überliefe‐ rungskontext innerhalb von Sammelhandschriften. Ihm kann eine legitimierende, Evidenz stiftende oder auratisierende Funktion zukommen. Abschliessend fasst Haeseli zusammen: Die performative Strategie des Zaubertextes besteht also darin, ein Szenario zu erschaffen, in dessen Rahmen er wirksam werden kann. Damit gehört zur Performativität nicht nur die Handlung selbst, sondern auch das Hervorbringen ihrer Wirkungs- und Gelingensbedingungen. 138 56 2 Literarische Performativität 2.5 Erstes Fazit und Ausblick auf die Lektüren Diese Arbeit kann die oben genannten methodischen Probleme des Performativitätsdis‐ kurses nicht lösen und hat einen viel bescheideneren Anspruch: Sie will ausloten, ob und wie ein Diskurs, der in anderen Disziplinen bereits sehr gut verankert ist, sich in der skan‐ dinavistischen Mediävistik sinnvoll anwenden lässt. Wenn das gelingt, so eröffnen sich vielleicht neue Sichtweisen auf einen der wichtigsten dichtungstheoretischen Texte des nordischen Mittelalters. Die Wahl der Begrifflichkeiten von Cornelia Herberichs und Chris‐ tian Kiening als Analysewerkezeuge ist aufgrund ihres Fokus auf textimmanente Aspekte von Performativität gefallen - dies in Abgrenzung zu den eher rein sprechakt- oder ritu‐ altheoretischen Zugängen innerhalb der skandinavistischen Mediävistik. Die drei Katego‐ rien Sagen als Tun, Wiederholung/ Wiederholbarkeit und Rahmung ermöglichen einen neuen Zugang zu literarischen Werken des Mittelalters, die neben ihren performativen Auffüh‐ rungsdimensionen auch textimmanente performative Strategien aufweisen. Es ist die Kom‐ bination mehrerer Ebenen, die eine Lektüre der P-E unter diesem Blickwinkel interessant macht. In den Blick genommen wird sowohl die materiell mediale wie auch die textuelle Ebene. In der Kombination aller performativer Aspekte auf den verschiedenen Ebenen zeigt sich das performative Potential eines Werks. Die Betonung muss dabei auf Potential liegen, denn die Wirkung auf die mittelalterlichen Rezipienten kann heute nicht mehr untersucht werden. Um die Lektüren zu systematisieren, werden die verschiedenen Ebenen (textuell, medial, diskursiv) wenn möglich getrennt behandelt. Schliesslich gehören sie aber wieder zusammengelesen und verbinden sich zu einem Beschreibungsmodell „Literarischer Per‐ formativität“. Um doch noch einmal zum Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Performativen zurückzukehren: John L. Austin weist in seiner Trennung von konsta‐ tiven und performativen Sprechakten darauf hin, dass performative Äußerungen keine Zu‐ stände in der sozialen Welt beschreiben, sondern dass sie solche Zustände im Akt des Spre‐ chens schaffen. Wie sich in den folgenden Lektüren zeigen wird, lässt sich ausgehend davon der Bogen von einer engen Sprechakttheorie hin zu einem breiteren Verständnis von lite‐ rarischer Performativität schlagen: Am Beispiel der Prosa-Edda wird sichtbar, wie ein Text einen ganzen mythologischen Kosmos und eine für Jahrhunderte gültige Poetik aus den unterschiedlichsten Versatzstücken und Einzelbestandteilen zu erschaffen vermag. Die Ge‐ lingensbedingungen für einen derartigen Sprechakt werden im Folgenden von verschie‐ denen Seiten beleuchtet. 57 2.5 Erstes Fazit und Ausblick auf die Lektüren 1 Uppsala Edda, S. 86. Alle altnordischen Zitate stammen aus dieser Edition, wenn nicht anders ver‐ merkt. 2 Wenn nicht anders vermerkt, stammen alle Übersetzungen von der Verfasserin, SSchn. 3 Vgl. Uppsala Edda, Introduction: S. lxxiv: Pálsson sieht neben inhaltlichen Trennungsgründen auch Hinweise auf eine Aufteilung in der Handschriftengestaltung selbst. Siehe auch: Guðvarður Már Gunnlaugsson: Hvernig leit Uppsalabók út í öndverðu? In: Ney, Agneta et al. (Hg.): Á austrvega. Saga and East Scandinavia. Preprint Papers of the 14th International Saga Conference, Gävle 2009, S. 343- 45. 3 Welt erfassen - Welt verfassen: Performatives Erzählen 3.1 Lektüre der erzählenden Teile der Prosa-Edda Ok er æsirnir heyra þetta sagt, gáfu þeir sér þessi nǫfn ásanna, at þá er langar stundir liði efaðist menn ekki at allir væri einir, þeir æsir er nú er frá sagt ok þessir æsir er nú vóru, ok var Ǫku-Þórr kallaðr Ása-Þórr. 1 Und als die Asen das gesagt hören, gaben sie sich diese Namen der Asen, so dass, wenn lange Zeit vergangen ist, die Menschen nicht zweifeln, dass alle dieselben wären, diese Asen, von denen nun erzählt wurde, und diese Asen, die jetzt waren, und Ǫku-Þórr wurde Ása-Þórr genannt. 2 Die Asen, die sich selbst zu Göttern erzählen - diese Stelle gehört wohl zu den bekanntesten und eindrücklichsten Szenen der Prosa-Edda. Eine Lektüre in Bezug auf die performativen Strategien derartiger Momente bietet sich sehr an, doch nicht nur solche eindeutigen „Sprechakte“ sollen untersucht werden, sondern auch Aspekte des Performativen, die nicht auf den ersten Blick als solche zu bestimmen sind. Denn nicht nur in der Erzählwelt der breit rezipierten Gylfaginning finden sich Momente der Sprachreflexionen in Bezug auf das Erzählen und die Dichtung. In diesem Kapitel werden die erzählenden Teile der P-E einer neuen Lektüre unterzogen. Der Prolog, Gylfaginning sowie Teile, die man gängiger Weise Skáldskaparmál zurechnet, werden anhand beispielhafter Stellen gelesen. Nimmt man die Gestaltung von Codex Up‐ saliensis ernst, so gehören auch weitere Handschriftenbestandteile dazu: Skáldatal, eine Liste von Herrschern und ihren Skalden, Ættartala Sturlunga, eine genealogische Auflistung des Sturlungengeschlechts sowie Lǫgsǫgumannatal, eine Aufzählung der Gesetzessprecher. Zusätzlich zu beachten sind mehrere Zeichnungen, die auf den Blättern verteilt auftauchen, die bekannteste davon diejenige von Gylfi und den drei Asen. Vom Aufbau der Handschrift her gesehen, kann man alle diese Einzelteile als zueinander gehörig betrachten. Heimir Pálsson schlägt ein Trennung in Liber primus und Liber secundus vor, die hier übernommen werden soll: „The break between Liber primus and Liber secundus is after Lǫgsǫgumannatal and is actually emphasied by the placing of the fine picture of Hár, Jafnhár and Þriði […].“ 3 Die Aufteilung macht U auffällig anders als RTW. Der Hauptunterschied liegt in der Ver‐ schiebung einiger mythologischen Geschichten, die ansonsten in Skáldskaparmál zu finden sind, nach vorne zu Gylfaginning sowie der Integration der drei Listen und den Zeich‐ 4 Dass es dabei weniger um die Trennung von Prosa und Dichtung geht, sondern mehr um zwei unterschiedliche Modelle der Wissensvermittlung, zeigt sich im Kapitel 3.3.2. 5 Für eine ausführliche Begründung der theoretischen Grundlage siehe Kapitel 2. nungen. Fragt man nach dem Sinn der Zweiteilung, scheint auf den ersten Blick klar, dass der Verfasser alle Erzähltexte in einem Teil und alle gelehrten dichtungstheoretischen As‐ pekte im anderen Teil fassen wollte. Doch damit stünden die drei Listen als scharfe Tren‐ nung dazwischen. Als These wird hier angenommen, dass sich auch die Listen sehr gut zu den narrativen, „Welt-erschaffenden“ Teilen zählen lassen und bewusst dazugestellt worden sind. Die Zeichnung von Gylfi und den drei Asen schliesst den Rahmen und zeigt, dass hier ein ausgeprägtes Bewusstsein für mediale Gestaltung vorhanden ist. Liber primus weist so viele unterschiedliche literarische bzw. mediale Formen auf, dass es ganz klar ebenso sehr wie Liber secundus als Lehrbuch angesehen werden kann - ein Lehrbuch in Bezug auf narrative Verfahren anstelle von dichterischen. 4 Narrative Texte ermöglichen es, die Bedeutung und das Potenzial von Sprache anders zu diskutieren als das argumentative Texte tun, wie sie in Liber secundus zu finden sind. In der Erzählung können unterschiedliche Modelle erprobt und Diskurse gefördert, kritisiert oder unterlaufen werden. Die Hauptthese dieser Arbeit ist es denn auch, dass die Prosa-Edda sich nicht nur als Lehrwerk für skaldische Dichtung alleine sieht, sondern viel umfassender für den Umgang mit Sprache im Allgemeinen. Obwohl Gylfaginning meist als „mythologisches Hintergrundwissen“ für die auf der Mythologie aufbauenden Skaldik bezeichnet wird, passen die Erzählungen in Gylfaginning nicht wirklich als Erklärung für die in Skáldskaparmál aufgeführten dichterischen Um‐ schreibungen. Das ist ein erster Hinweis darauf, dass die P-E nicht als ein rein auf die skaldische Praxis ausgelegtes Lehrbuch, sondern eher als grossangelegtes theoretisches Werk über die Sprache und das Erzählen allgemein angesehen werden kann. Die erzäh‐ lenden Werkteile sind nicht nur als direkte Unterstützung für aktives Dichten zu verstehen, sondern auch in ihrer Eigenheit als Erzählung. Wie die folgenden Lektüren zeigen, können auch die erzählenden Teile in Liber primus als wertvolle Hinweise auf das Verständnis von Sprache und Literatur des 13. Jahrhunderts in Island dienen. In den anschliessenden Lektüren stehen dementsprechend nicht religionswissenschaftliche oder folkloristische Fragen im Vordergrund, sondern eine klar sprach- und erzähltheorie‐ zentrierte Perspektive. Es interessieren poetologische Fragen: Was für ein Verständnis von Sprache und Literatur vermitteln die erzählenden Teile in Liber primus? Welche literari‐ schen Verfahren werden verwendet und findet eine Reflexion der Wahl statt? Welche Funktion haben die Texte innerhalb des gesamten Codex Upsaliensis? Lektüreleitend ist dafür der Diskurs der literarischen Performativität: Unter dem über‐ greifenden Thema von „Handeln mit Sprache“ sollen 1) Szenen betrachtet werden, in denen Sagen = Tun ist; 2) Wiederholungen und deren literarische Bedingungen untersucht sowie 3) verschiedenartige Rahmungen auf ihre Funktion hin überprüft werden. 5 Wie bereits mehrfach angedeutet, findet die Sprachreflexion in der P-E auf den verschie‐ densten Ebenen statt. Für die Lektüren werden deshalb unterschiedliche Aspekte gewählt, damit diese Vielfalt sichtbar wird. Um Sprünge zwischen den Ebenen zu zeigen und die Lek‐ 60 3 Welt erfassen - Welt verfassen: Performatives Erzählen 6 In W findet sich anders als in den anderen Prologen auch eine Erzählung vom Turmbau zu Babel und ein Abschnitt über die klassischen Götter. 7 In R hingegen beginnt der Prolog erst auf dem zweiten Blatt, da das erste fehlt. Die Erzählung setzt mit Óðins Stammbaum ein. 8 Eintrag „Prolog“ in: Kleine Enzyklopädie des deutschen Mittelalters, Hg. Schels, Peter, 2010. http: / / u01 151612502.user.hosting-agency.de/ malexwiki/ index.php/ Prolog. (Abgerufen am 11.9.2017) 9 Vgl. z. B. Brinkmann, Hennig: Der Prolog im Mittelalter als literarische Erscheinung: Bau und Aus‐ sage. In: Wirkendes Wort 14, 1964, S. 1-21; Strerath-Bolz, Ulrike: Kontinuität statt Konfrontation. Der Prolog der Snorra Edda und die europäische Gelehrsamkeit des Mittelalters. Frankfurt a. M. 1990 (= Texte und Untersuchungen zur Germanistik und Skandinavistik 27). 10 Sverrir Tómasson: Formálar íslenzkra sagnaritara á miðöldum. Reykjavík 1988. türen zu systematisieren, wird folgende Aufteilung vorgenommen: Zuerst erfolgt eine Lek‐ türe auf der Erzählebene des jeweiligen Textes. Diese dient gleichzeitig als kurze Inhaltsan‐ gabe. Mit der Form und der Frage nach dem „Wie“ der erzählerischen Ausgestaltung steht anschliessend die diskursive Ebene im Fokus. Schliesslich kommt als drittes eine materielle Ebene in den Blick, auf welcher auch mediale Phänomene beleuchtet werden. Die Lektüren werden grob entlang dem Aufbau der Handschrift vorgenommen. Es ist jedoch wichtig, sie immer im Zusammenhang mit den weiteren Inhalten der Handschrift zu denken, obschon die Erzählteile bislang nur ungenügend im Gesamtzusammenhang der P-E gelesen worden sind. Den engen Vernetzungen aller Teile nachzuspüren ist ein erster Schritt zu einem gesamtheit‐ lichen Verständnis der Prosa-Edda, wie sie im Codex Upsaliensis überliefert ist. 3.2 Prolog - Ein vermeintlich eindeutiger Rahmen Alle vier Haupthandschriften der P-E überliefern einen Prolog in unterschiedlicher Länge und Ausgestaltung. Im Verhältnis zueinander ist der Prolog in W am längsten, 6 derjenige in U am kürzesten, da darin die Erzählung der Herkunft der Asen aus Troja nicht angeführt ist. 7 Der Prolog in U stellt Sprache und bestimmte Erzählungsformen als Mittel zur Legiti‐ mationssicherung sowie als Machtinstrument aus. Ein mittelalterlicher Prolog kann ganz allgemein wie folgt bestimmt werden: „Der Prolog soll die Aufmerksamkeit des Lesers (Hörers) gewinnen, in den Sinn der Handlung einführen und die Glaubhaftigkeit des Geschehens durch Angabe von Gewährsleuten oder schriftl. Quellen erhöhen.“ 8 Aus der Tradition der antiken Gerichtsrede entwickelten sich in mit‐ telalterlichen Poetiken eigenständige rhetorische Konventionen für Vorreden literarischer Werke. 9 Zwar lässt sich für den mittelalterlichen Umgang mit Prologen eine grosse Vielfalt feststellen, dennoch sind auch für Prologe des nordischen Mittelalters allgemeine Vorgaben bekannt, wie Sverrir Tómasson herausgearbeitet hat. Gemäss ihm liefert ein Prolog in der altisländischen Prosaliteratur eine Begründung für die Notwendigkeit oder den Anlass des Werks und legt dessen Absichten offen, wozu auch eine Angabe der Quellen gehört. 10 Der Prolog der Prosa-Edda tritt aus der Reihe und befolgt keine der genannten Vorgaben: Snorri fasst weder sein Thema, noch eine wie auch immer geartete Streitsache zusammen, er wendet sich gerade nicht an einen Hörer oder Leser, um dessen Aufmerksamkeit oder dessen Wohlwollen zu erreichen. Sein Text hat den Charakter einer Hintergrundinformation für einen 61 3.2 Prolog - Ein vermeintlich eindeutiger Rahmen 11 Strerath-Bolz: Kontinuität, S. 42f. 12 Ein solcher Vergleich kann entweder durch die vermutete gleiche Verfasserschaft der beiden Werke durch Snorri Sturluson begründet werden, oder unabhängig von bestimmten Personen in der zeit- und ortsnahen Abfassung. 13 Der Forschungsüberblick folgt hier der Arbeit (und dem darin vorgestellten Überblick) von Strerath- Bolz: Kontinuität. 14 Die Datierungen sind für alle erhaltenen ma. Edda-Handschriften nur Annäherungen, vgl. Kapitel 1.3. 15 Ansonsten wäre dieser Abschnitt nicht so weitertradiert worden. U.a. Andreas Heusler sah hingegen im Prolog eine spätere Zutat, die zu fremd für die Inhalte der Edda waren: Heusler, Andreas: Die gelehrte Urgeschichte im isländischen Schrifttum. Berlin 1908. In: Reuschel, Helga und Stefan Son‐ deregger (Hg.): Andreas Heusler: Kleine Schriften. Berlin 1969; von See, Klaus: Mythos und Theologie im skandinavischen Hochmittelalter. Heidelberg 1988 (= Skandinavistische Arbeiten 8). 16 Z.B. Snorri Sturluson: Edda. Prologue and Gylfaginning. Faulkes, Anthony (Hg.), Oxford 1982, S. xviii; Baetke, Walter: Die Götterlehre der Snorra-Edda. Berlin 1950. 17 Clunies Ross: Skáldskaparmál. Leserkreis, bei dem Interesse ohne weiteres vorausgesetzt werden kann, und einer Klarlegung der philosophischen Grundlagen seiner Arbeit, ohne dass er den Leser ausdrücklich zur Kenntnis nimmt oder gar anspricht. 11 Dass ihr Verfasser mit den Gepflogenheiten der Literatur nicht genügend vertraut gewesen sein könnte, lässt sich mit dem Vergleich des Prologs in der Heimskringla („Weltkreis“) verneinen. 12 Denn hier finden sich die oben beschriebenen Vorgaben für Prologe. Gerade, dass der Edda-Prolog so eigenständig gestaltet ist, kann als ein erster Hinweis auf das in‐ tendierte Publikum verstanden werden: Der Prolog spricht indirekt ein mit sprachtheore‐ tischen Fragen vertrautes Publikum an oder eines, das sich für solche Fragen interessiert. Bereits viele Untersuchungen widmen sich dem ersten Teil der Prosa-Edda und tun dies beinahe ausschliesslich im Zusammenhang mit den anderen enthaltenen Texten. Der Blick‐ winkel bleibt dabei eingeschränkt auf theologisch-religionswissenschaftliche Fragen, auf die Suche nach dem Verfasser oder den möglichen Quellen für den Aufbau des Textes. 13 Wie in Bezug auf die gesamte Prosa-Edda steht in dieser Arbeit aber nicht im Vordergrund, ob der Text von Snorri Sturluson verfasst bzw. in die Kompilation eingebracht worden ist oder ob er eine spätere Zutat ist. Zwar gibt es einen textimmanenten Hinweis mit Snorris Namen, auf den im Folgenden eingegangen werden soll, aber Codex Upsaliensis ist knapp 100 Jahre nach einer verlorenen, als „Urfassung“ bezeichneten Version, entstanden und steht in der Form für sich selbst und seine Zeit. 14 Somit gehört der Prolog in seiner über‐ lieferten Form zum Codex Upsaliensis und offensichtlich sahen auch die Verfasser der an‐ deren mittelalterlichen Prosa-Edda-Handschriften eine Art dieses Prologs als sinnvollen und von Anfang an zugehörigen Einstieg in das Werk. 15 Untersuchungen, die den Prolog ebenfalls als zum Gesamtwerk gehörig zählen, versu‐ chen ihn für ihre jeweilige Interpretation fruchtbar zu machen und ihn als Lektüreanwei‐ sung für die folgenden Texte zu verstehen. Arbeiten zum Inhalt der Prosa-Edda als heidni‐ sche Mythologie bzw. als Mythographie verstehen den Prolog als Vorrede für Gylfaginning und weniger auf das Gesamtwerk bezogen. 16 Umgekehrt fällt der Prolog bei Arbeiten teil‐ weise aus dem Blick, die sich hauptsächlich den dichtungstheoretischen Aspekten der Prosa-Edda widmen. Erst Margaret Clunies Ross stellt die enge Zusammengehörigkeit zwi‐ schen Prolog, Gylfaginning und Skáldskaparmál heraus. 17 Auch in dieser Arbeit wird der 62 3 Welt erfassen - Welt verfassen: Performatives Erzählen 18 Strerath-Bolz: Kontinuität, S. 39f. 19 Der Text in U setzt mit der berühmten Rubrik ein, die als einzige Handschrift sowohl Snorri Sturluson als Kompilator nennt als auch den Titel Edda für das Werk vorgibt. Die Rubrik wird in Kapitel 3.2.3 ausführlich in die Lektüre einbezogen. Prolog als Eröffnung der nachfolgenden Inhalte der Edda angesehen, die intertextuellen Bezüge werden aber noch ausgeweitet. Nicht nur die kanonischen Teile müssen als the‐ matisch mit dem Prolog verbunden gedacht werden, auch alle weiteren im Codex Upsali‐ ensis enthaltenen Teile wie z. B. die verschiedenen Listen oder der grammatische Traktat. Der gemeinsame Nenner aller Teile ist das Interesse an Sprache, Literatur und Dichtung als wirkmächtige kulturelle Praktiken. Zu intertextuellen Verbindungen des Prologs mit Texten ausserhalb der Prosa-Edda (bzw. zur Quellen- oder Vorlagenfrage) schreibt Strerath-Bolz: Unabhängig von der Frage der Funktion und den Auseinandersetzungen um die Verfasserschaft herrscht Einigkeit darüber, dass der Prolog in seinen theologischen und historischen Spekulationen auf allgemeines mittelalterliches Bildungsgut zurückgreift. Die Quellen dafür werden in kontinen‐ talen Vorbildern der antiken, frühchristlichen und mittelalterlichen Literatur gesucht. Direkte Quel‐ lenbeziehungen sind jedoch allenfalls für einzelne Elemente hergestellt worden - der Prolog in der überlieferten Form konnte bisher auf kein konkretes Vorbild zurückgeführt werden. 18 3.2.1 Das paradoxe Verfahren der Rahmung In Kapitel 2 wurde die Rahmung als ein Aspekt literarischer Performativität definiert. Sprach‐ liche Handlungen können nur innerhalb bestimmter Rahmen bzw. Bedingungen funktio‐ nieren. Rahmen sind aber insofern paradox, als sie sowohl Bedeutung stiften wie auch den Akt dieser Bedeutungsstiftung sichtbar machen. Rahmungen sind kulturell bestimmt, je nachdem können aber z.B. literarische Werke diese Bestimmungen auch aktualisieren, kommentieren oder unterlaufen. Zwischen Rahmen und „Inhalt“ des Rahmens besteht eine komplexe Bezie‐ hung, eine einfache Aufteilung in ein „Innen“ und „Aussen“ gibt es nicht. Derartige rahmen‐ theoretische Beobachtungen lassen sich in der P-E auf verschiedenen Ebenen machen, beson‐ ders interessant sind dabei solche, die das eigene paradoxe Wesen reflektieren und damit spielen. Daher werden hier beispielhafte Ausprägungen literarischer Rahmungen näher be‐ leuchtet. Sie sind performative Aspekte der P-E, die bislang in diesem Zusammenhang noch nicht diskutiert wurden, obwohl es in der Forschung bekannte Phänomene sind. Aber wie bereits im Kapitel 2 dargelegt, kommt es in Bezug auf literarische Performati‐ vität nicht nur auf einen Aspekt alleine an, sondern auf das Zusammenspiel verschiedener Aspekte. In diesem Sinne gilt zwar der Schwerpunkt der folgenden Lektüren den unter‐ schiedlichen Rahmungen, daneben werden aber immer auch die performativen Aspekte Sagen als Tun sowie Wiederholung/ Wiederholbarkeit diskutiert. 3.2.2 Das Thema der Sprache im Prolog Der Prolog beginnt auf Bl. 2r im Codex Upsaliensis und lässt sich grob in drei thematische Teile einteilen 19 : Zuerst wird die biblische Schöpfungsgeschichte und die Entstehung des 63 3.2 Prolog - Ein vermeintlich eindeutiger Rahmen 20 Uppsala Edda, S. 6. 21 Es gibt noch zwei weitere Anfangssetzungen, vgl. Kapitel 3.2.3. 22 Der Anfang des Johannes-Evangeliums wird auch als Logos-Hymnos bezeichnet, als Lobrede auf das Wort: Joh 1,1 - 1,2: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Dasselbe war im Anfang bei Gott.“ Vgl. z.B.: Lutherbibel, revidiert 2017. www.die-bibel.de/ bib eln/ online-bibeln/ lutherbibel-2017/ bibeltext/ bibel/ text/ lesen/ stelle/ 53/ 10001/ 19999/ . (Abgerufen am 6.2.2020) 23 Uppsala Edda, S. 6. Heidentums geschildert. Darauf folgt eine Beschreibung zur Beschaffenheit der Welt, die mit naturphilosophischen Erklärungen geschildert wird. Auf diesen beiden Einheiten baut der anschliessende Teil auf, der die Geschichte der Asen erzählt, die von Asien in den Norden eingewandert sind. Auf der Erzählebene ist die Sprache und ihr Potenzial als durchgehendes Thema präsent: Die Entstehung der Welt wird parallel zur biblischen Entstehungsgeschichte erzählt und folgt dem Text des 1. Buch Mose der Genesis fast wörtlich. Almáttigr Guð skapaði himin ok jǫrð ok alla hluti er þeim fylgja, ok síðast menn, er ættirnar eru frá komnar, Adam ok Evu, ok dreifðust ættirnar um heiminn síðan. 20 Der allmächtige Gott schuf den Himmel und die Erde und alle Dinge darin, und danach Menschen, von denen die Geschlechter abstammen, Adam und Eva, und diese Geschlechter verteilten sich danach über die Welt. Der Beginn des Prologs wird durch eine grosse grüne Initiale A in Almáttigr hervorgehoben, A als erster Buchstabe des Alphabets und im Wort „allmächtig“ setzt den christlichen Kon‐ text. Der allmächtige Gott steht (fast) am Anfang von allem. 21 Der Text beschreibt hier die Weltentstehung und implizit wird angesprochen, dass diese Welt durch Sprechen ge‐ schaffen wurde. Unterstützt wird diese Vorstellung durch Ausführungen im Johannes- Evangelium. Dort erschafft Gott die Welt im Sprechen, vor der Welt war folglich Sprache: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.“ 22 Nur durch Sprache wurde Welt: Die Schöpfung wird als göttlicher „Ur-Sprechakt“ dargestellt. Göttli‐ ches Sprechen, Wesen und Handeln wird so als Einheit verstanden und ist in diesem Sinne höchst performativ. Das bedeutet weiter, dass Gott nur durch seine Sprache zugänglich ist, nur durch die Kenntnis seines Namens gelangt man zu ihm. Diese Voraussetzungen aus dem Johannes-Evangelium bestimmen den ersten Abschnitt des Edda-Prologs unausge‐ sprochen mit. Die weniger performativ gestaltete, eher beschreibende Schöpfungserzäh‐ lung der Genesis ist als Vorlage deutlicher zu erkennen, so z. B., wenn die Menschen nach der Sintflut nochmals von Gott abfallen: En er frá liðu stundir újafnaðist fólkit. Sumir vóru góðir, sumir lifðu eptir girndum sínum. Fyrir þat var drekt heiminum nema þeim er meðr Nóa vóru í ǫrkinni. Eptir þat bygðist enn verǫldin af þeim. En allr fjǫlðinn afrǿktist þá Guð. En hverr mundi þá segja frá Guðs stórmerkjum er þeir týndu Guðs nafni? En þat var víðast um verǫldina er fólkit villtist. 23 Aber als die Zeit verging, teilten sich die Menschen. Einige waren gut, andere lebten nach ihren Gelüsten. Deshalb wurde die Welt ertränkt, ausser diesen, die mit Noa in der Arche waren. Danach wurde die Welt von ihnen wieder bewohnt. Aber die grösste Mehrheit verschmähte da Gott. Aber 64 3 Welt erfassen - Welt verfassen: Performatives Erzählen 24 Lukas Rösli weist auf das sprachliche Verfahren der Analogie hin, mit dem die Menschen das Wesen der Erde mit dem menschlichen Wesen vergleichen und so die Umwelt zu erfassen ver‐ suchen. Siehe: Rösli: Topographien, S. 77. 25 Uppsala Edda, S. 6. wer konnte da von Gottes Grosstaten sprechen, als sie Gottes Namen vergassen? Und es war in den weitesten Teilen der Welt, dass die Menschen vom rechten Weg abkamen. Nachdem der Auslöser für die Sintflut nur durch die Aufteilung in „gute“ und „schlechte“ Menschen begründet wird, ohne zu sagen, worin die „Schlechtheit“ liegt, wird der nächste Fall der Menschen ausführlicher beschrieben: Weil der Grossteil der Menschen Gott verschmäht, geht sein Name vergessen. Weiss niemand mehr den Namen Gottes, kann dieser nicht mehr gepriesen und seine Taten nicht mehr verehrt werden. Die Men‐ schen sind verwirrt, weil Wissen verloren geht und sie deshalb den richtigen Weg nicht mehr erkennen. Der Zusammenhang von Wort bzw. Name Gottes als einziger Weg in die Transzen‐ denz wird in der Genesis (und im Johannes- Evangelium) hergestellt und vom Edda- Prolog aufgenommen. In der Genesis zeigt sich die sprachliche Verfügungsgewalt Gottes, der mit ihr und durch sie die Welt und alle Wesen und Dinge entstehen lassen kann. Sprache wird in diesem kleinen Abschnitt in zwei Arten mit je unterschiedlichem Potenzial auf‐ geteilt: Einerseits kann göttliche Sprache wirkmächtig und schöpferisch sein, denn die Welt gibt es nicht jenseits von Sprache. Andererseits ist menschliche Sprache ein Mittel gegen das Vergessen, hier gegen das Vergessen des richtigen Namen Gottes und das Wissen bzw. Verständnis der Welt. Für den Menschen dient Sprache als Mittel zur Welt‐ erfassung. 24 Gott gewährt den Menschen trotz des Vergessens seines Namens genügend Wissen, um weltliche Dinge zu verstehen. Es folgen naturphilosophische Erklärungen und die Schil‐ derung, wie die Menschen ihre Abstammung an die Welt knüpfen. Die eigene Herkunft zu bestimmen zeigt sich als urmenschliches Bedürfnis. Die Menschen erkennen anhand ver‐ schiedener Naturphänomene, dass es einen Lenker der Welt (und damit einen Schöpfer) geben muss und sie wollen nun seinen Namen im Gedächtnis behalten: En eigi vissu þeir hverr hann var. En því trúðu þeir at hann ræðr ǫllum hlutum ok til þess at þeir mætti muna, þá gáfu þeir ǫllum hlutum nafn með sér, ok síðan hefir átrúnaðr breyzt á marga vega, sem menn skiptust eða tungur greindust. 25 Aber sie wussten nicht, wer er war. Aber sie glaubten das, dass er alle Dinge steuert, und deshalb, dass sie sich erinnern können, gaben sie allen Dingen unter sich Namen, und seither hat der Glaube sich verändert in vieler Weise, so wie die Menschen sich aufteilten oder Sprachen sich verzweigten. Die menschliche Sprache dient dazu, die Schöpfung zu erfassen. Den abgefallenen Men‐ schen fehlt jedoch die letzte Erkenntnis bzw. die göttliche Offenbarung. Ohne diese teilen sich die Sprachen und damit die Glaubensformen auf und die Dinge in der Welt werden unterschiedlich benannt. 65 3.2 Prolog - Ein vermeintlich eindeutiger Rahmen 26 Dronke, Ursula und Peter: The Prologue of the Prose Edda. In: Sjötíu ritgerðir helgaðar Jakobi Bene‐ diktssyni 20. júlí 1977, 1, Reykjavík, S. 153-176, hier S. 163. 27 Debus, Friedhelm: Namenkunde und Namengeschichte. Eine Einführung. Berlin 2012, S. 11. 28 Uppsala Edda, S. 8. Ursula und Peter Dronke führen dazu aus: „The implication seems to be that naming was the essential first stage of communicating understanding and, dependent upon understan‐ ding, belief.“ 26 In der Vormoderne sind Namen nicht als arbiträr und „äusserlich“ anzusehen, sondern gehören zum Wesen des Bezeichneten unveräusserlich dazu. Namen gehören für eine Person sozusagen zur anthropologischen Grundausstattung. Man darf von der „Funda‐ mentalität des Namen-Habens“ sprechen […] und mit Blick auf germanische Traditionen formulieren: „der Name erst schafft seine Person. Darum ist der Name kostbarster Besitz, ohne den ein Mensch nicht wirklich leben kann.“ […] Wie wichtig der Akt der Namengebung ist, lässt sich an den un‐ terschiedlichen, je besonders ausgestalteten Taufzeremonien, ob christlich oder nicht, beobachten. Das Benennen ist ein urtümlicher Vorgang, mit dem mythische Vorstellungen wesenhaft verknüpft sind. Das alte Prinzip des nomen est omen will sagen, dass die mit dem Namen zugesprochene Verheissung im Heissen lebendig ist, dass der Benannte mit seinem Namen grundsätzlich eins wird, Name und Person identisch sind. 27 Die Kenntnis eines Namens verleiht also Macht über ein Wesen, dieser Gedanke gilt nicht nur in Märchen oder Zaubersprüchen, sondern auch in der nordischen Mythologie. In christlicher Hinsicht bedeutet die Kenntnis eines Namens „Erkenntnis“ - diese Verbindung macht deutlich, inwiefern z. B. gelehrte Enzyklopädien als Bücher, die die Welt erfassen, verstanden werden können. Auf der Erzählebene des Prologs der P-E wird dementsprechend eine enzyklopädische Dimension aufgerufen, welche schliesslich noch deutlicher thematisiert wird: Der nächste Abschnitt des Prologs führt gelehrtes Wissen über die Aufteilung der Welt in drei Teile vor. Solches Wissen ist bekannt aus zahlreichen mittelalterlichen Enzyklopädien, die das ge‐ sammelte Wissen der Welt darstellen. Die beste und schönste Region der Welt mit den besten Menschen ist Asía (Asien): „Þar er mið verǫldin, ok svá sem þar er betra en í ǫðrum stǫðum, svá er þar ok mannfólkit meirr tignat en í ǫðrum stǫðum at spekt ok afli, fegrð ok ǫllum kostum.“ 28 (Die Mitte der Welt ist dort, und so wie es dort besser ist als an anderen Orten, so sind dort die Menschen ausgezeichneter als an anderen Orten in Bezug auf Weis‐ heit und Kraft, Schönheit und allen Eigenschaften.) Der Text entwirft eine Welt der Elite mit zwölf Königreichen und zwölf Hauptsprachen. Diese Welt wird dann mit einer genea‐ logischen Aufzählung der Könige belebt, wobei der wichtige Punkt die Ausdehnung des ausgezeichneten Volkes in den Norden ist. Trojá, die Tochter von König Priamus, heiratet König Menon und: 66 3 Welt erfassen - Welt verfassen: Performatives Erzählen 29 Uppsala Edda, S. 8. 30 Zu den Listen in U vgl. Kapitel 3.4.1. 31 Dronke: Prologue, S. 167. 32 Uppsala Edda, S. 8. Sonr þeira hét Trór er vér kǫllum Þór. Þá var hann tólf vetra er hann hafði fullt afl sitt. Þá lypti hann af jǫrðu tíu bjarnstǫkum senn. Hann sigraði marga berserki senn ok dýr eða dreka. 29 Ihr Sohn hiess Trór, den wir Þórr nennen. Er war zwölf Jahre alt, als er seine volle Kraft hatte. Da hob er zehn Bärenhäute zugleich von der Erde hoch. Er besiegte viele Berserker auf einmal und Tiere und Drachen. Durch das Prinzip der genealogischen Erzählung (die Angleichung ist hier etymologischer Natur) lassen sich Beziehungen und Abstammungen herstellen, die der Legitimierung von Macht und der Bedeutungsstiftung dienen. Im Codex Upsaliensis ist das Prinzip durch die Einfügung von der genealogischen Liste des Sturlungengeschlechts und zwei ähnlichen Listen, die aber nicht streng genealogisch funktionieren, besonders hervorgehoben. 30 Im Prolog dient es der Ansippung des Nordens an Kontinentaleuropa und den christli‐ chen Glauben bzw. die antike Gelehrsamkeit: Der kulturell und geographisch vermeintlich am Rand der Welt stehende Norden soll ins Zentrum gerückt werden. Ein solcher Zug ist auch in nicht-nordischen Werken zu beobachten, wie Ursula und Peter Dronke schreiben: The importance Snorri attaches to Troy, and his efforts to relate the Norse names to Trojan ones, suggest rather an attempt to give his people’s ancestors the same Trojan aura as writers such as Nennius, and above all Geoffrey of Monmouth, had conjured up for the Kings of Britain. 31 Wie an anderen Orten auch kann man dem Prolog bzw. der P-E einen sehr eigenständigen Gebrauch der bekannten und vielgenutzten Strategie zur Beziehungsherstellung attes‐ tieren: Es bleibt nicht bei der etymologischen Erklärung bzw. Verknüpfung von Trór mit Þórr, es werden zusätzliche weitere intertextuelle Bezüge gesucht: Mitten in die klassischgelehrte Stelle tritt die nordische Literatur dazu. Þórr wird dabei als typischer Held aus der Sagaliteratur beschrieben: Eben weilt der Text noch in Troja, dem Zentrum der christlichen Welt, nun ist springt er in eine altisländische Sagawelt, in der es Bärenhäute, Berserker und wilde Tiere zu überwinden gilt. Die erste Welt wird hier mit der zweiten überlagert, durch das erzählerische Überblenden erscheinen die beiden zusammengehörig zu sein. Dazu trägt auch das Personalpronomen vér (wir) bei, das den Rezipienten als Teil dieser nordischen Welt direkt miteinbezieht und ihn so in einen Kreis mit dem Verfasser stellt. Erst nach diesem Einschub wird die genealogische Aufzählung weitergeführt, von Þórr und seiner Frau Sif aus reicht die Kette bis zu Óðinn. Þessi Óðinn hafði mikinn spádóm. Kona hans hét Frigida, er vér kǫllum Frigg. Hann fýstist norðr í heim með mikinn her ok stórmiklu fé, ok hvar sem þeir fóru þótti mikils um þá vert ok líkari goðum en mǫnnum. 32 Dieser Óðinn hatte eine ausgeprägte Sehergabe. Seine Frau hiess Frigida, die wir Frigg nennen. Er hatte grosses Verlangen in den Norden der Welt (zu gehen) mit einer grossen Armee und riesigem Besitz, und wo auch immer sie fuhren, dachte man, sie seien gross und Göttern ähnlicher als Menschen. 67 3.2 Prolog - Ein vermeintlich eindeutiger Rahmen 33 Als euhemeristisches Prinzip (nach dem griech. Philosophen Euhemeros) wird bezeichnet, wenn ursprünglich herausragende Menschen zu Göttern erklärt werden. Da die Asen hier nur „Göttern ähnlich scheinen“, kann man die Vorgänge im Prolog nicht wirklich als euhemeristisch fassen. Al‐ lenfalls implizit könnte das Konzept dazu gedacht werden. Erst in Gylfaginning kommt es am Ende zur deutlichen euhemeristischen Apotheose durch die erzählenden Asen selbst, vgl. Kapitel 3.3.3. 34 Für einen Vergleich mit polemischen Texten siehe z. B. Strerath-Bolz: Kontinuität, S. 52-63. 35 Uppsala Edda, S. 10. 36 Uppsala Edda, S. 10. Die Macht, Länder einzunehmen, ist an Reichtum bzw. militärische Fähigkeiten gebunden, die offensichtliche Übermacht in diesen Belangen lässt Óðinn (der das voraussah) und sein Gefolge Göttern gleichen und macht sie zu den Herrschern über die Gebiete des Nordens. Von ihnen wiederum stammen die grossen zeitgenössischen Geschlechter ab. So wird Macht in zwei Richtungen gleichzeitig legitimiert: Aus dem Narrativ herausführend, ver‐ binden sich die aktuellen nordischen Herrschersippen mit Óðinn, innerhalb der Erzählwelt der Edda erreicht Óðinn so eine Anbindung an die geltende historische Realität. Abermals zeigt sich der Text um Kontinuität bemüht und stellt die Asen in Anlehnung an euheme‐ ristische Tradition nicht als Götter dar, sondern lässt sie nur in der Sicht der Menschen als solche aussehen. Was hier als eine Art passiver und unbeabsichtigter Vorgang geschildert wird, wird in Gylfaginning zur aktiven und bewussten Strategie. 33 Anders als andere zeitgenössische Texte ist der Edda-Prolog in der Beurteilung der Heiden neutral und ohne Polemik, er legitimiert das Heidentum als Vorgänger des Chris‐ tentums und nicht als dessen Gegner. 34 Von der allgemeineren Erzählung der asischen Herrschaftsübernahme geht der Prolog zum Schluss über in eine exemplarische Darstellung: Explizit werden nun Óðinn und seine Leute als Æsir bzw. Asen, die aus Asía stammen, bezeichnet. Sie reisen durch Schweden und der dortige König Gylfi lädt sie zu sich ein. Auf den ersten Blick erscheint erzähllogisch nicht ganz klar, weshalb Gylfi bereits an dieser Stelle eingeführt wird - nach der kurzen Episode wird er erst wieder in Gylfaginning erwähnt. Der Prolog führt jedoch nochmals die Grösse der Asen vor: En sá tími fylgði ferð þeira, hvar sem þeir dvǫlðust í lǫndum, þá var þar ár ok fríðr, ok trúðu menn at þeir væri þess ráðandi, því at ríkis menn sá þá ólika flestum mǫnnum ǫðrum at fegrð ok viti. 35 Und solches Glück folgte ihrer Reise, wo auch immer sie sich aufhielten in den Ländern, war dort gute Ernte und Frieden, und die Menschen glaubten, dass sie die Urheber wären, weil mächtige Männer sahen, dass sie anders als die meisten Menschen waren in Schönheit und Weisheit. Damit ist Gylfis Eintritt in die Erzählung erklärt: Die Macht der Asen wird durch die An‐ erkennung mächtiger Menschen legitimiert. Gylfi gehört als König in die Kategorie der mächtigen Männer. So bestätigt der Prolog Gylfi bereits vor seinem eigentlichen Auftritt in Gylfaginning als rechtmässige Gegenfigur für die Asen. Der Schluss des Prologs im Codex Upsaliensis beleuchtet nochmals das Thema Sprache: Þeir æsirnir tóku sér kvánfǫng þar innan lands ok urðu þær ættir fjǫlmennar um Saxland ok um norðrhálfuna. Þeirra tunga ein gekk um þessi lǫnd, ok þat skilja menn at þeir hafa norðr hingat haft tunguna í Noreg ok Danmǫrk, Svíþjóð ok Saxland. 36 68 3 Welt erfassen - Welt verfassen: Performatives Erzählen 37 Snorri Sturluson: Heimskringla I. B. Aðalbjararson (Hg.). Reykjavík 1941-51 (= Íslenzk fornrit XXVI), S. 17. 38 Uppsala Edda, S. 6. Die Æsir nahmen sich Ehepartner dort im Land, und diese Geschlechter wurden dort zahlreich rund um Sachen und um die Nordhälfte. Deren Sprache alleine ging durch diese Länder, und die Menschen verstehen, dass sie die Sprache hierher in den Norden nach Norwegen und Dänemark, Schweden und Sachsen gebracht haben. Das Adverb hingat (hierher) macht deutlich, dass sich der Verfasser als dem Norden zuge‐ hörig ansieht und so auch den Rezipienten da verortet - parallel zur Funktion des Prono‐ mens vér (wir), wie oben beschrieben. Das Potenzial von Sprache tritt nochmals in den Vordergrund: Die Asen bringen ihre Sprache und damit auch ihre herausragende Kultur in den Norden. Durch das Einheiraten und die Weitergabe der Sprache wird diese Kultur ver‐ erbt und das ausgezeichnete Wesen weitergegeben. Indem die Sprache gesprochen wird, wird das Wissen der grossen Vorfahren überliefert. Wie der gesamte Prolog in U ist auch diese Feststellung äusserst knapp gehalten. Man ist versucht, die ausführlicheren Erzäh‐ lungen anderer Edda-Prologe oder aus der Heimskringla als vertiefte Argumentation dazu zu lesen. So wird z. B. in der Heimskringla Óðins herausragender Umgang mit Sprache her‐ vorgehoben: […] at hann talaði svá snjallt ok slétt, at ǫllum, er á heyrðu, þótti þat eina satt. Mælti hann allt hendingum, svá sem nú er þat kveðit, er skáldskapr heitir. Hann ok hofgoðar hans heita ljóðasmiðir, því at sú íþrott hófsk af þeim í Norðrlǫndum. 37 […] dass er so eloquent und einschmeichelnd sprach, dass alle, die zuhörten, dachten, das Gesagte sei einzig wahr. Er sprach ganz in Reimen, so wie nun das gesagt wird, was Dichtung heisst. Er und seine Tempelpriester heissen Liederdichter, weil diese Fertigkeit bei ihnen im Norden ange‐ fangen hatte. Ob diese expliziten Zusammenhänge zwischen Óðinn und der Dichtersprache auch für den Prolog von Codex Upsaliensis als intertextuelles Hintergrundwissen angenommen werden können, lässt sich nicht sagen. Es entspricht aber der allgemeinen Tendenz des Handschrif‐ tenverfassers, nicht immer alles auszuformulieren und explizit zu machen. Diese unein‐ deutige Art eröffnet gerade vielfältige Sinndimensionen und macht eine Lektüre so inter‐ essant. 3.2.3 Multimediale Anfänge Bis jetzt wurde unterschlagen, dass der Prolog im Codex Upsaliensis nicht der eigentliche Anfang des Werks ist. Als einzige Handschrift der Prosa-Edda stellt er vor die Vorrede eine Rubrik, die in der Forschung grosse Berühmtheit erlangt hat: Bók þessi heitir Edda. Hana hefir saman setta Snorri Sturluson eptir þeim hætti sem hér er skipat. Er fyrst frá ásum ok Ymi, þar næst skáldskápar mál ok heiti margra hluta. Síðast Háttatal er Snorri hefir ort um Hákon konung ok Skúla hertuga. 38 69 3.2 Prolog - Ein vermeintlich eindeutiger Rahmen 39 Glauser, Jürg: Sinnestäuschungen. Medialitätskonzepte in der Prosa-Edda. In: Margrét Eggertsdóttir et al. (Hg.): Greppaminni. Reykjavík 2009, S. 165-174. Dieses Buch heisst Edda. Snorri Sturluson hat es in der Form zusammengesetzt, wie es hier ge‐ ordnet ist. Als erstes wird von den Asen erzählt und von Ymir, als nächstes von der Sprache der Dichtung und Bezeichnungen von vielen Dingen. Zuletzt das Vermassverzeichnis, das Snorri über König Hákon und Herzog Skúli gedichtet hat. Der eigentliche Prolog beginnt wie oben gezeigt, unterhalb der roten Überschrift mit einer grossen grünen Initiale A für Almatigr Guð (Allmächtiger Gott). Abbildung 1: Anfangsrubrik (DG 11 4 to, 2r) Die Rubrik ist die einzige Quelle für die Verfasserschaft Snorris und auch der Titel Edda ist nur hier überliefert. Bereits vielfach wurde auf das mediale Bewusstsein hingewiesen, das in der Rubrik sichtbar wird: Das Werk ist ein in und für die Schriftlichkeit konzipiertes Buch, d. h. ein materielles Objekt, und es wird bewusst als solches bezeichnet: Der Schreiber der Notiz legt in seiner - höchst stereotypisierten - Formulierung gleich am Anfang Gewicht auf den Umstand, dass ein (mittelalterlicher) Text zusätzlich zu seiner thematisch-ästhe‐ tischen Seite immer auch eine materielle Dimension aufweist und referiert darauf die Entste‐ hungsgeschichte des Werks, nimmt eine Zuschreibung an einen als bekannt vorausgesetzten Autor/ Kompilator vor, versieht den ganzen Text sowie einzelne Teile mit Titeln […] und gibt einen Überblick über seine Gliederung. Dazu bedient er sich mit setja saman für „kompilieren“, im Sinn von „zusammensetzen, zusammentragen, zusammenstellen“, und yrkja für „dichten, komponieren“ einer spezifischen poetologischen Terminologie. 39 Über den Verwendungszweck wird hier aber nur implizit (wenn überhaupt) etwas gesagt. Indem der Inhalt aufgelistet wird, wird eine Kategorisierung von Wissen vorgenommen und der enzyklopädische Charakter des Gesamtwerks kommt bereits ganz zu Beginn des Werks zum Vorschein, auf den im Folgenden der vorliegenden Arbeit immer wieder zu‐ rückzukommen sein wird. 70 3 Welt erfassen - Welt verfassen: Performatives Erzählen 40 Glauser: Skandinavische Literaturgeschichte, S. 5. Die unklare Bedeutung des Titels wird auch disku‐ tiert in: Quinn, Judy: Editing the Edda - the case of Vǫluspa. In: Scripta Islandica 51, 2001, S. 69-92, hier S. 70-71. 41 Zum Bedeutungswandel des Begriffs Edda hin zu einer Art Überbegriff für skaldische ars poetica, vgl. Quinn, Judy: Eddu list: The Emergence of Skaldic Pedagogy in Medieval Iceland. In: Alvíssmál: For‐ schungen zur mittelalterlichen Kultur Skandinaviens 4, 1994, S. 69-92, hier S. 88. Für die spezifisch isländi‐ schen Weiterentwicklungen im Barock vgl. z.B. Glauser: Skandinavische Literaturgeschichte, S. 68. 42 Jedoch muss beachtet werden, dass mittelalterliche Werke häufig keinen Titel im heutigen Sinne tragen. Das Incipit diente der Kenntlichmachung des Inhalts, was die Anfangsrubrik im Codex Up‐ saliensis durchaus macht. Zu welchem Zeitpunkt der Name Edda zu den Inhalten dazukam, kann nicht mehr festgestellt werden. Die Rubrik (wie auch der darauffolgende Prologtext) gibt vor, einen eindeutigen Rahmen für das Kommende zu stiften. Aber dieser Rahmen generiert durchaus Mehrdeutigkeiten: Es fehlt beispielsweise eine Erklärung, was Edda bedeutet und bis heute ist die Etymologie des Wortes ungeklärt: […] von den verschiedenen Deutungsversuchen - zu óðr, „Dichtung“, das auch mit Óðinn in Ver‐ bindung zu bringen ist; zum isländischen Hof Oddi, auf dem Snorri Sturluson ausgebildet wurde, evtl. mit der Bedeutung „Buch von Oddi“; zum altisländischen Wort edda für „Urgrossmutter“; zum lateinischen edo im Sinn von „sammeln, herausgeben“ - hat sich keiner richtig durchgesetzt. 40 Alle Erklärungsversuche haben bis zu einem gewissen Grad ihre Berechtigung. Auch mit einer Perspektive, die nach dem Performativen in der P-E fragt, gibt es keine deutliche Präferierung für eine der Möglichkeiten. Sowohl die Herleitung von lat. edo (ich gebe heraus, verfasse), als auch von altnord. óðr (Dichtung) weisen auf eine Reflexion der eigenen Konstruiertheit zurück und sind in diesem Sinne performativ zu verstehen. Das Gleiche gilt aber auch für die Deutungen Edda (Urgrossmutter) und Oddi (von Oddi). Die erste verweist auf die mündliche Tradierung von Wissen aus der Vergangenheit, die zweite kann als Le‐ gitimationsstrategie durch Verweis auf eine bedeutende örtliche Herkunft gedacht werden. Hier liefert der Begriff des Performativen keine neuen Einsichten. Gerade der Umstand, dass auch der Titel den Rezipienten mit mehreren Deutungsopti‐ onen zurücklässt, könnte - ist es denn eine bewusste Verfasserstrategie - auf den unein‐ deutigen literarischen Status des Werks deuten. 41 Ist es ein unbeabsichtigter Effekt, d. h. ging die Bedeutung verloren - wäre es ein ironischer Zufall der Rezeptionsgeschichte, dass ausgerechnet die Bedeutung des Namens für das Werk, das über die Wichtigkeit der rich‐ tigen sprachlichen Bezeichnungen berichtet, vergessen gegangen ist. 42 Obwohl diese Arbeit eine umfassende Behandlung des Werks, so wie es in der Handschrift vorliegt, fordert, scheint eine solche Lektüre durch die Anfangsrubrik nicht bestärkt zu werden: Sie beschränkt die Inhalte der P-E auf einige wenige Teile. Es besteht somit eine Diskrepanz zwischen der textuellen Inhaltssetzung und der materiellen Gestaltung der Handschrift. Nur von „ásum ok Ymi“ (Asen und Ymir), von „skáldskápar mál“ (der Sprache der Dichtung) und von „heiti margra hluta“ (der Bezeichnung vieler Dinge) ist die Rede. Die Inhaltsangabe bildet die Reihenfolge der Einzelteile relativ gut ab, der letzte Teil ist das Versmassverzeichnis Háttatal, das als einziger Teil als von Snorri „gedichtet“ (hefir ort) bezeichnet wird, die vorherigen Teile wurden von ihm „zusammengesetzt“ (saman setta). Man könnte nun „die Bezeichnung vieler 71 3.2 Prolog - Ein vermeintlich eindeutiger Rahmen Dinge“ sehr weit ausdehnen, um alle im Codex Upsaliensis enthaltenen Bestandteile miteinzu‐ binden. Das scheint wenig sinnvoll, besser ist es, das unfeste Wesen des mittelalterlichen Textes anzuerkennen und die spezifische Ausgestaltung im Codex Upsaliensis als eine Version der Prosa-Edda zu verstehen. Daneben können problemlos weitere - medial unterschiedlich gestal‐ tete - Versionen bestehen, einige sind bekannt, andere nicht. Die Anfangsrubrik (wie auch die weiteren Rubriken) kann aus einer dieser anderen Versionen übernommen, jedoch nicht an den Textkörper angepasst worden sein. Die gegenteilige Erklärung sieht die Rubrik als Innovation des Verfassers von U an und die Textbestandteile als ohne Anpassung übernommen. In der vorliegenden Rubrik zeigt sich, dass paratextuelle Rahmen performative Strategien sind, die Bedeutung stiften, gleichzeitig dadurch aber auch offenlegen, dass diese Bedeutung dem „Inhalt“ nicht bereits inhärent ist, sondern zusätzlich beigegeben werden muss. Sie macht sichtbar, wie paradox derartige literarische Verfahren eigentlich sind: Sie verleihen Bedeutung und wirken auf das „Innere“ bzw. das Gerahmte. Aber das Innere wirkt zurück und hat durchaus Einfluss auf den äusseren Rahmen. Zu paratextuellen Rahmen gesellen sich teilweise auch Rahmen nicht-sprachlicher Art. So kann der Anfang des Prologs in U um eine weitere Stelle nach vorne verschoben werden. Noch vor der eben besprochenen Anfangsrubrik weist der Codex Upsaliensis auf Blatt 1v eine weitere Eigenheit auf: Sie zeigt eine die ganze untere Blatthälfte einnehmende und relativ sorgfältige Zeichnung eines Mannes mit den Insignien eines Bischofs. 72 3 Welt erfassen - Welt verfassen: Performatives Erzählen 43 Thorell, Olof: Inledning. In: Snorre Sturlassons Edda. Uppsala-handskriften DG 11, II, Uppsala 1977, S. XVIII. 44 Übersetzung der Verfassering, SSchn. 45 Aðalheiður Guðmundsdóttir: Dancing Images from Medieval Iceland. In: Ney, Agneta et al. (Hg.): Á austrvega. Saga and East Scandinavia. Preprint Papers of the 14th International Saga Conference, Gävle 2009, S. 19. Abbildung 2: Bischof (DG 4to, 1v) Der Mann trägt eine Kutte oder Umhang und eine Mitra. In der linken Hand hält er einen Krummstab, mit der rechten Hand weist er mit dem ausgestreckten Zeige- und Mittelfinger auf Blatt 2r. Olof Thorell schätzt die Abbildung als eine spätere Zutat ein: „Biskop med biskopstav; höger arm upplyft och ett par fingrar utsträckta. Knappast äldre än 1400-talet“ 43 („Bischof mit Bischofsstab, rechter Arm erhoben und ein paar Finger ausge‐ streckt. Kaum älter als 15. Jahrhundert“). 44 Aðalheiður Gúðmundsdóttir vermutet die Ent‐ stehung zwischen dem 14. und 15. Jahrhundert und begründet die Einschätzung mit der Ausgestaltung der Mitra und des Krummstabs. 45 73 3.2 Prolog - Ein vermeintlich eindeutiger Rahmen 46 Guðmundsdóttir: Dancing Images, S. 19. Guðmundsdóttir stellt zusätzlich die These auf, dass der Bischof die weiteren Figuren, die von ihr als Tänzer bestimmt werden, tadelt. Für eine extratextuelle Deutung der Zeichnung vgl. Rösli: Topographien, S. 52f. 47 Thorolf: Inledning, S. XVIII. 48 Glauser, Jürg: Unheilige Bücher. Zur Implosion mythischen Erzählens in der „Prosa-Edda“. In: Car‐ delle de Hartmann, Carmen et al. (Hg.): Heilige Bücher. Berlin 2013 (= Das Mittelalter 18/ 1), S. 106- 121, hier S. 112. 49 Glauser: Unheilige Bücher, S. 112. 50 Zu den genealogischen Listen vgl. Kapitel 3.4.1. Wirklich sicher kann folglich nicht bestimmt werden, wann die Zeichnung in die Hand‐ schrift kam. Dennoch kann man sie als Bestandteil und gegebenenfalls als frühes Rezept‐ ionselement betrachten und in eine Lektüre miteinbeziehen. Aðalheiður Gúðmundsdóttir fragt nach ihrer Funktion: „The question arises whether the bishop on fol. 1v was drawn for a particular purpose, or whether it is simply an exercise in draughtsmanship that hap‐ pens to be here. Could it be that the bishop was intended as ‚blessing‘ the heathen content of the manuscript […]? “ 46 Dass der Bischof einen deutlichen christlichen Rahmen für das Werk aufmacht, ist nicht zu bezweifeln. Nimmt man dabei den Medienwechsel von Text zu Bild in den Blick, lässt sich das auch ohne Interpretation als Abwehr des heidnischen Inhalts verstehen. Eine Segnung könnte auch als rein textueller Zusatz hinzukommen, hier ist es aber eine visuelle Darstellung der Institution Kirche. Durch die zeigende Geste des Bischofs wird der Leser direkt zum Textbeginn geführt, er wird zum Lesen und Hören gleichzeitig aufgefordert. Seine Handgeste weist einerseits auf den Prolog, andererseits auf die gelehrte Schriftdimension des Werks hin. Der lesende Rezipient bekommt gleich zu Beginn visuell von einem kirchlichen Vertreter eine Leseaufforderung. Der „unpersönliche“ Text schafft so eine direkte und unmittelbare Ansprache des Rezipienten. Die Zeichnung inszeniert gleichzeitig aber auch eine mündliche (gelehrte) Kommunikationssituation, deutet man die Handgeste des Bischofs als Bitte um Aufmerksamkeit bzw. Stille. Der Rahmen wirkt so in mehrfacher Hinsicht bedeutungstiftend für den folgenden Inhalt. Eine kleine Überschrift oberhalb des Bischofs erweitert dieses Spektrum noch. Klein geschrieben steht da: Hier er vnder pyramvs konvngr  47 (Hier unten ist König Priamus). Bis jetzt hat erst Jürg Glauser eine Deutung dafür vorgeschlagen. Die Überschrift fügt dem kirchlichen Rahmen eine weitere Dimension hinzu und zeigt beispielhaft, wie vernetzt und verwoben die einzelnen Bestandteile der Prosa-Edda im Codex Upsaliensis zu verstehen sind. Bemerkenswert sei an der Notiz, dass sie den gezeichneten Bischof explizit mit dem trojanischen Hauptkönig Priamus identifiziere, der im Prolog als Schwiegervater von Menon genannt wird. 48 Eine erste Verbindungslinie führt so direkt von der Bischofszeich‐ nung in den Prologtext hinein. Aber Glauser weist auf eine weitere Vernetzung hin: Der mittelalterliche Bischof repräsentiert somit in der (möglicherweise durchaus nicht unironisch gemeinten) Notiz den antiken Hauptkönig. Auf diesen findet sich in dem weiter hinten im Codex Upsaliensis befindlichen kurzen Abschnitt ‚Ættartala Sturlunga‘, d. h. der genealogischen Herlei‐ tung des isländischen Geschlechts der Sturlungen ein weiterer Hinweis […]. 49 Ausgangspunkt der Sturlungen-Genealogie ist der biblische Adam, mit Priamus bekommt die Linie zusätzlich Anschluss an die Antike. Blatt 1v zeigt diese mehrfache Bedeutungs‐ anhäufung intermedial ausgestaltet - Rahmen und Inhalt bedingen sich gegenseitig. 50 74 3 Welt erfassen - Welt verfassen: Performatives Erzählen 51 Thorolf: Inledning, S. XVIII. 52 Rösli: Topographien, S. 52f. Rösli beschreibt hier die Anfänge aller Edda-Handschriften und arbeitet die unterschiedlichen Textanfangsstrategien deutlich heraus. 53 Rösli: Topographien, S. 53. Auf Bl. 1r ist eine etwas weniger deutlich erkennbare Zeichnung zu finden. Thorell be‐ schreibt sie unsicher als „Djur (? ), med människohuvud. Väl knappast centaur? “ 51 (Tier (? ), mit Menschenkopf. Wohl kaum ein Zentaur? ). Lukas Rösli sieht darin „das Bild einer Chi‐ märe, die aus einem menschlichen Kopf und dem Hinterteil eines Tieres, wohl eines Pferdes oder Hirschs, zusammengesetzt ist.“ 52 Abbildung 3: Figur mit Menschenkopf (DG 11 4to, 1r) Weil man nicht genau sagen kann, worum es sich handelt, ist Rösli zuzustimmen, dass dem Bild kein zu grosses Gewicht für die Gesamt-Edda beigemessen werden kann. Anders als z. B. der Bischof ist es nicht gross und sieht auch nicht sehr sorgfältig gezeichnet aus. Einen Bezug zwischen dem mythologischen Wesen der Chimäre und der mythologischen Erzäh‐ lungen der P-E herzustellen, ist schwer, „da Chimären nicht wirklich zum Figureninventar der eddischen Mythen zählen.“ 53 Ist es denn eine Chimäre und wollte man daraus einen paratextuellen Zusammenhang zum Handschrifteninhalt herleiten, so wäre er evtl. in der Uneindeutigkeit des mythologischen Wesens und den ebenso in der Schwebe gehaltenen Bedeutungen der Prosa-Edda zu suchen. Bl. 1r weist aber auch Text auf, der wegen seiner erschwerten Lesbarkeit noch schwieriger einzuordnen ist als die kleine Zeichnung. Thorolf meint dazu: „På blad 1 r har en okänd 75 3.2 Prolog - Ein vermeintlich eindeutiger Rahmen 54 Der Text der drei Strophen und weitere Literaturhinweise in: Uppsala Edda, Introduction: S. xcviiif. 55 Uppsala Edda, Introduction, S. xcix. 56 D.h. zwischen 100-200 Jahren, nimmt man die Altersangabe der eingefügten Strophe für stimmig. 57 Liber primus wird auch von einem visuellen Rahmen beendet: Die berühmte Zeichnung von Gylfi und den drei Asen findet sich direkt vor dem (in U nach hinten verschobenen) Beginn der Skáldskaparmál, vgl. Kapitel 3.4.2. 58 Ein Medium dafür können Enzyklopädien sein. hand från 1400-talet eller 1500-talet nedskrivit tre skaldestrofer (rimligtvis s.k. lausavisor).“ (Auf Blatt 1r hat eine unbekannte Hand aus dem 15. oder 16. Jahrhundert drei Skaldenstrophen niedergeschrieben, eigentlich sogenannte lausavísur). Die erste Strophe scheint unabhängig zu sein, Strophe 2 und 3 gehören zusammen. 54 Die Übersetzung ist umstritten, es scheint keinen direkten Zusammenhang zum Inhalt der Handschrift zu geben. Pálsson konstatiert denn auch: „They are merely a sign that empty spaces called for something to be written or drawn.“ 55 Das stimmt zwar häufig, allerdings muss gerade für den Codex Upsaliensis gesagt werden, dass sehr viel Leerraum auf den Blättern zu finden ist. Längst nicht überall wurde dieser zu späterer Zeit mit Ergänzungen ausgefüllt. Einen indirekten Bezug ergibt sich allenfalls durch die Form des Textes als skaldische Strophen. Das könnte als Hinweis auf die Weitertradierung bzw. Weiterkomposition skaldischer Dichtung über eine lange Zeit dienen. 56 Der Rezipient aus dem späteren Jahrhundert zeigt sein dichteri‐ sches Können direkt im Dichtungshandbuch. Aus heutiger Sicht sind solche Bestandteile, die dem „eigentlichen“ Text einer Hand‐ schrift vor-, dazu, oder hintenangestellt sind, nur schwer einzuordnen. 57 Sie gehören aber zur jeweiligen Handschrift bzw. Werk dazu und können ihnen neue Bedeutungsdimensi‐ onen eröffnen. Für den Codex Upsaliensis zeigt sich so ein starkes Bewusstsein für die multimediale Umsetzung von Rahmungen bereits ganz am Anfang der Handschrift. Nimmt man diese paratextuellen Voraussetzungen mit in eine Lektüre der Hauptteile, so erkennt man ein selbstreflexives Spiel: Rahmen sollen Eindeutigkeit stiften, tun es aber nicht immer. 3.2.4 Zwischenfazit Die Lektüre des Prologs macht bereits deutlich, wie gewinnbringend eine sprach- und dichtungstheoretische Perspektive für die gesamte Prosa-Edda sein kann. Auf der Erzähl‐ ebene bestimmt der Prolog einerseits Wesen, Herkunft und Potenzial von Sprache, macht aber andererseits auch auf die damit verbundenen Gefahren aufmerksam. Sprache stammt von Gott, die christliche Welt entstand durch das Sprechen Gottes und sie ist eine schöp‐ ferische Kraft. Nur durch diese Sprache hat der Mensch Zugang zu Gott - vergisst er sie, bzw. vergisst er den Namen Gottes, so bleibt ihm der Zugang zur göttlichen Erkenntnis verwehrt. Die menschliche Sprache kann die Welt erfassen, indem ihr und den Dingen darin Namen gegeben werden. Nur so kann man sie einordnen und verstehen. 58 Sprache, so zeigt sich im Prolog auch, ist das Mittel für die Erinnerung. Spricht man nicht mehr von etwas, vergisst man den Namen und es hört auf zu existieren. Die Sprache des christlichen Glaubens wird über etymologische (d. h. sprachliche) Ver‐ fahren als Ausgangspunkt für die Herkunft der nordischen Sprache bestimmt. Übertragen wird sie durch herausragende Menschen, die von den nordischen Herrschern als höherge‐ 76 3 Welt erfassen - Welt verfassen: Performatives Erzählen 59 Strerath-Bolz: Kontinuität, S. 64f. stellt anerkannt und schliesslich als Göttern ähnlich angesehen werden. Darin zeigt sich die grosse Macht, die von der Beherrschung der richtigen Sprache ausgeht. Auf einer diskursiven Ebene legt der Prolog damit indirekt die Begründung für das Ver‐ fassen der P-E vor: Die eigene Sprache hat göttlichen Ursprung, ihre Bedeutsamkeit ergibt sich aus ihrer Funktion als Kulturträger und Wissensvermittler und der damit einherge‐ henden Deutungsmacht. Das Vergessen der Sprache bedeutet wiederum, dass man vom rechten, also christlichen, Weg abkommt und gefährlichen Täuschungen erliegt. Ulrike Strerath-Bolz fasst die allgemein anerkannte Argumentation für die Entstehung des Prologs zusammen: In der Betonung des sprachlichen Aspektes scheint die Hauptverbindung zwischen dem Prolog und den folgenden Teilen der Edda zu liegen. Snorri gibt hier die Erklärung für die Herkunft der in Gylfaginning gesammelten Mythen und der in Skáldskaparmál aufgezeichneten poetischen Sprache. Der gesamte Aufbau des bisher betrachteten ersten Teils spitzt sich zu auf eine religions- und sprachphilosophische Theorie, die in den Hauptteilen des Skaldenhandbuchs ihre Wirkung entfalten wird: Dichterische Sprache und skaldische Dichtkunst insgesamt sind Erbstücke aus heidnischer Zeit. Wenn sie bewahrt werden sollen, muss sich zumindest der (angehende) Dichter ihres religiösen Hintergrundes bewusst sein. In Snorris Sinne bedeutet das auch, dass der Dichter den vor-, nicht anti-christlichen Charakter dieses Hintergrundes kennt und richtig einschätzt, damit er ihn sich weder selbst zu eigen macht noch verdammt. 59 Man sollte aber noch weitergehen und den Prolog auf alle Bestandteile des Codex Upsali‐ ensis bezogen lesen: Das Wissen um die eigene Sprache und die Kultur der Vorfahren (z. B. in Form der Skaldik) ist von grosser Bedeutung, da es göttlichen Ursprungs ist. Daher darf es nicht verloren gehen und muss dafür aktualisiert, d. h. (hier) gerahmt werden. Die Skaldik bzw. die eigene Sprache und die in ihr überlieferten Erzählungen sind Wissensspeicher und verleihen der eigenen Herkunft Bedeutung. Die bók als Schriftträger der P-E ist der zeitgemässe Versuch, das Wissen über Sprache zu sammeln und durch die Niederschrift vor dem Vergessen zu bewahren. Der Prolog rahmt dementsprechend das Folgende ein und steuert die Rezeption (man könnte ihn als institutionellen Rahmen für das Gelingen eines nachfolgenden Sprechakts bezeichnen). Paradoxerweise steigert er aber auch die Komplexität, da er nicht gängigen Prologkonventionen entspricht, sondern eigene Wege geht. Auch die zusätzlichen Rahm‐ ungen durch die Anfangsrubrik und die Zeichnungen fügen je eigene Bedeutungsdimen‐ sionen hinzu. Die Rubrik verweist auf die gelehrte Schriftlichkeit als adäquates Medium für die Überlieferung. Doch der Ursprung der Sprache liegt im mündlichen Sprechakt Gottes und auch die Zeichnung des Bischofs im Sinne einer Vergegenwärtigung der kirchlichen Legitimation weist darauf hin, dass nicht immer die Schrift der angemessene Vermittler von Wissen ist. Der Beginn des Codex Upsaliensis ist eine Art Anfangs-Inszenierung, die meh‐ rere Strategien zur Sinnstiftung verwendet, dadurch aber nicht völlige Eindeutigkeit, son‐ dern mehrschichtige Bedeutsamkeit herstellt und so auch das Streben nach Eindeutigkeit in Frage stellt. Im Zusammenspiel mit den weiteren Inhalten der P-E wird deutlich, dass es 77 3.2 Prolog - Ein vermeintlich eindeutiger Rahmen 60 Gerade für einen von Mythologie handelnden Text wie Gylfaginning ist es für die Lektüre zentral, ihn im Zusammenhang seiner Überlieferung zu betrachten. Das heisst hier konkret, ihn durch seine Form und Gestaltung sowie sein kontextuelles Umfeld als Mythographie zu verstehen, die mit dem Blick einer längst christianisierten Gesellschaft auf die eigene Vergangenheit zurückschaut und sich diese für eigene Zwecke „erschreibt“. Inwieweit man dabei mit „authentischen“ Schilderungen oder literarischen „Fiktionen“ rechnen muss, ist in jedem Einzelfall zu prüfen und führt meist zu mehr Fragen als zu eindeutigen Antworten. 61 Hier sollen für einen allgemeinen Überblick aber nur modernere Arbeiten erwähnt werden, einen Einblick in die gesamte Forschungsgeschichte mit mehr Literaturhinweisen bieten jedoch: Snorri Sturluson: Gylfaginning. Weiter z. B. Snorri Sturluson: Edda. Prologue and Gylfaginning. Sowie spe‐ zifisch für Codex Upsaliensis: Snorri Sturluson: The Uppsala Edda. Eine nicht vollständige Auswahl neuerer Arbeiten ab 2000: Abram, Christopher: Gylfaginning and early medieval conversion theory. In: Saga-Book 33, 2009, S. 5-24; Beck, Heinrich: Gylfaginning. Anmerkungen zu Versionen und In‐ terpretationen. In: Heizmann, Willhelm et al. (Hg.): Analecta Septentrionalia, Berlin/ New York (= Er‐ gänzungsbände RGA Bd. 40), S. 86-93; Glauser: Unheilige Bücher, S. 106-121; Ders.: Sinnestäu‐ schungen, S. 165-174; Rösli: Topographien der Eddischen Mythen; van Nahl, Jan Alexander: Snorri Sturlusons Mythologie und die mittelalterliche Theologie. Berlin/ Boston 2013, S. 12-22. 62 Prägend für diesen Ansatz ist v. a. Clunies Ross: Skáldskaparmál. sich hier durchaus um eine bewusste Reflexion und ein Spiel mit der eigenen Verfasstheit handelt. 3.3 Gylfaginning - Die Welt erzählen Gylfaginning (kurz: Gylf; Gylfis Täuschung) wurde bereits in zahlreichen Untersuchungen behandelt, es ist wohl einer der am häufigsten thematisierten altisländischen Texte. Das liegt daran, dass Gylf, nach dem einleitenden Prolog der zweite Teil der Prosa-Edda, eine der ausführlichsten Quellen für unser heutiges Wissen über die altnordische Mythologie darstellt, trotz aller Schwierigkeiten, die sich aus solch einer Zuschreibung ergeben. 60 Die Popularität von Gylf zeigt sich in einer schier unüberschaubaren Forschungslage, die sich bis ins 18. Jahrhundert zurück erstreckt. 61 Zu Beginn und bis weit ins 20. Jahrhun‐ dert hinein interessiert die Frage, ob es sich bei den erzählten Mythen um Zeugnisse einer germanischen Religion bzw. Kultur und damit bei der P-E um eine Theologie oder einen „heiligen Text“ handle. Die Idee, dass Gylf ein Abbild der lebensweltlichen Situation dar‐ stelle und damit kultische und rituelle Praktiken der nordischen Kultur bzw. eines nordi‐ schen Glaubens zeige, ist in manchen neopaganen Bewegungen der Gegenwart ebenfalls präsent. Mit dem Aufkommen stärker religionswissenschaftlich orientierter Fragen und der Forschung zum Begriff des Mythos und seiner Funktionsweise (auch in verschriftlicher Form) hat sich dieses Bild in der neueren Forschung gewandelt und andere Themen sind in den Vordergrund getreten. Gylf wird nun auch unter literaturwissenschaftlicher Per‐ spektive gelesen, Motive und Stoffe bzw. narratologische Aspekte rücken in den Fokus. Seit etwa drei Jahrzehnten wird Gylf meist im Kontext der P-E gelesen und als Grund‐ lagenwerk für angehende Skalden verstanden, die sich damit die notwendigen Kenntnisse der heidnischen Mythologie aneignen können. 62 Für die Skaldendichtung ist mythologi‐ sches Wissen unabdingbar und muss von angehenden Dichtern, die christlich sozialisiert sind, erlernt werden, genauso wie beispielsweise die skaldischen Versmasse. Die mytholo‐ 78 3 Welt erfassen - Welt verfassen: Performatives Erzählen 63 van Nahl, Jan Alexander: The Skilled Narrator. Myth and Scholarship in the Prose Edda. In: Scripta Islandica: Isländska Sällskapets Årsbok 66, Uppsala 2015, S. 123-41, hier S. 123. 64 Uppsala Edda, Introduction, S. lvi. gischen Erzählungen bilden die stoffliche Basis für kenningar und heiti, die aussergewöhn‐ lichen dichterischen Umschreibungen der Skaldik. Vergleicht man allerdings die in Skálds‐ kaparmál (Sprache der Dichtung) vorgestellten kenningar und heiti, so lassen sich diese nicht so einfach durch die Erzählungen in Gylf erklären, für viele davon gibt es keine pas‐ sende Erzählung oder nur Ansätze davon. Für ein praktisches orientiertes Lehrbuch zur Skaldendichtung könnte man aber vermuten, dass direkte Parallelen zwischen mythologi‐ schen Erzählungen und den darauf beruhenden poetischen Umschreibungen gezogen werden. Darauf wird unten einzugehen sein. Über die Jahre hat eine Diversifizierung der Verständnisperspektiven stattgefunden, die verschiedenste Lektüreansätze zulässt. Jan Alexander van Nahl macht dabei auf einen wichtigen Umstand aufmerksam: Throughout the last decades, a plethora of interpretations has been put forward, focusing on lit‐ erary, mythological, and societal questions on different methodological grounds. This multifaceted dimension makes us aware that no theory provides adequate methods on its own when dealing with medieval texts, and it reminds us that the task of understanding history by means of literature - and thereby the history of literature, too - is in need of an intensified dialogue between highly specialised medievalists from different research traditions. 63 Insofern fügt die vorliegende Arbeit eine weitere Interpretation zur weitläufigen For‐ schungslandschaft hinzu. Sie hat das Ziel, durch ihren theoretisch-methodischen Zugang Basis für weitere Lektüren zu bieten. Die moderne Hervorhebung der mythologischen Erzählungen von Gylf als vermeintlich interessantestem Teil der P-E widerspricht der mittelalterlichen Überlieferungssituation: Gylf wurde im Gegensatz zu anderen Werkteilen wie z. B. den Skáldskaparmál nie unab‐ hängig überliefert und wurde wahrscheinlich nicht als für sich stehendes Werk betrachtet. Fragt man nach der Funktion des Werks zur Zeit seiner Abfassung, muss man Gylf ent‐ sprechend im Gesamtzusammenhang betrachten. Mit einer solchen Herangehensweise stellt sich diese Arbeit auch vielen Beiträgen entgegen, die sich einzig mit Gylf beschäftigen und die sie umgebenden Texte und Illustrationen nicht oder nur sehr punktuell miteinbe‐ ziehen. In U wird Gylf anders überliefert als in den Handschriftenversionen RTW. Nicht das Ende der Rahmenerzählung von Gylfis Fahrt zu den Asen steht am Schluss, sondern weitere mythologische Erzählungen, die in RTW bereits zu den Skáldskaparmál gehören. Heimir Pálsson dazu: In the Uppsala Edda four mythological narratives, those about the origin of the mead of poetry, the battle between Þórr and Hrungnir, the kidnapping of Iðunn and Þórr’s visit to Geirrøðargarðar, have been moved from Skáldskaparmál and made into the closing chapters of Gylfaginning. In doing this, the redactor seems to have been trying to separate the mythological narratives from the account of poetical language, and takes it further than the author had originally done. 64 79 3.3 Gylfaginning - Die Welt erzählen 65 Während die Asen im Prolog gewissermassen „irdisch“ oder „historisch“ in das christliche Weltbild eingeordnet werden können, werden die Asen in Gylf als „göttliche“ oder „mythische“ Wesen in‐ szeniert. 66 Uppsala Edda, S. 10. 67 Der Rahmenaspekt ist zwar auch in der Gylfaginning von zentraler Bedeutung, er wird hier jedoch nur am Rande bzw. im Zusammenspiel mit den beiden weiteren Aspekten beleuchtet, um möglichst vielfältige Analysemöglichkeiten des performativen Begriffsinventars zeigen zu können. 68 Vgl. z. B. Marold, Edith: Der Dialog in Snorris Gylfaginning: In: Fix, Hans (Hg.): Snorri Sturluson: Beiträge zu Werk und Rezeption. Berlin 1998, S. 131-181 (= Ergänzungsbände RGA 18). 69 Vgl. Kapitel 2.4.1. Entgegen Pálssons durchaus plausibler Argumentation könnte aber auch der umgekehrte Fall eingetreten sein: Die Erzählungen standen anfänglich in Gylf und wurden erst bei den anderen Handschriften in Skáldskaparmál integriert. Eine der in den Handschriften wandernden Geschichten - nämlich die von der Herkunft der Dichtung - wird für die folgende Lektüre wichtig und zeigt, dass U mit dieser anders‐ artigen Strukturierung deutliche Hinweise auf die Werksintention liefert. Gylf ist eine systematische Mythographie über die Entstehung, den Aufbau und Untergang des nordischen Kosmos mit all seinen Bewohnern. Die Binnenerzählungen der verschie‐ denen kosmologischen Vorgänge und Göttergeschichten werden organisiert durch eine Rahmenerzählung, die als Gespräch gestaltet ist: Der im Prolog kurz eingeführte schwedi‐ sche König Gylfi macht eine Reise nach Ásgarðr, der Heimat der Asen und will herausfinden, woher deren Macht stammt. 65 Der heutige Titel des Textes, Gylfaginning (Gylfis Täuschung) wirft einige Fragen auf, da er nur in einer Rubrik des Codex Upsaliensis überliefert ist. Die Rubrik, auf die zurückzukommen sein wird, sagt: Hér hefr Gylfa ginning fra því er Gylfi sótti heim Alfǫðr með fjǫlkyngi ok frá villu ása ok frá spurningu Gylfi.  66 (Hier beginnt Gylfis Täuschung, wie Gylfi Allvater mit Zauberei in Ásgarðr besuchte und von der Irrlehre der Asen und von Gylfis Fragen.) Wie bereits für den Prolog festgestellt, wird auch in der bisherigen Forschung zu Gylf dem Thema Sprache und Erzählen wenig Bedeutung zugemessen. Dabei lohnt es sich, ausgewählte Schlüsselstellen mit einem Blick auf poetologische Fragen zu lesen und so neue Verständnisperspektiven zu eröffnen. Eine derartige Lektüre soll wieder durch Begrifflichkeiten der literarischen Performativität geleitet sein - anders als im Prolog wird aber der Fokus hier nicht auf dem Aspekt der Rahmung liegen, sondern sich stärker mit den beiden anderen Aspekten Sagen als Tun und Wiederholung/ Wiederhol‐ barkeit beschäftigen. 67 3.3.1 Theoretische Vorbemerkungen I: Sagen als Tun Der mehrschichtige Aufbau der Gylfaginning wurde schon oft in den Blick genommen. Die Strukturierung als didaktischer magister-discipulus-Dialog und traditionellem (eddischen) Wissenswettstreit gibt Anlass zu vielen Diskussionen. 68 Im Folgenden liegt der Schwer‐ punkt auf dem performativen Aspekt Sagen als Tun.  69 Wie im Theoriekapitel beschrieben, werden darunter Momente in den Blick genommen, in denen in literarischen Texten nach dem Sinnstiftungspotenzial von Sprechakten (mündlichen und solchen, die in die Schrift‐ 80 3 Welt erfassen - Welt verfassen: Performatives Erzählen 70 Einfachheitshalber wird von nun an von Gylfi gesprochen, obwohl er sich verschleiernd Gangleri nennt. 71 Uppsala Edda, S. 10. 72 Der Aspekt der Wiederholung/ Wiederholbarkeit wird in Kapitel 3.3.3 diskutiert und bleibt hier auf die einzelne Strophe beschränkt. lichkeit übertragen werden) gefragt wird. Es geht um Situationen, in denen mit Sprache gehandelt wird. Davon gibt es in den mythologischen Binnenerzählungen von Gylf einige: Eide werden geschworen, Versprechen gegeben und Flüche ausgesprochen. Auf der Rah‐ menebene geht es um das wirklichkeitskonstituierende Potenzial von Sprache bzw. von einer Erzählung, am prägnantesten dann, wenn die Asen sich selbst zu Göttern erzählen. Die Inszenierung der Erzählung als Lehrgespräch und/ oder Wissenswettkampf ist dafür wichtig, sie ist als Reflexion der unterschiedlichen Potenziale von mündlicher und schrift‐ licher Wissensvermittlung zu verstehen. Weitet man den Blick auf eine diskursive Ebene aus, so fragt der Text danach, ob er selbst als bedeutungsstiftender Sprechakt gelten kann: Erschafft die Erzählung die Wirklichkeit oder beschreibt sie sie nur? 3.3.1.1 Die Halle als Ort der Wissensinszenierung Für die genauere Betrachtung des Wissensdialogs ist der Ort, an dem dieser stattfindet, bedeutsam. Die namensgebende Hauptfigur von Gylfaginning, Gylfi, ist klug und zauber‐ kundig, reist heimlich in Gestalt eines alten Mannes, der sich Gangleri nennt, nach Ásgarðr. Seine Gegenspieler sind die drei Asen, Hár, Jafnhár und Þriði, welche als klüger als er beschrieben werden, da sie seine Verhüllung erkennen und ihrerseits mit Sinnestäu‐ schungen aufwarten. 70 Nach dieser Einleitung zoomt die Erzählung direkt auf Gylfi und eine Welt, die in der nordischen Literatur sehr bekannt wirkt: „Þá sá hann háva hǫll. Þak hennar vóru þøkt gylltum skjǫldum sem spánþak. Svá segir Þjóðolfr: […].“  71 (Da sah er eine hohe Halle. Ihr Dach war mit goldenen Schilden wie ein Schindeldach gedeckt. So sagt Þjóðolfr: […]). Damit zeigt der Text gleich zu Beginn, mit welchen literarischen Verfahren gearbeitet wird: Die „hohe Halle“ ist eine Anspielung auf die eine grosse Halle der nordi‐ schen Mythologie, Óðins Valhǫll. In der Halle der drei Asen (die sich später als eine Täu‐ schung erweist) zeigt sich ein Verfahren der Bedeutungsstiftung, das für die gesamte P-E zentral ist: Die Wiederholung resp. das Spiel mit der Wiederholbarkeit als Authorisie‐ rungsstrategie. Durch die Zitierung (eine spezifische Art der Wiederholung) von Dich‐ tungsstrophen wird eine zusätzliche Sinndimension für die Prosa eröffnet. 72 Doch die an dieser Stelle zitierte Strophe ist anders als alle anderen Strophen, die für das legitimierende Verfahren in Gylf benutzt werden. Es ist die einzige skaldische Strophe neben unzähligen eddischen. John Lindow macht darauf aufmerksam, dass der Verfasser des Textes leicht eine eddische Strophe mit derselben Aussage hätte einfügen können: At this point the verse is cited as authority: it contains the kenning Sváfnis salnæfrar, evidently meaning „shields“. It is noteworthy that verification was available also in an Eddic stanza. Grim‐ nismál 9 says of Óðinn’s hall scǫldum er salr þakiðr. Given his extensive citations from Grimnismál, it seems unlikely that Snorri was not acquainted with this verse. There is, furthermore, no partic‐ ularly good reason why Snorri should scorn a clear Eddic stanza for an unclear skaldic one, par‐ ticularly given the absence of other skaldic stanzas in Gylfaginning. Nordal has offered the attrac‐ 81 3.3 Gylfaginning - Die Welt erzählen 73 Lindow, John: The Two Skaldic Stanzas in Gylfaginning: Notes on Sources and Text History. In: Arkiv för nordisk filologi 92, 1977, S. 116f. 74 Zum authentifizierenden Einsatz von skaldischen Strophen vgl. auch: Clunies Ross, Margaret: A history of Old Norse Poetry and Poetics. Cambridge 2005, (v. a.) S. 69-83. 75 U ist dabei subtil und stellt die Analogie nur implizit her. In RTW hingegen wird explizit ausgeführt, dass Þjóðolfr enn hvinnerski sagt, dass Valhǫll in derselben Weise mit Schilden bedeckt war. Vgl. Snorri Sturluson: Gylfaginning [Lorenz], S. 72. 76 Zur Erzählsituation in der Halle vgl. z. B. auch Lönnroth, Lars: Den dubbla Scenen: Muntlig diktning från Eddan till ABBA. Stockholm 1978. tive argument that Snorri limited himself to Eddic verses only when the characters within the ginning were speaking, not when he himself was citing authority (Snorri Sturluson, p. 118). This argument cannot, however, account for Snorri’s choice of the rather obscure skaldic verse over the abundantly clear Eddic one. And if, as seems likely, the Gefjun chapter is an interpolation, the lone skaldic stanza does seem out of place. 73 Lindow bezieht sich hier auf die RTW-Versionen von Gylf, in denen vor dem Beginn des eigentlichen Rahmendialogs eine narrative Szene mit Gylfi und der Asin Gefjun einge‐ schoben ist und in der ebenfalls eine skaldische Strophe präsentiert wird. Diese Szene fehlt in U, was die Strophe von Þjóðolfr enn hvinverski so heraustechen lässt. Lindow zitiert wiederum Nordal, der die Strophe als Legitimationsversuch des Verfassers auf einer dis‐ kursiven Textebene bestimmt - dies im Gegensatz zu den eddischen Strophen, die alle den Figuren auf der Erzählebene zugeordnet sind und für deren Aussagen eine legitimierende Funktion übernehmen. Wie das geschieht, wird noch zu zeigen sein. Der Verfasser von U setzt die skaldische Dichtung als alt und von einer bekannten his‐ torischen Persönlichkeit stammend - sie dient deshalb als wirkkräftige Legitimation für den Rezipienten. 74 Geht man von Nordals Deutung aus, lässt sich die skaldische Strophe als Übergangsschwelle von der historiographischen Welt in die (fiktionale) Welt der Mytho‐ logie lesen: Die Relevanz der folgenden mythologischen Erzählungen wird mit Hilfe der Skaldik bestimmt, sie ist der Eingang nach Valhǫll. Der Text zeigt so, wie er sich Bedeutung über sich selbst hinaus verleiht: Es braucht den Rückbezug auf altes Wissen, das im Medium der Dichtung noch erhalten ist. Nirgends heisst es, dass die Halle Valhǫll ist, aber durch die Überblendung der Prosa mit dem Vers, scheint sie wie Valhǫll. 75 Für den Rezipienten weisen zusätzlich auch die Namen aller Figuren in die Richtung: Sowohl Hár, Jafnhár und Þriði wie auch Gylfis Deckname, Gangleri, sind dichterische Umschreibungen des Herrns der Halle, Óðinn selbst. Es könnte sich also beim Wissensdialog um ein eigentliches Selbstgespräch des höchsten asischen Gottes handeln. Die „hohe Halle“ als Schnittstelle zwischen Erzähl- und Aussenwelt ist jedoch noch weit komplexer als diese erste Annäherung zu zeigen vermag. Die Halle lässt sich auch unter dem Gesichtspunkt der Performanz, d. h. der Aufführung verstehen: Sie ist der Raum, in der eine mündliche Aufführung in der realen Welt geschieht und dient so als „Erzählraum“ im und für den Text. 76 Sie suggeriert die Präsenz der Erzählfiguren und ermöglicht dem Publikum den Zugang, da es derartige Erzählsituationen aus eigener Erfahrung kennt. Die Halle vergegenwärtigt das durch die Schrift Distanzierte und schafft Unmittelbarkeit durch das Fingieren von realen Stimmen und Körpern, sie ist somit ein hoch performativer Raum. Dazu passt auch die direkte Aufforderung Hárs an Gylfi: „Ok stattu fram meðan þú fregn. 82 3 Welt erfassen - Welt verfassen: Performatives Erzählen 77 Uppsala Edda, S. 12. Sitja skal sá er segir“ 77 (Und vorne sollst du stehen, während du fragst. Sitzen soll der, welcher antwortet). Die vorausgehenden Täuschungen dienen der Einleitung. Der Startpunkt der eigentlichen Inszenierung wird durch die Platzierung von Körpern und Stimmen im Raum der Halle präsent gemacht. 3.3.2 Zwei Arten von Wissensdialog: Die Anhäufung von Bedeutung Wie angedeutet, wurde bereits viel über die Art des Wissensdialogs in Gylf geforscht. Mit ein Grund dafür könnte sein, dass sich zwei Modelle eines solchen Dialogs zu überschneiden scheinen. Anstatt eines der beiden Modelle als das „wichtigere“ oder „eigentliche“ heraus‐ zustellen und das andere als unabsichtliche Hineinmischung, wird hier der These nachge‐ gangen, dass beide Arten bewusst und mit einer bestimmten Absicht vermengt worden sind. Das Ziel scheint, so viel Bedeutung wie nur möglich für den Text zu generieren. Dass diese Absicht auch in unklaren Mehrdeutigkeiten enden kann, wird im Anschluss an die Lektüren sichtbar. 3.3.2.1 Der gelehrte magister-discipulus-Dialog Die Mythographie in Gylf ist in der klassischen Form der mittelalterlichen Wissensver‐ mittlung und -organisation aufgebaut: Als Dialog zwischen zwei Figuren (resp. Figuren‐ gruppen), die in einer Frage- und Antwortstruktur miteinander sprechen und so verschie‐ dene Wissensbestände weitergeben. In Bezug auf Gylf ist die Vermittlungssituation deshalb komplex, weil es sich um traditionelles, mündliches Wissen der heidnischen Vorfahren handelt, das für christliche Gelehrsamkeit aufbereitet werden muss. Es geht im Text also einerseits um den nordischen Kosmos als Wissensbestand an sich, andererseits um die Le‐ gitimierung des Textes selbst als relevant für die aktuelle Zeit. Man erkennt in der kom‐ plexen Struktur des Texts ein Nachdenken über die Art und Weise, ob und wie altes Wissen (sei das nun mythologischer oder dichterischer Art) am besten weitergegeben wird. Wie sich in den einzelnen Lektüren zeigt, wird dem Erzählen eine welterfassende und erinnerungsstiftende Funktion zugesprochen: Es ist ein Medium, mit dem sich Wissen über die Welt erfassen und zu Wissensbeständen systematisiert weitergeben lässst. Dem Er‐ zählen wird aber auch ein welterschaffendes Potenzial zugemessen. Bereits im Prolog sind diese Funktionen angelegt und werden in Gylf weiter erprobt. Alle diese sprachlichen Funktionen sind mit der Frage von Macht und Herrschaft be‐ schäftigt, da alle auf die Wirklichkeit bzw. auf die Wahrnehmung der Wirklichkeit Einfluss nehmen können. Sprache, v. a. bestimmte Arten von Sprache, erweisen sich als Machtin‐ strumente. Besonders zwei Stellen in der Gylf sind dafür zentral und stehen deshalb hier im Fokus. Auf der Dialogebene zwischen Gylfi und den Asen zeigt sich ebenso wie in der mythologischen Binnenerzählung um Þórr und Útgarða-Loki: Wer mit Sprache umgehen kann, besitzt die Handlungs- und Deutungsmacht über die Welt. Sowohl der christlich ge‐ lehrte als auch der einheimisch mythologische Diskurs kommt zu diesem Schluss. Es ist interessant nachzuverfolgen, inwiefern sie sich dennoch unterscheiden. Vorausblickend kann dazu gesagt werden, dass sich die Diskurse bei der Bewertung der verschiedenen 83 3.3 Gylfaginning - Die Welt erzählen 78 Vgl. z. B. Firchow Scherabon, Evelyn: The Old Norse Elucidarius: Original Text and English Transla‐ tion. Columbia 1992 (= Studies in German Literature, Linguistics, and Culture. Medieval Texts and Translations). 79 Vgl. z. B. Schnall, Jens Eike: Speculum Regale: Der altnorwegische Königsspiegel (Konungs Skuggsjá) in der europäischen Tradition. Wien 2000 (= Bonner Arbeitsgespräche 5). 80 Luff, Robert: Wissensvermittlung im europäischen Mittelalter. „Imago mundi“-Werke und ihre Prologe. Tübingen 1999, S. 3. Vgl. auch ders. für einen Forschungsüberblick zur mittelalterlichen Enzyklopädik allgemein. Luff plädiert für die Unterscheidung der mittelalterlichen enzyklopädischen Literatur als imago mundi-Werke und neuzeitlichen Enzyklopädien. 81 Wie z. B. im Katechismus. sprachlichen Potenziale voneinander abheben: Denn wie gefährlich solche Potenziale sein können, zeigt der Mythos der Herkunft der Dichtersprache. Das Wesen dieser Sprache basiert im Kern auf Krieg um die Macht, auf Betrug und Täuschung. Vielleicht konnte sie deshalb für mehrere Jahrhunderte zum hochgeschätzten Medium für die Lobpreisung von Königen und Anführern werden. Gylfaginning präsentiert diese Gedanken aber nicht in Form eines argumentativen Tatsa‐ chenberichts, sondern stellt sich als mehrschichtigen, performativen Denkprozess dar, der immer wieder neue Facetten des Themas beleuchtet. Der angemessene Rahmen dafür ist im christianisierten mittelalterlichen Island der ge‐ lehrte Lehrer-Schüler-Dialog, der als Ausbildungsmittel bekannt und beliebt ist. Ver‐ gleichbar gestaltete Lehrdialoge sind z. B. der altnordische Elucidarius  78 und die aus Nor‐ wegen stammende Konungsskuggsjá  79 . Der Lehrdialog unterstützt die enzyklopädische Grundtendenz der mittelalterlichen Gelehrsamkeit: Wissen kann als abgeschlossen, voll‐ ständig und fest präsentiert werden. Zu den Merkmalen mittelalterlicher Enzyklopädik gehört der Anspruch, die Welt zu erfassen: Insofern Bücher die Welt oder Teile von ihr abbilden, sei es im kosmographisch-naturkundlichen, geschichtlichen, moralischen oder intellektuell-wissenschaftlichen Bereich, ist sie [die Enzyklo‐ pädie] das Buch par excellence: Sie vereinigt diese Gebiete in sich und ist daher […] ein „Weltbuch“, ein Buch, das die Welt enthält […]. 80 Solche enzyklopädischen Tendenzen durchziehen die gesamte P-E. Mit Hilfe des Dialogs zwischen zwei Parteien wird der schriftliche Text in eine mündliche face-to-face-Kommunikation verwandelt und man kann sich z. B. das wechselseitige Vor‐ lesen in der Schulstube vorstellen. Die Frage-Antwort-Struktur hat einen mnemotechni‐ schen Effekt und erleichtert das Auswendiglernen. Die Überlieferung von Wissen hat damit eine zweifache performative Dimension: Einmal wird sie als Wissen entfaltendes Frage- und Antwortgespräch, d. h. als Prozess geschildert, zum zweiten hat sie einen aufführenden Charakter, der klare Rollen verteilt und Wissen als Machtinstrument zwischen demjenigen, der mehr weiss, und dem, der mehr wissen will, zeigt. Der mündliche wie auch der literarisch inszenierte Lehrer-Schüler-Dialog hat seinen Ursprung in der antiken Philosophie und bleibt im Mittelalter eine beliebte Form der Wis‐ sensvermittlung. Er kann unterschiedlich akzentuiert sein, einmal ist der Schüler der Fra‐ gende, einmal befragt der Lehrer den Schüler über bereits Gelerntes. 81 Als Grund für die Beliebtheit wird angegeben, dass der Dialog besonders geeignet sei für Anfänger und we‐ 84 3 Welt erfassen - Welt verfassen: Performatives Erzählen 82 Die Möglichkeiten des Hinzufügens oder Wegglassens von Wissen durch den strukturgebenden Dialog finden sich auch in den Rubriken der Handschrift. Wie der Dialog ermöglichen die Rubriken, Inhalte zu Systematisierung und zu Ordnen. 83 Uppsala Edda, S. 10. 84 Uppsala Edda, S. 12. 85 Uppsala Edda, S. 18. niger gebildetes Publikum, da er erlaube, Wissen in kleine Einheiten gegliedert zu präsen‐ tieren. Die Schülerfigur dient dabei als Identifikationsfigur für den Rezipienten und soll verhindern, dass ein Gefühl abstrakter Distanz aufkommt. Im Nachvollzug des Wissenser‐ werbs des Schülers kann auch der Rezipient das präsentierte Wissen erlangen. Für den Unterricht in der Schulstube kann ein solcher Dialog auch als praktisch umsetzbare „Re‐ gieanweisung“ dienen. Von einer produktionsästhetischen Seite her gesehen bietet der Dialog eine hervorragende Möglichkeit, verschiedenste Formen und Inhalte zu systematisieren. Man kann unter‐ schiedliche Quellen verbinden, Dinge auslassen oder hinzufügen und eigene Inhalte da‐ zutun. Von diesen Möglichkeiten macht Gylfaginning häufigen Gebrauch. 82 Mit Hilfe der Dialogstruktur bekommen auch abrupte Themensprünge eine erzähllogische Berechti‐ gung, weil sie sich als authentische mündliche Gesprächssituation zeigen, in der der Schüler je nach Interesse plötzlich nach etwas Neuem fragt oder der Lehrer bei bestimmten Punkten länger verweilen will. Gerade auch für einen Text wie Gylf, der mit so vielen verschiedenen Quellen arbeitet, ist eine Strukturierung durch Frage-Antwort-Form sehr geeignet. Das bekannte Format ist gleichzeitig ein intertextueller Rückverweis, die klassische Form dient übergreifend als Sinnstiftung für den Inhalt. Hier deuten sich auch Überschneidungen zum Aspekt der Wiederholung/ Wiederholbarkeit an, die weiter unten ausgeführt werden. Ganz wie in klassischen Lehrgesprächen zeichnet sich auch der Dialog zwischen Gylfi und den drei Asen dadurch aus, dass die Schülerfigur (Gylfi) immer wieder erstaunt, neugierig oder bewundernd dargestellt wird. Solche Gefühlsregungen sollen den Rezipienten affi‐ zieren und das durch die Lehrerfiguren präsentierte Wissen wird so als neu und relevant inszeniert. Durch Neugier und Staunen wird Gylfis Reise zu den Asen überhaupt erst aus‐ gelöst: „Gylfir (sic! ) var maðr vitr ok hugsaði þat er allir lýðir lofuðu þá ok allir hlutir gengu at vilja þeira, hvárt þat mundi af eðli þeira vera eða mundi guðmǫgnin valda því.“ 83 (Gylfir war ein kluger Mann und dachte darüber nach, dass alle Leute sie lobten und alle Dinge nach ihrem Willen gingen, und ob dies wegen ihrer Natur war, oder ob göttliche Mächte das verursachten.) Das Verlangen nach Wissen wird gesteigert, als Gylfi bei den Asen an‐ kommt und Dinge sieht, die ihn zum Staunen bringen: „Þar sá hann margar hallir ok mǫrg gólf ok margt fólk. Sumir drukku en sumir léku. Þá mælti Gangleri, er honum þótti þar margt ótrúligt: […].“ 84 (Dort sah er viele Hallen und viele Räume und viele Leute. Einige tranken, andere spielten. Da sagte Gylfi, als ihm Vieles dort unglaublich schien: […]). Durch den so strukturierten Dialog lassen sich die erzählten Geschichten verschieden begründen: Gylfi reagiert immer wieder mit Ausdrücken des Erstaunens oder der Bewun‐ derung für bestimmte Erzählungen: „Þá mælti Gangleri: Mikil merki eru þetta ok mikil smíð.“ 85 (Da sagte Gylfi: Das sind bemerkenswerte Dinge und grosse (Bau-)Arbeiten.) Die Asen als Träger des aussergewöhnlichen Wissens werden durch Gylfis Bemerkungen selbst 85 3.3 Gylfaginning - Die Welt erzählen 86 Uppsala Edda, S. 32. 87 Uppsala Edda, S. 36. 88 Uppsala Edda, S. 38. 89 Vgl. Lemma fróðr in Baetke, Walter: Wörterbuch zur altnordischen Prosaliteratur. Berlin 7 2005. 90 Vgl. Lemma vitr in Baetke, Wörterbuch. 91 Uppsala Edda, S. 42. hervorgehoben: „Þá mælti Gangleri: Mikil tíðindi kantu segja af honum.“ 86 (Dann sagte Gylfi: Grosse Neuigkeiten kannst du von ihm berichten.) Am deutlichsten wird das bei den asischen Ausführungen zu Óðinn: Þá mælti Gangleri: Geysi mǫrg nǫfn hafi þér gefit honum, ok þat veit trú mín at þat mun vera mikill fróðleikr sá er kann skyn ok dǿmi hverir atburðir orðit hafa til hvers þessa nafns. 87 Da sagte Gylfi: Überaus viele Namen habt ihr ihm gegeben, und so glaube ich, dass es grosse Kenntnisse sein müssen, Bescheid zu wissen und Beispiele (zu haben), welche Ereignisse zu diesen Namen geführt haben. Die Asen nehmen die Vorlage dankbar an und betonen, wie wichtig ihr Wissen ist, ohne das man sich nicht gelehrt nennen dürfe: „[…] ok muntu eigi mega fróðr maðr heita ef þú skalt eigi kunna at segja frá þessum stórtíðindum.“ 88 ([…] und du kannst dich nicht einen klugen Mann heissen, wenn du nicht von diesen wichtigen Ereignissen berichten kannst.) Die Bezeichnung fróðr ist dabei je nach Bedeutungsdimension zu verstehen: Das Adjektiv kann „reich an Wissen, Kenntnissen, gelehrt, bes. geschichtskundig; zauberkundig“ 89 be‐ deuten. Möglicherweise lässt sich hier eine Abgrenzung zum Adjektiv vitr und vizkr (klug, verständig, gescheit) 90 ziehen. Sowohl Gylfi als auch die Asen werden ganz zu Beginn der Rahmengeschichte als vitr bzw. vísari bezeichnet, ihnen ist eine Grundintelligenz gegeben, die sie zu passenden Figuren für den Wissensdialog macht. fróðr zu werden ist hingegen Gylfis Ziel. Er geht dabei davon aus, dass es sich um vermittelbares Wissen handelt, das man erlangen kann. Den Asen gelingt es, sich vor Gylfi so zu inszenieren, als wären sie fróðir und besässen besondere Kenntnisse. Sie bestehen darin, die Namen der Wesen und Dingen in der Welt zu kennen und die Geschichten, die zu diesen Namen führten, erzählen zu können. Wie wichtig die Kenntnis der Namen sind, wurde bereits im Prolog christlich konnotiert. Aber auch für die nordische Mythologie wird dieser Aspekt als bedeutend präsentiert. Was das für die diskursive Ebene des Textes bedeutet, wird weiter unten ausgeführt. Die Asen prä‐ sentieren auch theologisches Wissen, indem sie sagen, welche Götter für spezifische Si‐ tuationen jeweils angebetet werden sollen. An dieser Stelle im Text ist noch ein deutlicher Unterschied zwischen den erzählenden drei Asen und höheren Mächten auszumachen. Auch Gylfi sieht seine ursprüngliche Frage nach der Macht der Asen dahingehend beant‐ wortet, wenn er sagt: Miklir þikki mér þessir fyrir sér æsirnir. Ok eigi er undr at mikill kraptr fylgi yðr er þér skuluð kunna skyn guðanna ok vita hvern biðja skal hvers hlutar eða hverrar bǿnar, eða eru fleiri guðin? 91 86 3 Welt erfassen - Welt verfassen: Performatives Erzählen 92 Explizit zeigt sich das in der RTW-Version von Gylfaginning: Da beenden die Asen das Gespräch mit einer praktischen Aufforderung, die aus anderen didaktischen Werken bekannt ist: „Ok njóttu nú sem þú namt.“ (Snorri Sturluson: Prologue and Gylfaginning, S. 54) (Und nutze, was du gelernt hast). Wissen ist auf Praxis angelegt und soll angewendet werden. 93 Dass diese mythologische Vergangenheit in schriftlicher Form nur durch die christliche Gelehrsamkeit existiert, muss dabei immer mitbedacht werden. Wie stark christliche Schriftlichkeit auf orales Wissen eingewirkt hat, lässt sich nur schwer sagen. Gerade auch die häufig unsichere Datierung einzelner ed‐ discher Lieder macht solche Aussagen schwierig. Für die folgenden Überlegungen gilt die These, dass „Vergangenheit“ zumindest inszeniert werden soll und wir so ein Bild von den Vorstellungen bzw. Wünschen betreffend der eigenen Vergangenheit des Verfassers und seiner Zeit erhalten. 94 Zwar gibt es auch gegenläufige Meinungen, jedoch sind gerade Vafþrúðnismál in der Forschung häufig als alt und mit grossem Anteil an vorchristlichem Inhalt bezeichnet worden. Für einen allge‐ meinen Überblick über den eddischen Wissenswettstreit vgl. z. B. Larrington, Carolyne: A Store of Common Sense: Gnomic Theme and Style in Old Icelandic and Old English Wisdom Poetry. Oxford 1993; Schorn, Brittany: „How Can His Word Be Trusted? “ Speaker and Authority in Old Norse Wisdom Po‐ etry, 2012 (veröffentlicht online: www.dspace.cam.ac.uk/ handle/ 1810/ 241661. (Abgerufen am 26.02.2020)) bzw. Dies: Speaker and Authority in Old Norse Wisdom Poetry. Berlin/ Boston 2017. Sehr wichtig scheinen mir diese Asen zu sein. Und es ist kein Wunder, dass grosse Macht mit euch ist, da ihr Kenntnis habt von den Göttern und wisst, wen man anrufen soll in welchen Dingen und mit welchen Gebeten, und gibt es mehr Götter? Hier läuft die Argumentationslinie parallel mit derjenigen des Prologs: Die Kenntnis des Gottesnamen bedeutet auch Macht in der als mythologisch inszenierten Welt. Man kann dieses Wissen durch dialogisches Lernen erwerben und es dann für sein eigenes Fort‐ kommen brauchen. 92 Die Ausrufe des Erstaunens und der Bewunderung (sowie die ebenfalls zahlreichen Stellen, in denen die Asen als Lehrer ihre Weisheit hervorheben und Gylfi bzw. den Schüler als unwissend darstellen) entsprechen dem gängigen Schema des magister-discipulus-Dia‐ logs. Abschliessend lässt sich betonen: Enzyklopädisch gestaltete Lehrdialoge haben Abge‐ schlossenheit und Vollständigkeit zum Ziel. In ihnen soll Wissen vermittelt werden, mit dessen Hilfe man die Welt erfassen und beschreiben kann. Doch die Situation in Gylfagin‐ ning ist komplexer, da ein zweites Ordnungssystem für Wissensvermittlung dazutritt, das nicht auf Vollständigkeit und Abgeschlossenheit hin arbeitet: Der eddische Wissenswett‐ streit. Damit wird ein Verständnishorziont eröffnet, der ganz auf die mythologische Ver‐ gangenheit ausgerichtet ist. 93 3.3.2.2 Der eddische Wissenswettstreit Der Wissenswettstreit ist eine in der nordischen Mythologie bzw. in der eddischen Dichtung produktive Form der Wissensvermittlung, die anders funktioniert als der gelehrte christ‐ liche Dialog. Berühmte eddische Beispiele sind Vafþrúðnismál, Alvíssmál, Skírnismál, Fáf‐ nismál, oder Grímnismál. 94 Anders als im gelehrten Schuldialog wechseln sich die Frage und Antwortposition nach der Hälfte der Zeit ab und es werden nur Fragen gestellt, auf die der Fragende selbst die Antwort kennt. Typische Figuren eines eddischen Wissenwettstreits sind verhüllt reisende Wanderer, die unter einem Decknamen in fremde Hallen kommen und dort nach einem bestimmten mythologischen Wissen suchen oder eigenes Wissen im Wettkampf weitergeben wollen. Óðinn ist sehr häufig in solche Wettstreitsituationen in‐ 87 3.3 Gylfaginning - Die Welt erzählen 95 Vgl. beispielsweise Vǫluspá. 96 Vgl. zu verschiedenen Übersetzungsmöglichkeiten: Tsitsiklis, Kieran R. M.: Der Thul in Text und Kontext: Þulr/ Þyle in Edda und altenglischer Literatur. Berlin 2017 (= RGA 98), S. 34f. 97 Uppsala Edda, S. 36. 98 Vgl. dazu auch den Begriff der „Kippfigur“ in Kapitel 3.3.2.3. volviert, ebenso die mythologischen Gegenspieler der Asen, Riesen und Zwerge. Der Tonfall ist meist bedrohlich und provozierend, Schmähreden sind ein wichtiger Bestandteil der Dialoge. Der Grund dafür ist im Wesen des Wissenswettstreits angelegt: Im Endeffekt geht es immer um Leben oder Tod. Die eine Figur (meist Óðinn) will Wissen über die Welt und v. a. über das Weltende erlangen, um mehr über den prophezeiten Welt- und Götterunter‐ gang zu lernen. 95 Aber auch für den jeweiligen Gegenspieler geht es um alles: Nur wer mehr weiss als der andere, kommt lebend aus der Situation heraus. Als Wissenswettstreit, wie er in der eddischen Dichtung bekannt ist, lässt sich auch der Dialog zwischen König Gylfi und den drei Asen in Gylfaginning beschreiben. Gylfi reist verhüllt zu den Asen, weil er deren Macht erkunden will. Dort angekommen, will er als erstes wissen, ob ein kluger Mann in der Halle sei. König Hár entgegnet ihm, dass er nur heil aus der Halle komme, wenn er klüger sei. Diese Umstände haben ihre Parallele in Vafþrúðnismál, wo Óðinn dem Riesen Vafþrúðnir in dessen Halle Wissen über den Verlauf der Welt abringen will. Der Riese warnt ihn zu Beginn auf dieselbe Weise wie die Asen es bei Gylfi tun: Er komme nicht heil aus dieser Halle, wenn er nicht der Klügere der beiden sei. Óðinn nennt sich wie so häufig nicht bei seinem eigentlichen Namen, sondern führt den Decknamen Gagnraðr. 96 Über diesen Namen schafft sich Gylf einen zusätzlichen in‐ tertextuellen Bezug: Auch Gylfi verschleiert seinen wahren Namen und nennt sich Gangleri (müder Wanderer, Wegmüder). Der Bezug wird aber nicht nur durch die lautliche Ähn‐ lichkeit hergestellt, ganz konkret nennt sich Óðinn in einem eddischen Zitat in Gylfaginning auch selbst Gangleri. 97 Durch dasselbe Zitat weisen aber auch die Namen der drei Asen auf Óðinn zurück: Hár, Jafnhár und Þriði sind ebenfalls alles heiti, d.h. Synonyme, für Óðinn. Dieses Spiel mit Namen macht einerseits auf die Gefährlichkeit des Wissenswettstreits aufmerksam: Kennt man den Namen des Gegenspielers, so kennt man sein Wesen bzw. seine Macht. Andererseits kann es als performatives Verfahren der Wiederholung näher beleuchtet werden. Durch die Namen werden andere Texte aufgerufen und deren Bedeu‐ tung auf den vorliegenden Text projiziert. Allerdings kann diese Bedeutung neu ausge‐ richtet werden und z. B. ironisierend oder kritisierend gebraucht werden. Die ursprüngliche Bedeutung schwingt zwar noch mit (zumindest für diejenigen, die sie noch kennen), sie hat aber eine Aktualisierung erfahren. 98 Ähnlich wie beim gelehrten Dialog inszeniert der Wissenswettstreit eine fingierte münd‐ liche Situation in schriftlichem Kontext und auch der Wettstreit hat das Potenzial für eine textexterne Performanz. Judy Quinn sieht in der anzunehmenden oralen Transmission der Gedichte die Möglichkeit eines „re-enactments“ der eddischen Wissensgespräche: […] it is clear that the aural learning which eddic poems depict comes about as a result of recitation of one kind or another and we may infer that during the centuries of oral transmission of these 88 3 Welt erfassen - Welt verfassen: Performatives Erzählen 99 Quinn, Judy: Liquid Knowledge: Traditional Conceptualisations of Learning in Eddic Poetry. In: Rankovič, Slavica et al. (Hg.): Along the oral-written Continuum. Types of texts, relations and their implications. Turnhout 2010, S. 184. 100 Vgl. die Lemmata ginning f. und ginna vb. in Baetke, Wörterbuch. Der Titel (bzw. Formen davon) ist nur in zwei Rubriken im Codex Upsaliensis enthalten, die anderen Handschriften führen ihn nicht. Auch die Anfangsrubrik von U spricht in ihrer kurzen Inhaltsübersicht nicht von Gylfaginning, sondern von frá asum ok Ymi. 101 McTurk, Rory: Fooling Gylfi: Who tricks Who? In: Alvíssmál: Forschungen zur mittelalterlichen Kultur Skandinaviens, 3, 1994, S. 3-18. 102 Ganz ähnlich ist ein solches Verständnis auch im Verfasserkommentar in den Skpm formuliert, vgl. Kapitel 4.2. poems (and probably in the period after their textualisation as well) such acts of recitation would inevitably have been re-enacted in delivery to some extent. 99 Gerade durch die Kombination mit dem für die schriftliche Gelehrsamkeit konzipierten Lehrgespräch scheint es sich in Gylf mehr um eine Diskussion der medialen Möglichkeiten zu handeln als um eine Vorlage für eine lebensweltliche performance. Der Text alleine scheint für mythologische Wissensbestände nicht ausreichend Autorität zu besitzen. Aus der eddischen Dichtung sind aber Experten (allen voran Óðinn) auf dem Gebiet bekannt - lässt man diese in Gylf über mythologische Themen sprechen, so ergibt sich eine grössere Legitimation dieses Wissens. Wie oben angedeutet, kann mit solchen wiederholenden Ver‐ fahren auch auf mögliche Diskrepanzen zwischen „alter“ und „neuer“ Bedeutung hinge‐ wiesen werden, wobei sich dann gerade umgekehrte Auswirkungen ergeben. Wie für den Prolog der P-E kann auch für Gylf keine deutliche Polemisierung der traditionellen Stoffe und Formen festgestellt werden - es bleibt dem Rezipienten selbst überlassen, wie er diese Wiederholungsmomente auslegt. In Bezug auf die Performativität des Textes fallen mehrere Aspekte im Dialoggefüge auf. Die Machtverhältnisse werden einerseits über sprachliche Akte ausgestellt. Gylfi ist der Fragende und damit auf den ersten Blick in der unterlegenen Position. Dennoch ist nicht eindeutig klar, ob er wirklich so naiv ist, wie er wirkt. Mit seinen Fragen und Aussagen versucht er den Erzählfluss der drei Asen zu lenken, was ihm manchmal durchaus gelingt. Der Titel Gylfaginning (Gylfis Täuschung) lenkt den Blick bereits ganz am Anfang auf diesen Aspekt. 100 Rory McTurk schlägt eine Übersetzung des Titels vor, die normalerweise nicht angesprochen wird: Er weist darauf hin, dass das erste Element in gylfaginning, gylfanicht nur ein Genitivus Objectivus, der Gylfi als „Objekt“ der Täuschung beschreibt, son‐ dern auch als Genitivus Subjectivus verstanden werden kann. So wird Gylfi zum Subjekt der Täuschung und Gylfaginning würde zur „Täuschung durch Gylfi“. 101 Die Täuschung der (objektivierten) Asen liegt laut McTurk darin, dass Gylfi sie trotz allen Anstrengungen nicht als Götter ansieht. Er entkommt ihren Sinnestäuschungen, weil sie nicht mehr weiter wissen und den Wettbewerb aufheben, ohne ihre Tricksereien bekanntzumachen. Obwohl Gylfi durch das abrupte Ende des Gesprächs davon überzeugt ist, dass die Asen eine grössere Macht besässen als er, geht er nicht davon aus, dass sie selber göttlich seien. Diesen Schritt vollzieht er innerhalb seiner Anerkennung der asischen Götterwelt nicht (das müsste man z. B. an plötzlich auftretenden ehrerbietenden Anredeformeln o. ä. sehen). Aber er aner‐ kennt die Wichtigkeit der asischen Geschichten und hält sie für erzählenswert. 102 Einmal 89 3.3 Gylfaginning - Die Welt erzählen 103 Uppsala Edda, S. 34. 104 Und erst, wenn das nicht funktioniert, kommt ein weiterer Erklärungsversuch zum Zug. 105 Die intertextuellen Verweise mit Hilfe von Zitateinschüben sind ebenfalls zum Verfahren der vari‐ ierenden Wiederholung zu zählen. Hier zeigt sich, wie eng verbunden die drei Aspekte literarischer Performativität gedacht werden müssen. Das performative Potenzial eines Textes ergibt sich erst aus dem Zusammenspiel aller Aspekte. mehr ist die Sache sehr komplex und mehrdeutig - der Rezipient wird vom Text in der Schwebe gelassen und muss die literarischen Täuschungsmanöver selber entschlüsseln. Aus rezeptionsästhetischer Perspektive sind es vor allem literarische Texte, die das Poten‐ zial solcher Leerstellen nutzen. Die spezielle Dialoggestaltung mit einer dreigeteilten Gegenfigur zu Gylfi stellt die Münd‐ lichkeit der Situation noch deutlicher heraus: Zwar kann die Dreiteilung von Hár, Jafnhár und Þriði auch christlich akzentuiert aufgelöst werden, genauso sinnvoll ist allerdings eine Lesart der drei Figuren als Markierung von Sprachmacht. Hár hat zwar im Verhältnis den grössten Sprechanteil der drei Figuren, aber nicht unbedingt den bedeutsamsten. Die drei Figuren wechseln jeweils dann, wenn eine Steigerung der Wichtigkeit der erzählten Ele‐ mente vorgenommen wird. Ein Beispiel dafür ist die Gestaltung der Antwort auf Gylfis Frage nach denjenigen Asen, an die man glauben sollte: Hár svarar: Tólf eru æsir goðkunnigir. Þá mælti Jafnhár: Eigi eru ásynjur óhelgari, ok eigi megu þær minna. Þá mælti Þriði: Óðinn er ǿztr ok elztr ásanna. Hann ræðr ǫllum hlutum […]. 103 Hoch antwortet: Es sind zwölf gottentstammte Asen. Da sagte Ebenhoch: Die Asinnen sind nicht weniger heilig, und ihre Macht ist nicht kleiner. Dann sprach der Dritte: “Óðinn ist der höchste und älteste der Asen. Er herrscht über alle Dinge […]. Verlangt Gylfi eine bessere Antwort oder hakt kritisch nach, so werden die Sprechrollen ebenfalls ausgetauscht. Nach Hár fügt zuerst Jafnhár eine vermeintlich besser passende Erklärung hinzu, dann folgt Þriði mit der endgültig geltenden Antwort. Ein Beispiel dieses Austauschs zeigt sich bei Gylfis Frage nach etwaigen Misserfolgen von Þórr, die sich als sehr gefährlich für die drei Asen entpuppt. Über den Wechsel von Sprecherrollen wird so eine Bedeutungssteigerung vorgenommen, die von Gylfi auch akzeptiert wird: Was Þriði sagt, nimmt er als Festsetzung an. Was als Versuch der einfachsten Lösung durch die Asen erscheint, 104 ist von der Erzählstrategie her bewusste Taktik: Bedeutsamkeit wird durch variierende Wiederholung hergestellt. 105 In Gylf der P-E-Version RTW ist der Wechsel von Hár über Jafnhár hin zu Þriði passend umgesetzt (und sogar noch von den Figuren selbst kommentiert). In U hingegen gibt es eine gewisse Unsicherheit in Bezug auf die korrekte Überlieferung der Rubriken und des Fliesstextes in der Handschrift. Anders als der Schüler-Lehrer-Dialog ist der Erwerb von Wissen im Wettstreit in eddischer Dichtung gefährlich, so viel wurde gezeigt. In Gylf hingegen wird Gylfi zwar mit solchen Konsequenzen gedroht, sie sind am Ende aber kein Thema mehr. Gylfi steht nach der letzten Antwort der Asen auf freiem Feld, die Asen selbst sitzen zusammen und sprechen sich über die Weitertradierung ihrer Erzählungen ab. Niemand stirbt, das Wissen wurde weiterge‐ geben und auch für ein textexternes Publikum aufbereitet. 90 3 Welt erfassen - Welt verfassen: Performatives Erzählen 106 Zur Kippfigur vgl. z. B. das Teilprojekt „Kippfiguren des Medialen“ des NCCR Mediality: www.mediality.ch/ projekt.php? id=3-Y.2. (Abgerufen am 26.02.2020) 107 Zum Titel Edda vgl. Kapitel 3.2.3. Während sich die Forschung uneins über den Sieger des Wettstreits ist, ist die gängige Meinung zum Ende der Rahmengeschichte, dass der Wettstreit vergessen gegangen sei. Das zeige sich in Skpm noch deutlicher, weil da gar kein Wettbewerb und praktisch keine indi‐ vidualisierten Figuren im Dialog aufträten. Mit einem Blick auf die performativen Aspekte des Wissenswettstreits in literarischer Form interessiert jedoch eher die Frage, was es für ein Lehrwerk wie die P-E insgesamt heisst, wenn die Vermittlung von wichtigem Wissen in mündlichen Formen inszeniert ist, diese Mündlichkeit aber deutlich als täuschend und gefährlich dargestellt wird. Das lässt sich gleichermassen als Kritik und Lob mündlicher Wissensvermittlung verstehen. Hebt es das schriftliche Werk auf eine höhere oder niedri‐ gere Ebene der Vermittlung? Oder stellt es ganz einfach die allzeit prekäre Situation des Wissenserwerbs aus? 3.3.2.3 Zwischenfazit: Der Wissensdialog als Kippfigur Nach der getrennten Betrachtung der zwei Modelle „Gelehrter Dialog“ und „Eddischer Wissenswettstreit“ lässt sich eine erste Zwischenbilanz ziehen. Es gilt mehrere interessante Beobachtungen miteinander in Beziehung zu setzen: Einmal sind da zwei an sich wider‐ sprüchliche Modelle - eines, das ganz auf christlicher Lehrtradition beruht, und ein zweites, das sich auf einheimische mythologische Tradition stützt - die aber offensichtlich nicht gegeneinander ausgespielt werden. Weiter scheint es eine grundsätzliche Diskussion der medialen Vermittlung zu geben: Ist nun die schriftliche oder die mündliche Überlieferung die angemessene Wahl? Auch hier lässt sich im Text keine eindeutige Präferenz ausmachen. Tradition und Innovation werden gleichzeitig thematisiert und reflektiert: Die Wahl, beide Formen von Wissensvermittlung miteinander zu kombinieren, lässt sie als eine Art „Kipp‐ figur“ erscheinen. 106 Es gibt keine klare Trennung der beiden Modelle, sondern sie überla‐ gern und überlappen sich, woraus mehrere Bedeutungsdimensionen entstehen. Hat man die Textstruktur einmal als Kippfigur erkannt, so bleiben beide Modelle immer im Blick, auch wenn gerade eines etwas stärker hervortritt, während das andere in den Hintergrund rückt. So lassen sich bestimmte Elemente eines Modells betonen, während andere eher unauffällig gemacht werden. Gylfaginning inszeniert das christliche Lehrgespräch als besonders strukturiert und ord‐ nungszentriert: Der Lehrer-Schüler-Dialog ordnet und kategorisiert die Welt und macht sie so erfassbar. Für den christlichen Dialog stehen die Antworten im Zentrum des Gesprächs. Der enzyklopädische Charakter wird durch die Fragen hervorgehoben, die Antworten grenzen das Wissen ein, was medial auch durch den Einsatz von Rubriken gestärkt wird. Es ist aber gleichzeitig eine Rubrik, die diese Absichten unterläuft: Die Rubrik „Gylfa‐ ginning“ sollte den darauffolgenden Textabschnitt beschreiben, macht jedoch auf einer re‐ zeptionsästhetischen Ebene eher das Gegenteil. Wie in der Anfangsrubrik des Prologs und dem Werktitel Edda ergeben sich aus dem Titel mehrere semantische Deutungen. 107 Dazu kommt, dass das christliche Dialog-Modell durchaus einiges mit dem eddischen Wissens‐ wettstreit gemeinsam hat, so wird es auf jeden Fall vom Text dargestellt: In beiden Fällen 91 3.3 Gylfaginning - Die Welt erzählen 108 In diesem Zusammenhang ist auch Jan Assmanns Begriff der „Mythomotorik“ sowie seine Unter‐ scheidung zwischen „heisser“ und „kalter Erinnerung“ interessant: Assmann, Jan: Das kulturelle Ge‐ dächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 7 2013 [1992], S. 66-83. 109 Wie der Begriff der „Kippfigur“ stammt auch derjenige der „Implosion“ aus den Diskussionen des NCCR Mediality. Vgl. z. B. www.mediality.ch/ projekt.php? id=3-Y (abgerufen am 28.02.2020) sowie: Glauser: Unheilige Bücher, S. 106-121. Glauser bezieht sich dabei nicht auf das Zusammenspiel der beiden Dialogarten, sondern auf das Ende der Gylfaginning, wo die Täuschung der Asen „in sich ist Wissensvermittlung ein hoch performatives Ereignis, das durch vermeintliche Münd‐ lichkeit und Präsenz zwischen zwei Parteien mit unterschiedlicher Macht fingiert wird. Aber auch spezifische Eigenheiten des eddischen Wissenswettstreits werden hervorge‐ hoben: Das einheimische mythologische Modell scheint eher auf unabgeschlossenes und ewiges Weitererzählen bedacht als auf Abgeschlossenheit. Die mythologischen Ge‐ schichten, die als Antwort auf Fragen gegeben werden, lösen jeweils direkt neue Ge‐ schichten aus. Im Wissenswettstreit steht die Frage im Zentrum, da der Fragende die Ant‐ wort ja bereits kennt. Es geht darum, dass und wie die Geschichte erzählt wird, nicht um das einmalige Setzen der Wahrheit wie im Lehrer-Schüler-Dialog. Das Potenzial für end‐ loses Weitererzählen ist dem mythologischen Kosmos inhärent, da er zyklisch angelegt ist. 108 Die Welt wird im Wissenswettstreit immer neu hergestellt bzw. erzählt - und geht mit seinem Ende immer unter. Dennoch hat der Wissenswettstreit den performativen Cha‐ rakter eines einmaligen Ereignisses: Durch den drohenden Tod des Verlierers könnte die Relevanz des vermittelten Wissens nicht stärker betont werden. Die Kombination der beiden Formen in einer Kippfigur kann als Legitimationsstrategie und Sinnstiftung verstanden werden. Die so strukturierte Rahmengeschichte zeigt, wie sprachliche Äusserungen über den Prozess des mündlichen Gesprächs zu geltenden Aus‐ sagen werden (wie das im Prolog schon dargelegt wurde). Der Text zeigt ein Bewusst‐ sein dafür, wie Wissen entsteht und über die Zeit weitergegeben werden kann. Dass diese mündlichen Sprechakte nicht mehr ausreichend Geltung stiften, aber immer noch eine bestimmte Autorität ausstrahlen, zeigt sich in der schriftlichen Umsetzung des Textes als fingierter Dialog. Bedeutung wird auf verschiedenen Ebenen hergestellt mit dem Ziel, den Text und seine Inhalte zu legitimieren. Eigentlich ist ein rahmender Dialog ein Steuerungswerkzeug für die Rezeption und kann als fiktionale Leseranweisung verstanden werden. Durch die kom‐ plexe Kippfigur der beiden Dialogarten weist der Text bzw. der Verfasser des Textes aber die Deutungsrolle zurück und überlässt die Einordnung dem Rezipienten. Der semantische Überschuss, der durch diese Kombination entsteht, kann einerseits be‐ wusst gewollt sein, andererseits aber auch ungewollte Konsequenzen für die Rezeption haben. Jürg Glauser argumentiert mit dem Begriff der „Implosion“, der sich gut für die Beschreibung dieses Phänomens eignet: In einer Implosion wird in einer bestimmten me‐ dialen Form zu viel Inhalt oder Material angehäuft und dieser Überschuss muss abgegeben werden. Das führt zur Vermengung und zum Einsturz bestehender Konstellationen und Konzepte und dies wiederum zur Neuverhandlung der Welt und zur Errichtung neuer Wertvorstellungen. 109 92 3 Welt erfassen - Welt verfassen: Performatives Erzählen zusammenstürzt“ und Gylfi allein dasteht. Eine Übertragung des Prinzips auf andere Aspekte der Gylfaginning bietet sich deshalb sehr an. 110 Dabei ergeben sich Überschneidungen mit den vorangegangenen Ausführungen zum mythologi‐ schen Wissenswettstreit. 111 Zum Begriff des Mythos vgl. Kapitel 3.3.3.4. 112 Vgl. Kapitel 3.3.3.3. Das Spiel zwischen Mehrdeutigkeit und Eindeutigkeit ist ein Grundthema der Prosa- Edda, weshalb eine derartige Implosion hier eine gewollte Strategie sein könnte. Wie pro‐ duktiv solche mehrschichtigen Bedeutungsdimensionen sind, zeigt sich bis heute durch die grosse Rezeption (akademischer und nicht-akademischer Art) von Gylfaginning. 3.3.3 Theoretische Vorbemerkungen II: Wiederholung/ Wiederholbarkeit Nicht nur die Dialoggestaltung in Gylfaginning zeigt sich als bewusste Reflexion darüber, inwiefern die einheimische Vergangenheit in den neuen kulturellen Rahmen der christlichen Gelehrsamkeit passen kann. Auch das literarische Verfahren der Zitierung verschiedenster eddischer Gedichte lässt sich unter einer performativen Perspektive näher betrachten. Im Fokus steht dabei der Aspekt der „Wiederholung“ resp. der „Wiederholbar‐ keit“. 110 Wie im Theoriekapitel ausgeführt, ist es eine der Gelingensbedingungen von sprachli‐ chem Handeln, dass dieses Handeln wiederholbar ist. Durch die Wiederholung bezieht sich ein Sprechakt immer auf alle vorangegangenen Sprechakte und lädt sich mit deren Bedeu‐ tung auf. Für einen Text weist das in den Bereich der Intertextualität und darauf, dass er durch die Wiederholung bzw. das Zitieren anderer Texte Anschluss an Traditionen her‐ stellen kann. Paradoxerweise wird aber gerade durch diese Anknüpfung die Möglichkeit geschaffen, mit der Tradition zu brechen und sie umzudeuten. Das Zitat ist ein authenti‐ sches Ereignis in einer langen Reihe vergangener und evtl. noch folgender Vollzüge. Sein Einsatz stellt heraus, dass der Text etwas „Gemachtes“ ist und erweist sich dementsprechend als ein Mittel der Reflexion. In den nächsten Lektüren stehen wiederholende Verfahren in Bezug auf den Umgang der Gylfaginning mit mythologischen Inhalten im Fokus. Da der Mythos an sich nur auf Wiederholung und Aktualisierung beruht, drängt sich eine derartige Perspektive geradezu auf. 111 In einem ersten Schritt werden das wiederholende Verfahren auf einer intratextuellen Ebene beleuchtet und die Parallelen zwischen der Erzählung von Þórs Fahrt zu Útgarða- Loki und Gylfis Reise zu den Asen thematisiert. Anschliessend wird die Zitierung eddischer Strophen als intertextuelle Legitimierungsstrategien genauer in den Blick genommen. 3.3.3.1 Intratextuelle Wiederholungen: Die Täuschung durch Sprache Wiederholung wurde oben als textstrukturierendes Vorgehen bestimmt, welches Schlüsse darüber ermöglicht, dass und wie ein Text über etwas Bestimmtes reflektiert. Wiederholung ist folglich nicht nur als poetologische Struktur interessant, sondern auch in Bezug auf die darin verhandelten Inhalte. Wie sich in der Gestaltung der mythologischen Welt in Gylfa‐ ginning zeigt, ist sie zyklisch, also endlos wiederholend aufgebaut. 112 Die Wiederholung ist 93 3.3 Gylfaginning - Die Welt erzählen im Mythos selbst begründet, weshalb es sich lohnt, auch einzelne Mythen auf dieses Ver‐ fahren hin zu lesen. Die Mythe von Þórs Fahrt zu Útgarða-Loki lässt sich sowohl als wiederholende Projektion auf die Rahmengeschichte lesen als auch als wichtigen Kommentar zum Sprachverständnis, das Gylf präsentiert. Auch diese Erzählung beschäftigt sich damit, wie Macht und die Kenntniss der Möglichkeiten von Sprache zusammengehören. In einem ersten Schritt steht deshalb die Lektüre der Erzählung als sich selbst genügend und mit einem Blick auf sprachliche Zusammenhänge. Bisherige Interpretationen (gemäss ihrem wichtigen Status ist die Erzählung bereits Grundlage zahlreicher Untersuchungen gewesen) sehen darin einerseits den mythologischen Kampf zwischen Riesen und Asen, andererseits die Spiegelung von Gylfis Täuschung auf der Rahmenebene. Die hier vorge‐ schlagene Lektüre zeigt aber, dass die Verknüpfung der beiden Ebenen sehr viel enger ist und nicht nur auf formaler Wiederholung beruht. Sie umspielt die Grundthematik der P-E und weist darauf hin, wie wichtig das richtige Verständnis von Sprache und ihrem wirk‐ lichkeitschaffendem Potenzial in der mythologischen Welt ist. Þórs Fahrt zu Útgarða-Loki ist die längste (und damit eine prominent hervorgehobene) Ge‐ schichte, die von den drei Asenfiguren erzählt wird. Die Erzählung bestimmt Þórr als je‐ manden, dem das Verständnis für das Potenzial von Sprache fehlt, weshalb er bei Útgarða- Loki getäuscht wird und (vermeintlich) Ehre und Ansehen verliert. In der Figur von Útgarða- Loki andererseits zeigt sich, was alles möglich ist, wenn man Sprache beherrscht: Man entkommt Þórs mächtigen Hammerschlägen oder kann Welten entstehen und wieder ver‐ schwinden lassen. Dass diese Fähigkeiten durchaus auch die Erzählebene verlassen und die „reale Welt“ betreffen können, zeigt sich in den Naturphänomenen, die dem Rezipienten durch die Erzählung benannt und erklärt werden. In dieser einen Binnenerzählung liegt folglich schon sehr viel von dem angelegt, was auf der Rahmenebene reflektiert wird: Was kann Sprache und Erzählen leisten? Wie sind diese Kenntnisse als Machtinstrumente zum eigenen Vorteil zu nutzen? In U beginnt die Geschichte mit der kleinen Vorerzählung, wie sich der Ase Þórr gemeinsam mit Loki die Diener Þjálfi und Rǫska aneignet. Das dadurch vermittelte Bild ist das eines zaubermächtigen Reisenden, der als Gast bei Menschen zwar sein Essen teilt, jedoch aus‐ serordentlich wütend werden kann und grosse Furcht auslöst. Die nun grössere Gruppe reist weiter ins Land der Riesen, das als fremdes und gleichzeitig Þórr vertrautes Gebiet geschildert wird. Die Fahrt über das Meer und durch den grossen Wald eröffnet einen Erzählraum, der für Þórs Abenteuerlust wie geschaffen ist. Auch die plötzlich auftauchende grosse Halle, die von der Gruppe als Nachtlager bezogen wird, passt gut in dieses Bild eines „Þórr-Abenteuers“. In der Nacht erreignet sich ein grosses Erdbeben und die Gruppe zieht sich in einen Nebenraum der Halle zurück, Þórr ist bereit für eine allfällig nötige Verteidigung. Am Morgen entdeckt er draussen den Grund für das Erdbeben und erkennt, dass ein grosser schlafender Mann für den Lärm verantwortlich ist. Ab diesem Moment der Erzählung verläuft es nicht so, wie es aus anderen Geschichten Þórs bekannt ist: Normalerweise würde der Ase einen entdeckten Riesen sofort angreifen und töten. Nicht so hier: „Þá varð Þór bilt at slá meðr hamrinum ok spurði hann at nafni 94 3 Welt erfassen - Welt verfassen: Performatives Erzählen 113 Uppsala Edda, S. 66. 114 In U ist útgarðr zwei Mal als miðgarðr bezeichnet. Das erste Mal ist es korrigiert, das zweite Mal nicht. Vgl. Uppsala Edda, S. 68; Grape: Snorre Sturlasons Edda, S. 126. 115 Uppsala Edda, S. 68. 116 Uppsala Edda, S. 68. 117 Zum Wissenswettstreit auf der Rahmenebene vgl. Kapitel 3.3.2.1. Anders als in den eddischen Wett‐ bewerben geht es hier nicht um den Erwerb von mythologischem Wissen an sich, sondern man misst sich in praktisch angelegten Wettkämpfen. 118 Uppsala Edda, S. 68. […]“ 113 (Da verliess Þórr der Mut mit dem Hammer zu schlagen und er fragte ihn nach seinem Namen.) Es ist nicht klar, weshalb Þórr zögert, doch dass er den für das Erkennen und Einschätzen des Gegenübers so wichtigen Namen nicht weiss, deutet die folgenden Schwie‐ rigkeiten bereits an. Der Riese, der sich Skrýmir nennt, scheint Þórr jedoch zu kennen. Er demonstriert seine Grösse, indem er die Halle als seinen Handschuh zu erkennen gibt, in dessen Daumen die Gruppe geschlafen habe. Es kommt zu einer Verlagerung der Hand‐ lungsmacht in der Erzählung: Skrýmir bestimmt, dass sie gemeinsam reisen und steuert die Gruppe. Þórr und seine Gefährten reagieren nur noch auf die Vorgaben und sind nicht mehr handlungsfähig: So schafft es der Ase in einer Marschpause nicht mehr, den Proviantsack zu öffnen und will den schlafenden Riesen angreifen. Drei Versuche scheitern, ihn mit dem Hammer zu töten. Skrýmir scheint die Schläge nicht zu spüren, dafür schickt er die Rei‐ senden am Morgen allein zu einer bestimmten Burg, wo es noch grössere Männer als ihn zu sehen gäbe und sie sich nicht zu arrogant verhalten sollten, da das dort nicht geschätzt werde. 114 Die Gruppe macht sich auf den Weg: Þeir ganga til Miðgarðs [sic] ok sjá borg standa á vǫllum nokkurum ok settu hnakka á bak sér áðr þeir fengi yfir sét. Grind var fyrir bogarhliði. Þórr fekk eigi upp komit ok smugu millum svalanna. Þeir sá hǫll mikla, gengu inn ok sá þar ǿrit stóra menn. 115 Sie gehen nach Miðgarðr [sic] und sehen eine Burg auf freiem Feld stehen und müssen den Kopf nach hinten legen bevor sie darüber sehen. Ein Tor war vor dem Burgeingang. Þórr konnte nicht darüber kommen und sie zwängten sich durch die Umzäunung. Sie sahen eine grosse Halle, gingen hinein und sahen dort ziemlich grosse Männer. Die Parallele (und gleichzeitig Variation) zum Beginn der Rahmenhandlung und Gylfis Reise sind deutlich und werden weiter unten besprochen. Die Gruppe geht vor den Thron und begrüsst Úgarða-Loki, obwohl nicht klar ist, woher sie seinen Namen kennt. Útgarða-Loki heisst sie mit spöttischem Unterton willkommen und fordert Þórr heraus: „Engi mun sá með oss vera er eigi kunni nokkurar íþróttir.“ 116 (Keiner dürfte mit/ unter uns sein, wenn er nicht gewisse Fertigkeiten hat.) Die Anlehnung der Szene an den Wissenswettstreit in eddischen Liedern ist deutlich 117 und Þórrs Begleiter Loki steigt sofort darauf ein: „Engi mun sá hér innan hirðar er skjótara muni eta en ek.“ 118 (Keiner der hier drinnen anwesenden Gefolgs‐ männer kann schneller essen als ich.) Damit nehmen die Wettkämpfe ihren Lauf und zum Erschrecken der Gruppe gehen alle verloren. Útgarða-Lokis Wettkämpfer sind alle schneller, stärker und praktisch unüberwindbar. Während Loki nicht so schnell essen kann wie Logi und Þjálfi nicht so schnell rennen wie Hugi, scheitert Þórr als zentrale Figur gleich mehr‐ mals. Útgarða-Loki reizt ihn mit zahlreichen Sticheleien wegen seiner geringen Grösse und 95 3.3 Gylfaginning - Die Welt erzählen 119 Uppsala Edda, S. 70., zur Form katt in U vgl. Fussnote 1, ebd. 120 Uppsala Edda, S. 72. 121 Uppsala Edda, S. 72. 122 Uppsala Edda, S. 72. 123 Uppsala Edda, S. 72. wundert sich, woher die Lobpreisungen über Þórs Stärke kommen, wenn er doch hier bei ihm nichts davon zeigen kann. Þórr gelingt es nicht, ein grosses Trinkhorn zu leeren, er bekommt aber eine weitere Chance, die jedoch eigentlich unter seiner Würde ist: Þá svarar Útgarða-Loki: Þat er ungra sveina at hefja upp af jǫrðu katt [sic] minn. En eigi munda ek slíkt kunna at mæla við Ása-Þór ef ek hefða eigi séð at hann er minni maðr en mér er sagt. 119 Da antwortet Útgarða-Loki: Junge Männer heben meine Katze von der Erde. Aber ich würde nicht wissen, das Ása-Þórr zu sagen, hätte ich nicht gesehen, dass er ein geringerer Mann ist als mir gesagt ist. Þórr gelingt es nicht, die Katze zu heben, nur eine Pfote löst sich vom Boden. Verärgert verlangt Þórr nach einem Ringkampf, um seine Stärke unter Beweis stellen zu können. Útgarða-Loki will keinem seiner Leute die Schmach antun, mit so einen schwachen Gegner ringen zu müssen. Er lässt aber seine alte Ziehmutter kommen und gegen ihn antreten: Ekki er þar af annat sagt en því harðara er Þórr knýst at því fastara stóð hon. Þá tok kerling at leita til bragða. Þórr varð lauss á fótum ok vóru sviptingar harðar, ok fell Þórr á kné ǫðrum fǿti, ok þá bað Útgarða-Loki þau hætta ok lét hann eigi fleirum þurfa at bjóða fang. 120 Nicht mehr ist dort gesagt, als dass je härter Þórr sich anstrengt, desto fester stand sie. Da begann die alte Frau zu tricksen. Þórr verlor seinen Stand und es waren harte Bewegungen, Þórr fiel auf einem Bein aufs Knie, und dann befahl Útgarða-Loki aufzuhören und liess ihn keine weiteren Kämpfe mehr vorschlagen. Am Morgen danach macht sich die Gruppe zum Aufbruch bereit und Útgarða-Loki begleitet sie hinaus. Er will wissen, wie Þórr seine Reise einschätzt. Dieser sieht sich in seinem Ansehen geschwächt, er werde nun „lítinn mann“ 121 (kleiner Mann) genannt. Doch Útgarða-Loki deckt auf: „Nú skal segja þér it sanna, er þú ert kominn út af borginni. Eigi hefðir þú komit í hana ef ek hefða vitat þik svá mikils háttar sem þú ert. En sjónhverfingar vóru gervar, fyrst á skóginum […].“ 122 (Nun soll dir die Wahrheit gesagt werden, da du aus der Burg draussen bist. Du wärst nicht hineingekommen, hätte ich gewusst, von welch grosser Bedeutung du bist. Und es wurden Sinnestäuschungen gemacht, zuerst im Wald […]). Útgarða-Loki löst auf, dass Þórr und seine Gefährten getäuscht wurden und die grosse Stärke des Asen nur durch Zauberei unterdrückt worden ist. Loki verlor den Essenswettstreit gegen das Feuer (logi), das alles verschlingt. Þjálfi war nicht schneller als ein Gedanke (hugi) und Þórr trank durch das Horn aus dem Meer, musste die als Katze erscheinende Miðgarðsschlange aufheben sowie gegen das Alter (elli) kämpfen. Útgarða-Loki verabschiedet sich mit den Worten, Þórr niemals mehr in seine Nähe zu lassen. Þórr will ihn angreifen, aber es ist zu spät: “Þá bregðr Þórr upp hamrinum, ok nú sér hann hvergi Úgarða-Loki ok eigi heldr borgina.“ 123 (Da schwingt Þórr den Hammer hoch, aber nun sieht er Útgarða-Loki nirgends und auch nicht die Burg.) 96 3 Welt erfassen - Welt verfassen: Performatives Erzählen 124 Vgl. Lemma sjónhverfing f. in Baetke: Wörterbuch. 125 Uppsala Edda, S. 66. 126 Epistemische Deutungskontexte entsprechen Annahmen aufgrund des Wissens des Sprechers, das jeweils zur Sprechzeit präsent ist, meist handelt es sich um „erlebte Rede“. Vgl. Grammatisches In‐ formationssystem des Instituts für deutsche Sprache (ids) http: / / hypermedia.ids-mannheim.de/ call/ p ublic/ sysgram.ansicht? v_id=1552. (Abgerufen am 26.02.2020) 127 Uppsala Edda, S. 66. Damit endet in U die Geschichte von Þórs Fahrt zu Útgarða- Loki. Darauf folgt eine Rubrik, in der Þórs Fahrt zur Miðgarðsschlange angekündigt wird. Eine mythologische Erzählung geht hier nahtlos in die nächste über, nicht einmal eine um Erklärung bittende Zwischen‐ frage von Gylfi auf der Rahmenebene ist dafür vonnöten. 3.3.3.2 Fehlendes Sprachverständnis auf verschiedenen Ebenen Man könnte die Erzählung nun als Kampf zwischen zwei mythologischen Wesen oder als strukturelle Wiederholung der Geschehnisse auf der Rahmenebene erklären. Es gibt aber auch die Möglichkeit, sie zusätzlich als bedeutungsstiftende Wiederholung für das poeto‐ logische Grundthema in Gylfaginning oder sogar für die gesamte Prosa-Edda zu lesen. Alle Vorgänge der Geschichte erweisen sich als eine bestimmte Art von Täuschung. Diese sjónhverfingar (Augenverblendungen, Sinnestäuschungen, Blendwerke) 124 werden erst zum Schluss aufgedeckt - anders als in der Rahmengeschichte, wo ihr Einsatz bereits zu Beginn festgestellt wird, als die Asen Gylfi empfangen. Die Erzählung erweist sich als eine insze‐ nierte Täuschung, welche Þórr und den Rezipienten betrifft: Nichts ist so, wie es scheint. Bereits verdeckt als Skrýmir spielt Útgarða-Loki mit der Wahrnehmung Þórs bzw. das Nar‐ rativ mit derjenigen des Rezipienten: Nirgends wird explizit gesagt, dass es sich bei der grossen Gestalt und seinem Gefolge um Riesen handelt, alle scheinen bloss riesig. Einerseits durch materielle Objekte im Raum (zuerst der Handschuh als Halle, später auch beim Ein‐ treten in die Burg), andererseits durch besonderen Sprachgebrauch Útgarða-Lokis. Durch rhetorische Stilfiguren wie z. B. Litotes (Skrýmir wird als „mann […] var eigi lítill“  125 be‐ schrieben) oder epistemischen Gebrauch von Modalverben 126 (Skrýmir scheinen die Ham‐ merschläge wie eine Feder, die vom Baum fällt: „mér þótti sem fjǫðr nokkur felli af trénu“ 127 ) wird eine Welt der Riesen erschaffen, in der Þórs physische Fähigkeiten nicht zu zählen scheinen. Die Täuschungen der Sinne betreffen aber auch das sprachliche Verständnis des Asen, er kann die Aussagen Skrýmis nicht richtig deuten und erfasst nicht, dass hier seine Ehre auf verschiedenen Ebenen angegriffen wird. Die Wettkämpfe, in denen Þórr und seine Leute unterliegen, verweisen zwar auf mangelnde physische Stärke (Rennen, Essen, Trinken, Kämpfen), sind aber eigentlich sprachlicher Natur: Weil Þórr nicht erkennt, dass Namen mehrdeutig sein können, verliert er. Er versteht Begriffe wie hugi, logi oder elli als Perso‐ nennamen und ihm entgeht die rhetorische Figur der (umgekehrten) Personifikation. Das Trinkhorn und die Katze nimmt er andererseits wortwörtlich und verpasst so die ver‐ schleiernde Allegorie. Útgarða-Loki hingegen weiss, wie die Wirklichkeit durch Sprache verändert werden kann, seine sjónhverfingar entpuppen sich mitunter als gezielt eingesetzte erzählerische Fähigkeiten. Ob Þórr diese Zusammenhänge versteht, als Útgarða-Loki sie ihm draussen vor der Halle aufdeckt, bleibt unklar. Wie es seinem Wesen entspricht, greift er 97 3.3 Gylfaginning - Die Welt erzählen 128 Es darf die Frage gestellt werden, ob Þórr die Täuschung mit dem Wissen, das in Skpm vermittelt wird, durchschaut hätte. Der direkte Bezug scheint nahezuliegen und Frog sieht ebenfalls deutliche Verbindungen zu den theoretischen Aspekten der P-E, wenn er die sprachlichen Missverständnisse der Þórs-Episode als Allegorien in Bezug auf die Interpretation von Dichtung bzw. explizit als un‐ verstandene heiti und kenningar liest. Frog: Snorri Sturluson qua Fulcrum: Perspectives on the Cul‐ tural Activity of Myth, Mythological Poetry and Narrative in Medieval Iceland. In: Mirator 12, 2011, S. 1-28, hier S. 19. 129 Wie in Kapitel 2.4.3 gezeigt, bedingen sich Binnen- und Rahmenebene gegenseitig, der Rahmen darf nicht nur als das „Äussere“ verstanden werden - der Begriff „Kontext“ trifft es besser. 130 Uppsala Edda, S. 64. 131 Uppsala Edda, S. 64. sofort zu seinem Hammer und will den Gegner töten. Es darf vermutet werden, dass Óðinn, Dichtergott und Sprachbringer, die Täuschung problemlos durchschaut hätte. 128 Die Lektüre der Binnenerzählung hat Anknüpfungspunkte für eine sprachzentrierte Per‐ spektive herausgearbeitet, die auch für die Rahmenebene von Gylfaginning von Bedeutung sind. Die Wiederholung einer Erzählung auf beiden Ebenen hat Implikationen für den Ge‐ samttext. 129 Die Geschichte von Þórs Fahrt zu Útgarða-Loki ist eine der letzten Erzählungen der drei Asen für Gylfi, bevor sie schliesslich über die Ereignisse rund um ragnarøkkr berichten. Ausgelöst wird sie durch Gylfis Frage nach möglichen Schwächen von Þórr: „Gangleri segir enn: Hvárt hefir Þórr hvergi þar komit at honum væri ofrefli fyrir fjǫlkyngi sǫkum? “ 130 (Gangleri sagt weiter: Ist Þórr nirgendwo hin gekommen, dass er vor einer un‐ überwindbaren Aufgabe stand wegen Zauberkraft? ) Die Antwort der Asen (Hár spricht an dieser Stelle) macht deutlich, wie wichtig die folgende Binnenerzählung wird, denn sie sehen sich im Wissenswettstreit in die Enge gedrängt: Fáir munu frá því segja kunna. En margt hefir honum harðfǿrt þótt. En þótt nokkur hlutr hafi svá rammr orðit at hann fengi eigi sigrat, þá er eigi skylt at segja frá, því at mǫrg eru dǿmi til þess ok því eru allir skyldir at trúa at hann er mátkastr. 131 Wenige werden davon erzählen können. Aber vieles hat er als schwierig empfunden. Aber auch wenn etwas so mächtig war, dass er es nicht besiegen konnte, dann ist doch kein Grund davon zu sprechen, weil es viele Beispiele dafür gibt, und weil alle glauben sollen, dass er der mächtigste ist. Die Asen deuten hier an, dass gewisse Wissensbestände nicht erzählt werden dürfen, wenn sie dem allgemeinen Ziel einer Erzählung entgegenstehen. Erzählen zeigt sich so als be‐ wusst einzusetzendes Werkzeug zur Bedeutungssteuerung. Verschweigt man etwas, so wird es vergessen und kann keinen Schaden mehr anrichten. Gylfi meint aber, die Asen nun im Wissenswettstreit besiegen zu können, da sie keine Antwort auf seine Frage geben können. Er erkennt nicht, dass die Asen nicht erzählen wollen, weil sie keine Antwort geben können, sondern gerade weil sie eine Antwort haben und diese ihr Täuschungsspiel entlarven könnte. Es geht zwar einerseits darum, dass Þórs Macht durch die Erzählung als nicht allumfassend gezeigt wird, anderseits denken die Asen weiter und sehen die Gefahr, dass diese „Ohnmacht“ auf sie selbst abfärben würde. Sie retten sich vorerst durch eine weitere Komplexitätssteigerung, die durch den Wechsel der drei Erzählinstanzen angezeigt wird. Die erste unbefriedigende Antwort gibt Hár, er wird nach 98 3 Welt erfassen - Welt verfassen: Performatives Erzählen 132 Uppsala Edda, S. 64. 133 Uppsala Edda, S. 64. 134 Was sich im restlichen Text nicht als richtig erweist. 135 Grundsätzlich wäre auch denkbar, dass Þriði überhaupt nicht gemeint ist und Jafnhár von Hár spricht, der noch nie gelogen habe. 136 Uppsala Edda, S. 64. 137 Uppsala Edda, S. 74. dem Zweifel von Gylfi durch die nächsthöhere Instanz, Jafnhár, ersetzt. Die Auswechsel‐ strategie thematisiert dieser schliesslich unter der Begründung von Wahrheit und Lüge: Þá svarar Jafnhár: Heyrt hǫfum vér sagt frá því er oss þikkir ótrúligt. En nær sitr sá er veit, ok muntu því trúa at hann mun eigi ljúga nú it fyrsta sinn, er alldrigi ló fyrri. 132 Da antwortet Jafnhár: Wir haben davon gehört, was uns unglaublich erscheint. Aber nahe sitzt einer, der weiss, und du kannst darauf vertrauen, dass er nun nicht zum ersten Mal lügen wird, der vorher noch nie gelogen hat. Wer bis jetzt noch nie gelogen hat, dem kann man auch bei zukünftigen Berichten Vertrauen schenken, scheint hier die Aussage zu sein. Hár und Jafnhár haben nur von diesen un‐ glaublichen Ereignissen gehört, Þriði weiss sie. Die Szene fragt danach, wer weshalb die Legitimation zum Erzählen hat. Das bewusste Sichtbarmachen dieser Frage nutzen die drei Asen aber als Verschlei‐ erungstrategie. Man würde annehmen, Jafnhár übergibt die Erzählung anschliessend an die dritte Instanz, Þriði. Allerdings ist es in U wieder Hár, der mit Þórs beschämender Ge‐ schichte beginnt. Es deutet einiges darauf hin, dass das ein Schreibfehler in der Handschrift ist. In RTW ist der letzte und mit am meisten Autorität versehene Sprecher klar Þriði. Er heisst Gylfi schweigen, damit er die geforderte Geschichte berichten kann (Gylfi hingegen weist ausdrücklich darauf hin, dass er die Asen als überwunden ansieht, können sie seine Frage nicht beantworten). In U ist der Wissenswettstreit an der Stelle nicht so deutlich hervorgehoben. Versucht man den Text zu lesen, ohne dass man darin einen Schreibfehler vermutet, dann muss man die Rubrik zu Beginn der Stelle miteinbeziehen: „Hér þegir Þriði“ 133 (Hier schweigt Þriði). Weshalb dieser Sprecherwechsel von Þriði zu Hár in U vorgenommen wird (entgegen der sonstigen Tendenz bei wichtigen Fragen Þriði zu Wort kommen zu lassen), bleibt aber un‐ klar. Eine mögliche Erklärung wäre, dass Þriði tatsächlich gemeint ist als derjenige, der niemals lügt. 134 So würde Þriði Gylfi erklären, wie dessen eigene Geschichte mit der Erzäh‐ lung von Þórr zusammenhängt: Es wäre zu befürchten, dass Þriði Gylfi auf die Sinnestäu‐ schungen aufmerksam machen würde. Da Hár keine solche Wahrheitsliebe nachgesagt wird, muss er die Geschichte erzählen und darf von der Wahrheit abweichen. 135 In U spielt das für Gylfi aber keine Rolle, er ist ganz im Wettstreitmodus und sieht den Sieg vor sich. Ohne ein Zeichen von Zweifel verlangt er nach der Erzählung: „Þá svarar Gangleri: Hér hlýði ek svǫrum þessa máls.“ 136 (Gylfi antwortet: Hier höre ich die Antworten auf diese Frage.) Zwar macht er keine Anspielung auf seinen möglichen Sieg im Wissens‐ wettstreit, er anerkennt die Antworten aber als stimmig und nimmt auch die direkt dar‐ auffolgende Erzählung von Þórr und der Miðgarðsschlange ohne Argwohn an. Er kom‐ mentiert: „Mikit afrek vár þetta.“  137 (Eine gewaltige Leistung war das.) Die Parallele von Þórs 99 3.3 Gylfaginning - Die Welt erzählen 138 Uppsala Edda, S. 86. 139 Snorri Sturluson: Prologue and Gylfaginning, S. 54. Ankunft in der hohen Halle mit seiner eigenen ist wohl noch zu schwach, als dass er sie erkennen würde. Erst im Augenblick der praktisch ähnlichen Beendigung des Wettstreits könnte Gylfi die Gemeinsamkeiten entdecken und gegebenenfalls als Warnung auffassen. Dasselbe gilt für den Rezipienten: Hat Gylfi schliesslich vom Untergang und der Erneuerung der Welt erzählt bekommen, so folgt ein abrupter Wechsel. Eben noch hörte er das Vǫluspá- Zitat über die Tochter der Sonne, dann ist alles vorbei: „Nú er Gangleri heyrir þetta þá verðr gnýr mikill ok er hann á sléttum velli.“ 138 (Nun, als Gylfi das hört, ist da ein grosser Lärm und er ist auf ebenem Feld.) Anders als in Gylfaginning in RTW kommt in U diese Auflösung bzw. das Ende des Wissensdialogs unvermittelt und direkt nach der letzten zitierten eddischen Strophe. In RTW hingegen ist die Auflösung der sjónhverfingar für Gylfi und den Rezipienten über mehrere Schritte vorbereitet und somit klarer erkennbar. Nach der letzten zitierten Strophe sagt Hár zu Gylfi: En nú ef þú kant lengra fram at spyrja þá veit ek eigi hvaðan þér kemr þat, fyrir því at øngan mann heyrða ek lengra segja fram aldarfarit. Ok njóttu nú sem þú namt.‘ Því næst heyrði Gangleri dyni mikla hvern veg frá sér, ok leit út á hlið sér. Ok þá er hann sésk meir um, þá stendr hann úti á sléttum velli, sér þá ønga hǫll ok ønga borg. 139 Nun aber, wenn du weiter fragen kannst, so weiss ich nicht woher dir das käme, weil ich niemanden habe mehr sagen hören vom Gang der Welt. Und nutze nun, was du nahmst. Als nächstes hörte Gylfi einen grossen Lärm überall um sich herum, und er wendet sich zur Seite. Und als er sich weiter umsieht, da steht er draussen auf ebenem Feld, sieht keine Halle und keine Burg. In U gibt es keine derartig explizite Wiederholung der Szene mit Þórr und Útgarða-Loki. Gylfi wie auch dem Rezipienten wird zugetraut, selbstständig die richtigen Schlüsse aus dem plötzlichen Ende zu ziehen. Die Wiederholung der Geschichte aus der Binnenebene ist insofern variiert, als dass die Asen Gylfi ihre Täuschungen nicht erklären, sondern direkt verschwinden. Die Wiederholung besteht denn auch nicht in der formgetreuen Übernahme, sondern darin, dass ihr dasselbe Thema zugrunde liegt: Was für Möglichkeiten und Grenzen hat die Sprache und das Erzählen? Die Inszenierung verschiedenster Täuschungs- und Verschleierungsstrategien ent‐ puppen sich als Momente, in denen über das Wesen der Sprache reflektiert wird. Mit Sprache kann getäuscht werden, weil sie mehrdeutig ist. Das eröffnet die Möglichkeit, ver‐ schiedene Sinndimensionen aufzurufen. Dazu braucht es aber die richtigen Kenntnisse: Útgarða-Loki hat sie, die Asen haben sie und zweifelsfrei hat sie auch der Verfasser der Gylfaginning selbst. Wer gekonnt erzählt, hat die Deutungsmacht, das zeigt sich bereits in der diegetischen Welt. 3.3.3.3 Wiederholung als mythologisches Prinzip in Gylfaginning Wie wichtig für das oben verhandelte Sprachpotenzial das Verfahren der Wiederholung als Prinzip des Mythos selbst ist, zeigt sich am Ende der Rahmenhandlung: 100 3 Welt erfassen - Welt verfassen: Performatives Erzählen 140 Uppsala Edda, S. 86. 141 Uppsala Edda, S. 84. 142 Lukas Rösli zeigt aber, dass die neue Welt autark und autopoetisch vorgestellt wird. Sie kommt selbst aus dem Meer herauf und wird nicht von einer schöpferischen Kraft (wie im Prolog oder am Anfang von Gylfaginning geschaffen. Vgl. Rösli: Topographien, S. 95f. Ok er æsirnir heyra þetta sagt, gáfu þeir sér þessi nǫfn ásanna, at þá er langar stundir liði efaðist menn ekki at allir væri einir, þeir æsir er nú frá sagt ok þessir æsir er nú vóru, ok var Ǫku-Þórr kallaðr Ása-Þórr. 140 Und als die Asen das gesagt hören, gaben sie sich diese Namen der Asen, so das, wenn lange Zeit vergangen ist, die Menschen nicht zweifeln, dass alle dieselben wären, diese Asen, von denen nun erzählt wurde, und diese Asen, die jetzt waren, und Ǫku-Þórr wurde Ása-Þórr genannt. Blosses Erzählen allein reicht nicht, um eine neue Wirklichkeit bzw. Welt zu erschaffen. Die Erzählung muss „leben“, sie muss erzählt werden und darf nicht in Vergessenheit ge‐ raten. Ansonsten besteht Raum für Zweifel, ungewollte Deutungen oder gar die Auslö‐ schung aus der Erinnerung. Die Asen erkennen, wie das Weiterleben des Erzählten ge‐ währleistet werden kann: Nur wenn eine Geschichte die reale Welt „erfasst“, gelingt der Sprechakt. Sie übertragen deshalb die Namen aus der Erzählwelt in die reale Welt und machen sich so zu eigentlichen Überlieferungsträgern. Für solche Vorgänge braucht es „lange Zeit“ und wiederholtes Weitererzählen. Die Asen beweisen hier Wissen darüber, wie Erinnerungsprozesse funktionieren und nutzen es für ihre eigenen Zwecke: Sie erzählen sich selbst zu Göttern. Dass dies kein zufällig gewähltes Verfahren ist, zeigt sich durch eine kurze Rückkehr in die mythologische Erzählwelt. Auch da wird Erinnern als bewusster und aktiver Vorgang dar‐ gestellt, der viel mit Kenntnissen der Funktion von Sprache zu tun hat: Nach der Schilderung des Weltuntergangs fragt Gylfi, ob es eine neue Welt mit neuen Bewohnern geben wird. Hár bejaht: Upp skýtr jǫrðunni ór sænum ok er hon grǿn ok ósánir akrar. Viðarr ok Váli lifa ok svartalogi hefir eigi grandat þeim, ok byggva þeir á Eiðavelli, þar sem fyrrum var Ásgarðr, ok þar kómu synir Þórs Magni ok Móði ok hafa þar Mjǫlni. Þar kemr Baldr ok Hǫðr frá Heljar, talast við ok minnast á rúnar sínar, rǿða um tíðindi, Miðgarðsorm ok Fenrisúlf. Þá finna þeir í grasinu gulltǫflur er æsir hafa átt. 141 Die Erde schiesst aus dem Meer hinauf und sie ist grün und die Äcker unbesät. Viðarr und Váli leben und das schwarze Feuer hat sie nicht geschädigt, und sie leben auf Eiðavǫllr, wo vorher Ásgarðr war, und dorthin kommen die Söhne Þórs, Magni und Móði und haben dort Mjǫlnir. Baldr und Hǫðr kommen von Hel, sprechen zusammen und erinnern sich an ihr geheimes Wissen, reden über die Ereignisse, die Miðgarðsschlange und Fenriswolf. Dann finden sie im Gras die goldenen Spieltafeln, welche den Asen gehört haben. Die erzählte mythologische Welt ist zyklisch angelegt, wie die neu auftauchende Welt zeigt. Die Nachkommen sowie zwei wichtige Überlebende der untergegangenen Asen kommen wieder zusammen. 142 Ihre neue Welt basiert ganz auf der alten: Es ist wichtig, sich an das geheime Wissen zu erinnern und sich gemeinsam darüber einig zu werden. Hier wird ein 101 3.3 Gylfaginning - Die Welt erzählen 143 Uppsala Edda, S. 18. 144 Uppsala Edda, S. 18. 145 Uppsala Edda, S. 20. 146 Uppsala Edda, S. 20. aktiver und bewusster Prozess beschrieben, der auf die Konstituierung eines gemeinsamen kulturellen Gedächtnisses herausläuft. Der Hammer Mjǫlnir und die goldenen Spieltafeln sind materielle Objekte, an die sich Erzählungen knüpfen lassen und sie so gleichzeitig in der jetzigen Welt vergegenwärtigen. Auch der Ort der Zusammenkunft hat Symbolcha‐ rakter: Eiðavǫllr ist da, wo vorher Ásgarðr, das Zentrum der asischen Macht war. Das vor‐ geführte Modell eines Erinnerungsprozesses sieht vor, dass Erzählungen durch Abstam‐ mung oder Augenzeugenschaft von legitimierten Figuren fixiert sowie durch wichtige materielle Objekte und der Verortung in der Welt verankert werden und so in kulturelles Wissen übergehen können. Der Text hat schon am Anfang bewiesen, dass solche performative „Erzählakte“ gelingen können: Im Bericht über den Asen Óðinn wird dieser zum höchsten Asengott erzählt. Die Wortwahl Hárs zeigt dabei aber, dass er sich bewusst ist, was er hier tut: Þau áttu þrjá sonu, Óðin, Vili, Vé, ok þat ætlum vér, segir Hár, at sá Óðinn ok hans brǿðr munu vera stýrandi heims ok jarðar, ok þar er sá eptir herran er vér vitum nú mestan vera. 143 Sie hatten drei Söhne, Óðinn, Vili und Vé, und wir meinen, sagt Hár, dass dieser Óðinn und seine Brüder die Herrscher der Welt und der Erde sein werden, und dieser wird dort danach Herr sein, den wir nun am Grössten wissen. Es reicht, dass die erzählenden Asen annehmen, dass Óðinn der Grösste sei und über die Welt herrschen werde, bereits so lässt er sich durch die Erzählung nach und nach in einen Gott verwandeln. Gylfi fragt zuerst noch nach: „Hvat hǫfðust þá Burs synir at, er þú trúir guð vera? “ 144 (Was taten da die Söhne Burs, wenn ihr glaubt sie seien Götter? ) Nach weiteren Ausführungen durch die Asen folgt dann der eigentliche Akt der Vergöttlichung, der Óðinn zum Alfǫðr (Vater aller Götter), Schöpfer der Menschen und gleichzeitigem Ahnherr der erzählenden Asen macht: „Síðan gerðu þeir í miðjum heimi Ásgarð. Þar bygði Óðinn ok ættir þeira er várar ættir eru frá komnir.“ 145 (Danach bauten sie in der Mitte der Welt Ásgarð. Dort lebte Óðinn und dessen Nachkommen, von denen unsere Geschlechter abstammen.) Die Bezeichnung Alfǫðr wird zuerst als bekannte Tatsache geschildert. In einem zweiten Schritt aber wird eine sich selbst bestätigende Begründung nachgeliefert: „Því heitir hann Alfǫðr at hann er faðir allra guðanna.“ 146 (Deshalb heisst er Alfǫðr, weil er der Vater aller Götter ist.) Von diesem Moment an sprechen sowohl die Asen als auch Gylfi von „Göttern“ und von Alfǫðr. Der vergöttlichende Sprechakt ist gelungen. Nun ist wieder zurückzukommen auf die Rahmenebene und das Ende des Dialogs zwischen Gylfi und den Asen. Wie die vorangehenden Beispiele aus den mythologischen Narrativen zeigen, können die erzählenden Asen über performative Strategien mythologische Welten entstehen lassen und deren Bewohner zu Göttern erklären. Auf der Rahmenebene wenden sie diese Verfahren nun auf sich selbst an und verleihen dem Akt mit der Wiederholung noch mehr Gewicht. 102 3 Welt erfassen - Welt verfassen: Performatives Erzählen 147 Snorri Sturluson: Prologue and Gylfaginning, S. 55. 148 RTW hat an mehreren Stellen die Tendenz, die Asen stärker mit Troja zu verbinden, als das in U der Fall ist, wo diese Verknüpfung nur im Prolog kurz angesprochen wird. 149 Friedrich, Udo und Bruno Quast: Mediävistische Mythosforschung. In: Dies. (Hg.): Präsenz des My‐ thos. Konfigurationen einer Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit. Berlin 2004 (= Trends in Me‐ dieval Philology 2), S. IX-XXXVIII, hier S. XXXV. Sowohl auf der Rahmenwie auch auf der Binnenebene sind neue Erzählräume eröffnet: Die grüne neue Welt bietet sich dafür ebenso an wie das metaphorisch gesehen ebene (leere) Feld, auf dem Gylfi am Ende steht. In den Versionen von RTW ist das weitere Geschehen deutlich ausformuliert. Gylfi geht nach Hause und erzählt da, was er gesehen und gehört hat: „Ok eptir honum sagði hverr maðr ǫðrum þessar sǫgur.“ 147 (Und danach sagte einer dem anderen diese Geschichten weiter.) Gylfi ist somit einer der Überlieferungsträger, der für die Weitererzählung der Geschichten sorgt. Auch das Vorgehen der Asen in RTW wird ausführlicher beschrieben. Wie in U festigen auch sie das Erzählte über Namensabglei‐ chungen und Bezüge zur realen Welt. Im Unterschied dazu wird aber ein weiterer Erzähl‐ raum eröffnet, der die Asen mit Troja und seinen Helden verbindet. 148 Die Erzählungen werden aktualisiert, um sie an neue Umstände anzupassen. Denkt man die Überlieferungslinie weiter, so wird klar, dass diese Stellen als Reflexi‐ onsmomente gelten können, in denen der Text über seine eigene Rolle in dieser Linie nach‐ denkt. Das mittelalterliche Manuskript ist das Medium, in dem die Geschichten schriftlich fixiert sind und so potenziell unendlich weitererzählt werden können. Im Sammeln und Zusammenstellen des disparaten mythologischen Materials und dem Verfassen der daraus geformten Mythographie entsteht die Möglichkeit der Rezeption und damit einer immer wieder neuen Aktualisierung der Stoffe. Die Wiederholung ist ein Reflexionsmoment, das den Status von Literatur als wirklichkeitsherstellendes Werkzeug in Szene setzt und sich gleichzeitig selbst hinterfragt, da augenscheinlich alles nur eine grosse Täuschung ist. 3.3.3.4 Intertextuelle Wiederholungen: Mythos als Denkmodell Bereits mehrfach wurden Überschneidungen oder Vermischungen formaler und inhaltlicher Art zwischen Gylfaginning und der eddischen Dichtung angesprochen. An dieser Stelle sollen nun ganz bestimmte intertextuelle Bezüge der beiden Werke diskutiert werden, die in einem zweiten Schritt mit den Begriffen des Mythischen zusammengedacht werden müssen. Mythos ist dabei als Denkform zu verstehen und man kann „den Begriff des Mythischen zugleich auf Text- und auf Mentalitätsstrukturen beziehen, auf den Mythos als Erzählform und das sogenannte mythische Denken als eine Texten vorausliegende und sie durchdrin‐ gende Bewusstseinsform mit einer ihr eigenen Logik.“ 149 Jürg Glauser fasst die wichtige Rolle der Denkform für das nordische Mittelalter zusammen: Nimmt man die in der Lieder-Edda, der Prosa-Edda, der Skaldik dokumentierte mythologische Dichtung […], so kann man mit Margaret Clunies Ross vom Mythos als einem zentralen Denk‐ muster im Island des 13. Jh. sprechen. Grosse und wichtige Teile der isländischen Literatur zeugen von der Beschäftigung mit den alten Göttergeschichten und das Denken in Mythen strukturiert wie gesehen auch den Blick auf die Vergangenheit, die Rechtfertigung der eigenen Stellung und die Ansprüche, die man in der Gesellschaft daraus ableitet. In diesen Kartierungen, Genealogisie‐ 103 3.3 Gylfaginning - Die Welt erzählen 150 Glauser: Skandinavische Literaturgeschichte, S. 44f. 151 Die Trennung ist etwas künstlich, gehören die beiden Bereiche doch eigentlich zusammen. Dennoch kann der Versuch einer Trennung helfen, einzelne Ebenen voneinander besser zu unterscheiden. 152 Es sind einzelne weitere Lieder in anderen Handschriften enthalten, die formal und inhaltlich als „eddisch“ bezeichnet werden können. Dass es zusätzlich noch mehr derartige Dichtung gegeben haben muss, darauf verweisen auch einige Strophenzitate im Codex Upsaliensis, deren Herkunfts‐ lieder heute nicht mehr bekannt sind. 153 Uecker: Geschichte der altnordischen Literatur, S. 193. 154 Für Datierungsfragen vgl.: Thorvaldsen, Bernt Ø.: The dating of eddic poetry. In: Larrington, Carolyne et al. (Hg.): A Handbook to Eddic Poetry. Myths and Legends of early Scandinavia. Cambridge 2016, S. 72-92. Das Handbuch allgemein deckt auch vertiefende Fragen zur Lieder-Edda ab. rungen und Mythisierungen steckt eine erzählerische Dynamik, die bewirkt, dass aus Geschichten Geschichte (gemacht) wird. 150 Mythos als Denkform verstanden, ist eng verwandt mit dem Begriff der Wiederholung. Mit einer performativ perspektivierten Lektüre geht es dabei weniger um die Frage, was der eddische Mythos ist, sondern mehr um seinen Einsatz und seine Funktion für die mit ihm arbeitenden Texte. Bevor das Potenzial des Mythischen untersucht wird, sollen zuerst die intertextuellen Bezüge als wiederholende Verfahren in Gylfaginning betrachtet werden. 151 Die eddische Dichtung ist neben der P-E unsere zweite grosse Quelle für die Kenntnis der nordischen Mythologie. Der grösste Teil der Gedichte ist in der Handschrift Codex Regius GKS 2365 4to der Lieder-Edda gesammelt und lässt sich in einen ersten Teil mit Götterliedern sowie einen zweiten Teil mit Heldenliedern trennen. 152 Eddische Dichtung ist eine der drei grossen altnordischen literarischen Gattungen: Die eddischen Gedichte unterscheiden sich in bezeichnender Weise von der Skaldendichtung. Während diese […] auf ein Ereignis oder auf eine Person der jeweiligen Gegenwart bezogen ist, handeln jene von Entstehung und Untergang der Welt, von Episoden aus dem Leben der nordischen Götter, bieten Lebensweisheiten an und erzählen von Helden vergangener Zeiten. Sind die Namen der allermeisten Skalden bekannt, so sind die eddischen Lieder anonym überliefert. 153 Weiter ist die eddische Dichtung metrisch und stilistisch einfacher gehalten als die Skaldik (trotzdem gibt es viele Berührungspunkte zwischen den zwei Gattungen und sie sollten nicht so klar getrennt voneinander gedacht werden). Ihren Namen verdanken die eddischen Lieder wohl dem Umstand, dass sie inhaltlich sehr eng mit der P-E verbunden sind, er kam wohl aber nachträglich dazu, ein Titel fehlt in der Handschrift. Codex Regius der Lieder- Edda ist um 1270 verfasst worden, ca. 50 Jahre nach der angenommenen ersten Niederschrift der Prosa-Edda. Die Handschrift stellt ganz verschiedene Inhalte zusammen und verbindet die einzelnen Lieder durch die Anordnung und teilweise mit Prosaeinschüben miteinander. In welcher Form die Lieder ausserhalb des Codex Regius überliefert worden sind, lässt sich nur noch schwer bestimmen. Die Datierung der einzelnen Lieder ist ein vieldiskutiertes Problemfeld, man nimmt für einige Lieder aber eine lange (und mündliche) Tradition von mehreren Jahrhunderten an. Aber auch die gegenteilige Position wird für mehrere Lieder vertreten: Sie seien deutliche literarische Werke des Mittelalters und die vermeintlich alten Inhalte oder Formen seien archaisierende Strategie. 154 104 3 Welt erfassen - Welt verfassen: Performatives Erzählen 155 Für einen genauen Vergleich von Vǫluspá in der Lieder-Edda und der Verwendung von Vǫluspá in Gylfaginning, siehe: Rösli: Topographien, 2015. Es stehen dort zwar narratologische Fragen zum Raum im Fokus, dennoch hilft die Untersuchung sehr, die Unterschiede bzw. die Art der jeweiligen Ge‐ staltung und Funktion, gerade auch im Hinblick auf performative Verfahren, herauszuarbeiten. 156 Auch Maja Bäckvall konstatiert, dass häufiger danach gefragt worden ist, welche Quellen bzw. woher „Snorri“ resp. die Verfasser der Gylfaginning ihre Quellen haben, als was deren Funktion überhaupt ist. Sie liefert einen Überblick über die bisherige Forschungslage in: Bäckvall, Maja: Skriva fel och läsa rätt? Eddiska dikter i Uppsalaeddan ur ett avsändaroch mottagarperspektiv. Uppsala 2013, S. 31- 36. 157 Bäckvall: Skriva fel, S. 63. 158 Bäckvall: Skriva fel, S. 25 mit einem Überblick über die verwendeten Strophen. Auf S. 62 ist eine Tabelle mit den detaillierten Angaben zu direkten Zitaten, Paraphrasen etc. zu finden. 159 Vgl. Uppsala Edda, Introduction: S. xlvf. In ihrer je eigenen Ausgestaltung sind also sowohl Gylf der Prosa-Edda als auch die Lieder-Edda in Form des Codex Regius kategorisierende und systematisierende Zusam‐ menstellungen mythologischer Bestände. Vorher und auch wohl auch zeitgleich mit der Abfassung des Codex Regius werden weitere mythologische Lieder und v. a. auch einzelne Fragmente kursiert sein, ohne dass diese speziell nach einer Eingliederung in eine geordnete Mythologie bzw. Mythographie verlangt haben. Gylf macht Gebrauch von dieser unfesten Stoff- und Motivsammlung und gestaltet sie auf andere Art und Weise als das die Lieder-Sammlung tut. Die systematische Darstellung des nordischen mythologischen Kosmos in Gylf besteht einerseits aus Prosaerzählungen der bekannten Stoffe (hauptsächlich) der Götterlieder, andererseits aber auch aus unzäh‐ ligen Verszitaten, die eddischen Gedichten entstammen. Die klarste Vorlage ist Vǫluspá, deren Verlauf den gesamten Text von Gylf strukturiert. 155 Mit sehr vielen Zitaten vertreten sind auch Vafþrúðnismál und Grímnismál, weitere Göt‐ terlieder sind mit weniger Strophen in den Prosatext integriert. Anders als viele Arbeiten, die sich mit der Frage nach den Quellen der Gylf beschäftigen, steht hier weniger die Quelle an sich als vielmehr die Art ihrer Verwendung im Vordergrund. 156 Die Verteilung der eddischen Strophen auf den Gylfaginning-Gesamttext ist nicht ausge‐ glichen. Zu Beginn und ganz am Schluss sind die meisten Zitate eingearbeitet, in den langen Narrativen um Þórs Fahrt zu Útgarða-Loki und der Miðgarðschlange sowie zum Fenriswolf fehlen sie. Maja Bäckvall führt das darauf zurück, dass die Teile mit Zitaten eng an den Vorlagen der eddischen Gedichte orientiert sind, während die Erzählungen, zu denen es keine Gedichte gibt, keine Strophen brauchen. 157 In ihrer Arbeit über die Verwendung und Funktion der eddischen Strophen im Codex Upsaliensis, stellt Bäckvall alle Zitate zu‐ sammen, ihre Aufstellung dient hier als Vorlage. 158 Einige Strophen können keinen bekannten Liedern zugeordnet werden, diese müssen wohl verloren gegangen sein und weisen auf einen grösseren Gedichtbestand zurück als heute erhalten ist. Obwohl die bekannteste Handschrift, der Codex Regius der Lieder-Edda, um ca. 1270 und damit 30 Jahre vor dem Codex Upsaliensis verfasst worden ist, ist er wohl nicht die Vorlage für die Zitate in U. Es gibt mehrere Abweichungen, die auf verschiedene andere (schriftliche und mündliche) Varianten deuten. 159 Aus performativitätstheoretischer Sicht ist eine Wiederholung ein Mittel zur Anschlusskommunikation, welches das Spiel mit 105 3.3 Gylfaginning - Die Welt erzählen 160 Krämer: Sprache, Sprechakt, Kommunikation, S. 13. Wie eng die Wiederholung dabei mit dem Wesen des Mythos verbunden ist, zeigt sich weiter unten, wenn Hans Blumenbergs Mythos-Definition in die Lektüre miteinbezogen wird. Vorläufig soll die mythostheoretische Dimension für die Lektüre aber noch zurückstehen. 161 Bäckvall: Skriva fel, S. 63-67. 162 Vgl. Bäckvall, Skriva fel, S. 63f. für ein detailliertes Beispiel dieser Konstellation anhand der Strophen 38 und 39 der Vǫluspá. 163 Siehe Bäckvalls Analyse der einzelnen Strophen in ihren Kapiteln 4 und 5. Bedeutung ermöglicht, das ist deutlich geworden. Das direkte Zitat hat dabei eine besondere Wirkung: Das kulturelle Muster der Iterabilität, das im Modus des wörtlichen Zitierens ein intertextuelles Wiederholungsmuster ist, stellt einen performativen Sprechakt stets in die Reihe der vorausge‐ gangenen Sprechakte und verleiht ihm eine Identität, die eine Voraussetzung für die wirklich‐ keitsverändernde Wirkmacht des Wortes ist. 160 Die Wiederholung schafft den Anschein von Ursprünglichkeit und Authentizität. Doch das Zitat muss immer erkennbar sein, ansonsten geht dieser Anschein verloren. Wiederhol‐ barkeit ermöglicht so eine Sinnstiftung, reflektiert aber immer auch, wie sie zustande kommt: Es ist immer konstruierter Sinn. Mit diesem Verfahren arbeitet auch Gylf, wenn Dichtungszitate als intertextuelle Ver‐ weise benützt werden. Die eddischen Strophen sind dabei entweder als Zitat mit paraphra‐ sierender Prosa umgeben, oder als direkte, unkommentierte Verszitate in die Prosa des Gylf- Fliesstexts eingebunden, selten gibt es auch reine Paraphrasen eddischer Dichtung ohne eigentlichen Stropheneinschub. 161 Alle diese Verfahren rufen aber eine intertextuelle Ver‐ bindung zum Korpus der eddischen Dichtung im Allgemeinen auf. Der Text benützt die eddische Dichtung als Medium für die Vergangenheit und die Gegenwart gleichermassen. Die Bedeutungsstiftung muss in beide Richtungen gelingen: Das „Alte“ verleiht Aura und Autorität für die Gegenwart, umgekehrt braucht das „Alte“ aber selbst auch die Legitimie‐ rung seiner Relevanz um nicht aus dem kulturellen Gedächtnis zu fallen. Wird in der U-Version der Gylfaginning einer Strophe eine Prosaparaphrase beigegeben, so dient diese meist der Erklärung und dem Verständnis der Verse. Es handelt sich aber nicht unbedingt um eine Vereinfachung für besseres Verständnis, sondern es wird mithilfe der Prosa auch mehr Bedeutung hinzugefügt (sei das durch die Verwendung von Synonymen oder zusätzliche Details, die in der Strophe fehlen). 162 Das wörtliche Zitat der Strophe reicht offenbar als Aufrufung des „Ursprungstexts“ nicht aus, das Zitat könnte nicht als solches erkannt werden oder seine Bedeutung unklar bleiben. Deshalb formuliert der Prosatext nochmals neu, was an Inhalt mitgenommen werden sollte und es kommt zu einer eigent‐ lichen Wiederholung der Wiederholung. Diese Beobachtungen auf der dritten Ebene ma‐ chen Mythologie zur Mythographie. Es gibt aber auch Fälle in U, in denen die Strophe und die Paraphrasierung nicht zusam‐ menpassen. Ob es sich dabei um Schreibfehler oder bewusste Um-Schreibungen und damit Bedeutungsveränderungen handelt, ist nicht immer eindeutig zu bestimmen. 163 Einzelne Strophen werden völlig ohne Prosaeinführung verwendet und sind meist als direkte Rede von Figuren eingesetzt. Bäckvall bezeichnet das zwar nicht mit dem Begriff 106 3 Welt erfassen - Welt verfassen: Performatives Erzählen 164 Bäckvall: Skriva fel, S. 65. 165 Bäckvall: Skriva fel, S. 69. 166 Gunnell, Terry: The Origins of Drama in Scandinavia. Cambridge 1995, S. 207ff. 167 Quinn, Judy: Verseform and voice in eddic poems: the discourse of Fáfnismál. In: Arkiv för nordisk filologi 107/ 1, 1992, S. 100-130, hier S. 106. Quinn geht stärker auf die eddischen Lieder an sich als auf ihre Verwendung in Gylfaginning ein. Dennoch liefert sie interessante Erkenntnisse betreffend den Gebrauch unterschiedlicher Versmasse in verschiedenen Sprechaktsituationen. 168 Uppsala Edda, S. 34. 169 Uppsala Edda, S. 40. Die darauffolgende Strophe ist aus keinem eddischen Gedicht bekannt, aber als Beispiel eines asischen Sprechers eignet sie sich dennoch. des Performativen, geht aber in ihrer Argumentation in diese Richtung: „Sådana fall kan tolkas som att det är replikformen snarare än strofens innehåll som står i fokus; vem som talar kan ha ansetts viktigare än vad personen säger.“ 164 (dt. „Solche Fälle können so aus‐ gelegt werden, dass eher die Replikformen als der Inhalt der Strophen sind, die im Fokus stehen; wer spricht, kann als wichtiger angesehen werden als was die Person sagt.“). Der Einsatz von Strophen als direkte Rede hat eine sehr unmittelbare und präsenzstiftende Wirkung auf den Text und hilft, den Text als mündliche Gesprächssituation zu inszenieren. Etwas unterlaufen wird diese fingierte mündliche Kommunikation durch eine weitere Her‐ vorhebung der Verse, die jedoch in der Schriftlichkeit begründet liegt: Die Strophen werden manchmal am Seitenrand der Handschrift mit einem kleinen ‹v› für vísa [Strophe] be‐ zeichnet, allerdings durchaus nicht durchgängig. Bäckvall zählt 27 marginale ‹v›, die in derselben Hand wie der Fliesstext geschrieben sind, sieht jedoch keine klare Begründung, weshalb einige Strophen markiert werden und andere nicht. Die Funktion sei jedoch klar auf einen Leser ausgerichtet und helfe, Strophen auf der Handschriftenseite zu finden. Derartige Zeichen sind auch aus anderen Handschriften bekannt, wo Prosa und Vers von unterschiedlichen Händen geschrieben werden und die Zeichen dem Schreiber helfen, die richtige Stelle für den jeweiligen Nachtrag zu finden. 165 Terry Gunnell zeigte für Handschriften der Lieder-Edda, dass Marginalzeichen auch als eine Art Regieanweisungen für ein Nachspielen der Dialoge verstanden werden können. 166 Für einen schriftlich konzipierten Schultext wie Gylf in U lässt sich eine solche re-perfor‐ mance jedoch höchstens im Kontext der Schulstube und nicht in einem kultischen Zusam‐ menhang vorstellen. Als eine Art materielle Performativität lassen sie sich aber durchaus beschreiben. Es sind visuelle Zeichen und Hervorhebungen bestimmter mündlicher Äus‐ serungen bzw. deren Übertragungen in die Schriftlichkeit. Dass diese Hervorhebungen auch inhaltlich und nicht nur formal bedeutsam sind, zeigt unter anderen Judy Quinn. Sie stellt fest, dass die mythologischen Wesen in Gylf jeweils in Versform, genauer in ljóðaháttr sprechen. 167 Ihre Zitate werden als direkte Rede genutzt und eingeleitet durch Formeln wie: „Óðinn sjálfr mælti við þann ás er Loki er nefndr“ 168 (Óðinn selbst sprach mit dem Asen, der Loki genannt ist) oder „en er Njǫrðr kom aptr til Nóatúna af fjallinu, þá kvað hann þetta“ 169 (und als Njǫrðr nach Nóatún von den Bergen zurück kam, da sagte er dies). Bereits im Prolog wird gesagt (wenn auch nur implizit), dass die Asen ihre herausragende Sprache in den Norden bringen. Die textuelle Gestaltung von Gylfaginning bildet diese Angabe konsequent ab. 107 3.3 Gylfaginning - Die Welt erzählen 170 Uppsala Edda, S. 14. 171 Uppsala Edda, S. 16. 172 Blumenberg, Hans: Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotenzial des Mythos. In: Fuhrmann, Manfred (Hg.): Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption. München 1971 (= Poetik und Hermeneutik 4), S. 11-66, hier S. 28. Werden die Zitate unpersönlichen Quellen zugeordnet, so folgen Strophen in fornyrðislag und mit einleitenden Formeln wie: „Svá segir í Vǫluspá“ 170 (So heisst es in Vǫluspá) oder auch ohne Nennung der Quelle: „sem hér segir“ 171 (wie es hier heisst). Wie auch die Zitate für die direkten Reden sind diese unpersönlichen Quellenangaben auf eine übergeordnete über‐ zeitliche Quelle bezogen. Das Versmass fornyrðislag (Versmass alter Geschichten) verweist an sich bereits auf die angenommene ehrwürdige Herkunft der Strophe. Anders als bei skaldischen Strophen, die meist mit einem Namen eines berühmten Dichters überliefert sind, fehlt hier der direkte Bezug zur menschlichen Welt der Gegenwart. Für beide Dich‐ tungsarten sind diese formelhaften Einleitungen aber sprachliche Markierungen für den Einsatz von Dichtung. Sie sind Rezeptionshilfen, ähnlich wie das ‹v› am Seitenrand einer Handschrift. Nachdem in einem ersten Schritt die intertextuelle Wiederholung als vernetzendes Ver‐ fahren in Gylf beschrieben wurde, soll nun das übergreifende Wirkungspotenzial des My‐ thos, das hinter Wiederholungen in den eddischen Liedern und der Gylf steht, näher be‐ leuchtet werden. Der Rückgriff auf eine der verschiedenen Theorien des Mythischen hilft bei der Klärung der Frage nach dem Wirkungspotenzial und der Funktion des Mythos in Gylfaginning. Zwar wird die P-E häufig als gelehrte Mythographie, d. h. als eine Art Erklärung für das unor‐ dentliche Mythenwuchern der nordischen Vorzeit betrachtet. Man kann das Werk aber auch selbst als eine weitere Bearbeitung des Mythos verstehen. Hans Blumenberg liefert dafür den zentralen Ansatz: Eine Betrachtungsweise wie die hier vorzuschlagende sucht nicht historisch oder philosophisch zu klären, was ‚der Mythos‘ ursprünglich oder in einer bestimmten Phase unserer Geschichte bzw. Vorgeschichte gewesen sein mag; vielmehr wird er als immer schon in die Rezeption übergegangen verstanden. 172 Blumenbergs Betrachtungsweise hat auch Implikationen für die Lektüre von Gylf und ihre intertextuellen Bezüge zur eddischen Dichtung: Es kann nicht wie in frühen klassisch phi‐ lologisch orientierten Arbeiten Ziel sein, die eine Quelle bzw. das eine ursprüngliche Ge‐ dicht zu suchen, das als Grundlage für die Strophen in Gylfaginning diente. Es gibt den einen festen Text nicht, die Überlieferung muss man sich vielfältig und multimedial vor‐ stellen. Zu diesem unfesten Textmodell kommt im Fall der beiden Eddas aber auch der unfeste Mythos hinzu: Der Mythos schöpft sich aus der permanenten Rezeption, er ist pro‐ duktiv durch die stetige Neugestaltung und Anpassung an die aktuellen Umstände. Das für die Erzählung des mythologischen Kosmos so wichtige Gedicht Vǫluspá selbst ist das beste Beispiel dafür. Judy Quinn zeigt in ihrem Artikel zu den verschiedenen Editionen des Ge‐ dichts sehr deutlich: Was als ganzes Gedicht in zwei mittelalterlichen Handschriften je unterschiedlich überliefert ist, entstammt selbst einer langen mündlichen Tradition. Die 108 3 Welt erfassen - Welt verfassen: Performatives Erzählen 173 Vgl. Quinn, Judy: Editing the Edda - the case of Vǫluspa. In: Scripta Islandica 51, 2001, S. 69-92. 174 Zur „Arbeit am Mythos“ vgl. Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos. Frankfurt a. M. 7 2006 [1979]. 175 Dazu vgl. auch: Wanner: Snorri Sturluson and the Edda, S. 144f. 176 Da man wenig weiss, wie die Performanz der Lieder oder Erzählungen in vorchristlicher Zeit ausge‐ sehen hat, lässt sich dieser Umstand aber eigentlich nur vermuten. 177 Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff, S. 21. Prosa-Edda-Handschriften sind weitere Überlieferungsträger einzelner Strophen und Aus‐ erzählungen der Vǫluspá und beruhen ebenso auf unterschiedlichen Vorlagen. 173 Jede Va‐ riante fügt dem Mythos seine eigene Rezeptionsstufe an: Es kommen neue Aspekte dazu, Details gehen verloren, weil sie nicht mehr relevant sind oder sie werden umgedeutet. Quinns Übersicht über die verschiedenen modernen Editionenarten des Gedichts zeigen auch, dass der Mythos nichts an seiner Wirkmacht verloren hat: Jeder Editor arbeitet an seiner eigenen Version des Mythos von Vǫluspá.  174 Damit ist deutlich geworden, dass Gylf mit ihren intertextuellen Verweisen keine „Wieder‐ auferstehung“ der Mythen der heidnischen Götterwelt ist, sondern eine Aktualisierung mit spezifischer Funktion für die Gegenwart. Durch die christliche Kultur hat sich die Beziehung zur einheimischen Mythologie verändert. Die mythologischen Erzählungen kursieren münd‐ lich und schriftlich weiterhin, die Verfasser der Prosa-Edda und der Lieder-Edda übernehmen sie und versuchen, sie in die passende Form für die christliche Schriftlichkeit zu bringen. 175 Trotz der grundsätzlich starken Abwehr der heidnischen Mythologie durch die Kirche hält sich der Mythos in der Tradition - er ändert einfach seine Gestalt. Obwohl beide Eddas so unter‐ schiedliche Werke sind, gibt es Gemeinsamkeiten: So scheint ein wichtiger Neuerungspunkt zu sein, dass ein Mythos bzw. eine mythologische Geschichte nicht mehr „unvermittelt“, also direkt und allein für sich stehend erzählt werden kann. 176 Es braucht einen rahmenden Kon‐ text, der durch die Zusammenstellung mit anderen Texten (gleicher oder anderer Art) oder auch durch erklärende Prosaeinschübe geleistet werden kann. Hans Blumenberg interessiert, was den Mythos so wirkmächtig macht und weshalb er eine so produktive Denkform ist. Auf die P-E bezogen stellt sich die Frage: Weshalb dieses Wei‐ tererzählen und Weiterschreiben der eigenen mythologischen Vergangenheit? Ein Grundgedanke für das Verfassen der Gylf mag vielleicht tatsächlich im Wunsch nach einer systematischen Zusammenstellung der „Inhalte“ für die in den Edda-Handschriften folgenden dichtungstheoretischen Schriften zur Skaldik gelegen haben. Doch der Mythos ist nicht auf eine derartige Fixierung und Kategorisierung angelegt - er führt gewisser‐ massen ein Eigenleben. Blumenberg begründet dies mit dem Wesen des Mythos an sich. Mythisches Denken ist nicht auf Abgeschlossenheit, sondern auf produktive Weiterent‐ wicklung ausgerichtet. Diese Weiterentwicklung beruht auf dem Verfahren der Wiederho‐ lung, das so auch als Aspekt literarischer Performativität thematisiert werden kann: Die mythologische Tradition scheint auf Variation und auf die dadurch manifestierbare Uner‐ schöpflichkeit ihres Ausgangsbestands angelegt zu sein, wie das Thema musikalischer Variationen darauf, bis an die Grenzen der Unkenntlichkeit abgewandelt werden zu können. Noch in der Va‐ riation durchgehalten zu werden, erkennbar zu bleiben, ohne auf der Unantastbarkeit der Formel zu bestehen, erweist sich als spezifischer Modus von Gültigkeit. 177 109 3.3 Gylfaginning - Die Welt erzählen 178 Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff, S. 21. 179 Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff, S. 21. 180 In gewisser (struktureller) Weise zeigt sich das auch in der Vermischung der beiden Dialogformen „Lehrgespräch“ und „eddischer Wissenswettstreit“, siehe Kapitel 3.3.2.3. 181 Zum Begriff der Implosion vgl. ebd. Blumenberg verweist hier auf einen durch eine variierende Wiederholung gestifteten Sinn des Mythos - so wie die Wiederholbarkeit als Aspekt literarischer Performativität bestimmt wurde. Eine Wiederholung stellt aus, dass sie etwas „Gemachtes“ ist und sie zeigt, dass ihre Geltungsbehauptung paradox ist. Für den Mythos bedeutet das: „Solche Gültigkeit bietet gleichsam Bezugspunkte für ‚Anspielungen‘ und vage Verweisungen: es darf Vertrautes vorausgesetzt werden, ohne dass es eine besondere Sanktion besässe oder dem Zwang einer konservativen Behandlungsweise unterworfen wäre.“ 178 Der stabilisierende Prozess der Wiederholung erlaubt es dem Mythos gerade, sich als jeweils wieder neu und als Ereignis hervorzuheben: es ist „eine Demonstration von Neuheit und Kühnheit“ 179 . Gelingen kann aber die dadurch angestrebte Sinnstiftung nur, wenn die Anspielung auf etwas Davorlie‐ gendes erkannt wird. 180 Das u. a. durch Wiederholbarkeit ermöglichte Wirkungspotenzial des Mythos prägt auch die eddischen Lieder, am besten zu sehen in der Vǫluspá. In der ausgeprägt performativen Inszenierung des Gedichts entfaltet sich der nordische Kosmos sehr eindrücklich. Auf diese Wirkmacht referiert auch Gylfaginning, indem sie sich die „Stimme“ des Gedichts leiht. Wie produktiv der Mythos als Erzählform ist, zeigen auch die mit grosser Erzählfreude präsentierten Geschichten der Gylf. Sie sind nicht passgenau auf die dichtungstheoretischen Einheiten konzipiert, sondern sie inszenieren die grosse Er‐ zählwelt des Mythos an sich. Für Codex Upsaliensis gilt das in etwas weniger hohem Masse als für die Versionen in RTW, wo umfangreichere Erzählungen präsentiert werden, die eine grosse Lust am Erzählen sichtbar machen. In U hingegen wirkt der gelehrte, systematisie‐ rende Gedanke stärker und grenzt den Mythos deutlicher ein als in RTW. Dazu gehört auch die häufige Verwendung von Rubriken in der Handschrift, die eine visuell-mediale Hilfe für eine klare Strukturierung und Eingrenzung ist. Allerdings sieht man auch in den langen Narrativen rund um die Abenteuer Þórs, dass eine Eingrenzung des Narrativen durchaus nicht immer gelingt. Die Erzählfreude kann mitunter in einem Zuviel an Erklärung aus‐ arten: Anstatt zu erklären oder zu verdeutlichen (und so z. B. die christliche Wahrheit zu betonen), werden mehrere Bedeutungsdimensionen aufgerufen und nicht gewertet. So be‐ steht erneut die Gefahr einer „Implosion“. 181 Das ist vielleicht auch eines der Grundprobleme der zwei Denkordnungen in der Prosa- Edda: Das mythische System ist produktiv und auf Weitererzählung angelegt, das gelehrte christliche auf statische und abgeschlossene Wahrheit. Das Wirkungspotenzial des Mythos in der Prosa-Edda zeigt sich auch darin, dass die vielen Verzeichnisse in der Prosa-Edda keine vollständigen und fertigen Materialsammlungen sind, sondern eigentliche Anleitungen zum Weiterdichten sein wollen. Die gegenläufige christliche Tendenz ist jedoch, daraus fixierte Wissensbestände zu machen, die nur noch archivarisch von Interesse sind. Die beiden Ordnungen werden zwar zusammengebracht, lassen sich aber nur schwer vereinen. So entstehen immer wieder Momente, in denen nicht klar ist, ob daraus entstan‐ dene Uneindeutigkeit bewusst oder unbewusst in den Text gekommen ist. 110 3 Welt erfassen - Welt verfassen: Performatives Erzählen 182 Uppsala Edda, S. 86. 183 Uppsala Edda, Introduction: S. lvi. In der Erzählung über die Herkunft der Dichtung bzw. Óðins Dichtermet kreuzen sich die beiden Denkformen in einem dieser uneindeutigen Momente. Ein göttlicher Ursprungs‐ mythos verleiht dem Skalden und seiner Kunst Bedeutung. Was dieser Mythos in Bezug auf das Dichten aber eigentlich aussagt, ist nicht das, wodurch sich ein angehender Dichter aus dem 13. Jahrhundert auszeichnen sollte. Dichterische Fähigkeiten erwirbt man nun in Form gelehrter Kenntnisse aus Büchern. Wie sich die zwei Modelle zusammen und gegen‐ einander positionieren, ist Thema des folgenden Abschnitts. 3.3.3.5 Der Dichtermet: Ein Ursprungsmythos Zentral für die gesamte Gylf (wenn nicht sogar für die gesamte P-E) ist der Begriff der sjónhverfing (Augenverblendung, Sinnestäuschung, Blendwerk). Mit einer solchen Zau‐ berei empfangen die Asen Gylfi zu Beginn ihrer Begegnung. Was genau die Täuschung ausmacht und welche Elemente sie beinhaltet, wird nicht deutlich gesagt. Die Wortbedeu‐ tung lässt eine Täuschung des Sehsinns vermuten und auch die Halle, die Gylfi vorgespie‐ gelt wird, scheint eine optische Täuschung zu sein. Da ihm aber alle Geschichten mündlich erzählt werden, muss auch das Gehör davon betroffen sein. Das lässt sich auch aus dem Ende der Täuschung entnehmen, die mit einem grossen Getöse (gnýr mikill) einhergeht. Beiden Sinnen ist gemein, dass sie durch sprachliche Mittel beeinflusst werden können. Gylf in U sagt aber noch mehr zum Thema Sinnestäuschungen. Der Text fügt den be‐ kannten Mythos von der Herkunft des Dichtermets an und eröffnet mit dieser Binnener‐ zählung eine Deutungsmöglichkeit spezifisch für die Rahmenebene, im Allgemeinen aber auch für das Gesamtwerk Prosa-Edda. U präsentiert sich nach dem Ende der Täuschung an Gylfi anders als die anderen Hand‐ schriften: Es folgt nicht wie in RTW ein neuer Text, der unter dem Titel Skáldskaparmál bekannt ist, sondern es geht unverändert im selben Stil wie bisher weiter. Eine Rubrik kündigt an: „Frá heimboði ása með Ægi“ 182 (Vom Gastmahl der Asen bei Ægir) Darauf folgen vergleichbar zum bisherigen Text von Gylf vier mythologische Erzählungen. Heimir Pálsson meint dazu: In the Uppsala Edda four mythological narratives, those about the origin of the mead of poetry, the battle between Þórr and Hrungnir, the kidnapping of Iðunn and Þórr’s visit to Geirrøðargarðar, have been moved from Skáldskaparmál and made into the closing chapters of Gylfaginning. In doing this, the redactor seems to have been trying to separate the mythological narratives from the account of poetical language, and takes this further than the author had ori‐ ginally done. 183 Zum Gesamtwerk, das in U vorliegt, scheint ein solches Vorgehen zu passen. Gylfaginning ist der narrative Teil, deshalb befinden sich da auch die ansonsten in Skáldskaparmál zu findenden Erzählungen. Dass der Verfasser von U gewisse Schwierigkeiten mit der Ver‐ schiebung und Aufteilung hatte, zeigt aber die etwas seltsame Rubrik, die im nächsten Abschnitt folgt: „Hér segir frá því at æsir sátu at heimboði at Ægis ok hann spurði Braga hvaðan af kom skáldskaprinn. Frá því Kvasir var skapaðr. Hér hefr mjǫk setning skálds‐ 111 3.3 Gylfaginning - Die Welt erzählen 184 Das Adverb mjǫk ist hier uneindeutig: es kann sowohl „sehr, in hohem Grade“ als auch „fast, nahezu, ziemlich“ heissen. Beides passt nur mit etwas Umformulierung. Ersteres bedeutet, dass Skáldska‐ parmál absolut hier beginnen, im zweiten Fall ist es nicht ganz so sicher, es beginnt nur „ungefähr“ hier. Vgl. Baetke, Wörterbuch, S. 425. Allgemein lässt sich zu den Rubriken aber nicht mit Sicherheit sagen, wann und nach welchem Prinzip sie dem Text zugeordnet worden sind. Einige sind unpassend oder an der falschen Stelle, vgl. Pálsson: Introduction, S. xcii. 185 Uppsala Edda, S. 90. 186 Uppsala Edda, S. 88. 187 Ægir wird meist als Meeresriese bzw. als Personifikation des Meeres angesehen. Das wird im Text hier jedoch nicht thematisiert. 188 „Hann (Bragi) er ágætr at speki ok mest at málsnillð ok orðfimi. Hann kann mest af skáldskap, ok af honum er bragr kallaðr skáldskaprinn. Ok af hans nafni er sá kallaðr bragarmaðr, karla eða kvenna, er orðsnilld hefir framarr en aðrir.“ (Uppsala Edda, S. 44) (Er ist berühmt für Weisheit und am meisten für Wortgewandtheit und die Beherrschung der Sprache. Er weiss am meisten über Dichtung und nach ihm ist die Dichtung mit bragr benannt. Und von seinem Namen ist derjenige bragr-Mensch genannt, ob Mann oder Frau, der mehr Sprachgewandtheit hat als andere.) 189 Für die ganze Geschichte vgl. Uppsala Edda, S. 88. kapar.“ (Hier ist gesagt wie die Asen beim Gastmahl bei Ægir sassen und er Bragi fragte woher die Dichtung kam. Wie Kvasir geschaffen wurde. Hier beginnen in hohem Masse/ ziemlich 184 die Regeln der Dichtung.) Nach dem nächsten Textabschnitt folgt eine weitere Rubrik, die sich auf die Dichtung bezieht: „Hér segir hversu skilja skal skáldskap“ 185 (Hier wird gesagt, wie man Dichtung verstehen soll). Zwar scheinen die Rubriken willkürlich und nicht logisch gewählt, dennoch lassen sie sich als Spuren der Bearbeitung und Wei‐ terentwicklung einer Vorlage lesen. Der Verfasser bzw. Kompilator will alle narrativen Teile zusammen in der Mythographie sammeln, der folgende Teil (von Pálsson als Liber secundus bezeichnet) fügt hingegen sprach- und dichtungstheoretische Materialien zusammen. Die mythologischen Erzählungen dazwischen bilden eine Art Überleitung von einem Bereich in den anderen und lassen sich nur schwer in gelehrte Rubriken fassen. Die Geschichte der Herkunft des Dichtermets folgt auf eine Art einleitende Erzählung der Tötung des Riesen Þjazi. Wie es später in Skpm gängiges Vorgehen ist, wird die Erzählung als Begründung für eine dichterische Umschreibung, eine kenning, gebraucht: „Er nú gullit kallat munntal jǫtna, en í skáldskap mál þeira.“  186 (Nun heisst Gold Munderzählung der Riesen, und in der Dichtung ihre Sprache.) Das ist der Auslöser für die Figuren auf der Rahmenebene über die Herkunft der Dichtung zu sprechen. Anders als im bisherigen Text sind das nicht mehr Gylfi und die drei Asen, sondern die Asen als Gemeinschaft, wie sie in den vorherigen Binnenerzählungen beschrieben worden ist. Ihr Dialogpartner ist Ægir, eine nicht weiter ausgestaltete Figur. 187 Unkommentiert vom Text haben sich die Asen, von denen erzählt worden ist, zu denen gemacht, die erzählen. Was am Ende der Täuschung von Gylfi beschrieben worden ist, hat sich auch in die neue Erzählordnung übertragen. Ægir will von den Asen wissen, woher die Dichtung stammt. Bragi, dem in den Binnen‐ erzählungen sehr grosses Sprachwissen zugesprochen worden ist 188 , antwortet ihm mit einer verketteten Geschichte voller Gewalt und Tod: Der Ausgangspunkt ist ein Krieg zwi‐ schen den zwei mythologischen Völkern der Æsir und der Vanir. 189 In einer Friedenskon‐ ferenz beenden sie den Krieg dadurch, dass alle in einen Kessel spucken und aus der Flüs‐ sigkeit ein Mann namens Kvasir gemacht wird. Kvasir findet Lösungen für alles, und es scheint, als sei seine Klugheit der Grund, weshalb ihn zwei Zwerge töten und aus seinem 112 3 Welt erfassen - Welt verfassen: Performatives Erzählen 190 Uppsala Edda, S. 88. 191 Uppsala Edda, S. 88. 192 Wie oben beschrieben, kann man nur annehmen, dass er aufgrund seiner Klugheit getötet worden ist. 193 Quinn: Liquid Knowledge, S. 201. Blut mit Honig gemischt einen Trank machen. Wer diesen trinkt, „verðr skáld ok fróðamar“ 190 (wird Dichter und Gelehrter). Der Met wird von den Zwergen als Kompensa‐ tion für eine weitere Tötung benutzt. Der Empfänger der Busse, der Riese Suttungr, ver‐ steckt die Flüssigkeit in einem Berg und setzt seine Tochter als Wächterin ein. Wieder werden mit den Erzählungen bestimmte kenningar erklärt. Ægir fragt danach, wie Óðinn selbst den Met erlangte. Die Verbindung des höchsten Asen mit dem Dichtermet scheint ihm offensichtlich bekannt. Auch Óðins Weg zum Met ist mit Leichen übersät, die Erzählung ist dabei sehr knapp gehalten: Zuerst tötet er neun Sklaven von Baugi und macht sich diesem unter falschem Namen bekannt. Baugi wird ohne Erklärung eingeführt, dass er der Bruder von Suttungr ist, entnimmt man nur der Version RTW. Óðinn verwandelt sich schliesslich in einen Eber und eine Schlange, um an den Met zu kommen. Er schläft für drei Nächte mit Suttungs Tochter und kann den gesamten Met austrinken. Verwandelt in die Gestalt eines Adlers gelingt ihm die Flucht, Suttungr nimmt ebenfalls Adlergestalt an und folgt ihm sofort. Die Übergabe des Mets an die Asen erfolgt schliesslich auf sehr physische Weise: Æsir settu út í garðinn ker sín. Óðinn spýtti miðinum í kerin. En sumum repti hann aptr, er honum varð nær farit ok hafa þat skáldfífl ok heitir arnarleir, en Suttunga miǫðr þeir er yrkja kunna. 191 Die Asen stellten ihre Kessel in den Hof hinaus. Óðinn spuckte den Met in die Kessel. Und einiges liess er hinten hinaus, weil er ihm so nahe gekommen war, und das haben die Dichterlinge und es heisst Adlerdreck, aber Suttungs Met (haben) die, welche dichten können. Jeder Mythos über die Herkunft der Dichtung betrifft ganz im Kern das Selbstverständnis des Dichters. Mit der hier vorgeführten Begründung der Herkunft aus dem Dichtermet gehen bestimmte Implikationen einher: Dichtung wird als etwas sehr Konkretes (wenn auch nichts Festes) beschrieben. Es ist eine Flüssigkeit, die transportierbar ist und so leicht weitergegeben werden kann. Die konkrete Flüssigkeit musste aber gebraut werden, in erster Linie ist sie ein Zeichen zum Friedensschluss zwischen zwei feindlichen Lagern. Aus der Spucke wird zuerst ein personifiziertes Friedenszeichen in Form des weisen Kvasis. Doch aus einem nicht näher erklärten Grund töten ihn zwei Zwerge 192 und süssen sein Blut mit Honig, d.h. sie machen ihn konsumierbar. Erst durch diesen Schritt wird man nach der Einnahme des Getränks zu einem Gelehrten und einem Dichter. Ohne den Honig scheint nur Kvasir alles zu wissen, man ist auf ihn als Medium angewiesen. Der Met lässt denjenigen, der ihn trinkt, sowohl gelehrt als auch Skalde werden. Judy Quinn bemerkt dazu, dass die Einnahme des Getränks eine Transforma‐ tion des Menschen auslöst, er wird zum Gelehrten und Dichter und bekommt nicht bloss Worte bzw. Wissen eingegeben. 193 Óðinn holt den Met aus dem Besitz der Zwerge und Riesen zu den Asen zurück. Dafür braucht er seine zauberischen Fähigkeiten, tötet und geht eine sexuelle Beziehung zu einer Riesin ein. Das gesamte mythologische Personal ist also an der Herstellung des Mets beteiligt: Neben Óðinn sind auch die Riesen Träger von Wissen über die Welt. Die Zwerge sind ebenso alt, werden aber stärker als ausgezeichnete Handwerker dar‐ 113 3.3 Gylfaginning - Die Welt erzählen 194 Quinn, Liquid Knowledge, S. 201. 195 Glauser: Skandinavische Literaturgeschichte, S. 10. 196 Die Version RTW liefert eine sehr viel ausführlichere Variante als U. Ansonsten ist der Mythos durch verschiedenste kenningar in skaldischen Strophen und möglicherweise als visuelle Umsetzung auf gotländischen Bildsteinen bekannt. Vgl. Glauser (Hg.): Skandinavische Literaturgeschichte, S. 6f.; in Hávamál wird ebenfalls von Óðins Fahrt zu Suttungr berichtet, jedoch episodenhafter und weniger erzähllogisch ausgestaltet als in Gylfaginning. 197 Glauser: Skandinavische Literaturgeschichte, S. 10. gestellt, die einen wertvollen Grundstoff in ein Kunstwerk verwandeln können. Alle dies macht das Getränk umso wertvoller und Dichtung zu etwas, das sowohl auf Wissen wie auch auf Handwerk basiert. 194 Die Herkunft der Dichtung wird als ein sehr körperlicher und prozessualer Vorgang beschrieben. Die Zusammenfügung gleicht einem Rezept für das Kochen von rohen Zutaten zu einem stimmigen Ganzen und weist damit beträchtliches performatives Potenzial auf. Jürg Glauser macht darauf aufmerksam, dass die Edda hier zwei sehr bekannte Topoi über‐ nimmt: „Einerseits wird Dichten vor allem im europäischen Mittelalter als Inspiration, als Gottesgabe gesehen, andererseits wird ihre Ausübung auf die Einnahme eines (Rausch-) Getränks zurückgeführt, ein Motiv, das vielleicht indoeuropäische Verbindungen hat.“ 195 Der Dichtermet ist ein elitäres Gut und trennt die Menschen in zwei Kategorien: Die un‐ fähigen Dichter kriegen den Adlerdreck, den Óðinn hinten hinausgelassen hat, während diejenigen, die bereits dichten können, den Met erhalten. Der Mythos vom Raub des Dich‐ termets ist so deutlich ausformuliert nur aus der Prosa-Edda bekannt 196 und zeigt die Vor‐ stellungen der mittelalterliche Kultur gegenüber der eigenen heidnischen Vergangenheit. Dass die mythologische Erzählung nicht als „Wahrheit“ über die Herkunft der Dichtung aufgefasst worden ist, zeigt alleine schon ihre Eingliederung in eine Rahmengeschichte. Damit distanziert sich der Text von einer Herkunft der Dichtung aus Täuschung, Raub und Mord. Für diese These lässt sich nochmals mit Glauser argumentieren: Für die im 13. Jahrhundert verfasste Snorra Edda beruhen Entstehung und Herkunft der Literatur auf Täuschungen und es lässt sich hier unschwer ein sprach- und dichtungsskeptischer Zug, der Tradi‐ tionen in der antiken Rhetorikgeschichte aufgreift, erkennen. Dem Besitz guter Literatur voraus gehen Täuschung und Tötung, sie sind dieser Dichtung in den Kenningar immer eingeschrieben. In der altnordischen Überlieferung ist der Gott, der die Dichtung beschafft, auch der Gott, der am meisten betrügt. 197 Der Mythos vom Dichtermet hat die Funktion, auf die Gefährlichkeit von Dichtung auf‐ merksam zu machen. Man sollte sich nicht auf das verlassen, was auf ihrer Oberfläche gesagt wird, denn sie basiert im Kern auf einem Betrug. Aber dieser Betrug führte im End‐ effekt zu etwas Positivem, der Kunst der Dichtung. Aber nicht nur die Dichtung an sich birgt Gefahren, sondern auch die Art und Weise ihrer Vermittlung: Gylf thematisiert mit der ausgestalteten Erzählung der Herkunft des Dichtermets, wie unsicher und instabil eine mündliche Überlieferung ist. Der Dichtermet steht dabei nur für eine spezifische Flüssigkeit, die mit Wissen oder Erinnerung verbunden ist. Judy Quinn untersuchte diese flüssigen Formen von Wissen und liest die Übergabe des Tranks methaphorisch: 114 3 Welt erfassen - Welt verfassen: Performatives Erzählen 198 Quinn: Liquid Knowledge, S. 183. Quinn analysiert hier hauptsächlich die Weitergabe von Wissen in eddischer Dichtung. Der Vorgang passt aber ebenso zum Dichtermet: Quinn beschreibt, dass Wissen zwar viele erreicht (im Wissensdialog hören viele wichtige Dinge), aber längst nicht alle können dieses Wissen schliesslich auch nutzen. Nur diejenigen, die auf göttliches Wohlwollen stossen. Die Parallelen zum Dichtermet sind deutlich. 199 Diese These vertritt v. a. auch Klaus von See in mehreren Artikeln, vgl. als Überblick: von See, Klaus: Snorri Sturluson and the Creation of a Norse Cultural Ideology. In: Saga Book XXV, 2001, S. 367-394. […] the sense of knowledge as flowing from mouth to mouth and being ingested in order to be incorporated by the listener is of course a product of a society not dependent on writing - or the metaphors of written culture - for the transmission of learning. This kind of knowledge may be withdrawn before reaching the lips, or it may be poisened, or spilt, possibilities less likely to occur in the supervised process of providing the learner with glossed, re-readable written texts which in the solidity of their form offer more secure delivery. 198 Die Übergabe und Aufnahme von Wissen ist als performativer körperlicher Prozess darge‐ stellt, sei es nun die Vorstellung einer primär oralen Kultur oder diejenige einer Schriftkultur, die auf die eigene Vergangenheit zurückblickt. Der Dichtermet verbindet Gylf über das Motiv der wertvollen, aber gefährlichen Flüssigkeit motivisch mit den eddischen Götterliedern. Die spezifische Ausgestaltung als Trank für die Dichter ist natürlich dem Kontext der ars poetica geschuldet. Die Inszenierung der Herkunft der Dichtkunst lässt sich somit auf unterschiedlichen Ebenen als performativ beschreiben. Auf einer diskursiven Ebene schafft sie es - ähnlich wie durch die gelungene Vermengung eines eddischen Wissenswettstreits und eines christ‐ lichen Lehrgesprächs - das Bild einer überlieferungswürdigen heidnischen Vergangenheit zu inszenieren. Zwar wird auf die Gefahr der Dichtung hingewiesen, die Aktualisierung und Validierung für die Gegenwart wird dennoch auf dem Mythos aufgebaut. Das Ergebnis ist ein Text, der wie so viele Texte der altnordischen Literatur gleichzeitig zurück in die Vergangenheit und nach vorn auf die Gegenwart bzw. Zukunft verweist. Durch performa‐ tive Verfahren wird die Wertigkeit der Erzählung hervorgehoben und das in ihr selbst an‐ gelegte performative Potenzial weitergenutzt. Wie (und damit gleichzeitig dass) man das Dichten auch in der christlichen Schriftkultur lernen soll, beantwortet das Gesamtwerk Prosa-Edda bzw. jede einzelne Edda-Handschrift neu. Für den Verfasser des Codex Upsaliensis gehören alle mythologischen Narrative in einen zusammengehörigen mythographischen Teil (Liber primus). In Liber secundus folgt dann, was es nun zusätzlich benötigt, um als Dichter angesehen zu sein: Es braucht um‐ fassende gelehrte Kenntnisse, die durch Bücher vermittelt werden können. Das elitäre An‐ sehen der Schriftgelehrten wird aber durch die Anfügung des gottgegebenen Ursprungs‐ mythos noch gesteigert. Bedeutungsstiftung funktioniert auch in diesem Fall über die Wiederholung bzw. Anhäufung von verschiedenen Bedeutungsdimensionen. Gleichzeitig hebt die Integration der nordischen Dimension die eigene kulturelle Dimension innerhalb der gelehrten lateinischen Welt hervor und macht sie ihr ebenbürtig. 199 Eine explizite Lektüreanweisung, die in Richtung christliche Gelehrsamkeit weist, gibt es trotz des ausgewogenen Verhältnisses zwischen den zwei Kulturen. Anders als in der RTW-Version kommt in der U-Version der sogenannte Verfasserkommentar (auch Eptirmáli 115 3.3 Gylfaginning - Die Welt erzählen 200 Uppsala Edda, S. 90. 201 Der Kommentar kam wahrscheinlich im Verbund mit den zusätzlichen mythologischen Narrativen zu Gylfaginning. 202 Snorri Sturluson: Edda. Skáldskaparmál. 1: Introduction, Text and Notes. Faulkes, Anthony (Hg.), London 1998, S. 5. genannt) bereits gegen Ende von Liber primus, mitten in den zusätzlich eingeschobenen mythologischen Narrativen, die in RTW Teil von Skáldskaparmál sind. Nach den ersten Erkärungen dichterischen Umschreibungen steht der Kommentar, welcher sich unpersön‐ lich an junge Skalden richtet: En þat er at segja ungum skáldum er girnast at nema skáldskapar mál ok heyja sér orðfjǫlða með fornum heitum eða skilja þat er hulit er ort, þá skili hann þessa bók til skemtanar. En ekki er at gleyma eða ósanna þessar frásagnir eða taka ór skáldskapnum fornar kenningar er hǫfuðskáldin hafa sér líka látit. En eigi skulu kristinr menn trúa né á sannast at svá hafi verit. 200 Aber das ist jungen Skalden zu sagen, die begehren die Sprache der Dichtung zu lernen und sich einen Wortschatz mit alten Namen anzueignen, oder zu verstehen, was verdeckt gedichtet ist, dann nehme er dieses Buch zur Unterhaltung. Aber diese Erzählungen sind nicht zu vergessen oder unwahr zu machen, oder alte Kenningar aus der Dichtung zu entfernen, welche die grossen Skalden gern ge‐ braucht haben. Aber nicht sollen christliche Menschen glauben und auch nicht bekräftigt sein, dass es so gewesen ist. Wie an anderen Stellen auch weicht der Kommentar in U von demjenigen in RTW ab. U ist kürzer und lässt einzelne Einheiten weg. So fehlt der Hinweis, man solle alles so verstehen, wie es am Anfang des Buches (wohl im Prolog) gesagt ist, so wie die euhemeristischen Verbindungen zu Troja (die im Gesamtwerk auch nicht stark ausgeprägt sind). Dennoch versteht sich die Aussage in U als Hinweis auf die Werksintention und die Platzierung an dieser frühen Stelle zwischen den Narrativen von Gylf und den folgenden gelehrteren Teilen macht durchaus Sinn. 201 Es scheint, als vermeide der Kommentar den plakativen Verweis auf den Prolog, weil die eigene Aussage an sich bereits genügend deut‐ lich ist. Direkt im Anschluss an die mythologischen Erzählungen statuiert der Text, wer (nämlich junge Skalden) die gehörten/ gelesenen Geschichten verstehen soll und welchen Nutzen sie haben können. Sie helfen beim Erlernen der Dichtersprache, man kann durch ihre Kennt‐ nisse verdeckte Äusserungen verstehen, sich einen traditionsreichen Wortschatz aneignen und man kann sich an den Erzählungen erfreuen. Der zweifache Nutzen ist in RTW stärker betont: „til fróðleiks ok skemtunar“ 202 (für Wissen und Unterhaltung). U formuliert das Wissen explizit aus und fasst die beiden Aspekte nicht mehr zusammen. Der Text mahnt den Rezipienten auch, dass man weder die Geschichten vergessen noch bestimmte Kenningar aus der Dichtung entfernen soll - auch wenn Christen nichts davon glauben sollen. Den bisherigen Inhalten von Liber primus wird so ein eigenständiger Wert zu‐ gesprochen, der unabhängig vom christlichen Glauben zu finden ist. Die Wertigkeit ergibt sich aus dem hohen Alter (fornum heitum; fornar kenningar) und der elitären einheimischen Her‐ kunft (hǫfuðskáldin). Der Kommentar scheint auf einen praktischen Nutzen des Werks hinzu‐ weisen, richtet er sich doch an junge Skalden. Das widerspricht etwas dem komplexen Aufbau 116 3 Welt erfassen - Welt verfassen: Performatives Erzählen 203 Glauser: Wenn Mythen implodieren, S. 3-7. und den vielfältigen und anspruchsvollen Inhalten, die in U enthalten sind. Es kann sein, dass der Kommentar auf ein ursprüngliches Ziel des Werks hinweist, das sich im Laufe der Zeit immer mehr gewandelt hat. 3.3.4 Zwischenfazit In Gylf werden verschiedene Verfahren der Bedeutungsstiftung in Texten erprobt und somit offengelegt. Die Diskussion der Bedeutungsstiftung wird notwendig, weil traditionelle Mo‐ delle der Sinngenerierung von neuen Modellen überlagert werden - in Gylf wird das z. B. deutlich in der Verschränkung des einheimischen und des gelehrten Dialogmodells. Der Text leistet Arbeit am Mythos, indem er unzusammenhängende mythologische Wis‐ sensbestände systematisiert, ordnet und zu einem Gesamtkomplex verbindet. Dabei zeigt sich, dass der Mythos nur noch als „Geschichte in der Geschichte“ bzw. in einem gelehrten Rahmen vermittelbar ist: So schlägt der Mythos um in Narrative, wie Jürg Glauser feststellt: „Wenn Mythen implodieren, explodieren Narrationen.“ 203 Über die Systematisierung lässt sich die Vergangenheit strukturieren und für die Ge‐ genwart angemessen aufbereiten: Gylf verfasst eine nordische Vergangenheit, die pass‐ genau auf die christliche Gegenwart ausgerichtet scheint. Die Beschäftigung mit der Vergangenheit verlangt nach Überlegungen, wie etwas am besten in Erinnerung bleibt. In Gylf wird der Erinnerungsprozess des kulturellen Gedächt‐ nisses reflektiert und das Potenzial von Erzählen als Erinnerungsmedium ausgelotet. Das legt aber gleichzeitig offen, wie prekär und unsicher Erinnern eigentlich ist. Auf einer dis‐ kursiven Ebene wird die Frage gestellt, ob nun mündliches oder schriftliches Erzählen das bessere Medium gegen das Vergessen ist. Die neue Schriftlichkeit verheisst ewig fixierbares Wissen und macht die Handschrift zu einer gesteigerten Möglichkeit des Weitererzählens. Allerdings gilt auch für die schriftliche Überlieferung: Ohne Rezipient verschwindet alles aus dem kulturellen Gedächtnis. Und anders als bei Erzählungen durch Augen- oder „Oh‐ renzeugen“ müssen Texte ausreichend gerahmt sein, damit der intendierte Sinn vermittelt werden kann. Gylf bleibt uneindeutig und nimmt keine explizite Wertung der verschie‐ denen Modelle vor. Die vielen reflexiven Momente weisen eher darauf hin, dass eine Ver‐ bindung der verschiedenen Bereiche gesucht wird und dieser Denkprozess mitten in Gange ist. 3.4 Literarische Performativität in medialer Variation Im Folgenden kommen für U Inhalte in den Blick, die in den anderen Versionen nicht ent‐ halten sind und auch erst sehr punktuell Beachtung in der Forschung gefunden haben. Einer‐ seits handelt es sich dabei um drei listenähnliche Texte, die u.a. genealogisches Wissen ent‐ halten, andererseits um Illustrationen. Die grossen Vorzüge literarischer Performativität als theoretische Herangehensweise liegen darin, dass sie hilft, solch unterschiedliche Formen zu‐ sammenzudenken. Wie zu zeigen sein wird, können die Genealogien wie auch die Illustra‐ 117 3.4 Literarische Performativität in medialer Variation 204 Uppsala Edda, Introduction: S. lxxv. 205 Vgl. Lemma tal n. in Baetke: Wörterbuch. 206 Glauser: Skandinavische Literaturgeschichte, S. 43. 207 Clunies Ross: History. 208 Gut zu beobachten ist dies etwa in der Sagaliteratur, wo Genealogien wichtiger Bestandteil sind und Verwandtschaftsverhältnisse darstellen und legitimieren und so auch die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander in Verbindung zu setzen wissen. 209 Diese Eigenschaft teilen sie sich auch mit kenningar, die als „Mythenkerne“ ebenfalls Erzählung auf kleinstem Raum (einer zweigliedrigen dichterischen Umschreibung) zusammenfassen. tionen so in einen Zusammenhang mit den bisherigen poetologischen Lektüren gebracht werden. Sie werden in derselben Reihenfolge behandelt, wie sie in U aufgeführt sind. 3.4.1 Genealogie und Enzyklopädie: Drei Arten von Listen Bislang wurden die drei in U eingefügten Listen höchstens als „sozialer und historischer Rahmen“ bzw. als Verweis auf das Entstehungsumfeld von U betrachtet. Auch Pálsson be‐ zeichnet die drei Listen als unabhängige Einheiten, die alle in Bezug auf Inhalt und Cha‐ rakter mit dem Geschlecht der Sturlungen in Verbindung stehen. 204 Skáldatal, Ættartala Sturlunga und Lǫgsǫgumannatal können aber auch mit einem Blick auf möglichen poetologischen Gehalt gelesen werden. Die Bezeichnung -tal (Zahl, Anzahl; Aufzäh‐ lung, Verzeichnis, Liste; Zählung) 205 verweist bereits auf eine Gattungsverwandtschaft. Wie sich zeigt, weisen aber alle drei Verzeichnisse je verschiedene mediale und inhaltliche Besonder‐ heiten auf. In den drei Listen wird wie in den erzählenden Prosateilen u. a. genealogisches Wissen vermittelt, allerdings auf eine andere Art und Weise. 206 Als Medium ist die Genealogie ebenso traditionsreich wie die eddischen und skaldischen Gedichte. Genealogien verweisen auf mündliche Wissensweitergabe und gehören wohl zu den frühesten Formen, die in die Schrift übertragen bzw. mit denen die Schrift erprobt wurde. 207 Als erste schriftliche Listen gelten Königslisten, die in Norwegen auch zu den ersten schriftlichen Zeugnissen gehören und die Grundlage für die Königssagas bilden. In dem Übergang von Listenform zur Saga widerspiegelt sich ein Merkmal von Genealogien: Sie erweisen sich als äusserst produktiv für das Erzählen. 208 Das ist einigermassen paradox, da Listen in ihrer Formelhaftigkeit und Kürze auch für Eingrenzung stehen und Erzählungen sich durch blosse Namen ersetzen lassen. Doch es sind gerade diese Namen und ihre Anordnung in (potenziell immer erwei‐ terbaren) Verzeichnissen, die als „Erzählkerne“ die Möglichkeit zu unendlicher Narration eröffnen. 209 In ihrer speziellen Form machen sie aber auch immer darauf aufmerksam, dass sie eine Konstruktion sind - Genealogien geben vor, den geregelten und konstanten Ablauf von einem absoluten Ursprung aus von einer Person zur nächsten abzubilden. Dass diese Abfolge aber bewusst so inszeniert ist und einzelne Personen ausgelassen (vergessen) oder hinzugefügt (legitimiert) werden können, zeigt sich vor allem im Vergleich von mehreren Genealogien. In performativer Hinsicht kann man der Genealogie klare soziale und implizit auch praktische Bedeutung zusprechen. Rechtliche Fragen wie Besitzbzw. Machtansprüche, 118 3 Welt erfassen - Welt verfassen: Performatives Erzählen 210 Als umfassende Einführung in das genealogische Denken des Mittelalters vgl. Kellner, Beate: Ur‐ sprung und Kontinuität, München 2004. 211 Kellner: Ursprung, S. 32. 212 Zu den mehrfachen Anfangserzählungen in Gylfaginning vgl. Rösli: Topographien, 2015. 213 Nur Ættartala Sturlunga kann als eigenliche Genealogie bezeichnet werden. Die beiden anderen Verzeichnisse bilden keine Verwandtschaftsnetze, sondern eher politische Beziehungen ab. 214 Uppsala Edda, S. 100. 215 Uppsala Edda, S. 100. aber auch das Eherecht beruhen auf verwandtschaftlichen Zusammenhängen und müssen dementsprechend legitimiert werden. 210 Mit dem Begriff der Wiederholbarkeit lässt sich die vermeintliche Konstanz, die von Gene‐ alogien gestiftet wird, beschreiben. Gewisse Bestandteile der Verzeichnisse wandern von einer Liste weiter in die nächste, es bilden sich ganze Netzwerke von genealogischen Formen, Verzeichnissen oder ausgearbeiteten Erzählungen. Beate Kellner fasst die Genea‐ logie folgendermassen zusammen: Auf einer gerade für die mediävistische Literatur- und Geschichtswissenschaft bedeutsamen Ebene gibt sich die Genealogie als Organisationsprinzip von Texten bzw. Textgruppen zu erkennen, als kultu‐ relles Zeichensystem, das genealogische Bezüge zwischen verschiedenen Texten stiftet und ihren Zu‐ sammenhang dabei meist über Filiationen ihrer Figuren garantiert: Genealogie funktioniert als Inter‐ textualitätsmodell. 211 Der Codex Upsaliensis ist - wie generell für mittelalterliche Literatur festgestellt werden kann - stark geprägt von der Denkform der Genealogie. Das zeigte sich bereits im Prolog, später aber auch in den mythologischen Erzählungen von Gylfaginning. Diese sind stark auf den absoluten Anfang orientiert und es zeigt sich, dass dieser eigentlich nicht zu fassen ist. 212 Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass in die Handschrift drei besondere Vertreter der Gattung „Liste“ bzw. „genealogisches Verzeichnis“ 213 eingefügt worden sind. Diese drei Texte stehen im Folgenden im Zentrum. 3.4.1.1 Skáldatal (Liste der Dichter) Skáldatal  214 , eine Liste von Dichtern bzw. Skalden, folgt im Codex Upsaliensis direkt auf Blatt 23r, im Anschluss an die vier zusätzlichen mythologischen Narrative von Gylfagin‐ ning. Das Verzeichnis wird nicht durch eine Rubrik mit Titelfunktion eingeführt, sondern es beginnt mit einem kurzen Prosatext, der mit einer grösseren roten Initiale S für Starkaðr anfängt: „Starkaðr inn gamli var skáld. Hans kvæði eru fornust þeira sem menn kunnu. Hann orti um Danakonunga. Ragnarr konungr loðbrók war skáld, Áslaug kona hans ok synir þeira.“ 215 (Starkaðr der Alte war ein Skalde. Seine Gedichte sind die ältesten von denen, die die Menschen kennen. Er dichtete über die Könige der Dänen. König Ragnarr loðbrók war ein Dichter, seine Frau Áslaug und ihre Söhne auch.) Nach diesem rubrikhaften Prosatext kommt eine eigentümliche Darstellungsform zum Zug, die fast schon diagrammatisch zu nennen ist. Der eben im Prosatext genannte König Ragnarr führt die chronologische Liste an, daneben steht sein Skalde, Bragi der Alte. Die Liste besteht aus je drei Spalten pro Seite, wobei ganz links von jeder Spalte vertikal der Name eines Herrschers steht und rechts 119 3.4 Literarische Performativität in medialer Variation daneben horizontal die Skalden untereinander gelistet sind, die für diesen Herrscher dichten. Abbildung 4: Skáldatal (DG 11 4to, 23r) 120 3 Welt erfassen - Welt verfassen: Performatives Erzählen 216 Leider übernahm meines Wissens nur die Codex Upsaliensis Edition von Grape (1977) diese eigen‐ tümliche graphische Darstellung. In der neuesten Edition von Pálsson (2012) werden auch die Kö‐ nigsnamen horizontal in die Liste eingegliedert. Auch die zweite Version von Skáldatal in den Heim‐ skringla-Versionen bzw. Papierkopien hat meines Wissens die vertikale Listung der Könige nicht übernommen, sondern sie horziontal wie die Skalden dargestellt. Zur Überlieferung und Hand‐ schriftensituation von Skáldatal in Heimskringla, vgl. Jørgensen, Jon Gunnar: The Lost Vellum Kringla. København 2007 (= Bibliotheca Arnamagnæana vol. XLV), S. 319. 217 Vgl. z. B. Naumann, Hans- Peter: Starkaðr. In: Germanische Altertumskunde Online. Berlin/ Boston 2005, www.degruyter.com/ view/ GAO/ RGA_5444. (Abgerufen am 26.02.2020) 218 Vgl. Uppsala Edda, Introduction: S. lxxvi; Nordal: Tools of Literacy, S. 120-130. Vgl. dies. für einen Überblick über die verschiedenen, in der Liste genannten Könige und die Bedeutung ihrer Reihen‐ folge. Natürlich hat die Reihung bzw. die Begründung stark performativen Charakter, hier soll jedoch Der Verfasser der Liste (oder ihrer Vorlage) hat sich offenbar Gedanken über die beste Darstellungsmöglichkeit der Herrscher-Skalden-Kombination gemacht. 216 Im Zusammen‐ hang mit den weiteren Verzeichnissen in U wird darauf zurückzukommen sein. Die aussergewöhnliche Listendarstellung braucht eine Einführung, daher der kurze Pro‐ satext ganz oben auf dem Blatt. Starkaðr ist eine interessante Wahl als Ausgangspunkt für das Dichterverzeichns, das auf einer Königsliste aufbaut. Er entstammt dem halbmytholo‐ gischen Bereich, wo er vom Dichtergott Óðinn gefördert und mit dem Dichtermet ausge‐ zeichnet, von Þórr jedoch gehasst wird, da er möglicherweise von Riesen abstammt. 217 Dieser Konflikt entspannt sich jedoch in der Welt der menschlichen Herrscher, da Starkaðr für und gegen so einige Könige kämpft. Seine prominente Stellung könnte also die Vor‐ stellung von einem Skalden stärken, der ebenso gut mit Waffen wie mit Worten umgehen kann. Nach Starkaðr ist in Háttatal und Háttalykill ein eigenes Versmass benannt und es sind Strophen von ihm in Texte verschiedenster Gattung integriert. Ebenfalls interessant ist, dass neben dem halbmythischen Bragi Boddason auch der erste König auf der Liste, der legendäre Ragnarr loðbrók mit seiner gesamten Familie als Dichter bezeichnet wird. Damit wird textuell eine noch engere Verbindung der Dichtkunst und einer königlichen Herkunft geschaffen, als es die Liste visuell umzusetzen vermag. Die Handschriftenseite zeigt sich so als Experimentierfeld für Ordnung und Darstellung von Wissensbeständen, die ursprünglich mündlich tradiert worden sind. Es ist zuerst eine Liste der Herrscher, wie es viele Königslisten gibt (und wohl auch schon mündlich gegeben hat). Diese Listen wurden sehr früh in die Schriftlichkeit übertragen und dienten auch als „Schreibexperimente“. Die Skalden kamen erst in einem weiteren Schritt zu dieser Königs‐ liste hinzu, es ist quasi eine aktualiserende Wiederholung für einen neuen Anlass und dieser neue Anlass könnte als eine Art frühe „Literaturgeschichte“ bezeichnet werden. Dass die Königsliste der Ausgangspunkt des Verzeichnisses darstellt, zeigt sich u. a. darin, dass in der Liste Könige ohne Skalden aufgeführt werden. Die Könige sind als Legitimati‐ onsgeber aber so wichtig, dass sie auch in der neuen Form nicht aus dem Verzeichnis fallen. Skaldik gehört in ein königliches Umfeld, das wird durch das Verzeichnis hervorgehoben. Neben Skáldatal in U ist eine zweite Version davon in der Kringla-Handschrift der Heim‐ skringla überliefert, existiert aber nur noch in Papierkopien. Diese Version ist wengier lang als diejenige in U, da sie um 1260 den Schlusspunkt setzt, die U-Version erst um 1300. In U werden auch Herrscher, die keine Könige sind, genannt und englische und norwegische Herrscher angefügt. 218 Leider ist es heute nicht mehr möglich herauszufinden, wie das Ver‐ 121 3.4 Literarische Performativität in medialer Variation mehr die mediale Gestaltung im Vordergrund stehen. Noch umfassender als Nordal auch in: Edda Snorra Sturlusonar (= Edda Snorronis Sturlæi). Sumptibus legati Arnamagnæani. 3 Bände. Nachdruck: Otto Zeller, Osnabrück 1966. (Editio princeps: Legati Arnamagnæani, Hafnia [= Kopenhagen] 1848- 1887), hier Band 3, S. 205-498. 219 Es könnte gut sein, dass U auch mit Skáldatal eine Innovation der Listenform vorstellt bzw. auspro‐ biert. Das würde zu den diversen anderen aussergewöhnlichen Formen der Handschrift passen. Ge‐ rade an visuellen Formen scheint U mehr interessiert zu sein als die anderen Edda-Handschriften. Die beiden Diagramme im 2. Grammatischen Traktat sowie die Illustrationen deuten in diese Rich‐ tung. Mögliche Vorlagen für die Diagramme oder das Layout von Skáldatal könnten kalendarische Texte sein, vgl. Kapitel 4.3.2. 220 Nordal: Tools of Literacy, S. 120-130. 221 Nordal: Tools of Literacy, S. 126. 222 Lange, Gudrun: Skáldatal. In: Germanische Altertumskunde Online. www.degruyter.com/ view/ GAO/ RGA_5254. (Abgerufen am 26.02.2020) 223 Die drei Listen sind neben der Anfangsrubrik im Codex Upsaliensis die einzigen klaren Hinweise auf die Verfasserschaft Snorri Sturlusons. zeichnis in dieser Version der Kringla aussah, die Überlieferungssituation lässt das nicht mehr zu. Es wäre interessant zu sehen, ob die spezielle Gestaltung des Layouts beiden Versionen eigen war, oder ob U hier etwas Neues ausprobiert. 219 Guðrún Nordal zeigt auf, wie eng verbunden das Verzeichnis in der Kringla-Version mit dem Prolog von Heimskringla ist. 220 Es diente als Legitimation skaldischer Bedeutung bzw. der Relevanz von skaldischen Gedichten. Eine derartige Intention passt auch für die Inte‐ gration des Textes im Codex Upsaliensis, wie Nordal schreibt: What is Skáldatal? It is a list of poets who composed for kings and earls, exactly those poets whom Snorri Sturluson regarded as the most trustworthy sources in his Prologue to Heimskringla. The catalogue is furthermore a record of the achievements of the most celebrated Icelandic skalds who had gained recognition from the rulers of Scandinavia, the descendants of Óðinn. As a result of the new arrangement of Skáldskaparmál in U, no skaldic verse has so far been cited in the vellum to illustrate the wealth of the poetic diction, and therefore Skáldatal serves to lay the groundwork for the poet’s testimony. 221 Gudrun Lange führt in ihrem Handschriftenvergleich vor, dass das Verzeichnis kaum sehr viel später entstanden sein kann, sondern schon früh zu Codex Upsaliensis gehört hat: [Sie] kam zu dem Ergebnis, daß die Funktion der beiden Versionen des Kat.s eng mit Snorris Edda und Königssaga-Geschichtsschreibung sowie seinen Interessen als Angehörigem des Sturlungen‐ geschlechts (Sturlunga saga und Sturlungen) verbunden sei. Man könne das Register also kaum als spätere Zutat betrachten. 222 Das stützt die hier verfolgte These, dass die drei Listen als wichtiger Bestandteil von Codex Upsaliensis angesehen werden und auf ihr Zusammenspiel mit den weiteren Texten hin gelesen werden müssen. 223 Wie aussergewöhnlich medial gestaltet dabei aber Skáldatal ist, zeigt sich im Vergleich mit den beiden weiteren Listenformen im Folgenden. 3.4.1.2 Ættartala Sturlunga (Genealogie der Sturlungen) Nachdem mit Skáldatal der Wert der Skalden und ihrer Dichtung bezeugt und historisch situiert worden ist, folgt im Codex Upsaliensis eine darauf aufbauende, aber anders per‐ 122 3 Welt erfassen - Welt verfassen: Performatives Erzählen 224 Uppsala Edda, S. 118. 225 Vgl. z.B.: Turville-Petre, Gabriel: Origins of Icelandic Literature, Oxford 1953, S. 166f. 226 Die folgenden Überlegungen verdanke ich den Diskussionen mit den Studierenden des Mastersemi‐ nars „Genealogie als Poetologie und Denkform in der skandinavischen Literatur“ von Klaus Müller- Wille und Lukas Rösli im Herbstsemester 2017 an der Universtität Zürich. 227 So auch Nordal: Tools of Literacy, S. 53: „The Sturlungar genealogy and the list of law-speakers in the manuscript link the Sturlungar family to the writing of Snorra Edda, a conclusion that is substantiated by the attribution to Snorri Sturluson at the beginning of the manuscript. There are striking textual similarities between the Prologue to Snorra Edda and the genealogy.“ spektivierte Liste: Ættartala Sturlunga  224 , eine Genealogie des Sturlungengeschlechts. Auch derartige Genealogien im eigentlichen Sinne gehören zu den frühesten schriftlichen Quellen des Nordens (Skáldatal ist keine Genealogie an sich, ähnelt in ihrer Funktion aber diesen Verzeichnissen und Erzählungen). 225 Ættartala Sturlunga beginnt mit dem biblischen Adam und endet mit Snorri Sturlusons Schwester Helga und ihren zwei Kindern. Die gra‐ phische Darstellung ist diesmal nicht so auffällig wie in Skáldatal: Der Fliesstext nimmt ca. die halbe Manuskriptseite ein. Die chronologische Genealogie ist einfacher in linearen Text umzusetzen, als das die verschiedenen „Einheiten“ der Könige und Skalden im vorherigen Fall war. Für heutige Verhältnisse ist der Text zwar langfädig und wenig interessant ge‐ staltet. Diese Form schafft es aber, den Inhalt als zusammengehöriges Ganzes zu insze‐ nieren: Von Adam aus bis zum letzten Namen, der wohl in die Gegenwart des Verfassers weist, sind alle Namen miteinander verbunden, das zeigt auch die mediale Gestaltung. Der Text ist organisiert durch den formelhaften Übergang: „x (ist) Vater von y“. Einzig die Um‐ kehrung zu „y (ist) Sohn von x“ kommt ebenfalls vor. Der Text arbeitet stark mit Abkürzungen und Formalisierungen. Das Verzeichnis nutzt die Möglichkeiten der Schrift, eine unglaublich lange Zeitspanne auf einem halben Blatt auf kleinstem Raum abzubilden. 226 Mit dem formelhaften Stil kommt das paradoxe Wesen einer solchen Liste zum Vorschein: Einerseits fasst sie lange Geschichten, die zu jedem der aufgeführten Namen gehören, in kürzester Form zusammen und macht so das Erzählen als Erinnerungstechnik unnötig. Andererseits bietet aber jeder aufgeführte Name potenziell Anlass zum Erzählen, z. B. ausgelöst durch Fragen. Darin klingt auch die Frage nach der Medialität der Genealogie an. Wie sich für Ættartala Sturlunga zeigt, lässt sich in der Schrift genealogisches Wissen optimal darstellen, doch auch mündliche Aspekte schwingen immer mit, einerseits wenn man sich z. B. - wie für Codex Upsaliensis angenommen - eine Schul‐ buchlektüre vorstellt, in der die einzelnen Namen mit erklärenden Erzählungen „belebt“ werden. Andererseits im Hinblick auf die Herkunft genealogischer Texte aus dem Bereich der mündlichen Wissenstradierung. Der ultimative Anfang wird in Ættartala Sturlunga mit einer roten Initiale A für Adam hervorgehoben, die biblische Anfangssetzung rahmt damit alles Folgende. Dass mit Adam ein Mensch die Liste anführt, hat Konsequenzen für alle folgenden Personen im Verzeichnis. Denn der Text stiftet nicht nur christlichen Sinn, sondern auch mehrere andere gelehrte Wissensbestände werden angefügt, an die die Namen der Sturlungen damit angesippt werden: Da sind einerseits weitere biblische Gestalten wie Noah, Gestalten aus der römi‐ schen Mythologie ( Jupiter) und dem Umfeld der Troja-Geschichte. Über Trór bzw. Þórr erfolgt wie im Prolog die Angliederung der nordischen Götter an Óðinn. 227 Diese „Götter“ sind durch den ersten Menschen Adam ebenfalls als Menschen bestimmt, sie sind euhe‐ 123 3.4 Literarische Performativität in medialer Variation 228 Uppsala Edda, S. 118. 229 Vgl. Kellner: Ursprung und Kontinuität, S. 31-46. 230 Vgl. Kapitel 3.2.3. 231 Pálsson sieht mögliche Quellen oder Vorbilder in anglosäxischen Genealogien, klassischen Texten und verschiedenen Sagas: Uppsala Edda, Introduction: S. lxxviif. Darin findet sich auch eine Litera‐ turangabe zu möglichen Auftraggebern der Genealogie, vgl. Guðvarður Már Gunnlaugsson: Helga Sturludóttir og Sölmundur austmann. In: Gísli Sigurðsson et al. (Hg.): Guðrúnarstikki kveðinn Guðrúnu Nordal fimmtugri 27. september 2010. Reykjavík 2010, S. 34-37. 232 Uppsala Edda, S. 120. 233 So fasst Jürg Glauser die drei Listen im Codex Upsaliensis zusammen: Unheilige Bücher, S. 116. 234 Uppsala Edda, S. 120. meristisch erklärt und folgen so der Prologerzählung. Doch die Gleichsetzung von mytho‐ logischen Göttern und Menschen geht über das Arrangement der Liste mit Startpunkt Adam hinaus: Gerade die Stelle mit „Trór, er vér kǫllum Þór“ 228 (Trór, den wir Þór nennen) vollzieht beispielhaft die Gleichsetzung auch auf lautlicher Basis. Wie wichtig das etymologische Prinzip in der P-E ist, konnte bereits für den Prolog und Gylf vorgeführt werden. Hier zeigt sich, dass Etymologie auch als genealogisches Prinzip bestimmt werden kann. 229 Die intertextuellen Verbindungen zum Prolog lassen sich noch verstärken, nimmt man die kleine Überschrift zur Bischofsillustration hinzu. 230 Auch der Anfangspunkt von Skál‐ datal, Starkaðr, wird aufgeführt. Das alles stärkt nochmals die Annahme, dass alle Texte bewusst für den Codex Upsaliensis zusammengestellt worden sind. Als zusätzlicher Text in U verleiht die Genealogie dem Geschlecht der Sturlungen (und damit ihren intellektuellen, literarischen und politischen Werken und Taten) Bedeutung, die weit über die Landnahmezeit hinausgeht, als über das, was beispielsweise in der Stur‐ lunga saga geleistet wird. Für ein nicht adeliges Geschlecht wird ein Legitimationsaufwand betrieben, der häufig nur königlichen Geschlechtern eigen ist. Ganz in der aus den bishe‐ rigen Lektüren von Gylf und dem Prolog erkannten Tendenz, scheint auch dieser Text so viel Bedeutung wie möglich verleihen zu wollen und kombiniert dazu biblische und ver‐ schiedene mythologische Ursprungsgeschichten - diese jedoch (durch Adam) klar mensch‐ lich perspektiviert. 231 3.4.1.3 Lǫgsǫgumannatal (Liste der Gesetzessprecher) Wird in Skáldatal eine erste Form von Literaturgeschichte geschrieben (und an Königs‐ häuser geknüpft) und in der Sturlungen-Genealogie Familienpolitik betrieben, so lässt sich die dritte Liste, Lǫgsǫgumannatal  232 , als eine Art von landesgeschichtlichem Verzeichnis beschreiben. 233 Das Verzeichnis listet alle Gesetzessprecher Islands auf und beginnt mit: „Úlfljótr hét maðr er fyrst sagði lǫg upp á Íslandi.“ 234 (Úlfljótr hiess der Mann, der zuerst das Gesetz verkündete auf Island). Dieser Úlfljótr, so heisst es weiter, habe aber nur dazu ge‐ raten, das Alþingi zu gründen, selbst hatte er das Amt des Gesetzessprechers nicht inne. Vergleichbar wie Adam als biblischer Ursprung der Sturlungen den Rahmen für alles Wei‐ tere setzt, wird in diesem Verzeichnis zuerst das Recht als solches institutionalisiert. Erst in einem zweiten Schritt kann es Gesetzessprecher geben. Diese werden anschliessend in chronologischer Reihenfolge zusammen mit der Angabe ihrer Amtsdauer genannt. Zwi‐ schen den formelhaften Sätzen sind immer wieder wichtige historische Momente eingefügt: 124 3 Welt erfassen - Welt verfassen: Performatives Erzählen 235 Uppsala Edda, Introduction: S. lxxviii. 236 Uppsala Edda, Introduction: S. lxxviii. 237 Uppsala Edda, S. 120. 238 Uppsala Edda, Introduction: S. lxxx. Die Christianisierung, der Tod verschiedener grosser Könige oder der Besuch von Bischof Gizzur. Diese Fixpunkte helfen einerseits, den Überblick im Verzeichnis zu behalten, ande‐ rerseits sind sie auch als verbindende Referenzen zum politischen und kirchlichen Ge‐ schehen ausserhalb Islands zu verstehen. Lokalgeschichte wird so in die Weltgeschichte eingeschrieben. Der Endpunkt der Liste ist die zweite Amtszeit von Snorri Sturluson, allerdings ohne Angabe der Dauer. Das wird als Argument für die Abfassung der Liste während der zweiten Amtszeit Snorris aufgenommen. 235 Der Grossteil der Liste stimmt überein mit Informa‐ tionen, die in Íslendingabók und den Annalen zu finden sind. 236 Der Text weist eine zusätzliche Besonderheit auf: Anders als in der Genealogie der Stur‐ lungen ist hier eine Erzählerstimme zu fassen. Im Sturlungenverzeichnis ist sie nur implizit vorhanden, das Erzählte erscheint als feststehendes Wissen bzw. Tatsache. Im Verzeichnis der Gesetzessprecher kommt die Erzählerstimme dazu ganz kurz zum Vorschein. Doch sie versucht, sich hinter einer distanzierenden Erzählweise zurückzuziehen. Zu Beginn der Institutionalisierung des Alþingi wird von Úlfljótr gesagt, er habe nie das Amt des Geset‐ zessprechers innegehabt. Mit seiner Formulierung verweist der Erzähler auf fremde Legi‐ timation dieses Wissensbestands und tritt gerade dadurch hervor: „Enn hann hafði eigi lagauppsǫgu á Íslandi svá at þat sé vitat.“ 237 (Aber er hatte nie das Amt des Gesetzessprechers auf Island inne, so weit bekannt ist.) Auf welche Quelle er sich hier bezieht, ist unklar. Durch seinen distanzierenden Kommentar rückt er aber einerseits in den Blick, wie wichtig ver‐ lässliche Quellen sind, damit eine durch ein Verzeichnis hergestellte Ordnung Geltung be‐ anpruchen kann, andererseits implizit natürlich auch darauf, wie prekär diese Ordnungen eigentlich sind. 3.4.1.4 Zwischenfazit It is the same with both the genealogy and the list of lawspeakers, that it is difficult to see what business they have in a textbook on poetry. The most likely explanation is that someone in the Sturlung family was having material collected into a single volume that lay in booklets or on loose leaves and was connected with the family, or was relics of Snorri. 238 Mit einer derartigen Meinung steht Pálsson nicht alleine da, häufig wird Codex Upsaliensis als eine blosse Ansammlung von verschiedensten, mit den Sturlungen bzw. Snorri Sturluson zusammengehörigen, Materialien betrachtet. Dass sich durchaus auch intertextuelle Ver‐ bindungen im Material zeigen, wird zumindest für die „Literaturgeschichte“ Skáldatal an‐ genommen. Aber auch die beiden anderen Verzeichnisse können sinnvolle Zusätze für eine ars poetica darstellen. Genealogien können als grundlegende Denkformen der Wissensor‐ ganisation bestimmt werden. Sie stellen basale kulturelle Ordnungen her, z. B. im 125 3.4 Literarische Performativität in medialer Variation 239 Trotz dieser „Kulturleistung“ der Genealogie bleibt aber die „Natur“ durch die Abstammungslinien immer auch präsent. 240 Dies wiederum unterstützt den enzyklopädischen Charakter der gesamten Handschrift: Auch die genealogischen Formen werden gesammelt und geordnet präsentiert - ganz so wie es mit den Vers‐ massen oder den dichterischen Umschreibungen geschieht. 241 Sei das durch wissenschaftliche Beschäftigung oder durch den häufigen Gebrauch als Illustration für Buchumschläge oder Vortragspräsentationen, die nicht immer einen direkten Zusammenhang auf‐ weisen müssen. familiären oder rechtlichen Bereich. 239 Diese Ordnungen verleihen Geltung, sie können ein Werk wie die Prosa-Edda (und auch die mit ihr verknüpften Personen) damit aufladen. Bei den drei Verzeichnissen handelt es sich um drei verschiedene Arten von (genealo‐ gieähnlichen) Listen. Einmal ein aussergewöhnlich gestaltetes Layout, eine komprimierte Prosaerzählung in Listenform sowie schliesslich ein narrativ etwas ausführlicheres Ver‐ zeichnis der Gesetzessprecher. Die drei Listen zeigen unterschiedliche Möglichkeiten, Ver‐ wandtschaftsverhältnisse und andere Abhängigkeitsbeziehungen schriftlich darzustellen. Sie stehen folglich nicht nur wegen ihrem Inhaltswissen in U, sondern dienen auch als beispielshafte Erzählungsmuster von genealogischem Wissen. Man könnte sogar so weit gehen, die drei Listen selber als untereinander in einem genealogischen Verhältnis stehend zu beschreiben: Sie stehen in einem genealogischen Verhältnis des Schreibens. 240 In der Inszenierung und Reflexion des Denkmodells wird dessen Bedeutung hervorgehoben und somit auch auf die poetologische Dimension übertragen. 3.4.2 Gylfi multimedial: Ein rahmendes Ende Die Rahmengeschichte von Gylfis Reise zu den Asen wurde bereits diskutiert und ihre mehrschichtige Dialogform hervorgehoben. Doch es gibt eine weitere Dimension der Er‐ zählung, die sie aus dem rein textuellen in den visuellen Bereich transferiert. U zeigt Gylfi im Gespräch mit den drei Asenkönigen auch in gezeichneter Form. Die Abbildung auf Blatt 26v ist berühmt geworden und hat in der modernen Beschäftigung mit der Prosa-Edda einen wichtigen Platz erhalten. 241 Wenige Untersuchungen weisen dabei darauf hin, wo in U die Zeichnung genau platziert ist. Anders als vielleicht häufig angenommen, ist sie nicht in direkter Nähe zu Gylfaginning zu finden. Sie folgt auf die Liste der Gesetzessprecher und steht damit vor dem dichtungstheoretischen Teil, der in der dazugehörigen Rubrik als Skáldskaparmál bezeichnet wird. Es stellt sich die Frage, was diese distanzierte Platzierung bedeutet. Einige Untersuchungen sehen darin die Eröffnung für den folgenden Text, Skálds‐ kaparmál, andere jedoch eine rein zufällige Platzierung, weil sich da gerade ein freies Blatt in der Handschrift befand. 126 3 Welt erfassen - Welt verfassen: Performatives Erzählen Abbildung 5: Gylfi und die Asen (DG 11 4to, 26v) 127 3.4 Literarische Performativität in medialer Variation 242 Thorell: Inledning, S. XVIII. 243 Zu den weiteren Zeichnungen auf Blatt 26v vgl. weiter unten. 244 Eine solche Vereindeutigung hätte den Haupttext auch unterlaufen. 245 Thorell: Inledning, S. XVIII. Mit einer performativen Perspektive wird die berühmte Zeichnung zu einem rahmenden Abschluss für die in Liber primus zusammengestellten Inhalte. Es werden verschiedenste Aspekte noch einmal angedeutet und zugleich mit einer neuen medialen Umsetzung ver‐ sehen. Dass sich die Illustrationen aber nicht nur als Rahmung, sondern auch mit den beiden weiteren Aspekten literarischer Performativiät - Sagen als Tun und Wiederholung/ Wieder‐ holbarkeit - beschreiben lassen, soll nun gezeigt werden. Olof Thorell bezeichnet die ganzseitige Zeichnung Gylfis als die älteste in U, sie stamme von ca. 1300. 242 Anders als die weiteren Zeichnungen ist sie also wahrscheinlich keine spä‐ tere Zutat, sondern gehörte schon relativ früh zur Handschrift. Die vier grossen Figuren zeigen eine Gesprächssituation: Eine Figur in Umhang mit Kapuze steht gestützt auf einen Stock vor drei auf Thronen übereinandersitzenden Figuren, die auch durch ihre Kronen als höhergestellt als die stehende Figur identifiziert werden können. Die Figuren sind aufein‐ ander ausgerichtet und ihre Handgesten deuten darauf hin, dass sie miteinander sprechen. Der Zusammenhang mit Gylfaginning scheint offensichtlich. Doch so eindeutig ist die Sache nicht: Es gibt weitere Zeichnungen in U, die keinen so klaren Bezug zu einem der Texte aufweisen. 243 Auch die Platzierung mit einigem Abstand zum Text von Gylfaginning macht den direkten Zusammenhang nicht wirklich klar, darauf wird zurückzukommen sein. Die Illustration eröffnet eine weitere mediale Dimension für die Geschichte und kann als Hervorhebung eines ihrer wichtigsten Aspekte verstanden werden: Sie stellt eine münd‐ liche Gesprächssituation als Medium für die Wissensvermittlung aus. Visuell wird dabei nicht unterschieden zwischen einem gelehrten Dialog oder einem eddischen Wissenswett‐ streit 244 , sondern es wird das ihnen Gemeinsame markiert: Beides sind mündliche Situa‐ tionen, die körperliche Präsenz erfordern und ihre Geltung davon ableiten. Nach mehreren Jahrhunderten scheint die Zeichnung aber nach einer Erklärung verlangt zu haben: Die Figuren wurden mit Text überschrieben, den Thorell so liest: Till vänster ovanför teckningen finns en anteckning, troligen från 1600-talet, möjligen av Guðmundur Ólafssons hand: „Her er Har, Jampnhar ok Þriþi sem segir i Gylfa ginning.“ Jfr härmed anteckningen på innersidan av bakre pärmen, troligen av samma hand: „Her er Har, Jafn Har ok Þriðe, swa sem stendur i Gylfwa Ginning, pa. 50.“ Över Gangleri-figuren står: „gangleri spyrr“, skrivet av samma hand som stroferna på bl. 1 r. 245 Links über der Zeichnung befindet sich eine Notiz, wahrscheinlich aus dem 17. Jahrhundert, mög‐ licherweise von Guðmundur Ólafsson: „Hier sind Har, Jampnhar und Þriþi, von denen in Gylfa Ginning erzählt wird.“ Über der Notiz auf der Innenseite der Rückseite, wahrscheinlich von der‐ selben Hand: „Hier sind Har, Jafn Har und Þriðe, so wie es in Gylfwa Ginning, Seite 50 steht“. Über der Gangleri-Figur steht: „Gangleri fragt“, geschrieben von derselben Hand wie die Strophen auf Bl. 1 r. 128 3 Welt erfassen - Welt verfassen: Performatives Erzählen 246 Glauser: Unheilige Bücher, S. 115. 247 Vgl. Weber, Gerd Wolfgang: Edda, Jüngere. In: RGA 6. Berlin 1986, S. 394-412. 248 Glauser: Unheilige Bücher, S. 115. Ganz ähnlich wie die eddischen Strophen jeweils durch Formeln eingeleitet werden, wird hier auch die Illustration erläutert: „[…] sem segir i Gylfa ginning.“ ([…] wie es in Gylfa‐ ginning heisst) - nur, dass Gylfaginning hier selbst zum Zitierten wird. Die Verweissituation ist zweiseitig: Die Illustration kann als eine sinnstiftende Referenz an eine vormals kör‐ pergebundene Wissensvermittlung gelesen und so ähnlich wie der Einsatz von eddischen Strophen in die Prosa verstanden werden. Später braucht die Illustration ihrerseits wieder Erläuterung und wird rückbezogen auf den Text Gylf. Die Überschrift „Gangleri fragt“ ist eine eigentliche Doppelung des Bildes, hier lassen sich Fragen, die ein Medienwechsel auslösen kann, beobachten. Das Handschriftenblatt als Erzählraum wird auf seine verschiedenen Möglichkeiten erprobt: Ist die körperliche Prä‐ senz einer mündlichen Gesprächssituation nicht mehr gegeben, so versucht man sie durch „sprechende Illustrationen“ zu fingieren. Diese Körper scheinen auf dem Pergament aber nicht genügend Wirkmacht zu besitzen, weshalb die Schrift als zusätzliches Medium an‐ gefügt wird. Aber nicht nur textuelle Erklärungen bzw. Doppelungen oder Wiederholungen gibt es auf dem Blatt, sondern auch visuell ausgestaltete: Neben den zwei grossen Figuren von Gylfi und den Asen fügen sich kleinere, gleichaussehende Figuren an. Vor allem Gylfi scheint als Kopiervorlage sehr beliebt gewesen zu sein, sind auf der Seite doch noch mindestens vier kleinere Versionen von ihm (in unterschiedlicher Ausführung) zu sehen. Jürg Glauser hat sich medientheoretisch mit der Illustration und ihren Kopien auseinandergesetzt und stellt fest, dass „das Prinzip des verdoppelnden Zitierens und Kopierens in dieser ‚Prosa-Edda‘ Handschrift sowohl auf der Textwie der Bildebene eingesetzt wird mit dem klaren Ziel, undeutliche, ambigue Verhältnisse zu schaffen.“ 246 Waren die literarischen Verfahren einmal bewusst auf die Schaffung uneindeutiger Verhältnisse ausgelegt, so fügen nun auch die Transmissionsvorgänge je eigenen Sinn hinzu, was in einem noch grösseren Bedeutungs‐ geflecht endet. Auch im visuellen Bereich zeigt sich der Mythos produktiv: Wie schon der Text Gylf vom Wiedererzählen handelt und das Wiedererzählen anregt - z. B. in Form einer Illustration - löst auch die visuelle Szene weitere Wiederholungen aus: Während ein Lehrer vielleicht seinen Schülern die grosse Illustration zeigt, animierte sie offenbar einen oder mehrere Leser zum Zeichnen eigener Gylfis. Solches „Wiederholungs-Potenzial“ führt manchmal zu Rezeptionssituationen, die so wahrscheinlich nicht intendiert waren: Ein Beispiel dafür kann die kleine Zeichnung rechts oben neben dem Kopf von Þriði sein. Der Kopf ist anders als alle anderen Köpfe auf dem Blatt eher etwas wackelig geraten. Er wurde bereits als Teufelsfratze oder Dämon inter‐ pretiert. 247 Jürg Glauser denkt ihn als etwas misslungene Kopie eines der Königsköpfe, ganz ähnlich der Gylfi-Kopien. Die Doppelung funktioniere als Kommentar, der die drei Könige in den Bereich des Dämonischen stelle. 248 Wie solche - künstlerisch vielleicht weniger gelungene - Momente dennoch ihr ganz eigenes Leben entwickeln können, zeigt Lukas Rösli anhand eines Vergleichs verschiedener frühneuzeitlicher Edda-Handschriften, die die mittelalterliche Rede-Szene bildlich weiter‐ 129 3.4 Literarische Performativität in medialer Variation 249 Diese Ideen präsentierte Lukas Rösli in einem Vortrag. Sie dienten als Vorüberlegungen zu seinem SNF Ambizione-Forschungsprojekt „Gedächtniskultur im Paratext - Textränder altnordischer Pro‐ sahandschriften“, welches seit dem 01.02.2018 am Deutschen Seminar der Universität Zürich ange‐ siedelt ist. 250 Zur Bischof-Illustration siehe Kapitel 3.2.3; zu den Listen Kapitel 3.4.1. 251 Vgl. Kapitel 3.3.3.3. tradieren. Der kleine gekritzelte Kopf wird als festes Element der visuellen Umsetzung verstanden und bleibt durch die Jahrhunderte hindurch präsent. 249 Die Zeichnung der ge‐ samten Szene ist so mit Bedeutung aufgeladen, dass sie wieder und wieder verwendet wird. Dabei wird aber auch klar, dass „Wiederholbarkeit“ nicht gleich „direktes Zitat“ ist, sondern jede Wiederholung immer für den jeweiligen Zweck angepasst wird. Das Bild bleibt sich gleich und wird in seiner Deutung doch völlig anders. Durch die Platzierung der Illustration von Gylfi und den Asen wird der Text von Liber primus im Codex Upsaliensis in zwei grosse visuelle Rahmen gefasst: Durch den Bischof zu Beginn des Prologs und durch die Asen und Gylfi am Ende nach den drei Listentexten. 250 Die zwei Momente von Medienwechsel kommen nicht einfach bloss als dekorative Visua‐ lisierungen in den Blick, sondern sind bedeutungsvolle Sinneinheiten: Sowohl der Bischof mit seiner deutlichen Handgeste als auch die Asen und Gylfi stellen je eine mündliche Kommunikationssituation aus, die das direkte Gespräch als Medium für die Weitergabe von Wissen inszeniert. Damit fassen sie die abstrakten erzählerischen Modelle in prägnante Rahmen, die Präsenz stiften und auf sich selbst bzw. die eigene Schriftlichkeit zurückver‐ weisen. So wie U heute überliefert ist, stellt der Bischof als eröffnender Sprecher das Nachfol‐ gende in einen angemessenen Kontext. Die christliche Ordnung eröffnet das Werk und wie sich in vielen Aspekten zeigt, wirkt das strukturierende und kategorisierende Ordnungs‐ prinzip durch die gesamte Handschrift. Wie aber bereits mehrfach gezeigt werden konnte, steht der christlichen Ordnung eine zweite, weniger auf Fixiertheit und Abgeschlossenheit bedachte Ordnung gegenüber: der Mythos. Die beiden Ordnungen werden so komplex miteinander in Verbindung gebracht, dass häufig Mehrdeutigkeiten das Ergebnis sind, wo eigentlich Eindeutigkeit erwartet würde. Die beiden rahmenden Illustrationen sind dabei keine Ausnahme: Die Gesprächs‐ szene von Gylfi und den Asen ruft nochmals das mythologische Denken auf, das in Gylfa‐ ginning seinen Platz hatte. Es zeigte sich, dass die (mythologische) Welt zyklisch aufgebaut ist und auch nur im wiederholenden Erzählen entstehen und existieren kann. 251 Die Illus‐ tration ist Wiederholung und Ausgangspunkt neuer Wiederholungen in einem. Dem ist anzufügen, dass die Illustration als rahmendes Ende von Liber primus die drei genealogischen Listen deutlich in den gesamten Text einfügen und darauf aufmerksam machen, dass sie immer in eine Lektüre miteinbezogen werden sollten. Wie bereits angetönt, gibt es in U noch weitere Zeichnungen. Über die ganze Handschrift verteilt, finden sich an den Rändern mal grössere, mal kleinere menschliche Figuren. Be‐ sonders viele davon sind rund um den Text von Skáldatal platziert: 130 3 Welt erfassen - Welt verfassen: Performatives Erzählen 252 Thorell: Inledning, S. XVIII. Abbildung 6: Figuren (DG 11 4to, 25r) Über die Zeichner ist nichts bekannt, die Illustrationen werden meist als spätere Hinzufü‐ gungen bestimmt und sind wenig erforscht. 252 Einzig Aðalheiður Guðmundsdóttir setzte 131 3.4 Literarische Performativität in medialer Variation 253 Guðmundsdóttir: Dancing Images, S. 13-20. 254 Eine sehr vage Verbindung lässt sich zwischen diesen Illustrationen und dem in Liber secundus eingefügten 2. Grammatischen Trakat herstellen. Der Traktat arbeitet auch mit starken Bildern (al‐ lerdings in Form von Metaphern bzw. Diagrammen) und benutzt das Musikinstrument Symphonia als Erklärungsmodell für lautliche Phänomene, vgl. Kapitel 4.3. In der Forschung wird dem Verfasser des 2. GTR eine ausgezeichnete musikalische Bildung nachgesagt. Es wäre möglich, dass sich (zu‐ mindest thematische) Überschneidungen mit den Illustrationen in einem musikalisch bzw. allge‐ meiner „unterhaltenden“ Umfeld zeigen. sich mit ihnen auseinander und interpretiert sie aufgrund ihrer speziellen Körperhaltung als Figuren von Tänzern. 253 Neben diesen Figuren findet sich auch ein Mann in Ritterrüstung auf einem Pferd sowie eine kleine Hand. Es ist schwierig, eine Deutung all dieser Illustra‐ tionen vorzunehmen und sie nicht bloss als Dekoration einzustufen. Sind es tatsächlich Tänzer, Gaukler und Ritter, so scheint fast ein höfisches Umfeld aufgerufen zu werden - im weitesten Sinne könnte an „performances“ gedacht werden, bei denen auch Inhalte der Edda inszeniert werden. Das läuft aber der schulbuchkonformen Konzeption von Codex Upsaliensis zuwieder. Allerdings sind es spätere Hinzufügungen und die Funktion der Handschrift kann sich geändert haben. Vielleicht zählt Codex Upsaliensis für die Zeichner nicht mehr als gelehrter Text für die Schulstube, sondern ist Stoffsammlung für Unterhal‐ tung, wie das eben auch Tänzer oder Ritterspiele sein können. 254 Abbildung 7: Ritter (DG 11 4to, 37v) 132 3 Welt erfassen - Welt verfassen: Performatives Erzählen Abbildung 8: Hand (DG 11 4to, 41v) 3.5 Fazit Liber primus Die Lektüren von Liber primus machen ein Bedürfnis nach Vollständigkeit und Eindeutig‐ keit sichtbar, dass aus der gelehrten christlichen Schriftkultur gespeist wird. Dieses Be‐ dürfnis führt zur Einordnung und Strukturierung der vielfältigen mythologischen Erzäh‐ lungen hin zu einer umfassenden nordischen Mythologie. Mit dem Prolog und den genealogischen Listen wird die eigene Vergangenheit für die christliche Gegenwart aktua‐ lisiert. Dazu verwendet das Werk performative Verfahren wie z. B. Rahmungen oder inter‐ textuelle Zitate auf unterschiedlichen medialen Ebenen. Über solche Verfahren soll sowohl der zu bewahrende Stoff (die Mythologie) als auch das diesen Stoff vermittelnde Werk selbst legitimiert werden. Den Texten von Liber primus ist eine enzyklopädische Grundtendenz eigen, welche die Welt in möglichst vielen Bereichen erfassen will. Immer wieder reflek‐ tieren die Texte, dass diese Welt eigentlich nur im Erzählen entstehen kann - Erzählen dient dementsprechend nicht nur der Welt-Erfassung, sondern auch der Welt-Verfassung. Die Medialität des Erzählens selbst steht ebenfalls im Fokus von Liber primus: Die Texte und Illustrationen können auch als Zusammenstellung verschiedenster Vermittlungs‐ formen für die Erfassung der Welt verstanden werden. Der enzyklopädischen Denkform, die auf Vollständigkeit und Abgeschlossenheit ausge‐ richtet ist, steht der Mythos entgegen. Das mythische Denken ist durch seine unabge‐ schlossene Mehrdeutigkeit und fortwährende Veränderung gekennzeichnet, was die beiden Modelle schwer vereinbar macht. Beide Modelle werden zusammengebracht und es wird ausprobiert, wie sie am besten gemeinsam eingesetzt werden können. Die Texte und Illus‐ trationen von Liber primus nehmen keine Wertung vor, gerade das Zusammenbringen der beiden Modelle führt immer wieder zu Sinnüberschüssen, die keine eindeutige Stellung‐ 133 3.5 Fazit Liber primus nahme erkennen lassen. Die Uneindeutigkeit fordert den Rezipienten auf, sich selbst eine Meinung zu bilden. Gleichzeitig ist sie wohl auch ein Hinweis darauf, dass die poetologische und medientheoretische Diskussion an sich von zentralem Interesse zu sein scheint. In Liber secundus wird diese Diskussion auf anderen sprachlichen Ebenen weitergeführt. Nachdem in Liber primus die Welt sprachlich er- und verfasst worden ist, soll nun auch die Sprache selbst in all ihren Facetten erfasst und systematisiert werden. 134 3 Welt erfassen - Welt verfassen: Performatives Erzählen 1 Uppsala Edda, S. 6. 4 Welt verfassen - Welt erfassen: Performative Gelehrsamkeit 4.1 Lektüre der gelehrten Teile der Prosa-Edda Man könnte annehmen, dass Aspekte literarischer Performativität nur in den erzählenden Teilen von U zu finden sind, wo einerseits der nordische Kosmos, andererseits eine einhei‐ mische Vergangenheit erschrieben bzw. verfasst werden. Da im zweiten Teil von U weniger erzählende, sondern stärker argumentative Texte zu finden sind, könnte man diese als „die Welt erfassend“ bezeichnen. Doch eine so deutliche Trennung von „Verfassen“ und „Er‐ fassen“ gibt es nicht zwischen Liber primus und Liber secundus. Denn auch in den gelehrten Texten von Liber secundus wird Wissen einerseits systematisiert, andererseits aber auch zum ersten Mal „gedacht“ und als relevant inszeniert. Es handelt sich dabei um spezifisches Wissen über Sprache und Dichtung, das in dieser Form originär diskutiert und dargestellt wird. Zwar sind einzelne Bestandteile durchaus bereits vor der Abfassung der P-E als Teil eines gelehrten Diskurses bekannt - zusammengebracht und in einen umfassenden Kontext gestellt werden sie aber erst in den verschiedenen Handschriften der P-E. Während in Liber primus von U u. a. verschiedene Arten von Erzählen im Vordergrund stehen, fokussiert Liber secundus stärker auf kleinere sprachliche Einheiten, die einen Bezug zur Dichtung haben (mehrheitlich skaldische aber auch eddische Dichtung). In der An‐ fangsrubrik von U werden zwei Teile hervorgehoben, die heute gängigerweise zur P-E gezählt werden: „skáldskapar mál ok heiti margra hluta“ (Sprache der Dichtung und Namen vieler Dinge) sowie das Gedicht Háttatal (Versmassverzeichnis). 1 Doch an diese zwei Teile werden in U weitere Texte und andere mediale Formen angelagert. Einerseits bekommt Háttatal eine Art vorausgehendes Inhaltsverzeichnis, das einzelne Versmasse und sie exemplifizierende Strophen auflistet. Andererseits wird nach Skáldskaparmál der soge‐ nannte 2. Grammatische Traktat (2. GTR) eingefügt, der wiederum zwei sehr interessante Diagramme enthält, die ausserhalb dieser Handschrift nicht bekannt sind. Werden diese Inhalte und Formen zusammengelesen, ergibt sich ein Bild eines gelehrten Werks, das (dichterische) Sprache in all ihren Facetten zu erschliessen versucht: Von der kleinsten sprachlichen Ebene, den sich reimenden Silben (2. GTR), über die Beschreibung bzw. Erfassung komplexer dichterischer Umschreibungen (Skpm) und verschiedenster Versmasse (Ht), deckt Liber secundus alles ab, was in Bezug auf sprachtheoretisches Wissen zu der Zeit behandelt werden sollte. Eine derartig umfassende volkssprachliche ars poetica ist vor der Abfassung von U im nordischen Mittelalter nicht bekannt und die intellektuelle Leistung wird noch bewundernswerter, weitet man die sprachzentrierte Lektüre auf Liber primus und die dortige Diskussion narrativer Modelle aus. Mit diesem Blick auf das Ge‐ samtwerk wird klar, dass U sich mit möglichst allen Ebenen sprachlichen Denkens be‐ schäftigt. 2 Uppsala Edda, S. 124. 3 „[…] ok heyja sér orðfjǫlða með fornum heitum eða skilja þat er hulit er ort […].“ ([…] und ihren Wortschatz mit alten Bezeichnungen vergrössern oder verstehen, was verhüllt gedichtet ist […]). Uppsala Edda, S. 90. 4 Die Verschiebung der narrativen Teile von Skpm nach vorne scheint auch als eine Trennung von mytho‐ logischen Erzählfiguren (Gylfi und die Asen, Bragi und Ægir) für die kommenden eher theoretischen In‐ halte zu dienen. Die Abgrenzung ins „Unpersönliche“ kann durchaus auch als Hinweis darauf verstanden werden, dass diese Inhalte neu und innovativ sind und (noch) niemandem zugeschrieben werden können, dessen Nennung sie legitimieren würde. 5 z.B. aus Grímnismál: Uppsala Edda, S. 144. 6 Es ist u. a. Clunies Ross’ Forschung zu verdanken, dass sich die Aufmerksamkeit der P-E-Forschung von Gylfaginning auch hin zu Skpm wandte. Vgl. z. B. Dies.: Skáldskaparmál; Dies.: History. Die folgenden Lektüren sind den gelehrten Teilen der P-E in U gewidmet und von einer spezifischen Grundfrage geleitet: Wenn in Liber primus mit dem Mythos vom Dichtermet ausgesagt worden ist, dass gute Dichter bereits dichten können und deshalb von Óðinn den Met erhalten, wie legitimiert sich dann die P-E als Handbuch für junge Dichter? Dabei halten sich auch diese Lektüren vordergründig an die Reihenfolge der Texte, wie sie in U zusam‐ mengestellt sind. Skpm steht dabei etwas im Hintergrund, da dieser Text im Verhältnis zum 2. GTR und Ht bereits sehr viel Beachtung in der Forschung erfahren hat. 4.2 Skáldskaparmál - Wie skaldische Dichtung relevant bleibt „Hér hefr skáldskapar mál ok heiti margra hluta“ 2 (Hier beginnt die Sprache der Dichtung und die Namen vieler Dinge), mit dieser Rubrik setzt nach der Illustration von Gylfi und den drei Asen in U der Text wieder ein. Wie bereits zuvor in der Form eines gelehrten Frage- Antwort-Dialogs werden verschiedene Arten der skaldischen Dichtung beschrieben und durch Strophenbeispiele illustriert. Der Verfasserkommentar, der in U bereits am Ende von Gylf angefügt wird, nennt die Erweiterung des Wortschatzes mit alten Bezeichnungen und das Verstehen „verhüllter Dichtung“ als Funktionen des Textes. 3 Da mit dem Verfasserkommentar auch die längeren Erzählteile von Skpm in U nach vorne gestellt worden sind, ist der Dialog nun ohne klare Sprechfiguren, was ihn formelhafter wirken lässt als Gylf.  4 Aber parallel zu Gylf arbeiten auch Skpm mit dem bedeutungsstiftenden Ver‐ fahren der Wiederholung und benützen Strophenzitate. Zum grössten Teil handelt es sich dabei um Zitate aus skaldischer Dichtung, aber auch einzelne eddische Zitate sind zu finden. 5 Die eddischen Zitate sind wie in Gylf auch hier anonym und inszenieren eine Art Überzeitlichkeit oder zumindest eine lange Vergangenheit. Die skaldischen Strophen hingegen sind meist einem namentlich genannten Dichter zugeschrieben. Das Zitierverfahren weist wie bei den eddischen Strophen in Gylf in zwei Richtungen: Durch die explizite Benennung der Quelle wird den theo‐ retischen Ausführungen Gewicht verleiht - grosse Skalden haben diese Umschreibungen ver‐ wendet, deshalb sind es wichtige Elemente, die nun auch theoretisch erfasst werden müssen. Umgekehrt setzen die theoretischen Ausführungen die Dichtkunst und damit auch die (histo‐ rischen) Skalden als relevant für die Gegenwart. Margaret Clunies Ross, eine der besten Kennerinnen von Skpm, hat die Bedeutung des Textes mit ihren Forschungen stark hervorgehoben. 6 Zum Status des Textes sagt sie: 136 4 Welt verfassen - Welt erfassen: Performative Gelehrsamkeit 7 Clunies Ross: History, S. 170. 8 Uppsala Edda, S. 124. 9 Uppsala Edda, S. 132. 10 Eine vollständige Auflistung der verschiedenen Inhalte in U bietet: Snorri Sturluson: Skáldskaparmál, S. xlix. Da werden auch die Verwendung (weniger) þulur sowie die aussergewöhnlichen Strophen am Ende des Textes behandelt, auf die hier nicht eingegangen werden kann. Within Iceland, Skáldskaparmál was arguably the most important, most copied and most imitated part of Snorri’s Edda in the late Middle Ages and well into the Renaissance. The extant manuscripts pre‐ serve it in varying forms, and, as we have seen earlier, Snorri may have been experimenting with different arrangements of its material without making a final decision on which version was best. It is likely to have been used as a text book in some Icelandic schools of the later thirteenth and fourteenth centuries, and perhaps more generally for purposes of private study. 7 Der unfertige Charakter des Textes wird unten vertieft diskutiert. Bereits hier kann aber als These formuliert werden, dass die Beliebtheit und die breite Rezeption von Skpm mög‐ licherweise auch mit dem offenen und damit leicht adaptierbaren Zustand zusammen‐ hängen können. Der Text liefert eine bislang nicht vorhandene Zusammenstellung von Dichtungssprache: Es geht nicht wie in Ht um metrische Eigenschaften skaldischer Dich‐ tung, sondern um die stilistische Gestaltung der Dichtung mit verschiedenen Umschrei‐ bungsformen, sogenannten kenningar und heiti. Die Umschreibungen werden anhand von Beispielen aus der skaldischen Dichtung vorgestellt und meist mit Strophenzitaten ver‐ sehen. Die verschiedenen Begriffe werden in den Versionen von Skpm in unterschiedlicher Reihenfolge und je anders gewichtet aufgeführt. In U beginnt es mit einem kurzen Abschnitt und wie als Einleitung mit kenningar für die Dichtung, diese werden jedoch nicht näher ausgeführt. Dann folgen Umschreibungen für Óðinn mit vielen Strophenzitaten: „Enn skal láta heyra dǿmin hvernig skáldin hafa sér látit líka at yrkja eptir þessum heitum ok kenningum.“ 8 (Weiter soll man Beispiele zu hören bekommen, wie es Dichtern zusagte zu dichten nach diesen heiti und kenningar.) Nach sehr vielen Beispielen mit Bezug zu Óðinn kehrt der Text zum Thema Dichtung selbst zurück: „Hér skal heyra hvernig skáldin hafa kent skáldskapinn eptir þeim heitum er áðr eru rituð.“ 9 (Hier soll man hören, wie die Skalden die Dichtung umschrieben mit diesen heiti, die vorne geschrieben sind.) Nun folgen wiederum einzelne Bezeichnungen für Dichtung (ähnliche, aber nicht exakt dieselben wie am Anfang) und schliesslich werden wie bei Óðinn viele verschiedene Zitate aus Skaldenstrophen angeführt. Im Vergleich mit dem Anfangsabschnitt über die Dichtung wird klar, dass es sich nicht um eine versehentliche Doppelung handelt, sondern dass der Text nach der Illustration von Gylfi und den Asen einen passenden Einstieg findet, indem er Dichtung und dichterische Umschreibungen kurz als Grundthema des Folgenden aufruft, dann aber direkt - und ganz in Abstimmung mit Gylfaginning - zur wichtigsten mythologischen Figur für die Dichtung wechselt. Erst nach den Bezeichnungen für Óðinn kann die Dichtung selbst beschrieben werden. Nachher geht es weiter mit kenningar für die anderen Asen, für verschiedene Na‐ turphänomene, für Männer und Frauen und schliesslich für Gold. Es folgen Umschrei‐ bungen für Kampf, Waffen, Schiffe, Jesus Christus, weltliche Könige und Adlige. 10 An‐ schliessend an die kenningar werden heiti aufgelistet. Wieder beginnt es mit solchen für die 137 4.2 Skáldskaparmál - Wie skaldische Dichtung relevant bleibt 11 Auf die Unterscheidung von kenningar und heiti und die weiteren Kategorien wird weiter unten eingegangen. 12 Z.B.: Rubrik „Frá kenningu Þórs“ (Vom Umschreiben Þórs) direkt danach die einleitende Frage des Abschnitts: „Hvernig skal kenna Þór? “ (Wie soll man Þórr umschreiben? ). Uppsala Edda, S. 138. 13 Nicht alle Abschnitte haben eine Rubrik erhalten (oder sie ist nicht mehr zu lesen). 14 Uppsala Edda, S. 186. 15 Uppsala Edda, S. 238. 16 Vgl. Lemma kveða in Baetke: Wörterbuch. 17 Vgl. Lemma segja in Baetke: Wörterbuch. 18 Zu den Verszitaten in Gylf siehe Kapitel 3.3.3.4. Das Verhältnis von Verszitaten und Prosa lässt sich mit Hilfe der Redeeinleitungen genauer bestimmen, wie u. a. Russell Poole zeigt. Vgl. z.B.: Poole, Russell: The Cooperative Principle in Medieval Interpretations of Skaldic Verse: Snorri Sturluson, Þjóðólfr Arnórsson, and Eyvindr Skáldaspillir. In: Journal of English and Germanic Philology 87, 1988, S. 159-178; Ders.: Verses and Prose in Gunnlaugs saga Ormstungu. In: Tucker, J. (Hg.): Sagas of the Icelanders, New York 1989, S. 160-184. Asen. Anschliessend kommen Bezeichnungen für Sonne und Mond sowie für den Men‐ schen. Körperteile werden benannt, ebenso abstrakte Begriffe wie Sprache und Weisheit. Weiter geht es mit verschiedenen Tieren, Feuer und zum Abschluss heiti für Gold. 11 Zwi‐ schen einzelnen Umschreibungen treten immer wieder diskursive Überlegungen und De‐ finitionsversuche bestimmter dichterischer Verfahren sowie längere erzählende Einheiten, die als Erklärungen für bestimmte kenningar sowie heiti dienen. Bevor diese argumenta‐ tiven Einheiten beleuchtet werden, zuerst einige Beobachtungen zur Medialität von Skpm. Die verschiedenen umschriebenen Begriffe werden in U durch Rubriken genannt und ein‐ geleitet, wobei häufig eine direkt anschliessende Frage den Begriff wiederholt. 12 Derartige Wiederholungen können auf einen zweifachen Gebrauch des Textes hindeuten: Ein Leser nimmt die Rubriken als Titel auf und sieht sich durch die nachfolgende Frage in eine mündliche Situation versetzt. Ein vorlesender Lehrer hingegen überliest die Rubrik wahr‐ scheinlich und braucht die einleitende Frage als „Titel“ (worauf er entweder selbst antwortet oder von den Schülern eine Antwort erwartet). 13 Die multimediale Situation in den Skpm wird auch durch mehrere textuelle Hinweise hervorgehoben, wie bereits in den obigen Zitaten sichtbar wurde. So verweist der Text z. B. auf Voranstehendes: „sem fyrr er ritat“ 14 (wie es vorher geschrieben ist), schafft aber auch immer wieder einen mündlichen Kontext: „Hér heyrir at gull er kent […]“ 15 (Hier hörst du, dass Gold umschrieben ist […]). Die skaldische Strophe wird im Text meist eingeleitet mit der Formel: „Svá kvað“ (So dichtete). Durch das Verb kveða (sagen, sprechen, erklären, auf bestimmte Weise ausspre‐ chen, artikulieren, vortragen, (e. Dichtung) aufsagen, melodisch vortragen, dichten, e. Laut von sich geben, schreien) 16 wird eine stark performative Dimension des Sprechens eröffnet, die sich auf eine individuelle dichterische Aufführung bezieht. Mit dem Verb segja (sagen, erzählen, berichten, beantworten, vortragen, erzählen, erklären, verkünden, heissen, be‐ deuten) 17 , das in Gylf meist als Einleitung für die Strophenzitate steht, scheinen eher all‐ gemeine und nicht eindeutig auf Personen zuweisbare Zitate eingeführt zu werden. 18 Der Text von Skpm wird durch die zahlreichen Rubriken, die auf die folgenden Themen verweisen, in viele kleine Abschnitte unterteilt. Der Verfasser scheint zu versuchen, Ord‐ nung in die verschiedensten Inhalte (Strophenzitate, diskursive Kommentare, erklärende Erzählungen) zu bringen und alle Facetten eines Phänomens zu erfassen. Dass das aber 138 4 Welt verfassen - Welt erfassen: Performative Gelehrsamkeit 19 Ob die leeren Rubriken verblasst sind oder später noch dazukommen sollten, lässt sich nicht sagen. nicht immer so einfach ist, zeigen u. a. einzelne Leerstellen oder auch zwei ungewöhnliche Rubriken, die nur den abstrakten Namen Capitulum tragen. 19 Insgesamt lässt sich dennoch ein deutlicher Wille zur Leserunterstützung ausmachen. Neben den Rubriken gibt es zahl‐ reiche Initialen, die jeweils die Fragen hervorheben und v. a. zu Beginn des Textes wird praktisch jedes Strophenzitat durch ein „v“ am Manuskriptrand hervorgehoben. Gerade am Anfang des Textes gibt es eine zweite Schicht solcher Markierungen. Teilweise werden nicht nur „v“ am Rand angefügt, sondern auch einzelne Anfangsbuchstaben des Fliesstextes. Abbildung 9: Marginalien (DG 11 4to, 28v) Mit welcher Absicht (und für welche Stellen im Text genau) diese Marginalien dazu‐ kommen, ist nicht klar. Es könnte sich um ein weiteres Ergebnis der Systematisierungs‐ tendenz handeln, die im gesamten Text sichtbar wird. Die Lesehilfen nehmen im Verlauf 139 4.2 Skáldskaparmál - Wie skaldische Dichtung relevant bleibt 20 Zur Skaldik allgemein siehe Kapitel 1.1. 21 Poole, Russel: Skalde. In: RGA 2005, S. 553-559, hier S. 555. des Textes aber ab, vielleicht aus dem Grund, dass so viele Zitate aufgeführt werden und Marginalien keine wirkliche Hilfe mehr darstellen würden. Vielleicht sollten sie aber auch später noch nachgetragen werden. Alle oben beschriebenen Verfahren oder Phänomene lassen sich in der grundlegenden Dy‐ namik, die Skpm charakterisiert, fassen. Es geht in dem Text darum, die skaldische Dichtung an zeitgenössische Anforderungen anzupassen, ihre kulturelle Geltung zu behaupten und ihr deshalb auch den Weg für weitere Überlieferung zu ebnen. Skaldische Dichtung funk‐ tioniert nicht mehr so, wie man sich im 13. und 14. Jahrhundert auf Island vorstellt, dass es bei den grossen Hofskalden der Wikingerzeit der Fall war. 20 Skaldische Dichtung wird rückblickend als wirkmächtiger Sprechakt angesehen: Ein komplexes Gedicht hat ökono‐ mischen Wert und kann als Erinnerungsmedium ewigen Ruhm (oder Spott) verleihen. Doch das Potenzial, die Welt bzw. das Leben des Skalden mit nur einem Gedicht zu verändern, scheint nicht mehr unmittelbar gegeben: Die sozialen, politischen und kulturellen Bedin‐ gungen haben sich geändert. Skaldik braucht Vermittlung und die Möglichkeit dazu sehen Skpm in einer Übertragung und Anpassung an die Schriftlichkeit. Das ehemals mündliche Gedicht, dessen starke Wirkmacht auch durch die Präsenz seines Dichters und des jewei‐ ligen Empfängers gegeben war, muss nun seine Geltung in der Schrift behaupten. Dass es dabei nicht nur um die Anpassung an christliches Sprachdenken geht, sondern auch um die Betonung und Stärkung der eigenen Dichtung und Sprache, zeigt sich in den Versuchen theoretischer Argumentation und dem Zusammenspiel mit den weiteren In‐ halten von U. Christliche Denkformen wie z. B. die Enzyklopädie haben ihre Spuren hin‐ terlassen: Das Streben nach ganzheitlicher Erfassung und Beschreibung der dichterischen Möglichkeiten und Grenzen ist eine davon. Die Schrift und die damit verbundenen neuen medialen Möglichkeiten helfen, die einzelnen Phänomene möglichst kleinteilig zu katego‐ risieren, zu benennen und so zu erfassen. Es scheint aber auch die spezifische Art der Skaldik zu sein, die schliesslich in der P-E zu einer aussergewöhnlich intensiven Beschäftigung mit der Sprache führt. Skaldische Dichtung ist für ihre selbstreflexiven und selbstreferentiellen Aspekte bekannt, die Freude und das Interesse an der Arbeit mit der eigenen Sprache zeigt sich in der isländischen Kultur natürlich auch in anderen Gattungen. Ein skaldisches Gedicht eröffnet aber gerade durch seine inhärente Komplexität die Möglichkeit, als Ausgangspunkt für die volkssprachliche Beschäftigung mit der eigenen Sprache zu fungieren. Es wird als eine wichtige und bedeutungsvolle Art von Beleg ange‐ sehen, der keinesfalls falsch überliefert sein darf. Die hohen metrischen und stylistischen Anforderungen an die Skaldik werden auch als Begründung angeführt, dass sich diese Dichtung so hervorragend als Medium für Lobdichtung und historische Quelle eignet: As manufactured objects in its own right, a poem was meant to last and accordingly could be criticized by colleagues and patrons if rhymes and quantities were false, refrains omitted, and the total stanza-count deficient […]. Technical blemishes could impair memorability and thereby de‐ tract from the poem’s value as a tribute. 21 140 4 Welt verfassen - Welt erfassen: Performative Gelehrsamkeit 22 Poole, Russel: Skaldische Dichtung. In: RGA 2005, S. 562-568, hier S. 566. 23 Clunies Ross: Skáldskaparmál, S. 167. 24 Clunies Ross: Skáldskaparmál, S. 175. 25 Clunies Ross: History, S. 173. Mit der lateinischen Gelehrsamkeit ergibt sich schliesslich die Möglichkeit, das Interesse am Potenzial der Dichtsprache auf einer diskursiven Ebene auszuweiten. Russel Poole fasst zusammen und hebt die neue Herleitung der Wirkmacht von Skaldik hervor: Skaldic Poetry was from the outset a highly reflexive, self-conscious form, in which poets could make recurrent allusion to their work as ‚Óðinn’s mead‘ and similar. By the 12th century, however, this reflexiveness seems to have taken on a more broadly educative character in Iceland. Skaldic poetics were grasped as a ‚tool of power‘ by leading families and inculcated side by side with Latinbased learning. 22 Die Aktualisierung - und damit die weitere Rezeption - der Skaldik wird durch die Über‐ tragung der mündlichen Gelegenheitsdichtung auf eine abstrakt-diskursive Ebene in der Schrift zu erreichen versucht. Der Wert und die Wirkmacht des skaldischen Sprechaktes wird in den vielen Strophenzitaten wiederholend aufgerufen (wie das bei den Zitaten der eddischen Lieder in Gylf der Fall ist, vgl. Kapitel 3.3.3). Auch der Skalde als historische Figur wird als bedeutungsstiftende Quelle verstanden, praktisch jede Strophe ist namentlich einem Dichter zugeordnet. Durch die elitäre Stellung, die sie sich mit ihren sprachlichen Fähigkeiten erarbeitet haben, verleihen sie einer Strophe auch im schriftlichen Kontext noch Geltung. Doch wie Poole oben sagt, gilt nun nicht mehr (nur) die Fähigkeit dichten zu können als Machtwerkzeug, sondern auch die theoretische Erfassung dieser Dichtung. Man muss wissen, wie man Skaldik neu angemessen vermittelt. Zahlreiche Vorlagen dazu gibt es z. B. in den klassischen Schulpoetiken der lateinischen Gelehrsamkeit. Lateinische und griechische (heidnische) Literatur wird darin mithilfe mythologischer Erzählungen und den dazugehörigen Beispielen aus der Dichtung von sogenannten auctores erklärt. Im en‐ zyklopädischen Denken gehen Mythos und Poetik zusammen. Zu diesem Zusammenspiel sagt Clunies Ross „The relationship between myth and science is thus a collaborative one and implicitly similar to that explicitly enunciated by Bernardus Silvestris as between Physis, Urania, and Natura in the Cosmographia.“ 23 Auf die Umsetzung dieser Denkform in Skpm bezogen, meint sie weiter: „The vigour and coherence of Skpm as a text, and indeed that of the Edda as a whole, depends on the nexus Snorri maintains between exegesis and narrative.“ 24 Die P-E geht ähnlich wie die klassischen Poetiken vor, nur dienen in Skpm nicht grie‐ chische Dichter als Legitimationsfiguren, sondern frühe Skalden (hǫfuðskáld), die diese Funktion übernehmen. 25 Durch eine solche theoretische Einbettung in klassische gelehrte Diskurse und die gleichzeitige Betonung der eigenen kulturellen Vergangenheit versuchen Skpm (und die weiteren Inhalte von U) die Skaldik als relevantes Medium für die gelehrte Gegenwart zu positionieren. 141 4.2 Skáldskaparmál - Wie skaldische Dichtung relevant bleibt 26 Snorri Sturluson: Skáldskaparmál, S. xxi. 27 Für eine umfassende Diskussion der skaldischen Kategorien siehe: Clunies Ross: Skáldskaparmál; für die Kategorisierungen in U: Uppsala Edda, Introduction, S. lvi-lxvi. 28 Z.B. Snorri Sturluson: Skáldskaparmál, S. xxi f. 29 Snorri Sturluson: Skáldskaparmál, S. xxi f. 30 Nicht immer ist der Frage-Antwort-Dialog durchgehalten. Manchmal werden neue Begriffe einfach als Festsetzung eingeführt. 4.2.1 Schreibdenken: Skáldskaparmál als Momentaufnahme eines Denkprozesses Vielfach werden Skpm als unpräzis, verwirrend in ihren Definitionen oder unklar in der Terminologie bezeichnet: „[…] there are many inconsistencies and much randomness, and it is not possible to dismiss all these as the result of the activity of interpolators or scribal interference.“ 26 Entgegen der beispielhaften Meinung von Anthony Faulkes sehen andere die Gründe für die Unklarheiten in möglichen späteren Interpolationen oder in einem un‐ fertigen oder in variierter Ausführung vorhandenem Ausgangstext. Auch das schwierige Zusammenspiel der Definitionen in Skpm mit denjenigen von Ht wird hervorgehoben: in beiden Texten werden verschiedene Definitionen der gleichen dichterischen Verfahren ge‐ geben. 27 Ganz besonders ungenau sei dabei die Skpm-Version von U. Kenningar und heiti sind in U weniger klar getrennt, ihre Beispiele überschneiden sich manchmal. 28 Faulkes stellt die interessante These auf, dass sich die Überschneidungen bei den Definitionen er‐ geben hätten, weil diese erst im Entstehungsprozess der Textverfassung entstanden seien. Zuerst habe der Verfasser verschiedene Beispiele zusammengestellt, erst in einem zweiten Schritt habe er gesehen, dass sie sich in zwei (oder mehr) Kategorien ordnen lassen. 29 Dieser Gedanke soll weiterverfolgt werden, anders als Faulkes sagt, muss dieser sichtbare Denk‐ prozess aber nicht unbedingt damit begründet werden, dass U eine frühere Version der P-E darstellt. Skpm zeigen eine Momentaufnahme in der Geschichte der Beschäftigung mit skaldischer Sprache: Die unklaren oder sich ändernden Definitionen und die (im Gegensatz zu den anderen Texten in U) wenig ausgeführte Struktur machen einen Denkprozess sichtbar, der nicht als abgeschlossen verstanden werden sollte. Die definitorischen Schwie‐ rigkeiten und die unfertige Strukturierung zeigen, wie eigenständig und kreativ um eine adäquate Terminologie gerungen wird. Skpm ermöglichen einen Blick darauf, wie schwierig es ist, etwas zum ersten Mal zu denken und in Schrift festzuhalten. Das Ringen um eine angemessene Vermittlung der Skaldik in gelehrtem Kontext zeigt sich in U u. a. an den verschiedenen Methoden, wie ein Begriff eingeführt und erklärt wird. Eine häufige Methode ist es, in einem zusammenfassenden Abschnitt viele kenningar oder heiti nacheinander aufzuführen. Einige dieser Abschnitte werden danach mit beispielhaften Strophen ange‐ reichert, andere stehen allein. Die listenhaften Abschnitte können auch mit oder ohne dis‐ kursive Anmerkung stehen. Unterschiede gibt es auch bei der Verwendung der formelhaften Einleitung von Stro‐ phenzitaten. Vor allem zu Beginn des Textes wird ein Zitat nur durch den Namen des Dich‐ ters eingeführt (svá kvað x). Ab einem gewissen Moment im Text tauchen jedoch immer mehr erweiterte Einleitungsformeln auf. Vor der Nennung des Skalden wird die Umschrei‐ bung des folgenden Begriffs bereits gegeben, z. B. als direkte „Kurzantwort“ auf die Dia‐ logfrage. 30 So folgt bspw. auf die kurze Zusammenstellung von Umschreibungen für „Mensch/ Mann“ nicht wie gerade beschrieben nur eine Reihe von Beispielstrophen. Die 142 4 Welt verfassen - Welt erfassen: Performative Gelehrsamkeit 31 Uppsala Edda, S. 174. Interessanterweise wird in der darauffolgenden Strophe aber nur meiðr ver‐ wendet. 32 Es könnte auch umgekehrt gewesen sein: Dem Verfasser erschienen die diskursiven Aussagen und die Strophen zu wenig aussagekräftig, weshalb er zusätzlich grössere Erzählungen hinzusetzte. Denkt man jedoch die erste Variante weiter, könnte das Ringen um die angemessene Vermittlungsstrategie in zusätzlichen Texten (wie z. B. Gylf) resultiert haben. Zur Entstehungsgeschichte von U siehe Ka‐ pitel 1.3.1. einzelnen Umschreibungen werden auch auseinandergenommen und jeweils direkt vor das jeweilige Zitat gestellt: „Viðr ok meiðr sem kvað Kormakr“ 31 (Baum und Stange wie Kormakr dichtet). Der Unterschied zur Stropheneinleitung ohne direkte Nennung der Umschreibung mag auf den ersten Blick gering erscheinen. Für das Verständnis und das Lesen des Textes hilft die zweite Methode aber enorm. Nur eine Auflistung aller Begriffe, die in den kom‐ menden Strophen genannt werden, ist weniger übersichtlich und scheint gerade für An‐ fänger der Skaldik nicht sehr geeignet. Es gibt aber keine eindeutige Präferierung einer der beiden Methoden und es ist auch kein einheitliches Schema ersichtlich. Eine weitere Me‐ thode der Erklärung oder Belegung einer Umschreibung wird gegen Ende von Skpm ver‐ wendet. Zusätzlich zu den Strophen und den diskursiven Ausführungen werden längere Erzählungen als Erkärung v. a. für verschiedene Umschreibungen von Gold benützt. Nachdem der Text bis anhin wenig bis keine narrativen Elemente aufweist (bzw. ja gerade gewisse narrative Teile nach vorne in Gylf ausgelagert hat), wirken die langen Prosateile etwas deplatziert. Man könnte sich vorstellen, dass diese Methode der erklärenden Erzäh‐ lungen ein erster Versuch der Erfassung von kenningar und heiti darstellte. Weil dieses Vorgehen jedoch sehr viel Platz auf der Seite braucht und der Wunsch nach direkten Stro‐ phenzitaten dazukam, versuchte sich der Verfasser an anderen Methoden. 32 Es gibt in Skpm keine Entscheidung für die beste Vermittlungsart, sondern man sieht an der gleichzeitigen Verwendung mehrerer Methoden unterschiedliche Stufen im Denkbzw. Schreibprozess, der gerade durchlaufen wird. Wie es bereits für die Beschäftigung mit dem Mythos in Gylf gezeigt werden konnte, leisten auch Skpm diskursive Arbeit: Sie verschieben die Skaldik von der praktischen Anwendung auf eine gelehrte Ebene, wie es in dieser umfassenden Form noch nicht geleistet worden ist. Wie in Gylf kippt es auch in Skpm zwischen dem „Erfassen“ der Skaldik und dem erstmaligen „Verfassen“ einer Poetik für diese Dichtkunst. Wurde im Prolog und in Gylfaginning die Welt und ihre Bestandteile als durch Sprache entstehend erkannt, soll nun auch die Sprache als weltschöpfendes Werkzeug selbst mög‐ lichst genau beschrieben werden. Nur wenn man Sprache und ihre speziellen Funktionen erfasst hat, kann man sie der Situation angemessen anwenden. Mit verschiedenen perfor‐ mativen Verfahren inszeniert sich der Text als Legitimation, um die Skaldik weiterhin re‐ levant zu halten. Dass dieses Vorhaben durchaus gefährdet sein könnte, zeigt sich an den uneindeutigen Stellen und den diskursiven Brüchen im Text. Aber die Überlieferungsitua‐ tion der Skpm, die von allen Teilen der P-E am häufigsten weiterverwendet worden ist, bezeugt einen gelungengen „Sprechbzw. Schreibakt“. Die unfertige Form und die inno‐ vative Behandlung der eigenen Tradition scheint das sprachliche Interesse weiterer Ge‐ lehrter zum Weiterdenken angeregt zu haben. Sehr viel von dem, was wir heute über skaldische Dichtung wissen, stammt aus der sam‐ melnden und ordnenden Arbeit von Skpm und den anderen Teilen der P-E. Ohne dieses 143 4.2 Skáldskaparmál - Wie skaldische Dichtung relevant bleibt 33 Raschellà, Fabrizio D.: The So- Called Second Grammatical Treatise. Edition, Translation and Commen‐ tary. Firenze 1982, S. 9. 34 Raschellà: Second Grammatical Treatise, S. 9f. Werk wären unsere Skaldik-Kenntnisse noch lückenhafter, als sie es aufgrund der Über‐ lieferungssituation bereits sind. Zusätzlich zu der reichen Sammlung an Beispielstrophen und der Liste von Skalden (die wir längst nicht alle aus den Sagas oder anderen Zusam‐ menhängen kennen), kommen die theoretisierenden Ansätze, die der Text unternimmt, um die traditionsreiche Art der Dichtung zu erfassen. Das bedeutet, dass für unsere Betrachtung der Skaldik immer die Gefahr eines Zirkelschlusses besteht, was sich z. B. auch in der ge‐ läufigen Beschreibung der Skaldik als „selbstreflexive Dichtung“ zeigt: Es kann sein, dass der Verfasser der P-E einen Schwerpunkt der skaldischen Dichtung in ihrer Selbstreflexion sah und durch eine ausführliche Behandlung in der P-E gerade Beispiele für solch poeto‐ logische Strophen stark hervorhob. Mit der nötigen Umsicht gelesen, liefern uns aber die oben zusammengetragenen Beob‐ achtungen wertvolle Einblicke in das altisländische mittelalterliche Sprachdenken, welches sich von Innovationswie Traditionsgedanken gleichermassen geprägt zeigt. 4.3 Zwischen Bild und Text - Der 2. Grammatische Traktat Mit dem sogenannten 2. Grammatischen Traktat (2. GTR) kommt ein Text in den Blick, der bis heute wenig Beachtung erfahren hat. Fabrizio D. Raschellà besorgte die neuste Edition des 2. GTR und sagt darüber: With a few exceptions, SGT [= 2. Grammatischer Traktat] has never been assigned a role of great importance in the history of Icelandic grammatical scholarship, nor has its documentary value visà-vis the intellectual life of medieval Iceland ever been much appreciated. This explains, among other things, the scarcity of specific studies to date. 33 Im Gegensatz zum 1. Grammatischen Traktat, der als innovativ und in seiner Form einzig‐ artig unter volkssprachlichen Grammatikdiskursen bezeichnet wird, scheint sogar Ra‐ schellà als Editor dem 2. GTR einen solch aussergewöhnlichen Charakter abzusprechen: „It did not contain any previously unknown notion or rule, and must therefore be regarded as a simple handbook of orthography, a sort of primer to be used in the schools for the teaching of the first elements of grammar to the students of the Trivium.“ 34 In letzter Zeit hat sich dieser Eindruck geändert und mit Raschellàs Edition ist es möglich geworden, den Text als eigenständige Quelle wahrzunehmen. Bislang standen v. a. linguistische Fragen in Bezug auf das Altnordische im Zentrum der Text-Analyse. Ein weiterer Diskussionspunkt ist die Einordnung und der Zusammenhang des 2. GTR in die P-E: Nur in zwei Handschriften des Werks überliefert, stellt sich die Frage, ob und inwiefern der Traktat im Kontext ihrer wei‐ teren Texte gelesen werden kann. Während die linguistischen Analysen hier nicht weiter‐ verfolgt werden, tritt die zweite Frage und damit die Zusammengehörigkeit des Traktats mit der P-E in den Fokus. Nach einem kurzen Überblick auf die Überlieferungsgeschichte und auf den Inhalt des Textes werden ausgewählte Stellen diskutiert, die mit einer perfor‐ 144 4 Welt verfassen - Welt erfassen: Performative Gelehrsamkeit 35 Beuerle, Angela: Sprachdenken im Mittelalter. Ein Vergleich mit der Moderne. Berlin/ New York 2010, S. 354. 36 Micillo, Valeria: The Latin tradition and Icelandic. In: History of the Language Sciences: An Interna‐ tional Handbook on the Evolution of the Study of Language from the Beginnings to the Present, Vol. 1. Berlin 2000, S. 617-625, hier S. 620. 37 Mårtensson, Lasse: Skrivaren och förlagan. Norm och normbrott i Codex Upsaliensis av Snorra Edda. Oslo 2013, S. 285. 38 Vgl. z. B. Braunmüller, Kurt: Grammatische Traktate. In: Germanische Altertumskunde Online. Berlin/ Boston 1998. www.degruyter.com/ view/ GAO/ RGA_2062. (Abgerufen am: 26.02.2020) mativitätsgeleiteten Lektüre ganz neue Fragen aufwerfen und zeigen, dass dem Traktat durchaus Innovationspotenzial zugesprochen werden kann. Der 2. GTR ist in zwei Handschriften der P-E überliefert: Im Codex Upsaliensis, wo er sich zwischen Skpm und Ht befindet, sowie in Codex Wormianus, wo er gemeinsam mit drei weiteren grammatischen Traktaten (1., 3., 4. GTR) eingefügt ist. Alle vier Traktate versuchen auf je unterschiedliche Art, die altisländische Sprache systematisch und strukturiert dar‐ zustellen. Angela Beuerle hebt die Bedeutung der vier Texte hervor: „Sie stellen einen Aus‐ nahmefall der mittelalterlichen Grammatikschreibung dar, der eine Entsprechung höchs‐ tens noch in der auf Irland einige Jahrhunderte früher entstandenen ‚Anleitung für Dichter‘ (Auraicept na n-Éces) findet.“ 35 In Codex Wormianus werden die vier Traktate durch einen gemeinsamen Prolog einge‐ leitet. Der Text des 2. GTR weicht in W v. a. am Anfang und am Ende von demjenigen in U ab, indem er die theoretischen Ausführungen in einen stärkeren christlichen Rahmen ein‐ bindet. Ein grösserer Unterschied zwischen beiden Versionen liegt aber in der Überlieferung zweier Diagramme, die nur in U in den Text eingefügt sind. Die Datierung des Traktats ist umstritten, ursprünglich ging man davon aus, dass die Reihenfolge der Überlieferung in W auch als Entstehungsgeschichte angesehen werden kann - deshalb nummerierte bzw. be‐ nannte man die eigentlich titellosen Texte gemäss ihrer Reihenfolge in W. Zeitlich unter‐ scheiden sich die Datierungsvorschläge zwischen dem Ende des 12. Jahrhunderts und den letzten Dekaden des 13. Jahrhunderts. 36 Lasse Mårtensson stellte in seiner umfassenden paläographischen Arbeit zum Codex Upsaliensis fest, dass für U zwei ältere Schichten als Kopiervorlagen dienten: Eine aus dem frühen 13. Jahrhundert und eine zweite von nach 1250. In Bezug auf den 2. GTR sagt er: The most archaic features are some of the graph-types found in the Second Grammatical Treatise, some of which have their origin round 1200 or soon after. It is of course not certain that the Second Grammatical Treatise as a whole came into being at this time. It is possible that older lists of alphabetical signs were used in the composition of this text. 37 Im Zusammenhang mit der Entstehungsfrage ist sich die Forschung auch uneins, was die Funktion des Traktats betrifft. Ein Vorschlag ist, den 2. GTR als eine Art Prolog und Ver‐ ständnishilfe in Bezug auf den Silbenbau in Ht zu verstehen: So erklärt sich auch die Plazierung des Grammatischen Traktats im Cod. Upsaliensis von einem späteren Kompilator, nämlich unmittelbar vor dem Háttatal (Háttalykill und Háttatal), weil ihm die Kenntnis der Silbenbauregeln im Rahmen dieses Poetikhandb.s (der Snorra-Edda) als eine theoretische Voraussetzung der Reimbildung erschienen sein mag. 38 145 4.3 Zwischen Bild und Text - Der 2. Grammatische Traktat 39 Micillo: Latin tradition, S. 620; sowie das einführende Zitat Raschellàs oben. 40 Vgl. z. B. Beuerle: Sprachdenken, S. 377. Beuerle sieht den Dichtungsbezug aus den Argumentationen des Traktats heraus begründet. Gewisse Aussagen lassen sich nur verstehen und sinnvoll in die Lektüre der Diagramme eingliedern, wenn man sie auf die Silbendistribution und nicht nur auf die Orthographie bezieht. 41 Uppsala Edda, S. 250. In der Handschrift ist die Rubrik aber praktisch verblasst. 42 Beuerle: Sprachdenken, S. 374. 43 Braunmüller: Grammatische Traktate. 44 Braunmüller: Grammatische Traktate. 45 Micillo: Latin tradition, S. 620. Micillo führt da auch einige mögliche (aber nicht direkte) klassische Ideengeber an. Eine andere Richtung schlägt Raschellà ein, der keine Verbindung zu Ht sieht und für eine unabhängige Entstehung des Traktats argumentiert. Der 2. GTR stellt für ihn keinen spe‐ ziellen dichtungstheoretischen Text dar, sondern sei allgemeiner als eine orthographische Abhandlung zu verstehen. 39 Ob der Traktat tatsächlich in direktem Zusammenhang mit Ht zu sehen ist, ist schwierig zu belegen. Aber dass der Kompilator von U sinnvolle thematische (d. h. auf die Dichtung bezogene) Zusammenhänge zwischen den beiden Texten sah und sie deshalb zusammenstellte, ist sehr plausibel. 40 Auch die den Traktat einführende Rubrik, die auf Blatt 45r ganz unten steht, deutet in diese Richtung: „Hér segir af setningu háttalykil‐ sins“ 41 (Hier ist von der Beschaffenheit des Versmassschlüssels berichtet). Um die weiteren dichtungstheoretischen Verbindungslinien zu sehen, hilft eine kurze Inhaltsangabe der Traktatversion in U. Zuerst werden in einer allgemeinen Lauttypologie Geräusche und Klänge von spez. menschlichen Lauten getrennt. Solche Typologien sind aus klassischen antiken und mit‐ telalterlichen Grammatiken bekannt. 42 Danach wird anhand eines ersten Diagramms die Verteilung der Buchstaben und deren Eigenschaften im Altisländischen beschrieben. Braunmüller fasst mit heutigen Begriffen zusammen: „Zentral sind die Aussagen zur Struktur der minimalen Einsilber (Langvokal, Diphthong). Vokalische Länge sollte (wie im Ersten Grammatischen Traktat) durch Akut markiert werden.“ 43 Anschliessend werden dieselben Buchstaben in einem zweiten Diagramm behandelt, wobei die Frage nach Bau und Reimfähigkeit von Silben im Vordergrund steht. Es geht darum, wie die verschiedenen Buchstaben zu Silben kombiniert werden können. Der ge‐ samte Traktat nimmt nur ca. fünf Seiten der ganzen Handschrift ein, die beiden Diagramme füllen aber je knapp eine Seite davon. Braunmüller hebt (anders als andere) die intellektuelle Leistung des Verfassers auf die‐ selbe Stufe wie diejenige, des 1. GTR: „[…] handelt es sich bei diesem Traktat […] auch um eine strukturalistische Pionierarbeit, die sich mit der Phonemdistribution, dem Silbenbau und der Struktur der reimfähigen Silben befaßt.“ 44 Denn der 2. GTR stellt eine eigenständige Arbeit dar, die nicht auf spezielle Vorlagen - lateinisch geprägter - grammatischer Ab‐ handlungen Bezug nimmt: The Latin tradition apparently has little, if any, part in the composition of the SGT. Apart from the well known question-and-answer pattern in the opening, and from the general division of letters into vowels and consonants, scholars have failed to find precise parallels in Classical tradition. 45 146 4 Welt verfassen - Welt erfassen: Performative Gelehrsamkeit 46 Beuerle: Sprachdenken, S. 454. 47 Eine eindeutige Trennung in die beiden Bereiche ist aber nicht möglich. Text und Diagramm sind eng miteinander verwoben. 48 Uppsala Edda, S. 250. 49 Die frühe Erwähnung musikalischer Laute von Harfen oder anderen Instrumenten ist auffällig. Wie wichtig die Musik für den Traktat ist, zeigt sich v. a. in der Form des zweiten Diagramms, das einer Drehleier nachempfunden ist. Die Diagramme werden weiter unten diskutiert. 50 Uppsala Edda, S. 250. 51 Uppsala Edda, S. 250. Doch man sollte nicht nur rein inhaltlich argumentieren, sondern auch die mediale Ge‐ staltung des Textes beachten, dann wird die intellektuelle Leistung des Verfassers noch deutlicher. Nach Beuerle hat die eigene Beobachtung der Gegebenheiten der Sprache in der isländischen Kultur einen hohen Stellenwert als Quelle des Wissens. Dennoch ist der Traktat ein Ergebnis der Beschäftigung mit lateinischer Gelehrsamkeit, gerade in Bezug auf Fragen der grammatica und ihrer Darstellung. Es ist jedoch nicht eindeutig festzustellen, ob die einheimische oder die lateinische Tradition höher gewichtet wird. 46 Der Text des 2. GTR ist formell und unpersönlich gehalten. Nur zu Beginn weist er einen dialogischen Zug auf, der aus den anderen Texten in U bekannt ist. Es scheint, als sei der Text losgelöst von intertextuellen Verbindungen und spreche auch nicht direkt zu einem Rezipienten. Was ihn auszeichnet, sind seine ungewöhnlichen, aber sehr einprägsamen bildlichen Erklärungen: Nicht nur die zwei eingefügten Diagramme sind Zeugnisse dieser Anschaulichkeit, auch der Text selbst ist aussergewöhnlich bildhaft, was sich v. a. im Ge‐ brauch von zwei Metaphern zeigt, die als erstes betrachtet werden. In einem zweiten Schritt werden dann die beiden Diagramme in die Diskussion miteinbezogen. 47 So können die Ver‐ fahren, die den Text anschaulicher (und damit überzeugender) machen sollen, genauer be‐ stimmt werden. Es wird sich zeigen, dass der Text nicht nur wiederholende oder rahmende Verfahren zur Legitimationsstiftung einsetzt, sondern auch eine bestimmte Art von ge‐ lehrtem Denken, das vor allem durch seine mediale Innovationskraft Geltung behaupten will. 4.3.1 Bildhafter Text Wie oben erwähnt, beginnt der Text mit einer Lauttypologie, die drei verschiedene Kate‐ gorien aufstellt: Lautphänomene in der Natur sowie Musik gehören in die Kategorie der sog. „vitlaus hjóð“ 48 (bewusst- oder bedeutungslose Laute). 49 Die zweite Kategorie ist die der „Stimmen“ der Tiere, „rǫdd“ 50 . Ähnlich wie die erste Gruppe sind auch diese Laute „skyn‐ lauss“, d. h. ohne Verstand geäussert. Erst die dritte Kategorie benennt die bewusst gespro‐ chenen Laute, die die menschliche Sprache auszeichnen: En þriðja hljóðs grein er sú sem menninir hafa. Þat heitir hljóð ok rǫdd ok mál. Málit gerist af blæstrinum ok tungubragðinu við tenn ok góma ok skipan varranna. En hverju orðinu fylgir minnit ok vitit. Minnit þarf til þess at muna atkvæði orðanna, en vitit ok skilningina til þess at hann muni at mæla þau orðin er hann vill. 51 147 4.3 Zwischen Bild und Text - Der 2. Grammatische Traktat 52 Beuerle: Sprachdenken, S. 432. 53 Uppsala Edda, S. 250. Und die dritte Kategorie der Laute sind diese, welche die Menschen besitzen. Sie heissen Laut, Stimme und Sprache. Die Sprache wird von der Atmung und der Zungenbewegung an die Zähne und den Gaumen und der Anordnung der Lippen gemacht. Und jedes Wort ist verbunden mit dem Gedächtnis und dem Verstand. Das Gedächtnis ist nötig, um sich an die Aussprache der Worte zu erinnern, der Verstand und das Verständnis dazu, dass man sich erinnert diese Worte zu sprechen, die man will. Der Text beschreibt die menschliche Sprache als ein Zusammenspiel physischer und men‐ taler Vorgänge und bestimmt sie als einen individuellen Akt. 52 Was zuerst noch sehr allge‐ mein und auf alle Menschen bezogen verstanden werden kann, wird direkt darauf aber spezifiziert: Ef maðr fær snilld málsins þá þarf þar til vitit ok orðfrǿði ok fyrirætlan ok þat mjǫk at hǿgt sé tungubragðit. Ef tennrnar eru skǫrðottar ok missir tungan þar, þat lýtir málit. Svá ok ef tungan er of mikil, þá er málit blest. Nú er hon of lítil, þá er sá holgómr. Þat kann ok spilla málinu ef varrarnar eru eigi heilar. 53 Wenn ein Mensch Redegewandtheit hat/ aufweist, dann bedarf es des Verstandes, der Kenntnis der Wörter und der Absicht, und in hohem Masse Zungenbeweglichkeit/ -fertigkeit. Wenn die Zähne schartig sind und die Zunge sie dort verfehlt, so verunstaltet das die Sprache. Auch wenn die Zunge zu gross ist, dann ist die Sprache lispelnd. Aber wenn sie zu klein ist, dann hohlgaumig. Das kann die Sprache auch verderben, wenn die Lippen nicht ganz sind. Es fällt erstens auf, dass der Gebrauch von Sprache bzw. der redegewandte Gebrauch von Sprache ein vielschichtiger Vorgang ist, der an dieser Stelle sehr körperbezogen erklärt wird. Nur wer einen gesunden und „normalen“ Kopf hat, kann richtig kommunizieren. Doch zusätzlich zu den physischen Voraussetzungen gibt es auch Voraussetzungen des Ver‐ standes, des Wissens sowie planvollen Denkens. Diese Voraussetzungen lassen sich durchaus auf eine ganz spezifische Gruppe „Sprachbenutzer“ beziehen: Im Überlieferungs‐ kontext der P-E gelesen, könnte die Bezeichnung „snilld málsins“ (Beredsamkeit/ Redege‐ wandtheit) mit den sprachgewandten Skalden (und auch ihrem verständigen Publikum) in Verbindung stehen. Dass die skaldische Dichtung eine komplexe intellektuelle Herausfor‐ derung ist, wird immer wieder hervorgehoben - nur wer genügend Verstand hat und die richtigen Wörter kennt, kann sie verstehen. Die körperbezogenen Erklärungen lassen sich zudem mit dem wichtigen Status der performance von Dichtung erklären: Jemand kann ausgezeichnete Sprachkenntnisse aufweisen, kann er aber sein Gedicht vor Publikum nicht angemessen „aufführen“, so wird „der Sprechakt“ nicht gelingen und gilt nicht als redege‐ wandt. Der schriftliche Text setzt die mündliche Inszenierung der Sprache als die gängige Art voraus. Der Fokus auf die Mündlichkeit verschiebt sich im Laufe des Texts auch auf Fragen der richtigen Schreibung der altisländischen Sprache. Doch immer wieder kommt die Argumentation auf die mündliche Dimension der Sprache zurück. So zum Beispiel in den Erklärungen zum Ringdiagramm und den darin gezeigten langen und kurzen Vokalen: 148 4 Welt verfassen - Welt erfassen: Performative Gelehrsamkeit 54 Uppsala Edda, S. 254. 55 Uppsala Edda, S. 256. 56 Auch der Verfasser von U bzw. dem 2. GTR selbst hält sich nicht an eine bestimmte Vorgabe. Hljóðstafir hafa ok tvenna grein, at þeir sé styttir eða dregnir. En ef skýrt skal rita þá skal draga yfir þann stafinn er seint skal leiða, sem hér: Á því ári sem Ari var fǿddr, þat er í mínu minni. Optliga skipta orða leiðingar ǫllu máli hvárt inn sami hljóðstafr er leiddr seint eða skjótt. 54 Vokale haben auch eine zweifache Unterscheidung, dass sie gekürzt oder gelängt erscheinen. Und wenn man klar schreiben soll, dann soll man über dem Buchstaben, der langsam ausgesprochen werden soll, einen Strich ziehen, wie hier: In dem Jahr, in dem Ari geboren war, das ist in meiner Erinnerung. Oft verändern die Aussprachen der Wörter eine ganze Äusserung, wenn ein und derselbe Vokal entweder langsam oder schnell ausgesprochen ist. Die deutliche Schreibung zu fördern, ist zwar offenbar ein Ziel des Traktats, allerdings nur im Zusammenhang mit der mündlichen Äusserung des Geschriebenen. Ein Längezeichen für Vokale braucht es deshalb, weil in der gesprochenen Sprache ein Wort mit langem Vokal eine andere Bedeutung haben kann als eines mit demselben kurzen Vokal. Eine ähnliche - auf beide medialen Bereiche bezogene - Regel stellt der Traktat auch für die Schreibung von Konsonanten auf: Doppelte Konsonanten sollen mit Kapitälchen ge‐ schrieben werden, da: Þessir stafir gera ekki annat, en menn vilja hafa þá fyrir ritsháttar sakir ok er settr hverr þeirra einn fyrir tvá málstafi, því at sum orð eða nǫfn endast ‹í› svá fast atkvæði at engi málstafr fær einn borit, svá sem er hóll eða fjall eða kross eða hross, framm, hramm. Nú þarf annat hvárt at rita tysvar einn málstaf eða láta sér líka þanneg at rita. 55 Diese Buchstaben bedeuten nichts anderes, als dass Menschen sie haben wollen in Bezug auf Schreibweisen und jeder von ihnen ist für zwei Konsonanten gesetzt, weil manche Worte enden in so einem festen Ausdruck, dass kein einzelner Konsonant genommen werden kann, so wie hóll oder fjall oder kross oder hross, framm, hramm. Nun muss man entweder einen Konsonant zweimal schreiben oder es sich gefallen lasse, in der Weise [mit Kapitälchen] zu schreiben. Bedeutung wird gemäss dem Text durch lautliche Eindeutigkeit gewährleistet: Man muss differenzieren und einen Vokal lang oder kurz aussprechen bzw. manche Konsonanten im Auslaut „fester“ als andere. Diese Differenzierung generiert Bedeutung. Zumindest für die Konsonanten scheint es aber nicht darauf anzukommen, eine Doppelung durch eine ganz bestimmte graphische Form darzustellen, wichtig ist nur, dass sie hervorgehoben wird. 56 Der Traktat sucht eine angemessene Übertragung der mündlichen Bedeutungseinheiten in die Schrift. Diese mündliche Eindeutigkeit darf durch den Medienwechsel nicht verloren gehen - damit sie im Text richtig „fixiert“ ist, aber auch, damit sie korrekt wieder in die Mündlichkeit gebracht werden kann. Gerade in Bezug auf die Skaldik als stark regelge‐ bundene Dichtung erscheinen solche Regeln sehr wichtig. Dass sich der Abschnitt auf die Dichtung bezieht, wird aber nicht explizit gesagt. Allgemeiner ausgedrückt, versucht der Traktat die Sprache zu systematisieren und das bereits auf der Ebene der einzelnen Laute und Grapheme. Im Vergleich der gesamten Handschrift arbeitet sich der Text hier an der 149 4.3 Zwischen Bild und Text - Der 2. Grammatische Traktat 57 Uppsala Edda, S. 250. 58 Visuelle Mittel zur Steigerung des Erinnerungsvermögens werden in der lateinischen Gelehrsamkeit häufig diskutiert. Einzelne Aspekte davon werden weiter unten in der Diskussion der Diagramme beleuchtet. Mikroebene der Sprache ab, wohingegen die anderen Texte höhere sprachliche Ebenen diskutieren. Bereits in den wenigen vorgestellten Stellen wechselt der Traktat häufig zwischen den medialen Ebenen der Schrift und der Stimme hin und her. Man könnte deshalb die Art und Weise, wie er die beiden Ebenen thematisiert, beinahe als performativ bezeichnen. Denn seine Argumentationsweise ist multimedial gestaltet. Stimme und Schrift werden mit Hilfe eines literarischen Verfahrens behandelt, das an visueller Anschaulichkeit interessiert ist: Metaphern und Analogien erweisen sich als die bevorzugten rhetorischen Mittel des Textes. Ein berühmtes Beispiel findet sich am Ende des ersten Teils mit der Lauttypologie: Muðrinn ok tungan er leikvǫllr orðanna. Á þeim velli eru reistir stafir þeir er mált allt gera ok hendir málit ymsa, svá til at jafna sem hǫrpustrengir eða eru læstir [sic! ] lyklar í simphóníe. 57 Der Mund und die Zunge sind das Spielfeld der Wörter. Auf diesem Feld sind die Buchstaben aufgestellt, die die ganze Sprache machen und die Sprache greift verschiedene, so wie zum Beispiel die Saiten einer Harfe oder wenn die Tasten einer Symphonia gelöst werden. Den Mund und die Zunge als Spielfeld der Worte zu beschreiben, ist eine sehr gelungene Metapher. Direkt auf dieses Bild folgen die oben dargestellten Ausführungen, welche die körperlichen Voraussetzungen für gute Sprache festhalten. Sie lassen sich sehr gut in das Bild des Spielfelds integrieren: Nur wenn das Spielfeld (der Mund und die Zunge) intakt ist, können die Wörter angemessen produziert werden. Das Bild des Spielfelds wird kurz darauf weiterverwendet und wechselt vom semantischen Bereich des Mundes hin zu dem eines graphisch dargestellten Felds auf der Handschriftenseite. Das Feld wird meist als „Ring‐ figur“ oder „Ring-Diagramm“ bezeichnet und weiter unten behandelt. Der semantische Wechsel vom Mund zur graphischen Darstellung wird nicht explizit ausgesprochen, das Diagramm trägt keine Rubrik und auch der erklärende Text unter dem Diagramm spricht nicht mehr von einem Spielfeld. Der kurze Abschnitt mit der Metapher des Spielfelds kann deshalb als bewusste Hilfestellung für die folgenden abstrakten graphischen und textuellen Einheiten verstanden werden. Es scheint, als versuche der Text durch anschauliche Bilder die theoretischen Inhalte (die Klassifikation der Buchstaben und die Beschreibung ihrer Funktionen) mit einer gegenständlichen bzw. körperlichen Vorstellung zu verbinden. Das Ziel davon ist einerseits ein besseres Verständnis, andererseits längere Merkbarkeit. 58 Aussergewöhnliche Bilder oder Assoziationen sind bekannte Bestandteile der skaldi‐ schen Dichtung. Der Traktat scheint mit ähnlichen Mitteln zu arbeiten, wie das die Skaldik mit kenningar macht: „leikvǫllr orðanna“ (das Spielfeld der Wörter) ist selbst eine kenning. Zwar wird sie in Skpm, dem Verzeichnis der dichterischen Umschreibungen in U nicht aufgeführt, doch das skaldische Spiel mit verschiedenen semantischen Bereichen zeigt sich in der Metapher eindeutig. Das lässt sich als weiterer Hinweis darauf verstehen, dass der 2. GTR (auch) ein dichtungstheoretischer Text ist und nicht bloss an Orthographie interes‐ siert ist. 150 4 Welt verfassen - Welt erfassen: Performative Gelehrsamkeit 59 Die Analogie kann sich auf die Position im Mund oder auf eine Position auf dem graphischen Spielfeld des Diagramms beziehen. Welche Option gemeint ist, bleibt offen. 60 Zum Instrument „Symphonia“, einer Art Drehleier, siehe weiter unten. 61 Uppsala Edda, S. 256. 62 Raschellà hingegen versteht hendingar allgemeiner und liest den Traktat deshalb als orthographisch interessierte Abhandlung. Vgl. Beuerle: Sprachdenken, S. 386-389. 63 Gropper, Stefanie: Der sogenannte Zweite Grammatische Traktat. Sprache und Musik. In: Müller- Wille, Klaus et al. (Hg.): Skandinavische Schriftlandschaften. Vänbok till Jürg Glauser. Tübingen 2017 (= Beiträge zur Nordischen Philologie 59), S. 78-83, hier S. 82. 64 Uppsala Edda, S. 250. Die Metapher des Spielfelds wird im Text weiter herausgearbeitet: Buchstaben sind (wie Spielfiguren) auf einem Feld verteilt und machen die Sprache aus. Je nachdem, was für ein Wort geäussert werden soll, werden unterschiedliche Buchstaben „angespielt“. 59 Um das Bild noch anschaulicher zu machen, wird die Metapher des Spielfelds durch zwei musika‐ lische Analogien ergänzt: Die Buchstaben werden je nach Wort gewählt (angespielt), wie auch nur einzelne Harfensaiten oder Tasten der Symphonia benützt werden. 60 Auf dem Tasteninstrument Symphonia basiert die Grundidee des letzten Traktatab‐ schnitts, wobei das zweite Diagramm eine graphische Umsetzung dieses Instruments dar‐ stellt. Aber an der hier zitierten Stelle scheint das Bild grundsätzlich als einleitender Asso‐ ziationsrahmen aufgerufen zu werden, ähnlich wie auch das Spielfeld selbst. Der Rezipient wird mit realweltlichen Phänomenen auf die abstrakten sprachlichen Kategorisierungen eingestimmt. Nach der Kategorisierung der Laute in Vokale und Konsonanten mit Hilfe des Ring- Diagramms wendet sich der Text der Frage zu, wie diese Buchstaben zu Silben kombiniert werden können. In der Beschreibung des zweiten Diagramms heisst es im Text: Stafa setning sjá sem hér er rituð er svá sett til máls sem lyklar til hljóðs ‹i› músika ok regur fylgja hljóðstǫfum svá sem þeir lyklum. Málstafir eru ritaðir með hverri regu bæði fyrir ok eptir, ok gera þeir mál af hendingum þeim sem þeir gera við hljóðstafina fyrir eða eptir. 61 Die Verteilung der Buchstaben, wie sie hier geschrieben ist, verhält sich zur Sprache wie die Schlüssel zu den Tönen in der Musik und die geraden Linien gehören zu den Vokalen, die wie Schlüssel sind. Die Konsonanten sind geschrieben vor und nach den geraden Linien, sie machen Sprache mit dem Fassen der Vokale aus den Reimen mit den Vokalen davor oder danach. Beuerle ist zuzustimmen, dass es sich bei hendingar ganz spezifisch um Silbenkombinati‐ onen von Konsonanten und Vokalen handelt, die sich reimen. 62 Auch Stefanie Gropper zeigt, dass der Traktat nicht nur mit kenningar argumentiert, sondern auch auf einer lautlichen Ebene mit der Skaldik in Verbindung steht: „der Text selbst enthält Reime, wie z. B. in dem Teilsatz minni ok vit ok skilning, dessen Bestandteile durch den gemeinsamen Vokal ver‐ bunden sind, in dem aber auch im ersten und letzten Wort -ineinen hending bildet.“ 63 Für U trifft das nicht ganz zu, da im Teilsatz (anders als W) skilning ausgelassen wird und nur von „minnit ok vitit“ 64 die Rede ist. Doch lautlich gesehen funktioniert es auch in U: Der gemeinsame Vokal i ist ebenfalls durchgängig, -itkann als hending angesehen werden. Die bisherige Lektüre des Traktats zeigt, dass es sich um einen weiteren Text in U handelt, der sich mit der Systematisierung und der Benennung verschiedenster Aspekte in der Welt 151 4.3 Zwischen Bild und Text - Der 2. Grammatische Traktat 65 Die meisten der Buchstabennamen sind entweder lateinischen oder einheimischen (z. B. 1. GTR) Ursprungs, vgl.: Raschellà: Second Grammatical Treatise, S. 101. 66 Raschellà: Second Grammatical Treatise, S. 101. 67 memoria wiederum ist einer der fünf Aspekte der antiken Rhetorik (inventio, dispositio, elocutio, memoria, pronuntiatio). Die Rhetorik ist ein Hauptbestandteil der schulischen Ausbildung des Mit‐ telalters. 68 Das Themenspektrum der memory studies ist sehr breit. Einen Einstieg ermöglicht z.B.: Hermann, Pernille et al. (Hg.): Minni and Muninn. Memory in Medieval Nordic Culture. Turnhout 2014. Einen umfassenden Überblick bietet das Handbuch zum Thema: Glauser, Jürg et al. (Hg.): Handbook of Pre- Modern Nordic Memory Studies. Interdisciplinary Approaches. Berlin/ Boston 2018. 69 Hermann, Pernille: Key Aspects of Memory and Remembering in Old Norse-Icelandic Literature. In: Dies. et al. (Hg.): Minni and Muninn, S. 14. beschäftigt. Werden in Gylf zum Beispiel verschiedene Götter oder Naturphänomene und in Skpm unterschiedliche Arten von dichterischen Umschreibungen kategorisiert und de‐ finiert - so sind es im 2. GTR die kleinsten sprachlichen Einheiten, die Buchstaben. Raschellà macht darauf aufmerksam, dass der Text bzw. das Ring-Diagramm einige Namen für Buch‐ staben aufweist, die nirgendwo sonst bekannt sind. Der Verfasser mache jedoch keine An‐ gaben oder Erklärungen dazu. 65 Doch das von Raschellà festgestellte Fehlen einer theore‐ tischen Begründung für die eigenständige Behandlung scheint nur zum Teil zuzutreffen, wie aus seinen Beobachtungen selbst zu entnehmen ist: The names assigned to the simple consonants have no parallel outside of SGT. Each consonant is placed at the beginning of its own name before a vowel and then repeated after it. This is clearly a device to epitomize in the form of the name itself the positional characteristics of these conso‐ nants in connected speech. 66 In Bezug auf die Positionsbestimmung liegt Raschellà sicher richtig, er lässt aber die per‐ formative Wirkung der diagrammatischen Darstellung ausser Acht. Geltung wird an dieser Stelle nicht allein durch textuelle Erklärungen verliehen, sondern auch durch die ausser‐ gewöhnliche graphische Darstellung. Wie sich zeigte, arbeitet der Traktat auch auf der textuellen Ebene mit visuellen Mitteln. Anschaulichkeit und Bildhaftigkeit sind wichtige rhetorische Werkzeuge, um etwas verständlich zu machen und im Gedächtnis zu fi‐ xieren. 67 In den bisherigen Lektüren der verschiedenen Texte in U wurde mehrfach die Funktion und die Art der angemessenen Erinnerung bzw. des Gedächtnisses thematisiert. Das Gebiet der memory studies [Gedächtnistheorien] hat in den letzten Jahren in der skandinavisti‐ schen Mediävistik grosses Interesse gefunden. 68 Für die Lektüre des 2. GTR bietet sich eine bestimmte Perspektive besonders an: Pernille Hermann hat die nordische Literatur auf Fragen der klassischen ars memoria hin untersucht. Sie schlägt vor, neben einheimischen Denkansätzen in Bezug auf das Gedächtnis auch Theorien aus der klassischen Gelehrsam‐ keit in die Diskussion miteinzubeziehen: […] I argue that we must, in part at least, seek inspiration in classical texts that deal with ars memoria. Those texts, in contrast to the Old Norse-Icelandic situation, where little concrete evi‐ dence about how memory was trained is provided, give insights into classical mnemotechniques, and into the considerable memorial capacity of memory specialists. 69 152 4 Welt verfassen - Welt erfassen: Performative Gelehrsamkeit 70 Hermann: Key Aspects, S. 23. 71 Das berühmte Beispiel für die Unterstützung der Erinnerung durch die mentale Vorstellung be‐ stimmter Räume ist die griechische Legende von Simonides von Keos, der als Begründer der ars memoria gilt. Vgl. Hermann: Key Aspects, S. 14. 72 Rhetorica ad Herennium. Lateinisch-Deutsch. 2011, S. 126-181, hier S. 165 (= Liber Tertius). Online www.degruyter.com/ view/ books/ 9783050093031/ 9783050093031.126/ 9783050093031.126.xml. (Ab‐ gerufen am 26.02.2020) 73 Rhetorica ad Herennium, S. 164. 74 Rhetorica ad Herennium, S. 165. Hermann sieht in den klassisch- antiken Texten die Möglichkeit, den Gedächtnisbegriff im Kontext mit gelehrter Schriftlichkeit zu verstehen. Relevante Aspekte der ars memoria sind u. a. die Strukturierung von Wissen durch Bilder und durch die Platzierung im Raum. Solche Aspekte erscheinen auch für eine Lektüre des 2. GTR hilfreich. Unter dem Begriff „mne‐ monic images“ diskutiert Hermann, wie viele aussergewöhnliche und groteske Ereignisse in der nordischen Mythologie zu finden sind, die mit dem Erlangen von Wissen zu tun haben. Als Beispiele nennt sie einen sprechenden Kopf, Prophezeiungen geheimnisvoller Seherinnen oder einen einäugigen Gott. Diese Ereignisse haben laut Hermann etwas ge‐ meinsam: These are all memorable simply because they are imbedded in peculiar images. Such striking im‐ ages as those found in the mythological texts resemble classical memorial techniques, which have as their main organizing principles places (loci) and images (imagines). According to these tech‐ niques, to memorize a situation implies a mental creation of a spatial environment and, next to that, the creation of images, placed at various locations within that spatial environment, and having the function of triggering the memory of things (res) or words (verba). 70 Mit Hilfe der beiden Organisationsprinzipien „Raum“ und „Bild“ können Wissensbestände in der Erinnerung verankert werden. 71 Bilder unterstützen dabei das sogenannte künstliche Gedächtnis (memoria artificiosa) und betreffen weniger das natürliche Gedächtnis (memoria naturalis). Die Trennung geht zurück auf Rhetorica ad Herennium, eines der zentralen an‐ tiken rhetorischen Werke, das auch für die mittelalterliche Gelehrsamkeit von grosser Be‐ deutung ist. 72 Während das natürliche Gedächtnis dem Menschen inhärent ist, wird das künstliche Gedächtnis gezielt von aussen unterstützt: Sunt igitur duae memoriae: una naturalis, altera artificiosa. Naturalis est ea, quae nostris animis insita est et simul cum cogitatione nata; artificiosa est ea, quam confirmât inductio quaedam et ratio praeceptionis. 73 Es gibt also zwei Arten des Sicheinprägens: das eine ist von Natur aus gegeben, das andere künstlich erworben. Natürlich ist dasjenige, das uns eingepflanzt ist und gleichzeitig mit der Denkkraft entsteht; künstlich erworben ist dasjenige, welches eine gewisse Einführung und methodische Anleitung stärkt. 74 Künstliches Gedächtnis bzw. das künstliche „Sicheinprägen“ ist eine erlernbare und durch methodische Mittel gestützte Technik, die den Zugang zu resp. die Aufnahme von ausser‐ gewöhnlichem Wissen ermöglicht. Als ein Beispiel in der nordischen Mythologie sieht 153 4.3 Zwischen Bild und Text - Der 2. Grammatische Traktat 75 Hermann: Key Aspects, S. 23. 76 Rhetorica ad Herennium, S. 174. 77 Rhetorica ad Herennium, S. 175. 78 Bergsveinn Birgisson: The Old Norse Kenning as a Mnemonic Figure. In: Doležalová, Lucie (Hg.): The Making of Memory in the Middle Ages, Leiden/ Boston 2000, S. 199-214, hier S. 212. Hermann Óðins Verwendung von Mimirs Kopf als externes Medium im Streben nach mehr Wissen. 75 Aussergewöhnliche Bilder sind nach antiker Vorstellung sehr gute Mittel, um das künst‐ liche Gedächtnis zu stärken. Denn geläufige Bilder prägen sich nicht ins Gedächtnis ein, aber: […] si quid videmus aut audimus egregie turpe, inhonestum, inusitatum, magnum, incredibile, ridiculum, id diu meminisse consuevimus. […]; nec hoc alia de causa potest accidere, nisi quod usitatae res facile e memoria elabuntur, insignes et novae diutius manent in animo. 76 […] sehen oder hören wir etwas ausnehmend Schändliches, Unehrenhaftes, Ungewöhnliches, Be‐ deutendes, Unglaubliches, Lächerliches, so prägen wir uns dies gewöhnlich für lange ein. […]; und das kann aus keinem anderen Grund vorkommen als deswegen, weil gewöhnliche Vorkommnisse leicht aus der Erinnerung entschlüpfen, auffällige und neuartige länger im Sinn haften. 77 Besonders schöne, hässliche oder ganz neue Bilder helfen, etwas im Gedächtnis zu fixieren. Gerade für abstrakte theoretische Wissensbestände bietet sich die Unterstützung durch bildliche Verfahren an. Davon scheint auch der 2. GTR auszugehen und arbeitet deshalb auf verschiedenen Ebenen mit möglichst anschaulichen Mitteln. Metaphern und Analogien sind sprachliche Bilder, die einen Assoziationsraum eröffnen, in dem sich abstrakte, laut‐ theoretische Inhalte vermitteln lassen und in Erinnerung bleiben. Will ein Rezipient sich die einzelnen Buchstabennamen oder -funktionen merken, hilft ihm das einprägsame sprachliche Bild eines Spielfelds oder eines Instruments ungemein. Ob die Bilder hilfreich sind, weil es sich um besonders schöne oder auch um neue Bilder handelt, ist nicht klar. Vielleicht ist auch das Zusammenspiel verschiedener Bilder in unterschiedlicher medialer Gestaltung dem Verständnis und der Erinnerung zuträglich. Die starke Bildhaftigkeit des 2. GTR verbindet den Traktat implizit mit der skaldischen Dichtung, v. a. in Bezug auf die kenningar. Bergsveinn Birgisson kann mit Hilfe der antiken memoria-Tradition sowie der modernen kognitiven Metaphern-Theorie zeigen, wie wichtig diese umschreibenden Sprachbilder für die Fixierung der skaldischen Gedichte im Ge‐ dächtnis sind: We have seen that the bizarre imagery of the kennings can be regarded as mnemonic in na‐ ture, and further that the unique aesthetics of contrast- tension, that seem to organise the pro‐ duction of kennings, is apparently a system that originated in an oral society, where visual imagery was central to the memorization of texts. Thus I have presented the kenning as a mne‐ monic figure. 78 154 4 Welt verfassen - Welt erfassen: Performative Gelehrsamkeit 79 Dieses Zusammenspiel scheint ein Diagramm überhaupt erst auszumachen. 80 Vgl. z. B. Beuerle: Sprachdenken, S. 376 und S. 383f. 81 Der erste bzw. innerste Kreis weist nur vier Felder auf. 4.3.2 Texthafte Bilder Der Traktat denkt die visuellen Unterstützungsmöglichkeiten noch weiter und geht über eine reine textuelle Umsetzung von Bildern hinaus. Zwei raumfüllende graphische Umset‐ zungen der abstrakten sprachtheoretischen Inhalte sind in den kurzen Text eingefügt. So‐ wohl das sogenannte Ring-Diagramm wie auch das Symphonia-Diagramm stehen ohne vergleichbare bekannte andere Diagramme in der altnordischen Überlieferung da. Der Codex Wormianus weist in seiner Version des 2. GTR keines der beiden Diagramme auf. Aber nicht nur das plötzliche und einmalige Erscheinen der beiden Diagramme ist in‐ teressant, sondern auch ihr changierender medialer Status irgendwo zwischen Text und Bild. Es ist schwierig, den Text ohne die visuelle Umsetzung in Diagrammform zu verstehen und auch umgekehrt würde es nicht funktionieren. Ohne Text kann das Diagramm kaum verstanden werden. 79 Die zwei Diagramme stehen an einer Schnittstelle von materieller und textueller Ebene der Handschrift: Einerseits gehören sie in ihrer visuellen Ordnungs‐ struktur auf die materielle Seite, andererseits ist ihr Inhalt sprachtheoretisch und besteht aus Buchstaben und ihnen verwandten Zeichen. Diese Ambivalenz ist in der Forschung noch nicht thematisiert worden. Bislang wird meist nur darauf verwiesen, dass der Text die Diagramme nur sehr knapp und wenig zufriedenstellend erläutert. 80 Das ungenügende Zu‐ sammenspiel der beiden medialen Formen mag ein Grund dafür sein, weshalb der Verfasser des 2. GTR in W die Diagramme nicht in den Text eingefügt hat. Trotz ungenügenden textuellen Erläuterungen tragen die Diagramme ihren Teil zur Be‐ deutungsstiftung des Traktats bei. Beides sind aussergewöhnliche Bilder, die im Gedächtnis bleiben und helfen, abstraktes Wissen zu systematisieren bzw. überhaupt erst zu denken. Das Ring-Diagramm ist aufgeteilt in fünf Kreise mit je zwölf Feldern. 81 155 4.3 Zwischen Bild und Text - Der 2. Grammatische Traktat Abbildung 10: Ring-Diagramm (DG 11 4to, 46r) Die Darstellung folgt auf den ersten Abschnitt des Traktats und nimmt die obere Hälfte von Blatt 46r ein. Direkt unterhalb folgt der Text mit den Beschreibungen des Diagramms. 156 4 Welt verfassen - Welt erfassen: Performative Gelehrsamkeit 82 Uppsala Edda, S. 254. Pálsson weist in der dazugehörigen Fussnote auf viele Fehler hin, die dem Text in den Erklärungen unterlaufen. 83 Vgl. Kapitel 3.4.1.1. 84 Das Spielfeld selbst ist nur imaginiert. Eugen Mogk hat zwar die These aufgestellt, mit dem Spielfeld sei das Spielfeld des aus den literarischen Quellen bekannten Ballspiels knattleikr gemeint. Da jedoch zu wenig über das Spiel selbst bekannt ist, kann diese (an sich ansprechende) These nicht weiter‐ verfolgt werden. Vgl. Mogk, Eugen: Untersuchungen zur Snorra-Edda. I. Der sogenannte zweite grammatische Traktat der Snorra-Edda. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 22, 1890, S. 129-167. Auch das Instrument ist nur eine mentale Vorstellung einer Drehleier und hat keine reale Entspre‐ chung, siehe unten. Der Text ist eine Ausformulierung der einzelnen Ringe. Der erste Ring wird z. B. wie folgt beschrieben: „Í fyrsta hring eru fjórir stafir. Þá má til enskis annars nýta en vera fyrir ǫðrum stǫfum: q, v, þ, h.“ 82 (Im ersten Ring sind vier Buchstaben. Diese können für nichts anderes gebraucht werden als vor anderen Buchstaben zu sein: q, v, þ, h.) Für die weiteren Ringe fallen die Erläuterungen ausführlicher aus, auf einige Beispiele wurde oben schon ver‐ wiesen. Die schwarzen Linien des Diagramms sind rot nachgefahren, ein Sektor auf der rechten Seite ist grün. Ob (und wenn ja wofür) das als Hervorhebung gedacht war, lässt sich nicht sagen, da der Text keinerlei Bezug auf die Farben nimmt. Die graphische Gestaltung macht aber sichtbar, dass solche Diagramme als Schnittstelle zwischen der Produktions- und der Rezeptionsebene des Textes verstanden werden können. Der Verfasser kann mit Hilfe der schriftbasierten medialen Möglichkeiten auf der Hand‐ schriftenseite Wissen neu anordnen und somit systematisieren. Ein ähnliches graphischlayouterisches Experiment in U stellt Skáldatal dar. Anstatt die Listen der Herrscher und ihrer Skalden linear und rein horizontal darzustellen, wird dort eine neue Darstellungsweise ausprobiert und die Herrscher vertikal auf der Seite angeordnet. 83 Eine aussergewöhnliche Darstellung wie das Ring-Diagramm hilft aber nicht nur dem Verfasser beim Ordnen der Gedanken, sondern fördert auch das Verständnis des Rezipi‐ enten. In Verbindung mit dem Text (möglicherweise auch ohne Text) übt das Bild einen haptischen Reiz aus: Der Rezipient fährt die einzelnen Linien oder Felder mit dem Finger ab, um die abstrakten Inhalte zu erfassen. Ein Diagramm lässt den Verfasser Neues denken und hilft gleichzeitig dem Rezipienten leichter zu verstehen und zu erinnern. Dasselbe gilt auch in Bezug auf die zweite Abbildung, das Symphonia-Diagramm. Beide Diagramme sind auf ein gedankliches Bild ausgerichtet, geben aber vor, sich auf einen Gegenstand in der realen Welt zu beziehen. 84 Die Anschaulichkeit im Abschnitt mit dem Symphonia-Diagramm ist dadurch erhöht, dass die verschiedenen Sinne zusätzlich ange‐ sprochen werden. Das Symphonia-Diagramm befindet sich auf Blatt 47r unterhalb der letzten textuellen Beschreibungen zum Ring-Diagramm. Es ist gross und nimmt ca. drei Viertel der Seite ein. 157 4.3 Zwischen Bild und Text - Der 2. Grammatische Traktat Abbildung 11: Symphonia-Diagramm (DG 11 4to, 47r) Auf der folgenden Seite wird das Symphonia-Diagramm beschrieben, wobei der Text nicht sehr hilfreich ist und sich teilweise wiederholt. Es wird aber klar, dass das Diagramm das Zusammenspiel von Buchstaben zu reimenden Silben visualisiert und ihre verschiedenen Kombinationsmöglichkeiten zeigt. Das zur Veranschaulichung herangezogene Bild ist das einer sogenannten symphóníe, einem Instrument, das wohl am besten als Drehleier be‐ schrieben wird. Die Funktionsweise des Instruments dient im Text als Erklärungsmodell für die lautlichen Vorgänge, im Diagramm wird das Instrument zu einer Art Tabelle um‐ geformt. 158 4 Welt verfassen - Welt erfassen: Performative Gelehrsamkeit 85 Uppsala Edda, S. 256. 86 Uppsala Edda, S. 256. 87 Uppsala Edda, S. 256. 88 In diesem Abschnitt dient Beuerles Übersicht als Vorlage: Beuerle: Sprachdenken, S. 383 (vgl. dort auch die Fussnoten für weiterführende Angaben). 89 Beuerle: Sprachdenken, S. 384. Der Text führt zuerst in das Bild der Drehleier ein und setzt die „stafa setning sjá sem hér er rituð“ 85 (die Aufstellung der Buchstaben, welche hier geschrieben ist) mit der Musik in Bezug. Im Anschluss daran wird erklärt, wie das Diagramm zu lesen ist: Hér standa um þvert blað ellifu hljóðstafir, en um endilangt blað tuttugu málstafir. Eru þeir svá settir sem lyklar í simphoníe, en hljóðstafir sem strengir. Málstafir eru tólf þeir sem bæði hafa hljóð hvárt sem kipt er eða hrundit lyklinum. En átta þeir er síðarr eru ritaðir hafa hálft hljóð við hina. Sumir taka hljóð er þú kippir at þér, sumir er þú hrindir frá þér. 86 Hier stehen quer auf der Seite elf Vokale, und auf längs auf der Seite 20 Konsonanten. Sie sind arrangiert wie die Tasten einer Drehleier, und die Vokale wie die Saiten. 12 Konsonanten haben sowohl Laut, wenn die Tasten gezogen, als auch wenn sie gestossen werden. Aber die acht, die danach geschrieben sind, haben die halben Laute von den anderen. Einige nehmen Laut an, wenn du sie zu dir ziehst, einige, wenn du sie von dir wegstösst. Der Traktat endet darauf mit der Auflistung der verschiedenen Vokale und Konsonanten: Þessir hjóðstafir standa um þvert: a, e, i, o, y, v, ę, ǫ, av, ey. Þessir eru tólf málstafir: b, d, f, g, k, l, m, n, p, r, ſ, t. Þessir eru málstafir ok hafa hálft hljóð við hina: ð, þ, z, y, c, h, x, q. 87 Diese Vokale stehen quer: a, e, i, o, y, v, ę, ǫ, av, ey. Dieses sind die 12 Konsonanten: b, d, f, g, k, l, m, n, p, r, ſ, t. Dieses sind die Konsonanten, welche die halben Laute der anderen haben: ð, þ, z, y, c, h, x, q. Dieser Schluss kann als Beispiel für das etwas unklare Verhältnis des erklärenden Texts und des Diagramms stehen. Anstatt nach den allgemeineren Erläuterungen zur Funktionsweise das Diagramm für sich sprechen zu lassen, führt der Text nochmals die einzelnen Buch‐ staben auf, diesmal einfach in der gängigen linearen Form. Der Traktat scheint nicht völlig von der Vermittlungskraft des Diagramms überzeugt, der Text alleine reicht für die ange‐ messene Umsetzung aber offenbar auch nicht aus. Die Drehleier (symphóníe oder auch Organistrum) ist ein aus dem Früh- und Hochmit‐ telalter bekanntes Instrument, das sowohl in der Kirche als auch bei Hof gespielt wurde. 88 Es war auch in Skandinavien verbreitet, was durch bildliche Darstellungen z. B. in Kirchen und in verschiedenen Dokumenten bezeugt ist. Auch in der Sagaliteratur kommt die sym‐ phóníe vor. Beuerle beschreibt das Instrument folgendermassen: Die Symphonie ist ein Saiteninstrument mit Tasten. Während ein Rad die Saiten zum Klingen bringt, können die Tangenten, meist kleine Holzzungen am Ende der Taste, gegen die Saiten ge‐ drückt werden, wodurch die unterschiedlichen Tonhöhen erzeugt werden. 89 Sie fügt an, dass die Tasten der Symphonie häufig auch mit Buchstaben bezeichnet waren, um das Spielen zu erleichtern. Das könnte auf die Gestaltung des Diagramms inspirierend 159 4.3 Zwischen Bild und Text - Der 2. Grammatische Traktat 90 Beuerle: Sprachdenken, S. 385. 91 Beuerle: Sprachdenken, S. 385f. 92 Meines Wissens wurde die Schreiberhand der Diagramme noch nicht mit derjenigen des Fliesstextes verglichen. 93 Krämer, Sybille: Figuration, Anschauung, Erkenntnis. Grundlinien einer Diagrammatologie. Berlin 2016, S. 11. gewirkt haben. Üblich waren drei Saiten, wobei jedoch nur eine als Melodiesaite diente, während die beiden anderen mitschwangen. 90 Auf das sprachliche Bild, das im Traktat her‐ gestellt wird, passen diese Beschreibungen des realen Instruments relativ gut. Doch das Diagramm kann nicht als Abbild einer tatsächlichen Drehleier verstanden werden - es sind viel zu viele Saiten und Tangenten. Der Verfasser benutzt das Instrument und seine Funk‐ tionsweise als Assoziationsrahmen und wandelt es für seine Zwecke ab. Beuerle vermutet aber, dass er sehr genaue Kenntnis des Instruments hatte, da er zwei verschiedene Mecha‐ nismen verband, die nebeneinander existierten, aber wohl nicht im selben Instrument vor‐ kamen: Wenn der ZG also davon spricht, dass die Tangenten die Saite ‚reissen‘ (kippa), spielt er damit auf den Mechanismus der Zugtangenten an, bei denen, um die Tonhöhe zu markieren, die Taste nach oben gezogen wurde, so dass ein Holzpflöckchen auf der Tangente von unten gegen die Saite drückte. Spricht er hingegen vom ‚stossen‘ (hrinda) der Saite, bezieht er sich auf die Stosstangenten, bei denen, gerade umgekehrt, ein Holzpflöckchen von oben auf die Saite drückte, wenn die Taste nach unten gestossen wurde. 91 Wer genau die beiden Diagramme konzipiert hat und wie sie schliesslich in den Traktat in U gelangten, ist unbekannt. Bis jetzt gibt es keine Anhaltspunkte, ob der Textschreiber auch für die Diagramme verantwortlich war oder nicht. 92 Wie aus anderen Handschriften be‐ kannt ist, können visuelle Hervorhebungen (Rubriken etc.) oder Illustrationen auch von einem darauf spezialisierten Schreiber hinzugefügt werden. Betrachtet man das Symphonia-Diagramm aus rezeptionsästhetischer Sicht, so wird wie beim Ring-Diagramm deutlich, dass hier eine neue Art von Geltungsstiftung angestrebt wird. Der musikalische Assoziationsrahmen leitet den Rezipienten implizit dazu an, das Instrument bzw. das Diagramm selbst zu spielen: Die verschiedenen Klangkombinationen können selbst - laut ausgesprochen - hervorgebracht werden, die fixierten Schriftzeichen werden so wieder zu stimmlichen Lauten. Auch eine taktile Dimension kommt hinzu, die Saiten und Tasten können auf der Handschriftenseite „gestossen“ und „gerissen“ werden, sie bilden eine Steigerung der Möglichkeit, mit dem Finger dem linearen Text auf der Seite nachzufahren. Der visuelle zweidimensionale Schriftraum wird so zu einem akustisch und taktil wahrnehmbaren Raum erweitert. Das Diagramm als Medium der Anschauung und der Erkenntnis hat eine lange Tradition und kann hier nicht ausführlich behandelt werden. Interessante Ansatzpunkte für weitere Untersuchungen finden sich z. B. bei Sibylle Krämer. Sie definiert Diagramme und ihre verwandten Formen als „Spielfelder des Denkens und Erkennens.“ 93 Dass sich diese Be‐ zeichnung gerade mit der Spielfeld-Metapher des 2. GTR trifft, ist ein spannender Zufall. Krämer will - anders als die bereits zahlreich vorhandenen Studien zu verschiedensten 160 4 Welt verfassen - Welt erfassen: Performative Gelehrsamkeit 94 Krämer: Figuration, S. 20. 95 Krämer: Figuration, S. 18. 96 Krämer: Figuration, S. 19. 97 Krämer: Figuration, S. 37. Formen von Diagrammen - eine allgemeine Theorie diagrammatischer Darstellungen und ihrer epistemischen Rollen finden. 94 Für eine neue Perspektive auf den 2. GTR, der bislang praktisch nur linguistische Beachtung fand, ergeben sich daraus interessante Ansätze. Krämer definiert Diagramme als eine Form von bestimmten operativen Visualisierungen, die zur Wissenserzeugung dienen: Wir können nun eine Leitidee formulieren, die dieser Studie zugrunde liegt: So, wie der kartogra‐ phische Impuls eine Strategie ist, Orientierungsprobleme unserer praktischen Mobilität zu lösen, so verkörpert die Kulturtechnik flächiger Inskriptionen in Gestalt von Schriften, Diagrammen, Graphen und Karten eine Strategie, Orientierungsprobleme unserer theoretischen Mobilität zu lösen. 95 Mit der Hilfe von diagrammatischen Formen lassen sich Wissensbestände nicht nur auf eine vom Text verschiedene Art anordnen, sie ermöglichen auch das Weiterdenken: Denkoperationen [werden] ermöglicht, die anders kaum zu vollziehen sind. Flächige Inskriptionen können in Bewegungsräume des Denkens und Erkennens, der Einsicht und des Verständnisses, der Komposition und des Entwurfs und nicht zuletzt: der Wissensübermittlung verwandelt werden. 96 Ein Diagramm stellt eine Form dar, die für ein enzyklopädisch interessiertes Werk wie die P-E sehr geeignet ist. Auf kleinstem Raum lassen sich grosse Wissensbestände sammeln und strukturieren. Sie sind eine Art externes Gedächtnis, das man nur mit Kenntnis der Funktionsweise nutzen kann. Diagramme besitzen somit grosses performatives Potenzial: Sie wirken durch ihre innovative Form. Einem Diagramm ist Sinn und Bedeutung immer bereits eingeschrieben, wie auch Krämer sagt: „Beweiskraft zu haben, eine Einsicht im Me‐ dium der Visualisierung zu erzeugen, ist eine so frühe wie charakteristische Aufgabenbe‐ stimmung diagrammatischer Inskriptionen.“ 97 Weil die Diagramme des 2. GTR die Schrift und die Sprache selbst betreffen (und nicht z. B. geometrische Abbildungen oder Sternbilder o. ä. sind), sind sie besondere Beispiele für Diagramme und machen einen weiteren poetologischen Moment innerhalb der P-E von U sichtbar. Auf einer diskursiven Ebene ermöglichen die Diagramme die Diskussion, wie Schrift und Sprache zusammengehören und wie sie sich auf einer zweidimensionalen Ebene am besten darstellen lassen. Die Innovation der visuellen Darstellung bzw. Ordnung von Schrift hat auch eine ästheti‐ sche Dimension. Die einzelnen Schriftzeichen werden in den Diagrammen nicht nur linear auf die Handschriftenseite gesetzt, sondern in geometrischen Mustern inszeniert. Kreis und Rechteck wiederum sind schematische Umsetzungen von mentalen Bildern zweier Objekte in der Welt. Der Denkprozess bzw. die Denkleistung, die hinter der Diagrammkonzeption liegt, ist visuell „sichtbar“ und trägt zur Geltungstiftung bei. 161 4.3 Zwischen Bild und Text - Der 2. Grammatische Traktat 98 Es könnte sich in diesem Zusammenhang lohnen, in Richtung Buchstabenbzw. Alphabetmagie zu denken, vgl. z. B. Haeseli: Magische Performativität, 2011; Kiening, Christian und Martina Stercken (Hg.): SchriftRäume. Dimensionen von Schrift zwischen Mittelalter und Moderne. Zürich 2008 (= Me‐ dienwandel - Medienwechsel - Medienwissen. Historische Perspektiven 4). Interessant wäre es auch, die auf demselben sowie dem folgenden Blatt stehenden, verschlüsselten Texteinheiten dazu in Bezug zu setzen. Zwar stammen die verschlüsselten Stellen aus späterer Zeit und scheinen keinen direkten Bezug zum Traktat zu haben, doch sind auch sie Beispiele eines bewussten und spielerischen Um‐ gangs mit Schriftzeichen. Zwei solche Texte scheinen zudem (magische) Verwünschungen zu sein. Zu den verschlüsselten Stellen vgl. z. B. Uppsala Edda, Introduction, S. xcvi-xcviii. 99 Raschellà: Second Grammatical Treatise, S. 111. 100 Raschellà: Second Grammatical Treatise, S. 114. 101 Vgl. z. B. Stolz, Michael: Artes-liberales-Zyklen: Formationen des Wissens im Mittelalter, 2 Bände. Tü‐ bingen 2004 (= Bibliotheca Germanica 47). Die beiden Diagramme wirken in gewisser Hinsicht auch geheimnisvoll und suggerieren durch die Abstraktion, dass nur bestimmte Personen das darin enthaltene Wissen ent‐ schlüsseln können. Durch die elitäre Wirkung und ihre spezielle Form könnte man die beiden Diagramme in U fast als visuelle Umsetzungen von kenningar auffassen. Durch die Einfassung der einzelnen Buchstaben in die Linien des Diagramms wird jedes Zeichen für sich hervorgehoben. Der Buchstabe ist nicht mehr Bestandteil des Fliesstexts, sondern wird in all seinen Einzelheiten betrachtet. Das steigert seine Bedeutung: Jeder Buchstabe und jedes Zeichen ist für sich genommen wichtig, man muss es kennen, um Wissen zu erlangen. Oben wurde beschrieben, dass die im Diagramm gesetzten Buchstaben auch im linearen Text einzeln aufgereiht werden - beiden Darstellungsformen scheint es darum zu gehen, die Schriftzeichen für sich wirken zu lassen. 98 Es stellt sich die Frage, woher der Verfasser des Traktats die Idee der diagrammatischen Darstellungen hatte. Im Bereich der grammatischen Literatur gibt es nichts Vergleichbares in der altnordischen Überlieferung. Allgemein weisen antike und mittelalterliche gram‐ matische Abhandlungen keine Illustrationen oder Diagramme auf. Raschellá sagt dazu: As is well known, it was not in the habit of ancient and medieval grammarians to elucidate their theories by means of illustrative figures. This was, instead, a characteristic feature of technical and scientific writings, and can be found, for instance - to mention a field with which the author of SGT was to all appearances quite familiar - in musical manuscripts, especially in those concerning the construction of musical instruments. 99 Raschellà führt weiter aus, dass der Gebrauch von musikalischen Bildern und Konzepten in grammatischen Diskursen des Mittelalters sehr verbreitet war - jedoch seien keine Quellen bekannt, die damit so komplex umgehen (und sprachliche Bilder mit graphischen Darstellungen verbinden) wie der 2. GTR.  100 Ein Vergleich mit der sog. Artes-Literatur, der Literatur zu den sieben freien Künsten, wäre interessant, gegebenenfalls gibt es da Ent‐ sprechungen zur Engführung von Sprache, Grammatik und Musik. 101 Da der 2. GTR Musik als wichtiges Referenzthema hat, könnten auch musiktheoretische Texte eine mögliche Inspirationsquelle sein. Ob (und wenn ja welche) derartige Texte in Island oder Festlandskandinavien bekannt waren, ist allerdings schwierig zu sagen. Ein kurzer Blick in die Geschichte der Musiktheorie zeigt, dass im Kontext der christlichen bzw. klösterlichen Schriftlichkeit in Westeuropa auch viele musiktheoretische Traktate verfasst 162 4 Welt verfassen - Welt erfassen: Performative Gelehrsamkeit 102 Die folgenden Beobachtungen stammen aus: Feil, Arnold: Metzler Musik Chronik: Vom frühen Mit‐ telalter bis zur Gegenwart. Stuttgart/ Weimar 2005, S. 29-39. 103 Raschellà: Second Grammatical Treatise, S. 114. 104 Simek, Rudolf: Altnordische Kosmographie. Berlin/ New York 1990, S. 383-387. 105 Vgl. Kapitel 4.4. worden sind. 102 Zuerst handelt es sich dabei um rein theoretische Abhandlungen, ab dem 9. Jahrhundert kommen auch praktisch orientierte musikalische Traktate hinzu. Die Trak‐ tate reflektieren u. a. Probleme, die sich bei einer Verschriftlichung von Musik durch den Medienwechsel ergeben. Neben textuellen Beschreibungsmodellen werden auch verschie‐ denste Arten der graphischen Fixierung von Klängen auf der Handschriftenseite erprobt. Visuelles Denken scheint in musikalischen Traktaten des Mittelalters also durchaus gängig zu sein. Eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Symphonia-Diagramm zeigen laut Ra‐ schellà Illustrationen in bestimmten musikalischen Traktaten (z. B. in Boethius’ De mu‐ sica): „The resemblance, however, is rather broad and does not imply a direct connection between these manuscripts and SGT.“ 103 Ob der Verfasser des 2. GTR vergleichbare Traktate kannte und/ oder eine musikalische Bildung besass, darüber lässt sich nur spekulieren. Zieht man auch andere mittelalterliche Sachtexte als Vergleich heran, wird die Situation nicht klarer. Rudolf Simek stellt in seinem umfassenden Werk zur altnordischen Kosmo‐ graphie auch die wenigen bekannten Zeichnungen/ Illustrationen aus dieser Literatur zu‐ sammen. 104 Diese sind v. a. in astronomischen, geographischen und geometrischen Sacht‐ exten zu finden, haben aber laut Simek nicht die Qualität einer Illumination und können damit wohl auch nicht als klassische Diagramme verstanden werden. Bis auf Weiteres kann man dem Verfasser des 2. GTR eine einzigartige Experimentier‐ freude in Bezug auf die medialen Möglichkeiten innerhalb einer Handschrift statuieren. Der Text argumentiert innovativ und eigenständig - das kann ein möglicher Grund dafür sein, dass er vom Verfasser der P-E in die Handschrift integriert worden ist. Nun wurden bereits mehrere Beispiele innovativer Sprachreflexion in U diskutiert, mit der abschliessenden Lektüre von Ht wird ein weiteres Beispiel hinzukommen. 105 4.3.3 Zwischenfazit Der 2. GTR in U ist ein weiteres Beispiel für einen Text, der über die Möglichkeiten und Grenzen der Schrift nachdenkt und dabei die Frage stellt, wie man Klang und Stimme auf einer Handschriftenseite darstellen kann. Weil es keine vergleichbaren Theoriemodelle gibt, muss der Text der Vermittlung besondere Aufmerksamkeit schenken: Am besten scheint ihm das richtige Verständnis durch Bilder und assoziative Rahmen gegeben. Da es sich um „neues Wissen“ bzw. um die gleichzeitige Generierung von „neuem Wissen“ han‐ delt, muss der Text sich selbst legitimieren. Anders als in Gylf oder in Skpm kann das hier nicht mit Hilfe von intertextuellen Verweisen oder Zitaten als sinnstiftendes Verfahren geschehen. Der Text muss sich seinen Geltungsrahmen selbst schaffen und tut das, indem er über sprachliche Bilder Assoziationen weckt, die das Verständnis der abstrakten Inhalte fördern sollen. Es ist hier nicht die Anknüpfung an die Vergangenheit, die Bedeutung und Relevanz verleiht. Im 2. GTR dient das neue Medium der Schrift und seine innovative Ver‐ 163 4.3 Zwischen Bild und Text - Der 2. Grammatische Traktat 106 Beuerle: Sprachdenken, S. 424. 107 Beuerle: Sprachdenken, S. 389. 108 Ht ist nur im Kontext der P-E überliefert. 109 In R folgen auf Ht zwei weitere Gedichte, Jómsvíkingadrápa und Málsháttakvæði; in W fehlen ver‐ schiedene Blätter von Ht, die mit Papierseiten ersetzt wurden und es folgen Rígsþula sowie weitere ókend heiti. Die Handschrift endet mit Maríuvísur. 110 Die Strophe 35 fehlt im Verzeichnis eigenartigerweise. Ob sie vergessen gegangen ist oder ob es andere Gründe für ihr Fehlen gibt, ist nicht klar. wendung der Legitimation. Skaldische Dichtung wird im Traktat mit Hilfe von visuellen Strukturierungsmodellen reflektiert. Beuerle rechnet die Traktate in den P-E-Handschriften der grammatica practica zu und nicht einer abstrakt-theoretischen grammatica speculativa.  106 Die Traktate würden sich alle einem speziellen Problem widmen, das gelöst werden soll und zeigten kein Interesse an philosophischer Sprachbetrachtung. Den 2. GTR sieht sie als eine Art „Arbeitstabelle für Skalden“. 107 Es ist schwer abzuschätzen, inwiefern der Traktat tatsächlich praktische Hilfe bietet bzw. als solche aufgefasst worden ist. Insofern können gerade die multimediale Ge‐ staltung des Traktats und die darin sichtbaren komplexen Denkformen auf ein philosophi‐ sches Interesse an Sprache hinweisen. Das diskursive Interesse lässt sich auch für die ge‐ samte P-E in U festhalten: Ist sie wirklich ein Handbuch für angehende Skalden? Ist nicht vielmehr der umfassende theoretische Diskurs über die Sprache das, was das Werk eigent‐ lich interessiert? 4.4 Háttatal: Eine neue Form für das skaldische Gedicht Háttatal (Verzeichnis der Versmasse; von nun an Ht) ist der letzte Text in der Handschrift U und schwer zu fassen. Die Forschung diskutiert, ob es sich dabei um einen oder zwei Texte handelt. Die Entscheidungsschwierigkeiten hängen zusammen mit den verschie‐ denen Dimensionen des Werks, die sowohl sich selbst genügsam sind, als auch im Zusam‐ menhang gelesen werden können. So ist Ht einerseits ein skaldisches Preisgedicht auf den norwegischen König Hákon Hákonarson (1217-1263) und Járl Skúli (1188/ 9-1240), die‐ selben Strophen stellen andererseits aber auch ein Lehrgedicht bzw. eine Verslehre aller dem Verfasser bekannten (oder den ihm wichtigen) einheimischen Versmasse dar. Die ge‐ lehrte Dimension, die das Preisgedicht durch die Verwendung der verschiedenen Versmasse eröffnet, wird gestärkt durch einen Prosakommentar, der den Strophen beigegeben ist. Ht ist in allen mittelalterlichen Edda-Handschriften in teils unterschiedlicher Ausgestal‐ tung überliefert. 108 In R wird der Text als vollständig erhalten betrachtet, er umfasst da 102 Strophen und lässt sich in drei Teile (kvæði, Lieder) teilen. In U finden sich 56 Strophen, wobei diese den letzten Text der Handschrift darstellen. 109 U hat aber auf Blatt 48r vor dem Beginn des Gedichts eine Art Versverzeichnis eingefügt, das die ersten 36 Versmasse nennt und jeweils den dazugehörige Strophenanfang auflistet. 110 Dieses Verzeichnis ist aus keiner anderen Handschrift bekannt und wirft einige Fragen auf, die im Hinblick auf die Lektüre von Ht in U interessant sind. 164 4 Welt verfassen - Welt erfassen: Performative Gelehrsamkeit 111 Vgl. z. B. Marold, Edith: Zur Poetik von Háttatal und Skáldskaparmál. In: Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik 42, 1995, S. 103-124. 112 Vgl. z. B. Uppsala Edda, Introduction: S. lxxxii-lxxxvi, mit einer hilfreichen Überblickstabelle der Versmasse des Verzeichnisses, den Rubriken in Ht in der Version von U sowie R. 113 Uppsala Edda, S. 260. Die Fragen betreffen die Entstehungsgeschichte und die Rezeption des Werks gleicher‐ massen: Wann wurde das Gedicht verfasst und zu welchem Zweck? Steht der Kommentar bereits von Anfang an bei den Strophen oder wird er erst nachträglich eingefügt? Wird das Gedicht tatsächlich als Geschenk zu den beiden Herrschern nach Norwegen gebracht, und wenn ja in mündlicher oder schriftlicher Form? Wird es am Hof auf Pergament (vor-) ge‐ lesen oder frei vorgetragen? Und schliesslich (mit einer Perspektive auf den Gesamtkon‐ text), ist das Gedicht der Anfangs- oder der Endpunkt der Abfassung der P-E? Diese Fragen prägten und prägen die Forschung zu Ht. 111 In einem ersten Schritt werden das Inhaltsver‐ zeichnis und das Gedicht getrennt betrachtet, anschliessend werden sie in Zusammenhang gestellt. 4.4.1 Das Versverzeichnis: Erinnerungshilfe und Schreibakt Das Versverzeichnis ist eine weitere Besonderheit der P-E-Version in U. Bevor das Gedicht Ht mit einer Rubrik auf Blatt 48v beginnt, wird auf auf dem Blatt davor eine Art Inhalts‐ verzeichnis oder Register der im Folgenden präsentierten Versmasse und Verse aufge‐ listet. 112 Das Verzeichnis ist nur in U überliefert, dort passt es aber bestens zu den weiteren schriftlichkeitsspezifischen Innovationen (Diagramme, andere Verzeichnisse etc.). Pálsson präsentiert das Verzeichnis in der Edition als schön formatierte Liste: Fyrst er dróttkvæðr háttr: Lætr sá er Hákon heitir. Kendr háttr: Fellr um fúra stilli. Rekit: Úlfs bága verr ægis. […] 113 Zuerst ist das Versmass der Hofdichtung: Lætr sá er Hákon heitir. Versmass, das Kenningar nutzt: Fellr um fúra stilli. Ausgeweitet: Úlfs bága verr ægis. […] In der Handschrift selbst entspricht das Verzeichnis nicht heutigen Vorstellungen einer schön untereinander geordneten Liste. Die einzelnen Versmasse werden ähnlich wie Fliess‐ text hintereinander gereiht und sind nur durch teils grössere Leerräume voneinander zu unterscheiden (vgl. Abbildung 11 unten). Das Verzeichnis hat keinen Titel und beginnt ohne Rubrik. Aber der Anfang eines neuen Textes (oder Abschnitts) nach dem 2. GTR ist deutlich hervorgehoben durch eine grössere rote Initiale F, mit der Fyrst (Zuerst) beginnt. Der Ver‐ fasser des Verzeichnisses vollzieht mit dieser Nummerierung bzw. Hervorhebung der ersten Stelle eine Wertung des ersten präsentierten Versmasses, dróttkvæðr háttr (Versmass der Hofdichtung). Die Spitzenstellung des dróttkvæðr háttr ist somit bereits vor dem eigentli‐ chen Gedicht festgesetzt. 165 4.4 Háttatal: Eine neue Form für das skaldische Gedicht Abbildung 12: Versverzeichnis (DG 11 4to, 48r) Ab der sechsten Zeile wird der jeweilige Anfangsbuchstabe der Zeile als eine Art Initiale oder Majuskel betont und mit einem vergrösserten Leerraum vor dem ersten Wort abge‐ trennt. Es scheint, als wäre hier versucht worden, das Verzeichnis leserfreundlicher zu ge‐ stalten. Allerdings gilt das nur für die Anfänge der Versmasse, die am Zeilenbeginn stehen. Wird auf einer Zeile ein weiteres Versmass aufgeführt, so fehlt eine spezielle Markierung 166 4 Welt verfassen - Welt erfassen: Performative Gelehrsamkeit 114 Unten auf Blatt 48r wurde der leere Raum nach dem verschlüsselten Text aufgefüllt, vgl. dazu Kapitel 4.2.3, bes. Fussnote 529. 115 Mårtensson, Lasse: Översikten över Háttatal i DG 11 4to - dess funktion och ursprung. In: Gripla XXI, 2010, S. 105-147, hier S. 105. Mårtensson findet keine vergleichbaren Versverzeichnisse in mit‐ telalterlicher Zeit: „Det finns veterligen ingen ytterligare medeltida diktöversikt av det slag som föreligger i DG 11 från vare sig västeller östnordiskt område. Däremot finns ett exempel på en liknande översikt i en eftermedeltida isländsk handskrift, nämligen i Holm. perg. 8vo nr 4, fol. 11v- 12r. Denna handskrift är en bönebok nedtecknad någon gång under den förra hälften av 1600-talet (Gödel 1897-1900, 109). Utifrån ett kodikologiskt perspektiv är dock denna översikt av begränsat värde som analogi eftersom den är så pass mycket yngre.“ (Es gibt wahrscheinlich keine weitere mittelalterliche Gedichtübersicht wie sie in DG 11 vorliegt, weder im westnoch im ostnordischen Raum. Ein Beispiel für eine ähnliche Übersicht findet sich jedoch in einem spätmittelalterlichen isländischen Manuskript, nämlich in Holm. Perg. 8vo Nr. 4, fol. 11v-12r. Diese Handschrift ist ein Gebetbuch, das irgendwann in der letzten Hälfte des 17. Jahrhunderts niedergeschrieben wurde (Gödel 1897-1900, 109). Aus kodikologischer Sicht ist diese Übersicht jedoch als Analogie von be‐ grenztem Wert, da sie viel jünger ist.) 116 Snorri Sturluson: Edda. Háttatal. Faulkes, Anthony (Hg.), Oxford, 1991, S. xxvf. des Anfangsbuchstabens (und das zweite Versmass wird bloss durch einen grösseren Leer‐ raum zwischen den Wörtern abgetrennt). Diese mediale Gestaltung muss bei der Beant‐ wortung der Frage, was für einen Zweck das Verzeichnis hat, beachtet werden. 114 Das Verzeichnis hat keine bekannten Vorlagen und ist in sich nicht ganz stimmig, wie auch Mårtensson zeigt: „Viss variation finns dock i denna struktur; i några fall saknas namnet, och i vissa fall är strofcitatet kortare än första versraden, och i vissa fall är det längre.“ 115 (Gewisse Variation findet sich jedoch in dieser Struktur; in einigen Fällen fehlt der Name, und in gewissen Fällen ist das Strophenzitat kürzer als die erste Verszeile, und in gewissen Fällen ist es länger.) Aus einer inhaltlichen Sicht ist das Verzeichnis von grossem Wert für unser Verständnis von Ht im Speziellen und der skaldischen Dichtung im Allgemeinen. Die Namen der ver‐ schiedenen Versformen werden im Kommentar zum Gedicht Ht nicht vollständig thema‐ tisiert und sind auch aus anderen Quellen nicht bekannt. So wird das Verzeichnis in U für die heutige Zeit zu einem hilfreichen Text, der zeigt, wie mit skaldischer Terminologie umgegangen worden ist und so einen Blick auf die Entstehungszeit der Terminologie er‐ möglicht. Welche Funktion hat das Verzeichnis der Versmasse in U aber zur Zeit der Ab‐ fassung, aus welchem Grund wurde es in U integriert? Eine Möglichkeit wäre, die Funktion auf der Seite des Rezipienten zu suchen: Ein Skalde kann die Liste als Hilfestellung beim Dichten nutzen. Aus dem gelehrten Kontext der Handschrift U lässt sich aber die wahr‐ scheinlichere These aufstellen, dass es sich beim Rezipienten eher um eine Lehrperson handelt, die in einer Unterrichtssituation auf eine schnelle Übersicht der Versmasse ange‐ wiesen ist oder sich an eine bestimmte Reihenfolge der Versmasse erinnern möchte. Diese Meinung vertritt z. B. Anthony Faulkes, er findet es: […] difficult to see any possible purpose in this arrangement of the text other than as an aidemémoire to someone who knew the text of the poem by heart, but wanted to be reminded of the order of the verses and of the names of the verse-forms. It may have been used either in conjunction with performance, or, perhaps more likely, in conjunction with an oral discussion or lecture on the various metres represented. 116 167 4.4 Háttatal: Eine neue Form für das skaldische Gedicht 117 Sowohl Ht als auch das Verzeichnis der Versmasse beruhen wohl auf unterschiedlichen Vorlagen. 118 In Ht von R sogar 102. Das Verzeichnis hätte so die Funktion eines externen Gedächtnisses bzw. einer Erinne‐ rungshilfe, die metrisches Wissen schnell verfügbar macht. Doch das oben gezeigte Layout der Liste könnte ein Hinweis darauf sein, dass eine derartige rezeptionsorientierte Funktion nicht zentral ist oder zumindest nicht die einzig angestrebte Funktion darstellt. Verändert man die Perspektive vom Rezipenten auf den Produzenten bzw. Verfasser des Verzeichnisses, ergeben sich neue Funktionsmöglichkeiten und das Layout lässt sich besser einordnen. Liest man das Verzeichnis der Versformen im Kontext von Ht, so zeigt sich in den beiden Texten ein jeweils anderer Stand der Entwicklung auf metatextueller Ebene: Während das Gedicht selbst implizit und ausschliesslich im unkommentierten Wechsel der verschiedenen Versarten dichterisches Wissen ausstellt, fügt der Prosakommentar dem Gedicht theoretisches Wissen dazu oder formuliert dieses sogar erstmals explizit. Das Ver‐ zeichnis der Versmasse geht noch einen Schritt weiter und versucht für die expliziten De‐ finitionen und qualitativen Wertungen adäquate Namen zu finden: Denn erst mit dem Schritt der Benennung ist ein Wissensgebiet gänzlich durchdrungen. Auf der Pergament‐ seite ist es möglich, vom Einfachen zum Abstrakten zu wechseln bzw. ausgehend von einem Strophenbeispiel zu einer theoretischen Fassung und Kategorisierung zu gelangen. Man könnte sich einen Verfasser vorstellen, der während der Abschrift von Ht die einzelnen Versmasse sammelt und auf einer separaten Seite zusammenstellt. 117 Ist diese Annahme stimmig, würde das bedeuten, dass zumindest das Verzeichnis erst in einem nachträglichen Schritt des Denkprozesses an das Gedicht angefügt worden ist. Ob sich dasselbe auch für den Kommentar aussagen lässt, ist schwieriger zu entscheiden und wird weiter unten diskutiert. Es ist aber deutlich, dass sich dem Verfasser bei der Produktion des Lehr-Preis-Gedichts neue Fragen stellen, die aber nicht in der Form eines klassischen skaldischen Gedichts behandelt werden können. Werden die Strophenbeispiele theoretisch beschrieben und bewertet, so kann man diese neu entstandenen Wissensbestände am besten strukturieren, wenn man sie mit einem Namen bezeichnet. Dieser Schritt wird mit dem Verzeichnis für die einheimischen Versmasse vollzogen. Dem Schreiber kann der „Schreib- Akt“ auch als „Erinnerungsakt“ dienen, das eigenhändig Geschriebene prägt sich besser in das Gedächtnis ein. Die Schriftlichkeit schafft die Voraussetzung für neue Denkformen, die sich medial unterschiedlich gestalten lassen. Das schriftlich organisierte Verzeichnis weist somit in beide angedachten Richtungen, es ist sowohl rezipientenwie auch produzenten‐ orientiert. Ein individueller Schreib-Erinnerungsakt wird in einem zweiten Schritt durch die Fixierung auf dem Pergament und dank der performativen Wirkung des Gesamtwerks zu festem Wissen, das durch das Medium der Handschrift U in das kollektive kulturelle Gedächtnis eingeht. Ein Problem des Verzeichnisses stellt seine vermeintliche Unvollständigkeit dar. Es listet nur 36 Versmasse auf, obwohl in Ht in U 56 verschiedene Versmasse präsentiert werden. 118 Auf Blatt 48r wäre durchaus mehr Platz frei gewesen und vielleicht sollten in einem späteren Schritt auch noch weitere Versmasse aufgeführt werden. Eine konträre Forschungsthese besagt, dass das Verzeichnis der erste Schritt in der Produktion von Ht gewesen sei und der Verfasser zuerst gar nicht die Absicht hatte, ein ganzes Lehrgedicht mit Kommentar zu 168 4 Welt verfassen - Welt erfassen: Performative Gelehrsamkeit 119 Vgl. Mårtensson: Översikten över Háttatal, S. 107. 120 Uppsala Edda, Introduction: S. lxxxvi. 121 Skaldische Dichtung kann neben der Lobdichtung auch andere Funktionen haben, wie z.B. Quinn schreibt: „While the literate tradition was championing lofkvæði and the composition of poetry to please an aristocratic social order, the oral tradition continued to celebrate its age-old practice of defamation of character.“ Vgl. Quinn: Eddu list, S. 81. 122 Zur Skaldik allgemein vgl. Kapitel 1.1. 123 Vgl. Wanner: Snorri Sturluson and the Edda, S. 94-119. verfassen. Während der Arbeit am Verzeichnis sei dann das Bedürfnis aufgekommen, sich ausführlicher mit dem Thema zu beschäftigen, woraus schliesslich Ht entstanden sei. 119 Nach Pálsson lassen sich die fehlenden Versmassen im Verzeichnis möglicherweise auch aus handschriftenkundlicher Sicht erklären: The list of stanzas, as has been said, seems to come from a different source, or at least a different manuscript, from the text of Háttatal in DG 11 4to. The explanation of why the first lines of only thirty-five stanzas were included in the list, could of course be that originally these were written on a verso page and the continuation was later lost, but it is also conceivable that no more were written because, for example, the user (the teacher or the student) did not think that he needed to know any more. About that we obviously cannot know anything further. 120 Sowohl das Argument der verso-Seite wie auch dasjenige, dass der Verfasser bewusst nicht weitergeschrieben hat (aus welchem Grund auch immer) leuchten mehr ein als die These, das Verzeichnis sei als Ausgangspunkt der Entstehungsgeschichte von Ht anzusehen. Denn die komplexe Verschränkung der verschiedenen textuellen Einheiten (Verzeichnis, Kom‐ mentar, Gedicht) zeigen, dass hier nicht Wissen aufgelistet wird, das bereits gut bekannt und in einem gelehrten Diskurs verankert ist, sondern dass hier jemand neues Wissen generieren und als relevant festsetzen möchte. Das zeigen auch die Klagen der Forschung, die sich über die inkonsistenten und wenig aussagekräftigen Definitionen beschweren. Die Herkunft der Bezeichnungen wird im folgenden Abschnitt im Zusammenhang mit Ht dis‐ kutiert. Das Verzeichnis stellt gemeinsam mit Ht neues Wissen her und verkauft es über performative Verfahren wie die Rahmung oder Wiederholung als bedeutungsvoll und damit wert, weiter tradiert zu werden. 4.4.2 Háttatal: Ein didaktisches Lobgedicht Ein skaldisches Lobgedicht kann als performativer Sprechakt bestimmt werden: Der Skalde will mit seinem Werk etwas erreichen. Ist es ein Preisgedicht und lobt beispielsweise den Kampfmut und die Grosszügigkeit eines Herrschers, so wird es wie ein materielles Geschenk übergeben. 121 Im Vortrag des Gedichts wird ein illokutionärer Akt vollzogen und der Skalde erwartet ein Gegengeschenk bzw. Lohn für seine Gabe. Das können materielle Werte, aber auch Titel oder Ämter am Hof sein. Bei der illokutionären Dimension des Gedichts handelt es sich gleichzeitig um eine Bitte um Lohn an den Herrscher wie auch um die Überredung des Publi‐ kums, an die im Gedicht genannten grossen Taten und Eigenschaften des Herrschers zu glauben. 122 Auch Ht stellt einen derartigen performativen Sprechakt dar, es ist eine Preisdich‐ tung auf den norwegischen König Hákon Hákonarson und den Jarl Skúli. 123 169 4.4 Háttatal: Eine neue Form für das skaldische Gedicht 124 Uppsala Edda, S. 262. Die Anfangsrubrik des Prologs bezeichnet Snorri Sturluson ebenfalls als Dichter von Ht, die anderen Texte habe er „zusammengestellt“, vgl. Kapitel 3.2.3. 125 Snorri Sturluson: Edda. Háttatal, S. ix. 126 Für eine Forschungsübersicht vgl. Faulkes, Einleitung in: Snorri Sturluson: Edda. Háttatal, S. ix-xxvii, bes. S. xxiif. 127 Wanner, Kevin J.: Háttatal and the Divine Legitimation of Kings. In: Chase, Martin (Hg.): Eddic, Skaldic, and Beyond. Poetic Variety in Medieval Iceland and Norway. New York 2014, S. 75-87, hier S. 79. 128 Fidjestøl, Bjarne: Det norrøne fyrstediktet. Øvre Ervik 1982, S. 255. Das Gedicht Ht ist der einzige Text in U, der namentlich einem Verfasser zugeordnet ist: Sowohl die Anfangsrubrik im Prolog nennt Snorri Sturluson als Dichter, als auch die Rubrik zu Beginn von Ht selbst: „Háttatal, er Snorri Sturluson orti um Hákon konung ok Skúla her‐ tuga.“ 124 (Háttatal, das Snorri Sturluson über König Hákon und Jarl Skúli dichtete). Die allgemeine Forschungsmeinung ist, dass Snorri nach seiner ersten Reise nach Norwegen (1218-20) Ht als Geschenk verfasst und dem König und Jarl zukommen lässt. 125 Wie bereits erwähnt, ist jedoch umstritten, wie man sich diese Übergabe vorzustellen hat: Wird das Gedicht in schriftlicher oder mündlicher Form überbracht? Wird es (vor-) gelesen oder vorgetragen? Daraus ergeben sich weitere wichtige Fragen: Wie wird das Gedicht am Hof aufgenommen, ist der performative Sprechakt mit der Bitte um Ruhm und Lohn geglückt? Nicht viele Forscher würden diese Frage bejahen. Snorris Lobgedicht wird v. a. in älterer Forschung als zu technisch eingeschätzt, die innovative skaldische Ästhetik fehle dem Werk. Es sei zwar formal herausragend, aber in den dichterischen Umschreibungen nicht wirklich originell. 126 Kevin J. Wanner und andere entgegnen berechtigterweise, dass Ori‐ ginalität nicht der Zweck von mittelalterlicher skaldischer Lobdichtung gewesen sei: „Ra‐ ther, this discourse’s goal is to attest - in ways that others will be persuaded by or at least assent to - that its subjects are exemplary, in the literal sense of instantiating a type: in the present case, that of the praiseworthy ruler.“ 127 Ein skaldisches Lobgedicht hebt den zu lobenden Herrscher nicht auf originelle Art und Weise hervor, sondern stellt ihn stereoty‐ pisch als Höchsten unter Hohen dar. Dazu ist das angemessene Vorgehen die präzise tech‐ nische Umsetzung. Die folgende Lektüre interessiert sich dafür, was das Gedicht zusammen mit dem Prosa‐ kommentar über sich selbst und über die skaldische Dichtung aussagt. Das aus anderen Quellen unbekannte Zusammenspiel von skaldischem Gedicht und Kommentar zeigt, dass es in Ht nicht mehr im Kern darum geht, ein skaldisches Preisgedicht im Stil der Wikin‐ gerzeit zu verfassen. Der Verfasser des Textes bzw. der Schreiber der Handschrift hat er‐ kannt, dass ein Skalde am Hof des norwegischen Königs nicht mehr dieselbe Stellung ein‐ nimmt wie im 10. Jahrhundert. Ein Herrscher im 13. Jahrhundert hat andere (mediale) Möglichkeiten, seine Grösse für immer in Erinnerung halten zu lassen. Bjarne Fidjestøl schliesst seine Analyse von Ht mit den Worten: Ein moderne fyrste som Håkon Håkonarsson med sin europeiske kulturpolitikk hadde ikkje lenger bruk for skaldens hylling qua skald, og fyrstediktet tenderer konsequent nok mot å ringe seg om seg sjølv og bli tømt for innhald ok funksjon, bli til ei metadikting som er i ferd med å bli rein form. Det synte seg då òg til slutt at diktet hadde mista si kraft, og Snorre makta ikkje å løyse hovudet sitt med versekunster, slik hans store ættefar hadde gjort. 128 170 4 Welt verfassen - Welt erfassen: Performative Gelehrsamkeit 129 Karl G. Johansson zieht einen hilfreichen Vergleich zwischen traditioneller Skaldik und dem Skaldik- Diskurs, der sich aus dem neuen Interesse an Poetik speist. Dabei diskutiert er auch, inwiefern es nützlich sein könnte, den Sprechaktbegriff für die Lektüre mittelalterlicher Texte zu verwenden, vgl. Johansson, Karl G.: 1300-talets lärda kultur. Poetik och praxis från Lilja till Háttalykill Lopts Gut‐ tormssonar. In: Jørgensen, Jon Gunnar (Hg.): Snorres Edda i europeisk og islands kultur. Reykholt 2009, S. 11-47. 130 Mårtensson: Översikten över Háttatal, S. 105. 131 Uppsala Edda, Introduction: S. lxxxvii. Ein moderner Fürst wie Håkon Håkonarsson mit seiner europäischen Kulturpolitik hatte nicht länger Verwendung für skaldische Verehrung, und das Fürstengedicht tendiert konsequent genug in die Richtung, sich um sich selbst zu drehen und wird leer in Bezug auf Inhalt und Funktion, es wird ein Metagedicht, das auf dem Weg ist zur reinen Form zu werden. Das zeigte sich da und am Schluss hatte das Gedicht seine Kraft verloren, und Snorri konnte seinen Kopf nicht lösen mit der Verskunst, so wie seine grossen Vorfahren es gemacht hatten. Ht und die dadurch propagierte skaldische Dichtung erfüllen nicht mehr die Funktion des Erinnerungsmediums, sondern wandeln sich in ein Medium der Gelehrsamkeit, das nicht aus der lateinischen Schriftlichkeit stammt, in dieser Kultur aber einen berechtigten Platz einnehmen kann. Das skaldische Gedicht Ht leitet seine Bedeutung aus der Vergangenheit ab, es zeigt aber auch das Bewusstsein, dass es einen neuen Geltungsrahmen und neue Vermittlungsformen benötigt, um relevant zu bleiben: Man trägt es nicht mehr mündlich am Hof vor, sondern es gehört in schriftlicher Form in ein gelehrtes Werk integriert. Ht in U ist eine Momentaufnahme des Wandels von wikingerzeitlicher Skaldik in mittelalterliche Skaldik. Es ist zu gleichen Teilen ein Lobgedicht auf die beiden norwegischen Herrscher und auf die Skaldik bzw. die Lobdichtung selbst. 129 4.4.2.1 Das skaldische Gedicht In U hat Ht 56 Strophen, in der als vollständig betrachteten Version von R sind es 102 Strophen. Es sieht allerdings nicht so aus, als ob die in RTW enthaltenen Strophen in U verloren gegangen wären. Lasse Mårtensson sagt: Háttatal, som i DG 11 endast består av 56 strofer […], inleds längst upp på fol. 48v, och fortsätter sedan till rad 10 på fol. 56r. Därefter är texten slut i denna handskrift, och den avslutas med ett skiljetecken som i denna handskrift ofta används för att avsluta större avsnitt […]. 130 Háttatal, das in DG 11 lediglich aus 56 Strophen besteht […], beginnt ganz oben auf fol. 48v, und wird dann bis Zeile 10 auf fol. 56r fortgesetzt. Danach endet der Text in dieser Handschrift und wird abgeschlossen mit einem Satzzeichen, das in dieser Handschrift häufig verwendet wird, um einen grösseren Abschnitt abzuschliessen. Auch Pálsson sieht ein bewusst gesetztes Ende: „[…] because the writing stops in the middle of a recto page and the scribe had chosen a gathering of six leaves as the final one in the book. In other words, he had never intended to write any more of the poem.“ 131 Pálsson fügt als mögliche Gründe für die geringere Strophenanzahl in U an, dass entweder die Vorlage, die dem Schreiber zur Verfügung stand, ebenfalls nur 56 Strophen aufwies, oder dass der Verfasser es in Bezug auf die Versmasse sinnvoll fand, an dieser Stelle aufzuhören: In R wird 171 4.4 Háttatal: Eine neue Form für das skaldische Gedicht 132 Snorri Sturluson: Edda. Háttatal, S. 29. In U werden die Strophen auch nicht explizit in drei kvæði eingeteilt. 133 Quinn: Eddu list, S. 76. 134 Uppsala Edda, Introduction: S. lxxxviii-xci. Die Fehler sind auch in den Fussnoten des Editionstextes, ab S. 262 aufgeführt. 135 Snorri Sturluson: Edda. Háttatal, S. ix. 136 Zur Beziehung zwischen Snorri und den Herrschern vgl. Uppsala Edda, Introduction: S. lxxxviif. 137 Ob das eine bewusste Ausbalancierung der Machtverhältnisse darstellt, bzw. ob in R das Verhältnis absichtlich nicht angemessen präsentiert wird, lässt sich schwer sagen. Wanner sieht auch in R den König höhergestellt als Skúli. Mit einer christlichen Perspektive basierend auf dem Begriff der Got‐ tesgnade, versucht er zu zeigen, wie dem König ein hoher Grad an Bedeutung und vor allem Legi‐ timation zugesprochen wird. Vgl. Wanner: Háttatal, Stanza 12, S. 75-87. 138 So werden auch Bezüge zum Dichtermetmythos hergestellt, vgl. z. B. Strophe 31; Krömmelbein: Snorri als Skalde, S. 308f. vor Strophe 68 eine Wertung der Versmasse vorgenommen und gesagt, dass nun die klei‐ neren Formen vorgestellt würden: „Nú skal upp hefja it þriðja kvæði þat er ort er eptir inum smærum háttum, ok eru þeir hættir þó margir áðr í lofkvæðum.“ 132 (Nun soll das dritte Gedicht beginnen, das in kleineren/ unbedeutenderen Versmassen gedichtet ist, obwohl diese Vers‐ masse häufig in früherer Lobdichtung vorkommen.) Für U kann eine solche Unterscheidung von „wichtigeren“ und „kleineren“ Versmassen ein Grund gewesen sein, letztere wegzu‐ lassen. Nur dróttkvætt (Hofton), das wichtigste Versmass bzw. dasjenige, das im Text als wichtigstes Versmass dargestellt wird, bekommt Platz in U. 133 Diejenigen Strophen, die in beiden Versionen überliefert sind, weisen teils grosse Un‐ terschiede auf. U zeigt zudem viele Fehler in den Strophen und der Terminologie. 134 Aus der unterschiedlichen Strophenanzahl in R und U ergibt sich auch eine inhaltliche Differenz. Für die Ht-Version in R ist allgemein anerkannt, dass das Gedicht mehr Strophen für Jarl Skúli aufweist, wodurch er höher gepriesen werde als König Hákon. Faulkes fasst die 102 Strophen wie folgt zusammen: „The first section, stt. 1-30, is about Hákon, the second, stt. 31-67, is about Skúli, except for st. 67, which is about both rulers; in the third, stt. 68-95 are also mainly about Skúli, stt. 96-102 again seem to relate to both rulers.“ 135 Das potenziell gefährliche Ungleichgewicht zwischen dem Lob für den König und demjenigen für den Jarl wird damit erklärt, dass der Altersunterschied zum jugendlichen König Hákon zu gross war und Snorri Sturluson sich mit Skúli besser verstand. Die dichterische Bevor‐ zugung wird schliesslich meist als Vorausblick auf die historischen Vorgänge rund um den Tod von Snorri Sturluson gelesen. 136 Eine derartige Problematik stellt sich in U nicht. Mit nur 56 Strophen ist das Verhältnis der Strophen in Bezug auf die beiden Herrscher ziemlich ausgeglichen: Nach anfänglichen 30 Strophen für den König folgen 26 für den Jarl. 137 Mit Fidjestøl wurde oben bemerkt, dass Ht fast nur noch Form sei und keinen typisch skal‐ dischen Inhalt mehr aufweise. Ganz inhaltsleer ist das Gedicht aber nicht: Beide Herrscher werden als grosse und weise Anführer und Kriegsleute beschrieben, ihre Grosszügigkeit gelobt und ihnen ewige, glückliche Herrschaft gewünscht. In U fehlen einige interessante Strophen, die als eine poetologische Reflexion auf die Skaldik selbst verstanden werden können. In R wird mit diesen Strophen die Stimme des Skalden stärker sichtbzw. hörbar, die nicht nur über den grossen Herrscher, sondern auch über sich selber und das Potenzial seines Gedichts spricht. 138 So heisst es: 172 4 Welt verfassen - Welt erfassen: Performative Gelehrsamkeit 139 Snorri Sturluson: Edda. Háttatal, S. 39. 140 Snorri Sturluson: Edda, S. 220. 141 Snorri Sturluson: Edda. Háttatal, S. 39. 142 Snorri Sturluson: Edda, S. 220. 143 Krömmelbein: Snorri als Skalde, S. 299. 144 Krömmelbein: Snorri als Skalde, S. 313. Gløggva grein hefi ek gert til bragar, svá er tírœtt hundrað talit; hróðrs ørv‹er›ðr skala maðr heitinn vera ef sá fær alla háttu ort. 139 Close account have I given of poetic form so that ten tens are told. A man must not be called unworthy of renown if he is able to compose in all verse-forms. 140 Der Skalde preist am Ende seines Werks die eigene dichterische Fähigkeit und bezieht sich dabei - passend für die Versmasslehre - auf das Vermögen, möglichst viele Versmasse be‐ nützen zu können. Abschliessend äussert er sich nochmals zu den zu preisenden Herr‐ schern, stärkt deren Bedeutung aber durch das Lob auf sein Gedicht, das bis in die Ewigkeit erhalten bleibt: Njóti aldrs ok auðsala konungr ok jarl. Þat er kvæðis lok. Falli fyrr fold í ægi steini studd en stillis lof. 141 May king and earl enjoy age and halls of wealth. This is the end of the poem. May earth, stonesupported, first sink into the sea before the ruler’s praise [cease]. 142 Die selbstbewusste Sprache der Skaldik überträgt sich auch auf den gelehrten Kontext des Gedichts. Auch in anderer skaldischer Dichtung ist Eigenlob in Bezug auf die dichterischen Fähigkeiten ein gängiges Mittel, um das Werk zu erhöhen. Doch in Ht weitet sich diese Dimension im Zusammenspiel mit dem gelehrten Kommentar aus: Das semantische Be‐ zugsfeld der Skaldik verschiebt sich vom Herrscher zum Dichter, wobei das Herrscherlob immer noch Thema ist, allerdings nur noch als „leere Form“, die mit dichtungstheoretischem Wissen gefüllt und dadurch aktualisiert werden kann. Thomas Krömmelbein untersucht Ht als eigenständiges Gedicht und arbeitet weitere Stellen heraus, die auch mit dem performativen Verfahren der Wiederholung beschrieben werden können. Einerseits werden in kenningar viele Anspielungen auf mythologische Inhalte ge‐ macht (was ein gängiges Verfahren in der skaldischen Dichtung ist). Mit Hilfe solcher Um‐ schreibungen wird z. B. für Jarl Skúli eine Abstammung aus mythologischer Vorzeit sowie aus dem grössten dänischen Heldengeschlecht entworfen. 143 Dieser Ansippungsgedanke hat legitimatorische Funktion und findet sich in zahlreichen skaldischen Lobgedichten. Auch die kenningar selber werden in Ht neu gedacht: In einigen Fällen übernimmt er [Snorri] überlieferte, als klassisch empfundene Kenningausdrücke, d. h. er zitiert sie in mittelalterlicher Zitierweise und verfertigt so etwas wie eine ‚Kenningcollage‘, indem er eine ‚neue‘ Kenning schafft, die aus Umschreibungen verschiedener Vorgänger zusam‐ mengesetzt ist […]. 144 173 4.4 Háttatal: Eine neue Form für das skaldische Gedicht 145 Zum Begriff des Mythos vgl. Kapitel 3.3.3.4. 146 Vgl. Uppsala Edda, zitiert werden z. B. eine Strophe von Refr, S. 272, sowie eine von König Ragnarr loðbrók, S. 304. 147 Beide sind auch in Gylf zentrale Anknüpfungspunkte, vgl. Kapitel 3.3.2.2. 148 Snorri Sturluson: Edda. Háttatal, S. 39. 149 Snorri Sturluson: Edda, S. 220. 150 Krömmelbein: Snorri als Skalde, S. 306. 151 Snorri Sturluson: Edda. Háttatal, S. 116. 152 Vgl. Kapitel 3.4.1.3 Zusätzlich zu der „Arbeit am Mythos“ 145 in Bezug auf die kenningar werden in Ht, wie auch in Gylf und Skpm, intertextuelle Verbindungen zu eddischen Liedern und anderen skaldischen Gedichten 146 hergestellt. Es sind wiederum die eddischen Lieder Hávamál und Vǫluspá auf die am häufigsten angespielt wird. 147 Zitate auf beide Lieder kann man z. B. in der oben erwähnten letzten Strophe erkennen: Njóti aldrs ok auðsala konungr ok jarl. Þat er kvæðis lok. Falli fyrr fold í ægi steini studd en stillis lof. 148 May king and earl enjoy age and halls of wealth. This is the end of the poem. May earth, stonesupportet, first sink into the sea before the ruler’s praise [cease]. 149 Aufforderungen etwas zu nutzen mit dem Begriff „njóti“, sind in Hávamál zentral. In der letzten Strophe von Ht bezieht sich die Aufforderung umfassender auf das Leben der beiden Herrscher, wohingegen es sich in Hávamál um alltäglichere Verhaltensregeln handelt. Krömmelbein verbindet den letzten Abschnitt der Strophe mit Vǫluspá: „Der 2. Helming dieser Strophe spielt auf das Endzeitgeschehen nach Vsp. an, hier, wenn ich recht sehe, in direktem Verweis auf Str. 57 mit der Schilderung des Weltendes (Ragnarök) unmittelbar vor Auftauchen der neuen Welt Gimle […].“ 150 Krömmelbein sieht in den Kenning-Collagen und den Anspielungen auf die Lieder-Edda Snorris literarisches Interesse. Dass sich im Verfahren des Zitierens alleine literarisches Interesse zeigt, wird durch die vorangegangenen Lektüren widerlegt: Die aktualisierende Wiederholung ist ein performativer Akt, in dem Bedeutung aus der Vergangenheit als Le‐ gitimation einer bestimmten Neuerung gestiftet werden soll. Da Ht in U nur bis Strophe 56 geht, fehlen einige der oben thematisierten Stellen. In der Tendenz stimmen die beiden Versionen jedoch überein. Aber auch die Lektüre der Strophen in der Version von U bietet interessante Einblicke. Das Gedicht ist einer der wenigen Texte in U, der auf historische Ereignisse verweist: Aus der Ansprache von Jarl Skuli mit dem Titel hertogi ( Jarl) und der Nennung seiner letzten Schlacht kann man eine ungefähre Ver‐ fasserzeit des Gedichts errechnen. hertogi ist zuerst nur eine Bezeichnung für einen Heer- oder Kriegsführer, später wird es zum Titel. Skúli wird im Jahr 1237 zum Jarl ernannt, also erst viel später nach der angenommenen Abfassung von Ht. Faulkes begründet die zeitliche Diskrepanz damit, dass die Rubrik in U, die Skúli als Jarl benennt, erst später eingefügt worden ist. 151 Solche impliziten Verweise in die reale Welt ergeben sich in U ansonsten nur aus den drei Listen vor Skpm. In der Liste der Gesetzessprecher wird nur das Anfangsdatum von Snorris zweiter Amtszeit aufgeführt, was als Hinweis auf die Niederschrift der Liste verstanden werden kann. 152 174 4 Welt verfassen - Welt erfassen: Performative Gelehrsamkeit 153 Uppsala Edda, Introduction: S. lxxxviiif. 154 Uppsala Edda, Introduction: S. lxxxix. 155 Uppsala Edda, Introduction: S. xc. 156 Uppsala Edda, Introduction: S. xci. 157 Eine Übersicht bietet z. B. Marold: Zur Poetik von Háttatal und Skáldskaparmál, S. 103-24. 158 Tranter, Stephen: Das Háttatal von Snorri Sturluson, mündlich trotz Schriftlichkeit? In: Wolf, Alois (Hg.): Snorri Sturluson. Kolloquium anlässlich der 750. Wiederkehr seines Todestages. Tübingen 1993 (= ScriptOralia 51), S. 179-193, hier S. 179f. Ht ist aber nicht als alleinstehendes Gedicht überliefert. In allen erhaltenen Versionen wird es von einem Prosakommentar ergänzt und gerahmt. Deshalb lässt sich diskutieren, ob das Gedicht überhaupt ohne diesen Kommentar geplant und präsentiert worden ist. Da die beiden Textsorten in der Version in U eindeutig zusammengehörig und auch von derselben Hand verfasst sind, ist die Einzelbetrachtung etwas problematisch. Sie hilft aber eine ver‐ gleichende bzw. ganzheitliche Lektüre vorzubereiten. 4.4.2.2 Der Prosa-Kommentar Alle erhaltenen Ht-Versionen weisen einen Kommentar auf, der formale und stilistische Besonderheiten in den Gedichtstrophen diskutiert. Jede Kommentarversion weicht in un‐ terschiedlichem Masse von den Aussagen des Gedichts ab. Für R sind es mindestens zehn Stellen, sieben davon sind auch in U zu finden. 153 Meist handelt es sich um Unstimmigkeiten in der Prosabeschreibung des Verses. Pálsson bestimmt diesen Fall als „[…] a good example of the commentator struggling to describe a phenomenon for which the language of his time did not have the necessary resources.“ 154 Vergleicht man die sprachtheoretischen Dis‐ kussionen von Ht und Skpm, so zeigen sich ebenfalls begriffliche Unterschiede, die in den verschiedenen Versionen unterschiedlich stark ausgeprägt sind. Das kann der langen Ver‐ fassungszeit des Gesamtwerks geschuldet sein, denn nach langjähriger Schreibpause haben sich Konzepte verständlicherweise weiterentwickelt. Pálsson weist darauf hin, dass es trotz des grossen Interesses an grammatica und Rhetorik im mittelalterlichen Island keine ein‐ heitliche Terminologie dazu gegeben hat, sondern die Begriffe arbiträr benutzt worden sind. 155 Es könnte aber auch bedeuteten, dass der Kommentar von einem anderen Verfasser als demjenigen des Gedichts stammt. Die These, dass nicht Snorri Sturluson den Kom‐ mentar geschrieben hat, wird diskutiert. 156 Für diese Arbeit ist sie jedoch nicht zentral, da die beiden Texte in U klar gemeinsam konzipiert worden sind. Die Zusammengehörigkeit des Gedichts und des Kommentars zeigt sich im Seitenlayout und der Integration der skal‐ dischen Strophen in den Prosatext. Wie in Skpm werden Strophen direkt im Fliesstext der Prosa integriert, sie sind nicht sichtbar davon abgesetzt. Ht beginnt mit dem Kommentar, erst nach ca. einer halben Seite Prosatext wird die erste Strophe eingefügt. Zu Beginn wird im Stil eines gelehrten Dialogs über die verschiedenen Möglichkeiten und Bedingungen der Versmasse informiert. Für eine Übersicht über die verschiedenen metrischen Definitionen in Ht ist hier nicht der richtige Ort. 157 Im Fokus stehen die verschiedenen Verfahren, die zu den Definitionen führen und sie als bedeutungsvoll inszenieren. Ht ist nicht wie z. B. Háttalykill eine reine Aufzäh‐ lung verschiedener Versformen, sondern eine ars metrica, die die aufgezählten Versmasse bewertet, kategorisiert und durch Benennung definiert. 158 Um möglichst alle Phänomene 175 4.4 Háttatal: Eine neue Form für das skaldische Gedicht 159 Tranter: Háttatal, S. 181. Tranter bestimmt dazu diejenigen Bezeichnungen, die sich auf akustisch wahrnehmbare Phänomene beziehen als mündliche und solche ohne diesen Bezug, dafür mit einem hohen Grad an Abstraktion, als schriftlich. 160 Quinn: Eddu list, S. 87. 161 Uppsala Edda, S. 262. und Dimensionen des zu Beschreibenden zu erfassen, werden verschiedene Kategorien und Unterkategorien aufgestellt. Die gelehrten Bezeichnungen in Ht beruhen auf einem Balanceakt zwischen Innovation und Tradition, was sich in den teilweise inkonsistenten Definitionen zeigt, wie oben bereits in Bezug auf das Inhaltsverzeichnis festgestellt worden ist. Tranter sagt über diesen Prozess des Ausbalancierens: Um ein System der Kategorisierung überhaupt erstellen und anwenden zu können, ist es zuerst notwendig, ein schlüssiges, in sich konsistentes Bezeichnungssystem zu entwickeln. Dies ge‐ schieht am leichtesten, wenn die analysierte Metrik bislang ohne bewusste Kategorisierung auskam. So war zum Beispiel Sievers in der glücklichen Lage, dass für die germanische Langzeile kein Bezeichnungssystem vorhanden war […]. Im Isländischen war dies jedoch keineswegs der Fall. Im Háttatal sehen wir also einen ständigen Dialog zwischen Snorris Vorstellungen der schrift‐ basierten Kategorisierung und einer schon vorhandenen mündlichen Benennungstradition. 159 Aus heutiger Sicht ist es interessant zu sehen, wie in Ht (und den anderen Texten der P-E) die richtige Einordnung der neuen Wissensbestände diskutiert und in Frage gestellt worden ist. Uns liegt nicht das Endprodukt eines Diskurses vor, sondern eine Zwischenstufe, die Einblick in die Reflexion sprachtheoretischer Fragen ermöglicht. In der von Text zu Text bzw. von Handschrift zu Handschrift unterschiedlichen Terminologie zeigt sich der lange Denkprozess, den der gelehrte dichterische Diskurs durchläuft. Die Überlieferungssituation der P-E-Handschriften macht deutlich, dass bis ins nächste Jahrhundert weiter an der rich‐ tigen Benennung einzelner Versmasse o. ä. gearbeitet wurde: The Codex Regius of Snorra Edda preserves a text of Háttatal written around the middle of the first half of the fourteenth century. A second, apparently contemporary hand […] has added the fol‐ lowing technical terms: „mala háttr“ (st. 95), „stakarþar lag“ (st. 98 — the prose text has „stikkalag“), and „galldra lag“ (st. 101). The Utrecht manuscript dubs the verseform of stanza 54 (which in the prose is ascribed to the poet king Ragnarr lóðbrok) „Ragnarsháttr“ and that of stanza 11 „fjórðun‐ galok.“ The latter name is also preserved in the Uppsala manuscript of Snorra Edda but not within the text of Háttatal itself. 160 Im jeweiligen Text sollen die neuen Definitionen als relevant und sinnvoll dargestellt werden, doch in U ist es gerade die Verwendung verschiedenster Verfahren der Sinnstiftung, die sichtbar machen, wie unfest die Definitionen noch sind. Gleich zu Beginn von Ht zeigen sich auch intertextuell Verbindungen zu den Ausführungen des 2. GTR: Wie der Traktat beschäftigt sich natürlich auch die Verslehre Ht mit Silbe und Reim: „Stafasettning gerir mál allt. En hljóð greinir þat at hafa samstǫfur langar eða skammar, harðar eða linar, ok þat er setning hljóðsgreina er vér kǫllum hendingar.“ 161 (Die Schreibweise macht alle Sprache. Und ein Laut unterscheidet sich durch lange oder kurze Silben, durch 176 4 Welt verfassen - Welt erfassen: Performative Gelehrsamkeit 162 Uppsala Edda, S. 262. 163 Uppsala Edda, S. 262. Diese und weitere Rubriken werden mit römischen Zahlen (hier i) nummeriert. 164 Uppsala Edda, S. 262. 165 Uppsala Edda, S. 262. Entsprechend dem Fliesstext in der Handschrift wird auch hier darauf ver‐ zichtet, die Verse in Strophenform anzugeben. 166 Uppsala Edda, S. 263. 167 Uppsala Edda, S. 262f. harte oder weiche, und das ist die Beschaffenheit der lautlichen Unterscheidung, die wir Reim nennen.) Die Vertiefung dieser Aussage könnte mit ein Grund sein, weshalb der 2. GTR Ht vorangestellt worden ist. Die darauffolgende erste Strophe des Gedichts wird wie bereits in den vorangehenden Texten durch die Formel „Sem er hér kveðit“ 162 (So wie hier gedichtet ist) eingeleitet. Eine zusätzliche Hervorhebung im Fliesstext erfährt die Strophe durch die Rubrik „Dróttkvæðr háttr i“ 163 (Versmass der Hofdichtung i). Wie wichtig der Text dieses Versmass erachtet, macht nicht nur dessen Positionierung an erster Stelle des Gedichts deutlich. Am Ende der Ausführungen zur ersten Strophe ist zudem eine deutliche Wertung angefügt: „Þessi er dróttkvæðr háttr. Með þessum hætti er flest ort þat er vandat er. Þessi er upphaf allra hátta svá sem málrúnar eru fyrir ǫðrum rúnum.“ 164 (Dies ist das Versmass der Hofdichtung. Mit diesem Versmass wird meist gedichtet, was vorzüglich ist. Es ist der Ursprung aller Vers‐ masse, so wie die Sprachrunen vor allen anderen Runen sind.) Die formalen Eigenheiten von dróttkvæðr háttr werden davor ausführlich besprochen, wobei sich der Text die medialen Gestaltungsmöglichkeiten der Handschrift zunutze macht. In einem ersten Schritt wird die ganze Strophe angeführt: Lætr sá er Hákon heitir, hann rǿkir lið, bannat jǫrð kann frelsa, fyrðum, friðrofs, konungr, ofsa. Sjálfr ræðr allt ok Elfar, einn stillir sá milli gramr of gipt at fremri Gandvíkr jǫfurr landi. 165 He that is called Hákon causes peace-breaking arrogance to be banned to men; he takes care of troops; the king knows how to free the land. Himself, this ruler alone controls the land and all the way between Gandvík and the Elfr, the sovereign, the prince so much the greater in good for‐ tune. 166 König Hákon wird seinem Rang entsprechend als erster gepriesen. Mit einem etwas grös‐ seren Leerraum als im Fliesstext normal ist, folgt auf die Strophe der zugehörige Prosa‐ kommentar. Nach einer allgemeineren Erklärung zu den verschiedenen Stäben und Silben der Strophe werden bestimmte Einzelheiten besonders hervorgehoben. Anstatt nun z. B. die Verszeilen durchzunummerieren, um so auf Beispiele verweisen zu können, wiederholt der Text die jeweilige Zeile: „Ef hǫfuðstafr er samhljóðandi þá skulu stuðlar vera inn sami stafr, sem hér er: Lætr sá er H(ákon) h(eitir), h(ann) r(ǿkir l(ið), b(annat).“ 167 (Wenn der Hauptstab ein Konsonant ist, dann müssen die Stützen (aus) denselben Buchstaben sein, so wie hier: Lætr sá er H(ákon) h(eitir), h(ann) r(ǿkir l(ið), b(annat).) Diejenigen Zeilen, die relevant sind, werden nochmals genannt. Da sie bereits durch die vollständige Strophe zu Beginn bekannt sind, werden die Wörter teilweise nur abgekürzt geschrieben, was in der Handschrift so aussieht: Lætr sá er h. h. h. r. l. b. 177 4.4 Háttatal: Eine neue Form für das skaldische Gedicht 168 Solche Verweise nach vorne oder hinten finden sich auch in Skpm. Vgl. in Ht z. B. Uppsala Edda, S. 274. Von der nummerierten Aufzählung macht der Text Gebrauch bei zwölf verschiedenen erlaubten Möglichkeiten (leyfi, Erlaubnis), denen ein Versmass unterliegt, vgl. Uppsala Edda, S. 272. 169 Der Verweis auf die Mündlichkeit würde sich dabei wahrscheinlich eher mit der Lehrsituation als mit der skaldischen performance verbinden lassen. 170 Links und oben an der Initiale ist im selben feinen Rotstrich eine weitere Illustration zu sehen. Diese ist allerdings noch schwerer zu entschlüsseln - es könnte sich bei allem auch bloss um dekorative Verzierung handeln. Abbildung 13: Kommentar Ht (DG 11 4to, 48v) Es ist durchaus möglich, dass die Strophe auch ausserhalb des schriftlichen Textes als be‐ kannt vorausgesetzt wird. In der Überlieferung innerhalb der P-E-Versionen wird das Ge‐ dicht jedoch deutlich in einen schriftlichen Kontext verlagert: Der Kommentar ist sich seiner Schriftlichkeit bewusst und arbeitet mit Verweisen nach vorne und hinten im Text. Der didaktische Charakter des Textes wird durch die nummerierte Auflistung (die Zahlen sind dabei ausgeschrieben) verschiedener Kategorien sichtbar. 168 Dadurch wird ein medialer Rahmen geschaffen, der auch die ursprünglich skaldischen Strophen in einen deutlichen Zusammenhang mit der Schriftlichkeit stellt. Bis auf die Formeln, die die Strophen einleiten, fehlen Hinweise auf eine (fingierte) Mündlichkeit. Anders als man es aus vergleichbaren skaldischen Zitaten kennt, wird z. B. am Anfang des Gedichts keine Aufführungssituation inszeniert: In der Strophe spricht kein Skalde den Herrscher (und das Publikum) an und bittet um Gehör. Ob es eine solche stereotype Einleitungsstrophe zu Ht einmal gegeben hat, lässt sich nicht mehr feststellen. Dass sie in den Versionen der P-E fehlt, zeigt aber, dass das Gedicht nicht zwingend als der mündlichen Dichtung angehörig verstanden wird. Einzig eine fast nicht sichtbare Illustration verweist möglicherweise auf eine mündliche Dimension: 169 Unterhalb der Anfangsrubrik von Ht wird der Fliesstext durch eine grosse grüne Initiale H eingeleitet. In diesem grünen H (für das Fragewort hvat (was)) ist mit rot ganz fein eine Illustration eingefügt. Sie ist nicht gut zu erkennen, aber es könnte sich um einen menschlichen Kopf handeln. Wäre es tatsächlich ein Kopf, so könnte man ihn evtl. als „Sprecher“ des folgenden Lehrdialogs fassen. 170 178 4 Welt verfassen - Welt erfassen: Performative Gelehrsamkeit 171 Uppsala Edda, S. 280. 172 Uppsala Edda, S. 286. 173 Uppsala Edda, S. 266. 174 Das Verzeichnis kann aber auch auf den Verfasser ausgerichtet verstanden werden, vgl. Kapitel 4.4.1. 175 Mårtensson: Översikten över Háttatal, S. 110-112. Abbildung 14: Anfangsrubrik und Initiale Ht (DG 11 4to, 48r) Im Anschluss an die Anfangsrubrik wird Ht durch mehrere Rubriken und durch Gross‐ buchstaben am Rand ausserhalb des Textes gegliedert. Wie auch in den anderen Texten in U sind einzelne Abschnitte durch die rot hervorgehobenen „Titel“ markiert. Die Rubriken in Ht sind häufig verblasst, wo man sie noch lesen kann, zeigt sich, dass jeweils die Be‐ zeichnung des folgenden Versmasses oder eine bestimmte Eigenheit davon als Rubrik ge‐ wählt worden ist: „Hér segir um refhvǫrf“ 171 (Hier wird von refhvǫrf gesprochen) oder „Hér segir hversu skipta skal hættinum“ 172 (Hier wird davon gesprochen, wie man das Versmass verändern kann). Wie sich bereits in der Lektüre von Skpm gezeigt hat, können auch in Ht die Rubriken vom Fliesstext abweichen. Das ist zum Beispiel bei der Rubrik „Rekit iij“ 173 der Fall: Die darauffolgende Strophe illustriert nach Pálssons Meinung das Versmass tvíkent. Die Strophe steht ohne Prosakommentar da, direkt darauf folgt die nächste Rubrik. Es könnte sein, dass die Rubrik durch einen Abschreibefehler an diese Stelle gekommen ist, oder dass der Schreiber durch seine Vorlage nicht ausreichend informiert war und so einen bestehenden Fehler abschreibt oder aus Unverständnis der Kommentarvorlage diese Stelle auslässt. Die Rubriken stehen in einem sonderbaren Verhältnis zum Verzeichnis am Anfang von Ht. Beide sind auf den ersten Blick Orientierungshilfen für den Rezipienten. 174 Eine Zu‐ sammenstellung aller Rubriken könnte den Ausgangspunkt für ein Verzeichnis darstellen, doch das Verzeichnis vor Ht weist wie oben beschrieben mehr Versmassbezeichnungen auf als in Rubriken und Fliesstext genannt sind. Lasse Mårtensson vergleicht die Bezeichnungen in allen drei Textsorten und kommt zum Ergebnis, dass sie dort, wo alle drei eine Bezeich‐ nung aufweisen, meist ähnlich, aber nicht übereinstimmend gebraucht werden. 175 Mår‐ tensson fasst zusammen: Detta förhållande ger sannolikt också svaret på vilken funktion Ö [= Översikt] fyller inom ramen för DG 11. Det som finns i Ö men saknas i HtU [= Huvudtext] är majoriteten av de namn på versmått som förekommer, och sannolikt finns Ö med som en komplettering avseende dessa. Med detta antagande stämmer också de grafiska grepp som har tillgripits för att framhålla namnen, d.v.s. de 179 4.4 Háttatal: Eine neue Form für das skaldische Gedicht 176 Mårtensson: Översikten över Háttatal, S. 112. inleds med majuskel/ kapitäl. Det skall dock, som tidigare framhållits, noteras att detta avser funk‐ tionen i DG 11, och det behöver inte vara det ursprungliga syftet med förlagan till Ö. 176 Dieses Verhältnis gibt wahrscheinlich auch die Antwort darauf, welche Funktion Ö [= Übersicht] im Rahmen von DG 11 erfüllt. Was sich in Ö findet, aber in HtU [= Haupttext] fehlt, ist die Mehrheit der Namen der vorkommenden Versmasse, und wahrscheinlich ist Ö eine Ergänzung diesbezüg‐ lich. Mit dieser Annahme stimmen auch die zur Betonung der Namen verwendeten grafischen Ansätze, d. h. sie werden mit Majuskeln/ Kapitalen eingeführt. Es ist jedoch zu beachten, dass sich dies, wie bereits erwähnt, auf die Funktion in DG 11 bezieht, und es muss nicht der ursprüngliche Zweck der Vorlage für Ö sein. Zusätzlich zu der Tendenz, mit Hilfe des Verzeichnisses Vollständigkeit anzustreben, lässt sich ein weiteres Phänomen beobachten, das bereits aus anderen Texten in U bekannt ist. Sowohl die Rubriken als auch die Marginalien, die einen Abschnitt gliedern helfen, sind wichtige Marker der gelehrten Schriftlichkeit. Mit dem Verzeichnis wird eine weitere Be‐ deutungsschicht aus eben diesem Bereich an den Text angefügt, auch wenn die Inhalte nicht ganz übereinzustimmen scheinen. Die gelehrten Formen stiften Bedeutung und helfen so dem Werk Sinn zu verleihen. Um die Betrachtung der handschriftlichen Besonderheiten von Ht in U abzuschliessen, soll kurz noch das Ende des Textes und damit das Ende der Handschrift selbst in den Blick rücken: Es gibt keine Illustrationen innerhalb des Textes von Ht. Ganz am Schluss jedoch, nachdem der Text mit der 56. Strophe in der Mitte des Blattes aufhört, finden sich zwei grosse Figuren auf der unteren Blatthälfte, die wahrscheinlich wie die anderen Figuren in der Handschrift später hinzugefügt worden sind. Es handelt sich um einen Mann und eine grössere Frau, die mit einer Handgeste aufeinander zeigen und eine eigentümliche Kör‐ perhaltung aufweisen. 180 4 Welt verfassen - Welt erfassen: Performative Gelehrsamkeit 177 Vgl. Kapitel 3.4.2. Zur Interpretation der Figuren, vgl. Guðmundsdóttir: Dancing Images, 2009. Ob die Definition dieser Figuren (wie auch der vorangehenden) als Tänzer zutrifft, bleibt offen. 178 Thorell: Inledning, S. xix. Ist der erste Buchstabe ein S, so könnte es auch súð [(eig. Plankenverband des Schiffes), Bord, Schiff] bedeuten. Abbildung 15: Schlussblatt Ht (DG 11 4to, 56r) Aðalheiður Guðmundsdóttir bestimmt auch diese beiden Figuren aufgrund der Körperhal‐ tung als Tänzer. 177 Neben den zwei Figuren auf Blatt 56r steht am Rand das Wort ſuð. Der erste Buchstabe ist nicht eindeutig zu bestimmen, Thorell deutet das Wort als „enträgen begäran“ (dringliche Bitte). 178 Inwiefern die Illustration sowie das Wort mit dem Text von 181 4.4 Háttatal: Eine neue Form für das skaldische Gedicht 179 Thorell: Inledning, S. xviii. 180 Uppsala Edda, S. 268. 181 kveðandi f. kann nach Faulkes verschiedene Bedeutungen haben: Poetischer Effekt und Klang der Dichtung sind relativ sicher, an anderen Stellen bezieht sich der Begriff auch auf Alliteration oder den Reim, vgl. Snorri Sturluson: Edda. Háttatal, S. 123. 182 Uppsala Edda, S. 304. 183 Uppsala Edda, S. 280. Ht zusammenhängen, ist ebenfalls schwer zu sagen. Interessant wäre in diesem Zusam‐ menhang auch eine eingehendere Analyse des letzten Handschriftenblattes, das einen kurzen, scheinbar nicht zu Ht oder P-E gehörigen, Text aufweist. 179 Es konnte bislang gezeigt werden, wie die Skaldik in Ht in den Bereich der Schriftlichkeit integriert worden ist. Durch die Aktualisierung der Skaldik als schriftliche Kunst ist es möglich, auf einer Metaebene über sie zu sprechen. Neben den Definitionsversuchen finden sich im Kommentar auch zahlreiche Wertungsaussagen, die bestimmte dichterische Phä‐ nomene als herausragend, andere als nicht mehr zeitgemäss bestimmen. In Ht finden sich von allen Texten der P-E am meisten solche wertenden Kommentare. Häufig geht es darum, den Klang eines Gedichts durch poetischen Effekt zu verschönern, so z. B. bei der Um‐ schreibung durch sog. sannkenningar (wahre Beschreibungen): „En þó fegra‹r› þat mjǫk í kveðandi at eigi sé jammjǫk eptir þeim farit.“ 180 (Und doch verschönert es den poetischen Effekt/ den Klang des Gedichts auch wenn sie nicht genau so befolgt werden.) 181 Ein Beispiel für eine korrigierende (aber nicht unbedingt negative) Wertung zeigt sich in der Behand‐ lung von Versmassen alter Dichter: Nú skal rita þá háttu er fornskáldin hafa kveðit, ok eru nú settir saman þótt þeir hafi ort sumt með háttafǫllum, ok eru þessir hættir dróttkvæðir kallaðir í fornkvæðum, en sumir finnast í lausavísum […]. 182 Nun sollen diese Versmasse geschrieben werden, welche alte Dichter gedichtet haben, und sie wurden nun zusammengesetzt, obwohl einige mit metrischen Fehlern gedichtet worden sind, und diese Versmasse in alten Gedichten sind als Versmasse der Hofdichtung benannt, und einige davon finden sich in losen Strophen […]. Da diese eigentlich fehlerhaften Strophen überliefert sind (direkt im Anschluss an den obigen Kommentar wird ein Zitat von König Ragnarr loðbrók gebracht), müssen sie in den gelehrten Diskurs eingearbeitet werden. Die Funktion der Bedeutungsstiftung von alten und damit ehrwürdigen Strophen wird höher bewertet als die nicht regelkonforme Metrik. An einigen Stellen glaubt man im (ansonsten sehr unpersönlich gehaltenen) Kommentar auch die Stimme eines Lehrers zu hören, der seine Schüler anweist, sorgfältig vorzugehen und nicht zu früh aufzugeben: Nú er til þessa háttar vant at vinna ǫll orð gagnstaðlig, ok eru hér því sum orð dregin til hǿginda. En sýnt er þat í þessi vísu at orðin munu finnast, ef vandlega er at leitat, ok mun þat sýnast at flest frumsmíð stendr til bóta. 183 Nun ist es schwierig für diese Versform alle Worte mit gegenteiliger Bedeutung zu finden, und deshalb sind hier manche Worte gedehnt um zu passen. Aber es ist gezeigt, dass in dieser Strophe 182 4 Welt verfassen - Welt erfassen: Performative Gelehrsamkeit 184 Uppsala Edda, S. 270. 185 Der Verfasserkommentar steht in U nicht in Skpm, sondern am Ende von Gylf, vgl. Kapitel 3.3.3.5. Zu Ht als Poetik vgl. auch Marold: Zur Poetik von Háttatal, 1995. 186 Krömmelbein: Snorri als Skalde, S. 312. 187 Krömmelbein: Snorri als Skalde, S. 312. die Worte gefunden werden, wenn sie sorgfältig gesucht werden, und es wird klar sein, dass die meisten ersten Versuche Verbesserung ertragen. Trotz aller kleinteiligen Einordnungen und Definitionen versucht der Kommentar auch eine Art umfassende Poetik der Skaldik zu bieten. In Bezug auf dróttkvæðr háttr und die dichterische Umschreibung mit kenningar heisst es nämlich: Nú er dróttkvæðr háttr með fimm greinum ok er þó enn sami háttr réttr ok óbrugðinn ok er optliga þessar greinir samar eða allar í einni vísu ok er þat réttr. Kenningar auka orðafjǫlða. Sannkenningar fylla og fegra mál. Nýgervingar sýna kunnǫstu ok orðfimi. 184 Nun ist das Hofversmass mit fünf Varianten [präsentiert worden], und doch ist dasselbe Versmass richtig und ohne Veränderung und häufig sind diese Varianten alle in einer Strophe und das ist normal. Kenningar vergrössern den Wortschatz. Die wahren Umschreibungen füllen und ver‐ schönern die Sprache. Metaphern/ Allegorien zeigen Kunstfertigkeit und Eloquenz. Praktisch dieselben Möglichkeiten wurden im Verfasserkommentar in Skpm genannt: Das Werk soll genutzt werden um die Sprache der Dichtung zu verstehen, den Wortschatz zu vergrössern und verhüllte Sprache zu entschlüsseln. 185 Thomas Krömmelbein liefert diesbezüglich eine interessante Analyse von Ht, in der er im Gedicht mindestens einen Aspekt umgesetzt sieht, der im Verfasserkommentar statuiert wird: Das Ht. ist auch Beispieldichtung für jenes ‚Verbergen in der Dichtung oder in Geheimnissen […]‘, von dem Snorri zu Beginn der Skáldskaparmál spricht. Diese Definition, die sich ausdrücklich auf das künstlerische Verfahren der Kenningsprache bezieht, meint, dass das Gemeinte der jeweiligen Kenning verschlüsselt wird (und somit im Text verborgen bleibt), wobei die Mythen- und Hel‐ densagen-Verweise der Kenninglieder (die sprachlich-begriffliche Auffüllung) Assoziationen evo‐ zieren, nämlich im Prozess des Entschlüsselns. Zusammen mit dem Klartext werden Bedeutungs‐ räume errichtet, mit denen ein bewusst intendierter weitergreifender Sinn (Aussageabsichten) eingeholt wird. Der junge, zukünftige Skalde wird somit auch in den der skaldischen Dichtung eigenen Vorgang des Ver- und Enthüllens vermittels spezifischer Kenningsprache eingeweiht, mit dem der Aussagegehalt einer skaldischen Dichtung konstituiert wird. 186 Krömmelbein führt weiter aus, dass die skaldische Bildersprache nicht nur eine stilisierende Funktion darstellt, sondern auch eine „demonstrative.“ 187 Dem ist zuzustimmen, man könnte den Begriff „demonstrativ“ auch durch „performativ“ ersetzen. Der Einsatz von bestimmten kenningar hat Wirkpotenzial, Krömmelbein demonstriert das einerseits am Beispiel von Dichtermet-kenningar, andererseits anhand von heroischen Herrscher-Umschreibungen: So konstituiert die spezifische Einsetzung von Dichtermet-Kenningar die skaldische Berufungs‐ formel […] und erweisen sich als mehr denn lediglich sich selbst genügende mythenabbreviierende 183 4.4 Háttatal: Eine neue Form für das skaldische Gedicht 188 Krömmelbein: Snorri als Skalde, S. 313. 189 Vgl. Kristján Árnason: Um Háttatal Snorra Sturlusonar: Bragform og braglýsing. In: Gripla 17, 2006, S. 75-124. 190 Marold: Zur Poetik von Háttatal, S. 112. Umschreibungen. Und die Bezeichnung Skúlis als niðr Skjǫldungs soll auch etwas mehr sein als eine ‚nur‘ heroisierende Charakterisierung; hier wird einer der Dichtungsadressaten an Helden‐ zeitpersonal angesippt. 188 Im Entschlüsseln und Erfassen von Ht, d.h. Gedicht und Kommentar leistet der Rezipient die intellektuelle Arbeit, die traditionellerweise von dem Hörer skaldischer Dichtung ver‐ langt wird. Dichtung alleine genügt zwar nicht mehr, sie braucht zusätzlich eine gelehrte Dimension. Dennoch birgt das Verstehen-Wollen der Dichtung eine intellektuelle Freude, oder so wird es zumindest in den Kommentaren (Gedichtkommentar und Verfasserkom‐ mentar) behauptet. Die Diskussion über den Umgang mit der Terminologie wirft auch die Frage nach der Her‐ kunft dieser Bezeichnungen bzw. auch nach möglichen intertextuellen Verbindungen auf. In der Forschung zu Ht werden dazu unterschiedliche Thesen diskutiert, die Grundfrage lautet dabei immer: Handelt es sich um eine einheimische Innovation (beruhend auf oraler Tradition) oder basiert Ht auf lateinischen Vorlagen? Eine umfassende Analyse von Kristjan Árnason zeigt, dass der Kommentar zum grössten Teil auf innovativem einheimischem Denken aufbaut und keine Anleihen bei lateinischen Vorbildern macht. 189 Das scheint nur auf den ersten Blick der These von Edith Marold zu widersprechen, die in den Bezeichnungen viele Lehnübersetzungen aus dem Lateinischen sieht: Damit stehen wir vor dem unerwarteten Ergebnis, dass die Bezeichnungen für die seit langem angewandten Reimtechniken Lehnbildungen sind, die in Verbindung mit der Beschäftigung mit lateinischer Grammatik entstanden. Ob die Skalden des 10. Jh.s Bezeichnungen für ihre Reim‐ techniken hatten und wie sie lauteten, bleibt uns unbekannt. Es wäre allerdings auch zu überlegen, ob sie ihre Strophenformen und Reimgesetze nicht in Form von komplexen Lautvorstellungen quasi in sich trugen, die durch das Hören und Auswendiglernen von zahlreichen Strophen ent‐ standen. Erst spätere Zeiten hätten versucht, so etwas wie eine poetologische Terminologie zu schaffen. Es dürfte jedoch nicht erst Snorri gewesen sein, der diese Bezeichnungen schuf. […] Es wäre aber auch zu erwägen, ob nicht die Strophenbezeichnungen erst bei der späteren Nieder‐ schrift des Gedichtes hinzugefügt wurden. 190 Auch Marold sieht die Terminologie also als einheimische Innovationsleistung. Es ist aber wohl ihrer These zuzustimmen, dass diese Aktualisierungstendenz durch die Beschäftigung mit lateinischen gelehrten Texten ausgelöst worden ist. Das zeigt sich auch darin, dass weniger als die Hälfte der von Snorri dargestellten Formen bei anderen Skalden belegt sind. Bei den restlichen Formen handelt es sich um zeilenweise vorkommende Variationen, die 184 4 Welt verfassen - Welt erfassen: Performative Gelehrsamkeit 191 Tranter, Stephen: Háttalykill und Háttatal. In: Germanische Altertumskunde Online, 1999. 192 Tranter: Háttalykill und Háttatal, 1999. 193 Tranter: Háttalykill und Háttatal, 1999. 194 Tranter, Stephen: Medieval Icelandic artes poeticae. In: Clunies Ross, Margaret (Hg.): Old Icelandic Literature and Society. Cambridge 2000 (= Cambridge Studies in Medieval Literature 42), S. 140-161, hier S. 149. von Snorri zu eigenständigen Formen erhoben werden, um Nachahmungen ausländischer Vorbilder sowie evtl. auch um von Snorri selbst erfundene Formen. 191 Frühe einheimische Beschäftigung mit dichtungstheoretischen Fragen findet sich mögli‐ cherweise im Umfeld von Jarl Rögnvald Kali auf den Orkney Inseln. Der Text Hattalykill (Versmassschlüssel) bietet eine Übersicht über verschiedenste skaldische Versmasse, leistet jedoch keine theoretische Begriffsarbeit wie Ht. Tranter beschreibt den Text so: Háttalykill mag als erster uns überlieferter Versuch gelten, die Formenvielfalt der spätant. Metri‐ klehren auf die einheimische Dichtung systematisierend einwirken zu lassen. […] Das Gedicht ist vielleicht eher als ein erster Versuch zu betrachten, die einheimische Metrik mit einer der ant. Metrik vergleichbaren Formenvielfalt darzustellen. 192 Aus der lateinischen Gelehrsamkeit sind mehrere Versmassschlüssel bekannt, die als Grundlage für nordische Versuche in der Volkssprache gedient haben könnten. Es können allerdings keine direkte Vorlagen zugeordnet werden. Inwiefern eine Verbindung zwischen Háttalykill und Ht besteht, lässt sich ebenfalls nur schwer feststellen. Zwar lässt die zeitliche Einordnung des Háttalykils ins 12.-13. Jahrhundert es zu, dass ihn der Verfasser von Ht gekannt haben könnte, doch beweisen lässt sich das nicht. Für die Metriklehre von Ht sieht Tranter auch direkt klassische Texte als mögliche Vorlagen: Das Gedicht zeigt implizit, der Kommentar explizit, den Einfluß spätant. Traktatenwesens: die Zahl der dargestellten Metren ist das dezimale Hundert, nicht das duodezimale; cf. Servius und die von Beda venerabilis erwähnten, nicht überlieferten libri centimetri, […]. 193 Die unklare Herkunftsgeschichte von Ht ist eine Folge des stetigen Ausbalancierens zweier verschiedener Kulturen. Die neuen medialen Möglichkeiten und die gelehrten Diskurse, die damit in den Norden kommen, führen dazu, dass die eigene Beschäftigung mit der Sprache in neue Bereiche ausgeweitet werden kann. Bestimmte Formen oder Modelle werden übernommen und auf die eigenen Bedürfnisse angepasst, während die einheimi‐ schen damit aus einer neuen Perspektive betrachtet und aktualisiert werden können. Stephen Tranter bezeichnet den so entstandenen Zwischenstatus als „cultural ambiguity of Ht.“ 194 4.4.3 Zwischenfazit Pálsson sagt, es sei absurd, sich vorzustellen, das Gedicht Ht sei mit dem Kommentar an den Hof gebracht worden, da das absolut unhöflich gegenüber den Herrschern gewesen wäre. Doch die Lektüre zeigt, dass das nicht zwingend der Fall sein muss. Im 13. Jahrhundert wird im Norden die Gelehrsamkeit als zentrales Merkmal kultureller Geltung hervorge‐ 185 4.4 Háttatal: Eine neue Form für das skaldische Gedicht hoben. Mythologisches wird mit mythographischen Verfahren erfasst und bearbeitet, in vergleichbarer Weise muss auch die Skaldik als kulturelle Praktik auf einer diskursiven Ebene behandelt werden. Der Wert des Gedichts wird durch den Kommentar gesteigert und dient dazu, den Strophen die Überlieferung zu sichern. Der Anspruch, eine aktuelle, inno‐ vative und gleichzeitig bleibende Abhandlung der traditionsreichen Dichtung zu bieten, ist im Text durchgängig zu finden. Das macht eine Übergabe des Gedichts in schriftlicher Form mit Kommentar denkbar, obschon keinerlei Hinweise existieren, dass und wie das Werk nach Norwegen gelangt ist. Zu Beginn des Kapitels wurde die Frage gestellt, ob der performative Sprechakt von Ht geglückt sei. In Bezug auf die wertschätzende Aufnahme am norwegischen Hof und eine mögliche Entlöhnung lässt sich das - wie gesagt - nicht bestimmen. Nimmt man hingegen die didaktische Intention des Gedichts in den Blick, so kann man durchaus von einem ge‐ glückten Akt sprechen. Im Mittelalter ist die Dichtungsterminologie noch nicht gefestigt, wird aber in verschiedenen Texten diskutiert und reflektiert. Diese aktualisierenden Wie‐ derholungen führen schliesslich zu einer Lexikalisierung und immer stabileren Begriff‐ lichkeiten. So sprechen wir heute noch von Dróttkvaett - ohne Ht (und ähnliche Texte) würden wir das nicht in gleichem Masse tun. 4.5 Fazit Liber secundus Auch die Lektüren von Liber secundus zeigen eine enzyklopädische Grundtendenz - jedoch besteht diese nicht in der Aufgabe, die „Welt“ zu erfassen, sondern das Medium der Welt‐ erfassung selbst - die Sprache. Wer die Welt ordnen will, muss ein angemessenes Ver‐ ständnis sprachlicher Zusammenhänge und Vorgänge besitzen. Liber secundus interessiert sich für die Ebene der Silbe ebenso wie für die Ebene der dichterischen Umschreibungen: Beide sind zentral, um das Potenzial von sprachlichen Äusserungen zu erfassen und (in diesem Fall) skaldischer Dichtung Bedeutung zu verleihen. In Liber primus wird dem Skalden mit dem Mythos vom Dichtermet eine hohe gesell‐ schaftliche Stellung durch die göttliche Herkunft der Dichtung zugeschrieben: Dichten kann man nicht lernen, diese Fähigkeit hat man oder nicht. Nur wer sie besitzt, erhält vom Dichtermet. Allerdings ist die mythologische Erzählung in den komplexen literarischen Täuschungsrahmen von Gylf eingebunden, somit wird nicht eindeutig klar, wie man sie einordnen soll. In Liber secundus scheint Vorstellung von der Dichtung als Fähigkeit oder Kunstfertigkeit (íþrótt) stärker betont: Dichten ist etwas, was man lernen kann, indem man sich Kenntnisse verschiedenster Techniken und Inhalte aneignet - wie z. B. mit Hilfe der Texte von Liber secundus, das derartige pragmatische Texte zusammengestellt. Aber die vielen impliziten und expliziten Momente der Selbstreflexion zeigen, dass es dabei über didaktische Ab‐ sichten und den Erhalt der traditionellen Skaldik hinausgeht: Skaldische Dichtung wird neu als Medium positioniert, um über Sprache und deren Möglichkeiten und Grenzen in theo‐ retischer Hinsicht nachzudenken. Liber secundus ist auch ein Zeugnis für die mediale Dynamik, mit welcher der Verfasser von U umgehen muss. Die multimediale Umsetzung der einzelnen Inhalte hat einen expe‐ 186 4 Welt verfassen - Welt erfassen: Performative Gelehrsamkeit rimentellen Charakter und lenken den Blick darauf, dass es sich nicht um die Vermittlung von feststehenden Wissensbeständen handelt, sondern um eine Momentaufnahme eines sprach- und medientheoretischen Denkprozesses. Wissen wird einerseits neu generiert in den Texten von Liber secundus, andererseits wird auch reflektiert, wie dieses neue Wissen am besten mit Sinn aufgeladen werden kann. 187 4.5 Fazit Liber secundus 5 Abschluss und Ausblick Das Ziel dieser Arbeit war, die Prosa-Edda einer ganzheitlichen und systematischen Lektüre zu unterziehen. Das Werk sollte als Form kultureller Sinnstiftung in seiner ganzen Vielfäl‐ tigkeit bzw. Mehrdeutigkeit gelesen werden, um so einen neuen Blick auf den wichtigsten sprach- und dichtungstheoretischen Text des nordischen Mittelalters zu erlangen. Dabei wurde von der Leitthese ausgegangen, dass die P-E nicht nur ein Lehrwerk für skaldische Dichtung ist, sondern sich umfassend und mit einem sprach- und medientheoretischen Ansatz für Sprache, Erzählen und Dichtung interessiert. Diese These bestätigte sich durch die verschiedenen Lektüren für die Version der P-E im Codex Upsaliensis: Didaktische Ver‐ fahren und Inhalte finden sich in dieser Handschrift aus dem Jahr 1300 ebenso wie diskur‐ sive Momente, die eine Reflexion der zu vermittelnden Wissensbestände sichtbar machen. Häufig überschneiden sich die beiden Bereiche auch, was sich auch in der enzyklopädischen Grundtendenz von U bemerkbar macht: So soll die Welt in möglichst allen Bestandteilen erfasst und eingeordnet werden, wozu es Namen bzw. Definitionen für die verhandelten Phänomene braucht. Aber nicht nur die verschiedenen Inhalte werden in U zusammenge‐ stellt und systematisiert, auch unterschiedliche mediale Vermittlungsarten werden neben‐ einandergestellt: Prosatexte, mit und ohne Verszitate, listenförmige und diagrammatische Darstellungen sowie figürliche Illustrationen stellen selbst eine Art Sammlung literarischer Gattungen dar. U umfasst aussergewöhnliche und einzigartige Umsetzungen von Texten und Stoffen und scheint medialen Experimenten nicht abgeneigt. Dieses Ausprobieren der neuen Möglich‐ keiten im Umgang mit Sprache macht auf die sprachphilosophische Dimension der P-E aufmerksam. In der Gesamtsicht betrachtet, findet in U eine Reflexion darüber statt, wie man neue und alte Formen kultureller Sinnstiftung am besten zusammenbringt und für die Anforderungen der Gegenwart aktualisieren kann - ohne die eigene Vergangenheit aus dem Blick zu verlieren. Gerade durch die innovative mediale Behandlung in U wird deutlich, dass es sich dabei nicht zwingend um den Wunsch nach Archivierung der einheimischen kulturellen Vergangenheit handelt, als vielmehr um den Versuch, alte und neue Formen produktiv miteinander in Beziehung zu setzen. Die P-E stellt aber auch aus, dass es sich bei diesen aktualisierten Formen um neue Wis‐ sensbestände handelt, die dementsprechend einer Legitimation bedürfen. Implizit wird an mehreren Stellen in U danach gefragt, wie ein schriftlicher Text etwas erzeugen kann, das er selbst noch nicht ist bzw. wie sich ein Text selbst Bedeutung verleihen kann. Um solchen Fragen nachzuspüren und die Lektüren der vielfältigen Inhalte von U sys‐ tematisieren zu können, wurden Begriffe aus dem Diskurs der literarischen Performativität als Analysewerkzeuge verwendet. Der moderne Theorieansatz ist spezifisch auf die Per‐ formativität von literarischen Texten ausgerichtet und fand bislang noch keine grosse Be‐ achtung im Bereich der skandinavistischen Mediävistik. Anhand der drei Begriffe Sagen als Tun, Wiederholung/ Wiederholbarkeit sowie Rahmung wurden die Bestandteile von U in der Reihenfolge, wie sie in U vorliegen, gelesen. Die Beschränkung auf die drei Aspekte lite‐ rarischer Performativität ermöglichte es, die unterschiedlichsten Inhalte und Formen des Werks in eine gemeinsame Lektüre zu fassen. In den Einzellektüren wurde jeweils ein Schwerpunkt auf einen spezifischen Aspekt gelegt, der für die jeweilige Stelle besondere Einblicke versprach. Häufig hätten sich alle drei Aspekte als Lektüreschwerpunkt ange‐ boten, da sie sich überschneiden und das performative Potenzial des Textes sich auch aus ihrem Zusammenspiel ergibt. Die Orientierung der Lektüren entlang der drei Performativitätsbegriffe diente auch als Bindeglied zwischen den verschiedenen medialen Formen in U: Es ist ein Begriffsinventar, das über mediale Grenzen hinweg anwendbar ist. Es konnte gezeigt werden, dass die P-E in U ein komplexes Gefüge ist, das als planvolles Gesamtwerk verstanden werden will. In U wurden nicht Materialien zusammengestellt, die bloss lose über eine gemeinsame The‐ matik - die Skaldik - zusammenhängen. Bezieht man alle in U enthaltenen Texte mit in eine Lektüre ein, so fallen die vielen bewusst gelegten intra- und intertextuellen Verknüp‐ fungen ins Auge. Codex Upsaliensis will eine umfassende Behandlung der Möglichkeiten und Grenzen der altisländischen Sprache leisten. Die Lektüren haben zu interessanten neuen Ansatzpunkten für die weitere Beschäftigung mit der P-E geführt, die in manchen Bereichen sicherlich noch produktiv vertieft werden können. Ein Ziel der Arbeit war es, unter der P-E nicht nur die kanonischen vier Textteile Prolog, Gylfaginning, Skáldskaparmál und Háttatal zu verstehen, sondern unser Ver‐ ständnis auf das auszuweiten, was in den überlieferten Handschriften enthalten ist. Dieses Ziel wurde im Hinblick auf die Lektüre von Codex Upsaliensis erreicht. Eine solche Her‐ angehensweise wäre auch für die anderen Edda-Handschriften RTW wünschenswert - ebenso wie eine anschliessende komparatistische Untersuchung aller Versionen. So liesse sich jede einzelne Version der P-E als eigenständiges Überlieferungszeugnis im herausra‐ genden sprachtheoretischen Diskurs des isländischen Mittelalters beschreiben. Da dieser Diskurs durchaus auch in anderen altisländischen literarischen Gattungen präsent ist, könnte es sich lohnen, die hier vorgeschlagene performative Perspektive auch auf die Lek‐ türe solcher Werke auszuweiten. 190 5 Abschluss und Ausblick Abstract & Keywords Preliminary remarks Medieval Old Norse-Icelandic literature is characterized by an extraordinary variety of vernacular forms. In comparison to continental vernacular literature, it reflects at a very early stage on its own language and the associated possibilities for narration in the ver‐ nacular. This occurs on many levels, in both poetry (skaldic and eddic poetry of gods and heroes) and prose (sagas and non-fiction texts such as grammatical treatises). Here tradi‐ tionally oral forms of literature are adapted to new written models of narration and lan‐ guage comprehension. As soon as it begins to appear in the 11th century, the medium of writing is used with active and self-reflexive interest. Fundamental questions are addressed: how does one write in the vernacular? What can narration achieve? How can written poetry and narrative be legitimized? It might be assumed that such questions would mainly be discussed in scholarly literature. Yet the possibilities and limitations of language are also always evoked, implicitly and explicitly, in eddic and skaldic poetry and in saga literature. The Old Icelandic interest in language is especially apparent in what is known as the Prose Edda (P-E), the most important medieval Scandinavian text on linguistic and literary theory. This highly complex and multi-layered work interweaves a traditional description of the pagan world of the gods, a Christian study of style and prosody, and other content, to create a comprehensive linguistic experiment. For several centuries, the P-E has been an important document at the centre of the study of Old Norse-Icelandic literature. In terms of research history, since the 19th century the P-E has mainly been the object of a philological interest in antiquarian questions. The pri‐ mary focus has been on the sources of the work and, linked with this, Norse mythology. Beginning in the 1980s, a new research interest developed alongside this, informed by lin‐ guistic and literary theory, and focusing on skaldic poetry, a special genre of Old Norse- Icelandic literature. These two areas of research have usually been considered separately, because they are seen as only loosely connected. The present study adopts a different ap‐ proach: the starting point is an attempt to take the work seriously as a form of cultural meaning-making, in its diversity and therefore ambiguity, and so to read the different con‐ tent and forms in conjunction with each other. Aim of this study This study reads the P-E from a perspective that seeks to combine the separate areas of research described above. The aim is a holistic reading, linking the two aspects of the P-E - the thematic aspect and that concerned with linguistic theory - and connecting the aca‐ demic level of linguistic theory with a (narratological) perspective based on literary schol‐ arship. This approach is not only intended to reveal poetological techniques and make visible the advanced media knowledge of the P-E; it also encompasses the question of how the texts have been handed down and compiled, thus offering a glimpse of the media dy‐ namics of 13th-century Icelandic literature. The foundation for the study is the observation that the P-E reflects in various ways on language, literature and narration as specific kinds of communication. It does this by playing with traditional narrative forms (e.g. with eddic poetry, genealogical narratives etc.), thus exploring the limitations and possibilities of a new way of telling stories. The different texts make use of the opportunity to mediate and impose order on the world through language and narration, and to call into question their own mediation. The P-E is very much aware of its literary constructedness, and thematizes this on many levels. Thus, for example it is not only the parts of the text referred to as “pragmatic” (such as the study on verse-forms, the Háttatal, and parts of the treatise on poetry, Skáldskaparmál) which revolve around literature, explaining how it works. The parts concerned with literary theory are also closely related to those parts of the texts which at first glance have little connection to a poetics. In actual fact, however, the latter texts also show a great interest in questions of language theory: the prologue, Gylfaginning, and Skáldskaparmál are all concerned with literature, narration, and their potential to create meaning in the world. They should therefore be included in a reading focused on questions of linguistic theory. Such a reading should also take into account texts that have not hitherto been understood under the “title” Prose Edda: the various texts annexed to the canonical Edda text in the different manuscripts that have been handed down. This means that the P-E can suddenly also incorporate a grammatical treatise or various genealogical lists. Furthermore, a reading must integrate the different media phenomena: in addition to the text, there are illustrations and diagrammatic forms, and the distinctive features of the layout must also be noted. If the content, forms and specificities of a manuscript are read in context, this allows new insights both for the individual texts and for the work as a whole. Corpus Codex Upsaliensis DG 11 4to (U) is at the centre of this study. This version of the Edda was not chosen because it is the oldest extant manuscript, but because of the numerous media phenomena which make this manuscript so unique. Conceived as a compilation, the dif‐ ferent parts make up the Codex Upsaliensis. The manuscript is dated to around 1300, and contains several parts which do not correspond to the canonical picture of the P-E conveyed by the modern editions and translations. The canonical text appears alongside genealogical lists, grammatical diagrams, and pictures. These components are all forms of organizing knowledge which have not yet been sufficiently integrated into readings of the Prose Edda. In comparison to the complex media phenomena in U, the Codex Wormianus (W) and Codex Regius (R) do not offer such varying manifestations of book culture. W does present the four Grammatical Treatises together, which seems relevant for a language-cen‐ tred reading of the Edda, but it omits the diagrams from the Second Grammatical Treatise, and thus the specific media configuration of the text. It is important to include such features in a purely text-based reading, especially when the plan behind them is as clearly discernible as it is in U. Theoretical approach To systematize the reading, the P-E is studied in the light of a theoretical approach which has been tested and discussed extensively in a wide range of disciplines in recent years. 192 Abstract & Keywords This is the discourse of performativity or the performative, which is not yet widely known in Old Norse studies. This discourse is concerned, in various ways, with the potential of language and linguistic acts to influence reality. This is where it intersects with the P-E, making a reading of the medieval work based on certain premises of the current discourse worthwhile. Considerations from German medieval studies are particularly influential for this study. Cornelia Herberich’s and Christian Kiening’s transposition of the discourse of performativity to a specifically literary performativity offers great potential for Old Norse studies. In order to be able to systematize the readings of the various elements of the Codex Upsaliensis, concepts from the discourse of literary performativity have been used as ana‐ lytical tools. Using the three concepts of “saying as doing”, “repetition/ repeatability”, and “framing”, the components of U have been read in the order in which they appear in U. Restricting the focus to the three aspects of literary performativity has made it possible to encompass the very diverse contents and forms of the work in a joint reading. It is a con‐ ceptual inventory which is applicable across media boundaries. Structure of the study The opening chapter is followed by an introduction to the theoretical perspective from which the readings of the P-E will be undertaken (Chapter 2, “Literary performativity”). The concept of literary performativity which is central here is explored by means of an overview of the performative and the rhizomatic forms it takes in a wide range of disci‐ plines. This is followed by two substantive chapters, examining in depth selected passages from the P-E. The first of these two chapters deals with the narrative sections of the work, which explore the potential of various narratives to create meaning (Chapter 3, “Under‐ standing the world - writing the world: performative narration”). These sections thematize reflection on the writer’s own work on the myth, as well as the appropriate use of media to convey genealogical knowledge. The second reading-focused chapter deals with the various aspects of language theory within the linguistic sections of the P-E (Chapter 4, “Writing the world - understanding the world: performative erudition”). Unlike the nar‐ rative sections, these texts are not concerned with capturing the “world” in language, but with understanding language as the basis of any linguistic organization of the world in all its facets. Each of these chapters ends with a short summary. The final chapter (Chapter 5) sums up all the observations and draws a conclusion. This chapter also discusses the diffi‐ culties that have arisen during the study, and points to possible further questions. Findings The aim of this study was to subject the P-E to a holistic and systematic reading. The idea was to read the work as a form of cultural meaning-making in all its diversity and/ or am‐ biguity, in order to gain a new perspective on the most important work of linguistic and literary theory in the Scandinavian Middle Ages. The main initial thesis here was that the P-E is not only a textbook on skaldic poetry, but has a broad interest in language, narration and poetry, informed by linguistic and media theory. The different readings have confirmed this thesis for the version of the P-E in Codex Upsaliensis: this manuscript from 1300 con‐ tains didactic methods and contents, as well as discursive elements revealing reflection on 193 Abstract & Keywords the knowledge to be transmitted. Often the two areas intersect, which also becomes no‐ ticeable in the underlying encyclopaedic tendency of U: the aim is to comprehend and classify the world in all its components, as far as possible, and this requires names or def‐ initions for the phenomena under discussion. But U not only compiles and systematizes the different elements of content; it also juxtaposes various kinds of transmission via media: prose texts, with and without verse quotations, representations in the form of lists and diagrams, and figurative illustrations constitute a kind of collection of literary genres. Codex Upsaliensis includes unusual and unique permutations of texts and subject mat‐ ters, and does not seem averse to media experiments. This trying out of new ways of dealing with language draws attention to another dimension of the P-E: the philosophy of language. Viewed as a whole, U presents a reflection on the best way to bring together new and old forms of cultural meaning-making and adapt them to the requirements of the present - without losing sight of one’s own past. It is precisely the innovative media treatment in U which makes it clear that this is not necessarily about wanting to archive the indigenous cultural past, but rather about attempting to relate old and new forms to one another in productive ways. The P-E also demonstrates, however, that these updated forms are new bodies of knowledge, which therefore require legitimation. At several points in U, the question implicitly asked is how a written text can produce something that it is not yet itself, or how a text can bestow meaning on itself. The study has shown that the P-E in U is a complex structure, which must be understood as a holistic and thoroughly planned work. U is not a compilation of materials which are merely connected via a common theme, that of skaldic poetry. If our reading takes into account all the texts contained in U, a striking number of deliberate intratextual and inter‐ textual connections emerge. Codex Upsaliensis aims to give a comprehensive treatment of the possibilities and limitations of the Old Icelandic language. The readings have led to interesting new starting points for further study of the Prose Edda, which can certainly be productively extended in some areas. One aim of the study was to expand the understanding of the P-E to include not only the four canonical sections (Prologue, Gylfaginning, Skáldskaparmál and Háttatal), but also what is contained in the extant manuscripts. This aim has been fulfilled for the reading of Codex Upsaliensis. Such an approach would also be desirable for the other Edda manuscripts, RTW - as well as a subsequent comparative examination of all the versions. Each individual version of the Prose Edda could then be described as an autonomous record in the remarkable discourse on linguistic theory which took place in medieval Iceland. As this discourse is also very much present in other Old Norse-Icelandic literary genres, it could be worthwhile extending the performative perspective proposed here to the reading of such works. Keywords Prose Edda, Gylfaginning, Second Grammatical Treatise, Codex Upsaliensis, Old Norse Lit‐ erature, Skaldic poetry, Language Theory, Performativity, Mediality. 194 Abstract & Keywords Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Anfangsrubrik (DG 11 4to, 2r) 70 Abbildung 2: Bischof (DG 11 4to, 1v) 73 Abbildung 3: Figur mit Menschenkopf (DG 11 4to, 1r) 75 Abbildung 4: Skáldatal (DG 11 4to, 23r) 120 Abbildung 5: Gylfi und die Asen (DG 11 4to, 26v) 127 Abbildung 6: Figuren (DG 11 4to, 24v-25r) 131 Abbildung 7: Ritter (DG 11 4to, 37v) 132 Abbildung 8: Hand (DG 11 4to, 41v) 133 Abbildung 9: Marginalien (DG 11 4to, 28v) 139 Abbildung 10: Ring-Diagramm (DG 11 4to, 46r) 156 Abbildung 11: Symphonia-Diagramm (DG 11 4to, 47r) 158 Abbildung 12: Versverzeichnis (DG 11 4to, 48r) 166 Abbildung 13: Kommentar Ht (DG 11 4to, 48v) 178 Abbildung 14: Anfangsrubrik und Initiale Ht (DG 11 4to, 48v) 179 Abbildung 15: Schlussblatt Ht (DG 11 4to, 56r) 181 Alle Abbildungen aus: Uppsala-Eddan, DG 11, Digitalisat. 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Skandinavische Schriftlandschaften Vänbok till Jürg Glauser 2017, 345 Seiten €[D] 39,- ISBN 978-3-7720-8628-1 60 Hans-Peter Naumann Metrische Runeninschriften in Skandinavien Einführung, Edition und Kommentare 2018, 488 Seiten €[D] 69,- ISBN 978-3-7720-8652-6 61 Petra Bäni Rigler Bilderbuch - Lesebuch - Künstlerbuch Elsa Beskows Ästhetik des Materiellen 2019, 304 Seiten €[D] 39,- ISBN 978-3-7720-8661-8 62 Kathrin Hubli Kunstprojekt (Mumin-)Buch Tove Janssons prozessuale Ästhetik und materielle Transmission 2019, 184 Seiten €[D] 39,- ISBN 978-3-7720-8655-7 63 Sandra Schneeberger Handeln mit Dichtung Literarische Performativität in der altisländischen Prosa-Edda 2020, 206 Seiten €[D] 39,- ISBN 978-3-7720-8672-4 64 Jürg Glauser (Hrsg.) 50 Jahre Skandinavistik in der Schweiz Eine kurze Geschichte der Abteilungen für Nordische Philologie an der Universität Basel und der Universität Zürich 1968-2018 2019, 296 Seiten €[D] 59,99 ISBN 978-3-7720-8679-3 65 Elena Brandenburg Karl der Große im Norden Rezeption französischer Heldenepik in den altostnordischen Handschriften 2019, 237 Seiten €[D] 59,- ISBN 978-3-7720-8680-9 66 Kevin Müller Schreiben und Lesen im Altisländischen Lexeme, syntagmatische Relationen und Konzepte in der Jóns saga helga, Sturlunga saga und Laurentius saga biskups 2020, 310 Seiten €[D] 59,- ISBN 978-3-7720-8694-6 ISBN 978-3-7720-8672-4 Die Prosa-Edda ist der wichtigste sprach- und dichtungstheoretische Text des skandinavischen Mittelalters. Sie wird in diesem Band einer ganzheitlichen und systematischen Lektüre unterzogen und als Form kultureller Sinnstiftung gelesen. Ausgangspunkt der Lektüre ist die Leitthese, dass die Prosa-Edda nicht nur ein Lehrwerk für skaldische Dichtung ist, sondern sich umfassend und mit einem sprach- und medientheoretischen Ansatz für Sprache, Erzählen und Dichtung interessiert. Im Zentrum der vorliegenden Arbeit steht Codex Upsaliensis DG 11 4to (ca. 1300). Die Zusammenstellung verschiedenster medialer Phänomene macht die Edda-Version in dieser Handschrift so einzigartig: Neben den bekannten Texten finden sich genealogische Listen, grammatische Diagramme und Bilder, die alle Organisationsformen von Wissen darstellen, welche bisher noch ungenügend in eine Lektüre der Prosa-Edda eingeflossen sind. Eine solche Lektüre der vielfältigen Inhalte von Codex Upsaliensis wird durch den Theorieansatz der literarischen Performativität systematisiert. Dieser Diskurs ist in der skandinavistischen Mediävistik bislang noch nicht sehr bekannt. Er bietet jedoch ein theoretisches Begriffsinventar, das über mediale Grenzen hinweg anwendbar ist und sich für die Lektüre der Prosa-Edda als sehr produktiv erweist. Sandra Schneeberger war 2015-2017 Assistentin in der Abteilung für Nordistik im Bereich Skandinavistische Mediävistik am Deutschen Seminar der Universität Zürich.