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Privat

Heinz-Eberhard Gabriel wurde am 10. Oktober 1939 in Wien geboren. Seine Ausbildung absolvierte er an der Psychiatrischen Universitätsklinik „Burghölzli“ in Zürich unter dem großen Manfred Bleuler und an der Psychiatrisch(‑Neurologischen) Universitätsklinik in Wien, deren Leitung damals gerade Peter Berner übernommen hatte. Eberhard Gabriels wissenschaftliche Schwerpunkte sind die Psychopathologie mit besonderen Akzentsetzungen im Bereich der Wahnforschung sowie – in seinem späteren Wirkungsfeld – die Erarbeitung valider Daten zur psychiatrischen Versorgung einer Großstadt, nicht zuletzt auch, um „seinem“ Krankenhaus, dem ab 1987 bis zu seiner Pensionierung von ihm geführten Psychiatrischen Krankenhaus der Stadt Wien/Otto-Wagner-Spital, eine moderne Organisationsstruktur zu verleihen. Darüber hinaus war Eberhard Gabriel schon immer der historischen Dimension unseres Faches verpflichtet. Diese drei Gebiete stehen im Mittelpunkt unserer Ausführungen.

Zu Beginn sollen die Arbeiten von Eberhard Gabriel im Bereich der Psychopathologie gewürdigt werden. Für dieses Interesse war wohl nicht zuletzt seine in der Schweiz verbrachte Zeit bestimmend und prägend. 1969 schloss er im Rahmen einer mehrmonatigen Tätigkeit an der Psychiatrischen Universitätsklinik Lausanne die dort von Peter Berner im Rahmen einer Gastprofessur begonnene Nachuntersuchung von Patienten mit Spätschizophrenie ab. Nach seiner Rückkehr nach Wien entwickelte sich bald eine enge Zusammenarbeit mit Peter Berner, der ab 1969 supplierend, ab 1971 als Ordinarius, die Wiener Klinik leitete. Das von Peter Berner gegründete Psychopathologische Labor war Ausgangspunkt für zahlreiche wissenschaftliche Initiativen wie etwa die Entwicklung eines differenzierten psychopathologischen Merkmalskatalogs oder eine prospektive Verlaufsstudie an 90 Patienten mit wahnbildenden Psychosen, die Ende der 1970er Jahre mit einer von Eberhard Gabriel initiierten Nachuntersuchung abgeschlossen wurde.

Peter Berner und der Vorstand der Lausanner Klinik, Christian Müller, stellten Eberhard Gabriel schließlich das gesamte Datenmaterial der Lausanner Spätschizophrenen zur Verfügung, woraus seine Habilitationsschrift, die 1978 erschienen Monographie Die langfristige Entwicklung von Spätschizophrenien, entstand. Als Ergebnis des eingeschlagenen Weges verfasste Eberhard Gabriel eine Vielzahl von unterschiedlichen Aspekten endogener Psychosen gewidmeten Publikationen. Somit war es eine logische Konsequenz, dass er nach dem frühen Tod von Theodor Spoerri zunächst als Redaktionssekretär, aber schon bald gemeinsam mit Peter Berner die Herausgeberschaft der Psychiatria Clinica – ab 1984 Psychopathology – übernahm und diese Position bis zu seiner Pensionierung 2004 innehatte. Durch viele Jahre war er auch Mitglied bzw. Vorsitzender der Sektion für Klinische Psychopathologie des Weltverbandes für Psychiatrie.

Ein besonderes Anliegen von Eberhard Gabriel ist bis heute die Weitergabe seines Wissens. Das können alle sich früher unter seiner Ägide in Facharztausbildung befindlichen Kolleginnen und Kollegen bestätigen, die sich in regelmäßigen Abständen in seiner Wohnung zu Fortbildungsveranstaltungen einfanden und die ihn je bei Explorationen erlebten. Seine distanzierte, jedoch stets freundlich-zugewandte Haltung und die anschließende „Übersetzung“ des Ergebnisses einer Untersuchung in einen differenzierten psychopathologischen Status entsprach durchaus dem, was Werner Janzarik unter „anteilnehmender Beobachtung“ verstand. Auch in seinen Vorlesungen und Praktika gelang es ihm zu vermitteln, dass Psychopathologie mehr ist als das Abfragen vorgegebener Symptomlisten.

Eberhard Gabriels zweiter Arbeitsschwerpunkt liegt im Bereich der Versorgungsforschung. Er war von 1978 bis 2004 Ärztlicher Direktor des Psychiatrischen Krankenhauses der Stadt Wien und von 2000 bis 2004 auch Ärztlicher Direktor des „Interdisziplinären Sozialmedizinischen Zentrums Baumgartner Höhe – Otto Wagner Spital mit Pflegezentrum“, das aus einer Fusion von fünf bis dahin selbständigen Einrichtungen des Wiener Gesundheitswesens entstanden war – dem Sozialpädagogischen Zentrum, dem Neurologischen Krankenhaus der Stadt Wien Maria Theresien-Schlössl, dem Pflegeheim Sanatoriumstrasse, dem Pulmologischen Zentrum und eben dem Psychiatrischen Krankenhaus.

In den 26 Jahren als Ärztlicher Direktor gelang ihm die erfolgreiche Neuausrichtung des seinerzeit in große Schwierigkeiten geratenen Psychiatrischen Krankenhauses. Er hatte sich für diese Funktion ausdrücklich unter der Voraussetzung beworben, dass seine Aufgabe nicht in der Verwaltung des Status quo, sondern in der Veränderung in Richtung einer modernen Psychiatrie zu verstehen ist. Eberhard Gabriel ist eine Vielzahl positiver Veränderungen zu verdanken, wobei der Weg von einer bewahrenden und überfüllten Anstaltspsychiatrie zu einer völlig neu strukturierten, regionalisierten Sozialpsychiatrie vermutlich der aufwändigste war.

Die von ihm veranstalteten „Steinhofsymposien“ sind legendär und eröffneten erfrischende Sichtweisen auf unterschiedlichste sozialpsychiatrische Themen. Bereits 1982 schrieb er dazu:

Das Thema des 8. Steinhof-Symposiums, in dessen Rahmen wir das 75-jährige Bestehen (1907–1982) des Psychiatrischen Krankenhauses der Stadt Wien-Baumgartner Höhe gefeiert haben, hat sich aus den Themen der Symposien der letzten Jahre entwickelt. … Dem folgte heuer auf eine ganz natürliche Weise, dass wir wieder von den Kranken sprechen, aber diesmal nicht von ihren Krankheiten und Krankheitserscheinungen und deren Beeinflussbarkeit, sondern von ihren Bedürfnissen und den Möglichkeiten und Hindernissen für deren Befriedigung.

Innerhalb der folgenden Jahre gelang ihm die Umwandlung des Psychiatrischen Krankenhauses in eine die Bedürfnisse der Patienten erfüllende stationäre Psychiatrie in hervorragender Weise. Er war von Beginn an einer der Proponenten der Wiener Psychiatriereform, die im nationalen wie auch internationalen Kontext herausragt. Freilich brauchte es für diese riesige Reform des „Innenlebens“ der Institution auch eine entsprechende Unterstützung im „Außen“, die durch den Psychiatriebeauftragten und Chefarzt der Psychosozialen Dienste Wien, Stephan Rudas, gegeben war.

Eberhard Gabriel verstand es, die enormen Anforderungen einer solchen Reform in einer sich rasch ändernden Zeit nicht nur zu bewältigen, sondern auch wissenschaftlich zu untermauern und die nicht unerheblichen Konflikte, die solche Entwicklungen naturgemäß auslösen, mit Besonnenheit zu entspannen und eine Atmosphäre des gegenseitigen Respekts zu erzeugen.

Letztlich trägt auch die von ihm vorbereitete und im Jahr 2000 vollzogene Umgestaltung des Standortes Baumgartner Höhe zu einem über die Angebote der Psychiatrie hinausreichenden bedeutenden Gesundheitsstandort seine Handschrift.

Eberhard Gabriel ist darüber hinaus auch ein hochqualifizierter Psychiatriehistoriker. Sein besonderes Interesse gilt der österreichischen und vor allem der Wiener Psychiatrie um 1900, nicht zuletzt aber auch deren Verstrickungen in die nationalsozialistischen Verbrechen an psychisch Kranken und Behinderten. Lange Zeit war die österreichische Psychiatrie nicht in der Lage, sich ihre Mitverantwortung an den grauenvollen Krankenmorden während der NS-Zeit einzugestehen. Die Aufarbeitung der Katastrophe durch Psychiater selbst begann erst zögerlich in den 80er-Jahren des vorigen Jahrhunderts. Eberhard Gabriel gehört zu den entscheidenden Protagonisten dieser so wichtigen Aufklärungs- und Öffentlichkeitsarbeit. Konsequent setzte er sich persönlich dafür ein, dass das Gedenken an die Opfer der Kindereuthanasie in der damaligen Städtischen Nervenklinik „Am Spiegelgrund“ wachgehalten wird.

1998 wurde auf seine Anregung im Rahmen der 25. wissenschaftlichen Tagung der Österreichischen Gesellschaft für Neurologie und Psychiatrie die Arbeitsgemeinschaft „Geschichte der Psychiatrie“ gegründet, die er durch knapp 20 Jahre leitete. Er war deren Motor und wirkte erfolgreich als Organisator von Sektionssymposien, die weitgehend seine Handschrift trugen.

Einer Initiative von Stadtrat Rieder folgend, organisierte er gemeinsam mit Wolfgang Neugebauer drei Symposien zur Geschichte der NS-Euthanasie in Wien, deren wissenschaftliche Ergebnisse im Auftrag der Generaldirektion des Wiener Krankenanstaltenverbundes in drei Bänden erschienen sind: 2000 Geschichte der NS-Euthanasie in Wien, 2002 Von der Zwangssterilisierung zur Ermordung und 2005 Vorreiter der Vernichtung? Eugenik, Rassenhygiene und Euthanasie in der österreichischen Diskussion vor 1938.

1999 gab Eberhard Gabriel gemeinsam mit Brigitte Keintzel das Buch Gründe der Seele. Die Wiener Psychiatrie im 20. Jahrhundert heraus, für das er Eine psychiatriegeschichtliche Einführung zu ihrer Entwicklung um die Jahrhundertwende beitrug. 10 Jahre später erschien (zusammen mit Martina Gamper) der repräsentative Band Psychiatrische Institutionen in Österreich um 1900. Es war naheliegend, dass Eberhard Gabriel die Organisation der Feier zum 100-jährigen Jubiläum des „Gesundheitsstandortes Baumgartner Höhe“ übernahm, wovon sein schöner, 2007 im Fakultas-Verlag Wien erschienener Band berichtet.

Wesentliches hat Eberhard Gabriel auch zur Biographieforschung wichtiger österreichischer Protagonisten beigetragen, indem er in den Jahren 2001 bis 2006 mit den letzten Zeitzeugen eingehende Interviews durchgeführt hat, so beispielsweise mit Peter Berner (2001), mit Ottokar H. Arnold (2002), mit Gustav Hofmann (2002), mit Raoul Schindler (2003) und mit Lona Spiel (2006).

100 Jahre nach dem Erscheinen von Eugen Bleulers Dementia praecox oder die Gruppe der Schizophrenien publizierte er 2012 in der Neuropsychiatrie einen Artikel über Die frühe Rezeption des Bleulerschen Schizophreniebegriffes in Wien, 2014 in der Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Nervenheilkunde (DGGN) eine umfassende Biographie des Anstaltspsychiaters, Psychopathologen, Schizophrenieforschers und Reformpsychiaters Josef Berze und 2016 in der Zeitschrift Virus – Beiträge zur Sozialgeschichte der Medizin einen Beitrag über den Wiederaufbau des akademischen Lehrkörpers in der Psychiatrie in Wien nach 1945.

Erst unlängst beschäftigte er sich mit der Biographie von Otto Kauders und veröffentlichte 2018 – wiederum in der Schriftenreihe der DGGN – einen Artikel mit dem vielsagenden Titel „Wie dann der Hoff gekommen ist, hat man den Kauders geschwind vergessen“.

Unzählig sind seine Vorträge bei den Jahresversammlungen der ÖGPP, bei den Tagungen der DGGN, beim Verein für Sozialgeschichte der Medizin und bei Alumni-Veranstaltungen in Wien.

Eberhard Gabriel ist nach wie vor psychiatriehistorisch engagiert: Ausgewogen aber deutlich brachte er sich in die Diskussion bezüglich der Malariakuren ein, die von Hans Hoff bis in die 60er-Jahre des vorigen Jahrhunderts an der Wiener Klinik angewandt wurden. Der jüngste vielbeachtete Vortrag fand vor wenigen Monaten im Rahmen der 29. Jahrestagung der DGGN in Graz statt, in welchem er über Die Positionen der Grazer Universitätspsychiatrie im Wechselspiel mit anderen österreichischen und deutschen Schulen von 1870 bis 1964 referierte.

Derzeit arbeitet er an einem Buchprojekt über Rudolf Wlasak (1865–1930), den (Gründungs‑)Vorstand der „Trinkerheilstätte“ der damaligen „Heil- und Pflegeanstalt am Steinhof“.

Eberhard Gabriel bewahrt das historische Wissen der österreichischen Psychiatrie, er zeigt die Irrwege unserer Disziplin auf und ist somit eine laute Stimme für eine humane und humanistische Psychiatrie. Die in seinen psychiatriehistorischen Forschungen aufgegriffenen Themen sind nach wie vor fachlich, wissenschaftlich, ethisch und politisch hochaktuell.

Eberhard Gabriel genoss und genießt seit Jahrzehnten das uneingeschränkte Vertrauen der österreichischen Fachgesellschaft: Von 1994–1996 bekleidete er das Amt des Präsidenten der „Österreichischen Gesellschaft für Neurologie und Psychiatrie“ und setzte während dieser Zeit entscheidende Weichenstellungen für die Zukunft.

Für seine Verdienste um die Neuorganisation der psychiatrischen Versorgung der Bundeshauptstadt zeichnete ihn die Stadt Wien 2000 mit dem Goldenen Ehrenzeichen aus, 2010 verlieh ihm die ÖGPP für sein Lebenswerk die Ehrenmitgliedschaft.

Die Kraft zu seinen vielen Aktivitäten findet er nicht zuletzt in der Beziehung zu seiner Gattin, Frau MR Dr. Eva Gabriel.

Wir kennen Eberhard Gabriel als engagierten, vielseitig interessierten, charismatischen und mit umfassendem Wissen ausgestatteten Menschen und wünschen ihm zu seinem Geburtstag das Allerbeste.

Ad multos annos!