figure a

Auch in seinem neuesten Werk zeigt der Kölner Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge, warum seine Publikationen hohe Auflagen erreichen: Er kann einfach verständlich, klug und kritisch schreiben. Die wirtschaftliche, soziale und politische Ungleichheit hat sich dergestalt entwickelt, dass der viel bemühte „soziale Zusammenhalt“ schwindet und mit guten Gründen buchstäblich von einer „zerrissenen Republik“ gesprochen werden kann. „Armut und Reichtum sind im Kapitalismus der Gegenwart strukturell so miteinander verzahnt, dass beide tendenziell zunehmen. Die zum Teil skandalös niedrigen (Dumping‑)Löhne für Millionen prekär Beschäftigte bedeuten nämlich hohe Gewinne, Dividenden und Renditen für Unternehmer, Kapitalanleger und Börsianer.“ (S. 110). Während daraus im globalen Maßstab ökonomische Krisen, Kriege und Bürgerkriege resultieren, die wiederum größere Migrationsbewegungen nach sich ziehen, sind in Deutschland der soziale Zusammenhalt und die repräsentative Demokratie bedroht. Daher thematisiert Butterwegge nicht bloß, wie soziale Ungleichheit entsteht und warum sie zugenommen hat, sondern auch, weshalb die politisch Verantwortlichen darauf kaum reagieren und was getan werden muss, um sie einzudämmen.

Nach einer Definition der Schlüsselbegriffe „Ungleichheit“, „Armut“ und „Reichtum“ stellt der Verfasser die wichtigsten Theorien und Theoretiker der sozioökonomischen Ungleichheit im deutschsprachigen Raum vor (z. B. Karl Marx, Max Weber, Theodor Geiger). Dann behandelt er (wissenschaftliche) Aussagen zur Sozialstruktur in (West‑)Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, die sich zwischen Empirie und Ideologie bewegen (z. B. Schelskys „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ und Dahrendorfs Erwiderung darauf mittels weberianischer Klassentheorie). Butterwegge zeigt hier auf, dass und wie sich weder Politik und Medien, noch ein Großteil der Sozialwissenschaften um die empirische und logische Mangelhaftigkeit hegemonialer Sozialdiagnosen kümmer(te)n. Viele Theorien zeitgenössischer Soziolog_innen abstrahieren laut Butterwegge von sozioökonomischen Produktions‑, Eigentums- und Klassenverhältnissen als zentralem Strukturmoment bürgerlich-kapitalistischer Gesellschaften. Stattdessen vereng(t)en sie sich immer wieder stark auf die Konsumtionssphäre und deren sensationelle Angebotsfülle. (S. 117 f.).

Auch die veröffentlichte Meinung habe sich hierzulande zu keinem Zeitpunkt ernsthaft mit dem Problem der sozioökonomischen Ungleichheit auseinandergesetzt und praktisch nie reale Möglichkeiten zu seiner Lösung eruiert. „In den maßgeblichen, das Alltagsbewusstsein prägenden Medien wird der Reichtum (…) eher verschleiert und die Armut verharmlost. Dasselbe gilt für die etablierten Parteien und Politiker, deren ganzes Bestreben darauf gerichtet ist, die bestehenden Verteilungsverhältnisse und ihre eigene Mitverantwortung dafür zu rechtfertigen.“ (S. 143) Zustimmend referiert Butterwegge die Position des Soziologen Jürgen Ritsert, wonach die meisten soziologischen Ansätze während der verschiedensten Phasen der BRD-Geschichte das Ziel verfolgten, die Klassen durch Theorie zum Verschwinden zu bringen. Ob die aktuellsten Diskurse über soziale Ungleichheit national und international (z. B. Thomas Piketty und Papst Franziskus) auf den Beginn einer neuen Phase der Wahrnehmung sozialer Disparitäten hindeuten, lässt er offen. (S. 205).

Daraufhin geht es dem Verfasser um verschiedene Ausprägungen der Ungleichheit, wobei neben der Einkommens- und Vermögensverteilung vor allem das Bildungs- und Gesundheitssystem in den Blick genommen werden. Gerade die hegemonialen Bildungs-Mythen – nach dem Motto: jeder ist seines eigenen Bildungs-Glückes Schmied und: „Bildungsarmut“ als „Humankapitalschwäche“ – werden einer vortrefflichen Analyse und Kritik unterzogen.

Dann untersucht Butterwegge die Entstehungsursachen der sozioökonomischen Ungleichheit, wobei die Globalisierung bzw. die neoliberale Modernisierung sowie Fehlentscheidungen und falsche Weichenstellungen der politisch Verantwortlichen eine Schlüsselrolle spielen. So weist der Autor darauf hin, dass die sozioökonomische Ungleichheit in den kapitalistischen Produktions‑, Eigentums- und Herrschaftsverhältnissen wurzelt und der Anstieg der Ungleichheit nicht die naturwüchsige Folge von digitaler Revolution, Wissensökonomie und kühner schöpferischer Zerstörung ist, sondern auch Konsequenz politischer Entscheidungen.

Die Folgen der sozialen Ungleichheit thematisiert Butterwegge, indem er die zunehmende Polarisierung der Gesellschaft, die Prekarisierung der Lohnarbeit und die Pauperisierung eines wachsenden Teils der Bevölkerung, aber auch die politische Spaltung als nicht minder problematisches Resultat der sozioökonomischen Spaltung kontextualisiert. Das führt zu der Frage, welche Gegenstrategien notwendig wären. Deren Entwurf und die Diskussion von Lösungsmöglichkeiten erörtert Butterwegge am Ende seines Bandes. Mit einigen Redundanzen sind die Ursachen insgesamt hervorragend ausgearbeitet, wohingegen die Gegenmaßnahmen relativ kurz angehängt wirken könnten. Wer sich einen gehaltvollen Überblick zum Thema Ungleichheit in Deutschland verschaffen will, kann sich mit Butterwegge sicher sein, dass der aktuelle Forschungsstand kritisch reflektiert vorkommt.