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Hofmannsthals Der Abenteurer und die Sängerin als Maskentanz schöpferischer Lebenskunst

Hofmannsthals Der Abenteurer und die Sängerin as masquerade of creativeness

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Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte Aims and scope Submit manuscript

Zusammenfassung

Hofmannsthals ›Comédie‹ Der Abenteurer und die Sängerin zeigt – unter Rekurs auf Kontexte wie ›Venedig‹, D’Annunzio und Nietzsche – auf vier verschiedenen Ebenen das Potenzial eines schöpferischen Umgangs mit dem Leben und seinen Formen: (I.) Mit Blick auf Vittorias Liebeskonflikt wird das Potenzial einer höheren Lebenskunst thematisiert, die sich an den Schein als lebenserhaltende ›Lüge‹ hält. (II.) Mit Blick auf Vittoria als Sängerin wird kunstphilosophisch das Ich der Künstlerin als ›Atmosphäre‹ von Sehnsüchten thematisiert, aus der neue ästhetische Formen wie Träume herausgetrieben werden. (III.) Über das formal-dramaturgische Arrangement des Textes wird das poetologische Potenzial einer schöpferischen ›Mythenbildung‹ erprobt, die nicht im Modus des ›Anempfindens‹ verharren will. (IV.) Anhand der Gestalt des Abenteurers wird schauspielphilosophisch das weiterschöpfende Potenzial eines virtuosen Schauspielers in Relation zum Dramentext des Dichters reflektiert.

Abstract

Hofmannsthal’s ›Comédie‹ Der Abenteurer und die Sängerin accentuates – with particular reference to such contexts as ›Venice‹, D’Annunzio, and Nietzsche – four levels of a specific creativeness towards life and its forms: (I.) Against the frame of Vittoria’s love conflict, the drama thematizes the life-saving potential of an affirmation of the art of lie, masque and appearance. (II.) With regard to Vittoria the singer, the drama accentuates the ›atmosphere‹ of the artist’s longing self as a kind of condensation zone for the dreamy, mysterious emergence of new works of art. (III.) The formal dramaturgical structure of the text tests the potential of a creative myth-making process (›Mythenbildung‹), which strives to overcome the decadent mode of adaptation (›Anempfinden‹). (IV.) With the figure of the adventurer, the drama reflects Hofmannsthal’s theater-philosophical thoughts about the creative capacity of a virtuous actor, which nourishs the writer’s text with life and experience.

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Notes

  1. Ich zitiere Hofmannsthals Werke und Aufzeichnungen in Folgendem nach: Hugo von Hofmannsthal, Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe, veranstaltet vom Freien Deutschen Hochstift, 40 Bde., Frankfurt a. M. 1984–2011 unter Angabe des Bandes und der Seitenzahl mit der Sigle SW. Hier: Hofmannsthal, Der Abenteurer und die Sängerin, SW V, hrsg. Manfred Hoppe, Frankfurt a.M. 1992, 177. Vgl. zum Verhältnis von Hofmannsthals Drama zu seiner Quelle, die sonst überholte Deutung von Martha Bowditch Alden, »The destillation of an episode: Casanova’s Memoirs – a source for Hofmannsthal’s ›Der Abenteurer und die Sängerin‹«, The German Quaterly 53 (1980), 189–198. Hofmannsthal änderte den Stoff gegenüber seiner Vorlage in drei für sein Stück charakteristischen Punkten: Erstens verlegte er den Schauplatz von Florenz nach Venedig; zweitens änderte er das Alter der Hauptfiguren (der Abenteurer ist deutlich älter als der historische Casanova, die Sängerin war bei Hofmannsthal zum Zeitpunkt des erotischen Abenteuers weit jünger als die Geliebte Casanovas), drittens wertete Hofmannsthal den Ehemann und den Sohn als Spiegelfiguren zum Abenteurer in ihrer Bedeutung für das Ganze stark auf.

  2. Vgl. hierzu zuletzt: Mario Zanucchi, Transfer und Modifikation. Die französischen Symbolisten in der deutschsprachigen Lyrik der Moderne (1890–1923), Berlin, Boston 2016, bes. 423–516. Zanucchi zeigt, wie Hofmannsthal den französischen Symbolismus bereits in seiner Lyrik lebensphilosophisch überformt und »im Sinne einer Balance von Kunst und Leben modifiziert«. Hofmannsthals Distanz gegenüber dem französischen Symbolismus gründe zum einen in seiner fundamentalen Sprachkritik, zum anderen in der Nähe zur Tradition der sogenannten Erlebnislyrik und der Schlüsselrolle der Erlebnis-Kategorie für seine Poetik, die mit der symbolistischen Dissoziation des lyrischen Ichs vom erlebenden Ich nicht einverstanden sein konnte. Zanucchi belegt in seinen Analysen der Ausgewählten Gedichte, dass Hofmannsthals Kritik an der symbolistischen Antithese von Kunst und Leben durch Nietzsches Sprach‑, Historismus- und Décadence-Kritik inspiriert und angeleitet wurde. Hofmannsthals umfassende Nietzsche-Rezeption setzt bereits Anfang der 1890er Jahre ein.

  3. Vgl. Franziska Merklin, Stefan Georges moderne Klassik: Die ›Blätter für die Kunst‹ und die Erneuerung des Dramas, Würzburg 2014, bes. 64–84, hier: 68: »Hofmannsthal stimmte zwar in gattungspoetologischen Einschätzungen in vielem mit George überein, war aber nicht bereit, auf öffentliche Inszenierung seiner Stücke zu verzichten.« Ein Konfliktpunkt war auch Hofmannsthals Vertrauen in die »Rezitationsweise professioneller Schauspieler« und andere Bühnenmittel.

  4. Vgl. zu Hofmannsthals Stimmungsbegriff grundlegend: David E. Wellbery, Art. »Stimmung«, in: Ästhetische Grundbegriffe, hrsg. Karlheinz Barck u. a., Bd. 5, Stuttgart 2003, 703–733, bes. 715–718, hier: 717: Ein »Hauptmoment von Hofmannsthals Stimmungsbegriff« ist die »Zeittiefe«: »Es sind ›Erinnerungen‹, die in der poetischen Evokation zurückkehren, aber eben nicht […] bewußt vollzogene Erinnerungen, sondern präreflexiv erlebte«, die im »Resonanzkörper« von Leib und Sprache erklingen.

  5. Mit Bezug auf Cristinas Heimreise schreibt Hofmannsthal am 25. März 1910 an Ottonie Gräfin Degenfeld: »Aber ich glaube, das Eigentliche in dem Stück liegt nicht in den Figuren (vielleicht wird das überhaupt in meinen Comödien so sein), sondern in dem, wie die Figuren zu einander stehen. Verhältnisse zwischen Menschen sind mir etwas besonders anziehendes. Das Verhältnis zwischen zwei Menschen ist etwas ganz bestimmtes, ist ein Individuum, ein zartes, aber wesenhaftes Gebilde. Dies zu sehen, und daraus etwas zu machen, das ist vielleicht meine Sache. […] Das Individuum ist voll Schwere aber diese Beziehungen schweben frei zwischen, ja über den Menschen, geistige Kinder gleichsam mit dämonischen oder Engelsgesichtern. […]« (SW XI, 807). Vgl. auch die Aufzeichnung aus dem Jahr 1909, SW XXXVIII, 580: »Comödie hat das Zusammensein – das Co-existieren der Menschen zum Gegenstand, worin nun freilich auch Mystisches liegt«.

  6. Hilde D. Cohn, »›Mehr als schlanke Leier‹. Zur Entwicklung dramatischer Formen in Hugo von Hofmannsthals Dichtung«, Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 8 (1964), 280–308, bes. 297–301, hier: 301.

  7. Vgl. Günther Erken, Hofmannsthals Dramatischer Stil, Tübingen 1967, 108–113. Erken betont, dass Hofmannsthal in Der Abenteurer und die Sängerin qua Motiv »Wiederbegegnung« die Handlung durch die Struktur der Spiegelung weitgehend ersetze und die Konstellation weitgehend »unbewegt« bleibe. Er sieht in der »Demonstration«, im philosophischen Kommentar die vorherrschende stilistische Kategorie des Werkes und unterstreicht – auch aufgrund des großen »mythologischen Aufgebotes« – eine Nähe zur barocken und vorbarocken Dramenauffassung. »In der voll ausgebildeten Schauspiel-Metaphorik des Dialogs« reflektiere »sich die demonstrative Anlage des Werks schließlich selbst« (ebd., 113). Ich werde demgegenüber zeigen, dass sich die Schauspielmetaphorik nicht in den Funktionen Selbstreflexion erschöpft. Auch das »mythologische Aufgebot« scheint mir, wie ich unten noch ausführen werde, eher von einem postbarocken, allegorische Sinnschöpfungshoffnungen ironisierenden Charakter zu sein.

  8. Hugo von Hofmannsthal, Aufzeichnung aus dem Nachlass (1909), in: Ders., Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden: Reden und Aufsätze III/ Aufzeichnungen, hrsg. Bernd Schoeller, Frankfurt a. M. 1979, 498.

  9. Ebd. Vgl. nochmals Wellbery, »Stimmung« (Anm. 4), 717: Das zweite Hauptmoment von Hofmannsthals Stimmungsbegriff ist die »Unpersönlichkeit«: »Die Stimmung als innere Konfiguration kontingenter Begegnungen mündet in ichlose Prozessualität ein.«.

  10. Beispielhaft und leider ›Schule machend‹: William H. Rey, »Eros und Ethos in Hofmannsthals Komödien« [1956], in: Ders., Essays zur deutschen Literatur, hrsg. Ernst Behler, Gunter H. Hertling, New York 1997, 78–105, hier: 80: »Auf der einen Seite erscheint die faszinierende Gestalt des Abenteurers als Repräsentant eines dionysischen oder erotischen Enthusiasmus. Ihm tritt die Gestalt der treuen Frau gegenüber, die im Geiste echter Liebe ihre Selbstverwirklichung in der ethischen Ordnung des Lebens sucht. So zeigt sich in den Lustspielen der gleiche Dualismus zwischen Eros und Ethos, Leben und Treue, der die Problematik und den Aufbau der ›Ariadne auf Naxos‹ bestimmt. […] Eben weil er [Hofmannsthal, Wokalek] so sehr unter den antithetischen Spannungen einer zerrissenen Welt litt, wies er der Dichtung so nachdrücklich das Amt zu, diese Gegensätze zu überwinden und die entfaltete Harmonie der Kräfte darzustellen.« Die bisherige Forschung zum Drama Der Abenteurer und die Sängerin konzentrierte sich bislang meist auf die titelgebende Figur des Abenteurers. Ich werde unten im Abschnitt IV. darauf eingehen und meine abweichende Position entwickeln. Auf die wenigen Beiträge zu anderen Aspekten des Textes weise ich im Folgenden hin.

  11. Vgl. Hofmannsthals Aufzeichnung vom Ostersonntag, 7. April 1901, SW XXXVIII, 438: »Eine Stimmung, dem Dasein und dem Schicksal gegenüber:/ All was wir haben, ist gelieh’n/ Und brauchen wir’s wie unser Eigen/ wird sich der rechte Besitzer zeigen./ Dies hat den gleichen Sinn, wie: il faut glisser, ne pas appuyer.// Wäre eine Jungfrau auf ihre Jungfrauschaft übermäßig stolz, gleich wäre sie’s im höchsten Sinn nicht mehr; ebenso Mutter- und Vaterschaft muss mit Bescheidenheit gefühlt werden.« Vgl. zu Bourget als möglicher Quelle dieser Sentenz und ihren Bedeutungen bei Hofmannsthal: Joëlle Stoupy, »›Il faut glisser la vie…‹. Ein Zitat und seine Wandlungen im Werk Hugo von Hofmannsthals«, Hofmannsthal-Blätter 39 (1989), 9–41.

  12. Vgl. SW V, 171: »VITTORIA (lächelnd) Ist eine Frau im Spiel?/ So mußt du wirklich, Frauen sind gefährlich! Man sagt’s zumindest. Ich war es nicht:/ Dir nicht, dem alten Mann nicht, nicht dem dritten./ Vielleicht auch bin ich keine rechte Frau.« Vgl. zu den Weiblichkeitsstereotypen auch Gudrun Brokoph-Mauch, »Die femme fragile in dem Drama ›Der Abenteurer und die Sängerin‹«, in: Joseph P. Strelka (Hrsg.), »Wir sind aus solchem Zeug wie das zu träumen«… Kritische Beiträge zu Hofmannsthals Werk, Bern 1992, 127–138.

  13. Vgl. Johann Wolfgang Goethe, »Urworte. Orphisch« (Dämon), in: Ders., Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bde., Bd. I, hrsg. Erich Trunz, München 1981, 359.

  14. Marco Rispoli, »Venedig. Weg vom festen Land, il faut glisser«, in: Wilhelm Hemecker, Konrad Heumann, Claudia Bamberg (Hrsg.), Hofmannsthal. Orte. 20 biographische Erkundungen, Wien 2014, 156–175, hier: 159.

  15. Die Quelle nach Kommentar in SW XXXIX, 613: Jacob Böhme, »De incarnatione verbi oder Von der Menschwerdung Jesu Christi«, in: Ders., Sämmtliche Schriften. Faksimile-Neudruck der Ausgabe von 1730 in elf Bänden, Stuttgart 1957, Bd. IV, 10.

  16. Rispoli (Anm. 14), 160.

  17. Vgl. Hofmannsthal, an den Vater, Venedig, 20. Sept. 1898, in: Ders., Briefe. 1890–1901, Berlin 1935, 267 ff. Das Bändchen mit dem Titel l’Allegoria dell’autunno hat sich mit Lesedatum, Anstreichungen und Annotationen in Hofmannsthals Bibliothek erhalten, vgl. SW XL, 148 f. Vgl. auch: Elena Raponi, Hofmannsthal e l’Italia. Fonti italiane nell’opera poetica e teatrale di Hugo von Hofmannsthal, Mailand 2002.

  18. Rispoli (Anm. 14), 162.

  19. Vgl. Hofmannsthals Aufzeichnungen aus dem Herbst 1898, SW XXXVIII, hier: 403 f.

  20. Gabriele D’Annunzio, Das Feuer, hrsg. Vincenzo Orlando, München 1988, 120.

  21. Vgl. D’Annunzio (Anm. 20), 113: »Siehst du […], wie Pisanello mit der gleichen wunderbaren Geschicklichkeit verstand, die erhabenste Blume des Lebens und die reinste Blume des Todes darzustellen. Hier ist das Bild des weltlichen Begehrens und das Bild der himmlischen Sehnsucht in derselben Reinheit des Stils wiedergegeben. Erkennst du hier nicht die Analogien, die deine eigene Kunst mit dieser Kunst verbinden? Wenn deine Persephone von dem Granatapfelbaum in der Unterwelt die reife Frucht pflückt, so liegt auch in dieser begehrlichen Geste etwas Mystisches, denn unbewußt entscheidet sie ihr Schicksal, wenn sie die Schale teilt, um die Kerne zu essen. […] Damit hast du den Charakter deines ganzen Werkes gekennzeichnet.«.

  22. Vgl. D’Annunzio (Anm. 20), 96: »Mit geneigtem Kopf, in der ganzen Haltung etwas Krampfhaftes, das der äußersten Anspannung seines Geistes entsprach, suchte er jetzt eine der geheimen Analogien zu entdecken, die die mannigfaltigen und verschiedenartigen Bilder mit einander verbinden sollte, die ihm wie in kurzen Zwischenpausen schnell aufeinander folgende Blitze erschienen.«.

  23. Vgl. D’Annunzio (Anm. 20), 131: »In dieser Stunde war er nur der Vermittler, durch den die Schönheit den Menschen, die sich in einem durch Jahrhunderte menschlichen Ruhms geweihten Orte versammelt hatten, die göttliche Gabe des Vergessens brachte. Er tat nichts anderes, als die sichtbare Sprache, in der die alten Künstler das Streben und die Inbrunst der Rasse ausgedrückt hatten, in die Rhythmen des Wortes zu übersetzen. Und für eine Stunde mußten diese Menschen die Welt mit anderen Augen betrachten, sie mußten mit einer anderen Seele fühlen, denken und träumen.«.

  24. Vgl. D’Annunzio (Anm. 20), 123.

  25. 1890 hatte Hofmannsthal seinem ungedruckten Gedicht »Gedankenspuk« einen (fingierten) Ausruf Nietzsches als Motto beigegeben: »Könnten wir die Historie loswerden«. So heißt es dort: »Wir tragen im Innern/ Leuchtend die Charis,/ Die strahlende Ahnung der Kunst./ Aber die Götter haben sie tückisch/ Mit Hephästos vermählt:/ Dem schmierigen Handwerk, […]« (SW II, 33 f., Vs. 16–21). Der blöde »Mönchsfleiß«, die eigene »Beschränktheit«, der im Künstler wie ein »lallender Kobold« sich gebärende »deutsche Professor« schwächen die plastische Kraft des Dichters (Vs. 31–36). Die tradierten Geschichten, Figuren, Bilder, Mythen – Hamlet, Faust, Sganarelle, die Propheten oder Griechen –, die der Dichter alle in seinem Innern trägt, werden in seiner Gestaltung nicht neu lebendig. Bloß »anempfunden« drohen sie als »Bacchanal von Gespenstern« das Leben aus seiner Hirnschale zu trinken und ihn wie »Parasiten« auszusaugen (Vs. 43–45). Schon hier wird also unter Rekurs auf Nietzsche die schöpferische Kraft anvisiert, die es braucht, um Gespenster der Erinnerung mit ›flammenden Genius‹ (vgl. SW II, 33) gestaltend zu bewältigen und ihren paralysierenden Reigen zu überleben. Bislang hat noch kein Forschungsbeitrag Nietzsches Abhandlung Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben für die Deutung von Der Abenteurer und die Sängerin in den Blick genommen. Allein Carina Lehnen hatte die Intuition, dass Hofmannsthal in Nietzsche »womöglich einen entscheidenden Fürsprecher für die Berechtigung von Untreue und Wandlungsfähigkeit gefunden« habe, um sogleich wieder hinzuzufügen, dass das Werte seien, die für Hofmannsthal »selbst problematisch und fragwürdig« gewesen seien. Vgl. Carina Lehnen, Das Lob des Verführers. Über die Mythisierung der Casanova-Figur in der deutschsprachigen Literatur zwischen 1899 und 1933, Paderborn 1995, 121. Eder macht Nietzsches Abhandlung für die Analyse des Geschwisterkonfliktes im Umgang mit Erinnerung in Hofmannsthals Elektra fruchtbar: Antonia Eder, Der Pakt mit dem Mythos. Hugo von Hofmannsthals ›zerstörendes Zitieren‹ von Nietzsche, Bachofen, Freud, Freiburg 2013, 134–150.

  26. Vgl. Friedrich Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen II: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, in: Ders., Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hrsg. Giorgio Colli, Mazzino Montinari, Bd. 1, München 1999, 243–334, hier: 251: »die plastische Kraft eines Menschen, eines Volkes, einer Cultur […], jene Kraft, aus sich heraus eigenartig zu wachsen, Vergangenes und Fremdes umzubilden und einzuverleiben, Wunden auszuheilen, Verlorenes zu ersetzen, zerbrochene Formen aus sich nachzuformen.« Nietzsches Werke werden in Folgendem nach dieser Ausgabe unter Angabe des Bandes und der Seitenzahl mit der Sigle KSA ausgewiesen.

  27. Vgl. zur Engführung von Nachtwandeln und Dichten und zur funktionalen Äquivalenz der Begriffe Traum, Kunst, Schauspiel und Schein bei Nietzsche von Geburt der Tragödie bis Zarathustra: Claus Zittel, »›Nachtwandler des Tages‹. Traumpoetik und Parodie in Nietzsches ›Also sprach Zarathustra‹«, in: Gabriella Pelloni, Isolde Schiffermüller (Hrsg.), Pathos, Parodie und Kryptomnesie. Das Gedächtnis der Literatur in Nietzsches ›Also sprach Zarathustra‹, Heidelberg 2015, 125–169, bes. 126–133. Dort auch weitere Literaturhinweise zu Nietzsches möglichen Quellen: Heine, Schopenhauer und Wagner; wobei Letztere das Schlafwandeln nicht mit dem Dichten, sondern mit der Musik und dem Hören in unmittelbare Verbindung bringen.

  28. Vgl. die bekannte Formulierung, die Hofmannsthal 1911 im sogenannten Ariadne-Brief an Richard Strauss prägte: »Verwandlung ist Leben des Lebens, ist das eigentliche Mysterium der schöpfenden Natur; Beharren ist Erstarren und Tod. Wer leben will, der muß über sich selber hinwegkommen, muß sich verwandeln: er muss vergessen. Und dennoch ist ans Beharren, ans Nichtvergessen, an die Treue alle menschliche Würde geknüpft. Dies ist einer von den abgrundtiefen Widersprüchen, über denen das Dasein aufgebaut ist, wie der delphische Tempel über seinem bodenlosen Erdspalt« (SW XXXIV, 70).

  29. Vgl. die Zeugnisse in: SW V, 490–508, hier: 500: Hofmannsthal an Franziska Schlesinger, Wien, 16. Februar <1899>: »Der ›Abenteurer‹ ist übrigens durch die Bühnenbearbeitung und durch lächerliche Bedenken der Censur und des Intendanten ganz verstümmelt, eigentlich nicht einmal die Hälfte von dem was ich ursprünglich geschrieben hab.«.

  30. Vgl. SW V, 503: Die Uraufführung der Bühnenfassungen fand parallel am 18. März 1899 am »Deutschen Theater«, Berlin (Der Abenteurer. Eine Szene), und am »Burgtheater«, Wien (Der Abenteurer und die Sängerin. Ein Akt), zusammen mit Hofmannsthals Die Hochzeit der Sobeide statt. Sowohl in Berlin als auch in Wien wurde die Figur des Cesarino, zum Leidwesen Hofmannsthals, z. T. sehr kurzfristig komplett gestrichen. Beide Inszenierungen wurden wenig besucht und bald abgesetzt.

  31. Vgl. Nietzsche, Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, KSA 3, 249 f.: Nietzsche illustriert die das schöpferische Leben kennzeichnende Relation von Vergessen-Können und Erinnern-Müssen mit einer aufsteigenden Gestaltenreihe vom alles immer vergessenden Tier, über das Kind, zum »Cyniker«, bis hin zum Menschen, der die Kraft zu vergessen gar nicht besitzt. Das »Haschen nach neuem Glück« ist nach Nietzsche das, »was den Lebenden im Leben festhält und zum Leben fortdrängt«. So habe »vielleicht kein Philosoph mehr Recht als der Cyniker: denn das Glück des Thieres, als des vollendeten Cynikers, ist der lebendige Beweis für das Recht des Cynismus« (ebd.). Es sei das »Vergessen-können«, wodurch das Glück zum Glück wird, »oder, gelehrter ausgedrückt, das Vermögen, während seiner Dauer unhistorisch zu empfinden« (250). Vittoria selbst apostrophiert den Abenteurer Weidenstamm auch als »Kind, Du großes Kind!« (SW V, 238).

  32. Vgl. Nietzsche, Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, KSA 1, 256: »der überhistorische Denker […] wie sollte er es im unendlichen Ueberflusse des Geschehenden nicht zur Sättigung, zur Uebersättigung, ja zum Ekel bringen!« Vgl. auch ebd., 254: »Ueberhistorisch wäre ein solcher Standpunkt zu nennen, weil Einer, der auf ihm steht, gar keine Verführung mehr zum Weiterleben und zur Mitarbeit an der Geschichte verspüren könnte, […].«.

  33. Vgl. Hofmannsthal, Der Abenteurer und die Sängerin, SW V, 140: »[…] – noch einmal dies?/ Ich merk’, das Leben will dasselbe Stück nicht wiederholen …. Was die Seele/ genossen und ertragen hat einmal,/ brennt sich beim Wiederkehren in sie ein mit glühnden Stempeln: Ekel, Scham und Qual./ Dies ist beinah’ der Brauch wie auf Galeeren:/ und da und dort hilft eins, sich zu erwehren.«.

  34. Im Bourget-Essay Zur Physiologie der modernen Liebe (1891) skizzierte Hofmannsthal das Ideal des »ganzen Menschen« als »Heilsweg« aus der dekadenten »Mourance«: »die Reflexion vernichtet, Naivetät erhält, selbst Naivetät des Lasters; Naivetät, ingenuité, simplicitas, die Einfachheit, Einheit der Seele im Gegensatz zur Zweiseelenkrankheit, also Selbsterziehung zum ganzen Menschen, zum Individuum Nietzsche’s« (SW XXXII, 9). Unter den »drei ganzen Menschen«, die Hofmannsthal in Bourgets Physiologie de l’amour moderne findet, sind zwei Gestalten vom Format des Abenteurers Baron Weidenstamm: ein »Gewohnheitsspieler« und ein »viveur im großen Stil, der echte homme à femmes…« (ebd., 9 f.).

  35. Vgl. Zanucchi (Anm. 2), 448.

  36. Vgl. Hofmannsthal, Der Abenteurer und die Sängerin, SW V, 110 f.: »Hast du keine Schwester?/ Zur Kupplerin mit ihr!/ Was, keinen Bruder,/ an den Kapellmeister, der Bubenstimmen/ für Engelschöre braucht, ihn zu verkaufen?/ Auch nicht? So ging’ ich und verhandelte/ das Leben eines Menschen, den ich nie/ gesehn und liehe die Pistole mir/ als einen Vorschuß von der Summe aus,/ die ich mit ihr verdienen wollte. Was?«.

  37. Vgl. SW V, 117 f.: »Dies war vielleicht mein Vater./ Zumindest hab’ ich meinen nie gesehn/ und möchte keinem von dem Alter weh tun/ aus Angst, es wär’ gerade der. Es gibt Zufälle von der Art./ mir träumt’s auch öfter./ Gott weiß, der tolle Krüppel in dem Dorf,/ wo ich heut’ durchkam und vor zwanzig Jahren/ auch einmal schlief, der war vielleicht mein Sohn/ und fletschte grad’ auf mich so wild die Zähne.«.

  38. Die, wie ferner Donner, zuschlagenden Tore sind, wie Manfred Hoppe im Kommentar der SW anmerkte, eine Reminiszenz an Goethes Orest. In Iphigenie, III. 3, Vs. 1415–1421 fühlt sich der von seinem Wahnsinn erlöste Orest zur frischen Tat im Leben aufgerufen: »Die Eumeniden ziehn, ich höre sie,/ Zum Tartarus und schlagen hinter sich/ Die ehrnen Tore fernabdonnernd zu. Die Erde dampft erquickenden Geruch/ Und ladet mich auf ihren Flächen ein,/ Nach Lebensfreud’ und großer Tat zu jagen.«.

  39. Vgl. Nietzsche, Fröhliche Wissenschaft, 54., KSA 3, 417: »[…] – dass unter allen diesen Träumenden auch ich, der ›Erkennende‹, meinen Tanz tanze, dass der Erkennende ein Mittel ist, den irdischen Tanz in die Länge zu ziehen und insofern zu den Festordnern des Daseins gehört, und dass die erhabene Consequenz und Verbundenheit aller Erkenntnisse vielleicht das höchste Mittel ist und sein wird, […] die Dauer des Traumes aufrecht zu erhalten.«.

  40. Vgl. noch einmal Nietzsche, Fröhliche Wissenschaft, 59., KSA 3, 423: »[…] wir steigen offenen Auges und kalt gegen alle Gefahr auf den gefährlichsten Wegen empor, hinaus auf die Dächer und Thürme der Phantasterei, und ohne allen Schwindel, geboren zum Klettern – wir Nachtwandler des Tages! Wir Künstler!«.

  41. Diese Mythosvariation wirft auch ein die Figur des Barons parodierendes Licht auf die Europa-Zeus-Variation vom Anfang des Dramas. Zu Beginn des ersten Aufzugs hatte der Abenteurer eine venezianische Festordnung phantasiert, mit deren verschwenderischer Dekadenz er sich als Stier/Zeus (unfreiwillig) gleich selbst ›kastriert: So viele Fackeln will er anzünden lassen, dass »aus dem Kanal ein fließend Feuer« wird und »Europa sich/ mit ihren Nymphen aufgescheucht/ in einem dunkleren Gemach versteckt/ und daß ihr Stier geblendet laut aufbrüllt!« (SW V, 106).

  42. So sah es auch Paul Requadt, »Sprachverleugnung und Mantelsymbolik im Werke Hofmannsthals«, Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 29 (1955), 255–283, hier: 268. Vgl. zu Vittorias Geste des Mantelabwurfs, SW V, 101 f. Der Abenteurer Baron Weidenstamm kann beliebig Namen und Kleider wechseln und gibt sich dabei nie preis. Bei seiner Flucht aus den Bleikammern Venedigs trug er über seinem grünen Rock das Habit eines Domherrn und darüber wieder die Kleider eines dänischen Edelmanns; er sprang und tat sich »nur am Finger weh« (135).

  43. Die Formulierungen erinnern an die Schlussverse von Hofmannsthals Gedicht »Ein Traum von grosser Magie« (1895), in denen sich der Traum vom Magier als ein in uns flackerndes Feuer magischer Einbildungskraft entpuppt: »Doch Er ist Feuer uns im tiefsten Kerne/ – So ahnte mir, da ich den Traum da fand –/ Und redet mit den Feuern jener Ferne// Und lebt in mir wie ich in meiner Hand« (SW I, 53, Vs. 43–46). Ein wichtiger Intertext dieses Gedichts: Schopenhauers Transcendente Spekulation über die anscheinende Absichtlichkeit im Schicksale des Einzelnen.

  44. Vgl. Benjamin Bennett, Hugo von Hofmannsthal. The theaters of consciousness, Cambridge 1988, 82–101: »Theatrical Philosophy: From Der Tor und der Tod to Theater in Versen«, hier: 94–99: Bennett fragt nach der theatralen Philosophie der frühen dramatischen Gedichte Hofmannsthals: »[…] revelation of the nature of human existence by an unmasking of the theatrical situation as a reality realer than real« (93). Aufgrund von Hofmannsthals dramaturgischem Verfahren, die Illusion als Illusion auszustellen, übe der Theaterzuschauer von Der Abenteurer und die Sängerin im Akt des Zuschauens, was es bedeute, eine Lüge zu leben: »Our sitting in the theater is thus an ethical exercise, an exercise in being like Vittoria, at once both fully aware that life is a lie and fully determined to make of his lie a single affirmable reality.«.

  45. Richard Beer-Hofmann, »Aufzeichnungen zu ›Ariadne auf Kreta‹ und ›Ariadne auf Naxos‹. Mitgeteilt von Eugene Weber«, Hofmannsthal Blätter 13/14 (1975), 3–14, hier: 10.

  46. Beer-Hofmann (Anm. 45), 13.

  47. Ebd.

  48. Natürlich kommen auch andere Bezüge infrage; nicht zuletzt die mythologischen Bilddarstellungen, die Hofmannsthal in Venedigs Dogenpalast betrachten konnte, und die auch die Rede des Helden D’Annunzios im Roman Das Feuer inspirieren (vgl. oben Anm. 20 ff): Paolo Veroneses »Apotheose Venedigs«, Tintorettos Gemälde des Augenblicks, in dem Ariadne von Aphrodite die Sternenkrone empfängt, Tintorettos »Die Hochzeit der Ariadne und des Bacchus«. Im Dogenpalast ist im Übrigen auch Veroneses »Raub der Europa« zu sehen! Ich erinnere außerdem daran, dass in D’Annunzios Das Feuer eine Sängerin im Anschluss an Stelios Rede eine Arie aus Benedetto Marcellos (1686–1739) Oper »Arianna« (Venedig, 1727) singt.

  49. Vgl. SW V, 176. Dabei stößt sie, ohne es zu merken, mit dem Fuß an die Orange, die bereits in der Szene mit dem alten Komponisten im Rahmen eines stummen Spiels zum kunstphilosophisch bedeutungsvollen Requisit wurde. Vgl. Erken (Anm. 7), 237 f. und Cohn (Anm. 6), 300: Vittorias Spiel mit der Orange sei »Hofmannsthalsche Ballettdichtung«; rund um Vittorias Abgang spreche der Raum noch einmal »als ein visuelles Finale«: »Indem Cäsarino [!] sich zuerst nach rechts zu Vittoria, dann aber auch schräg rückwärts zu Lorenzo wendet, weist er auf den Weg, den Lorenzo, die ganze Tiefe der Bühne durchmessend und Bacchus’ vorgezeichneter Spur folgend, beschreiten wird. Als echter Mittler erweitert Cäsarino, der Sohn des Abenteurers und der Sängerin, den sichtbaren Raum um die anliegenden Räume und öffnet so die neue Perspektive menschlichen Lebens, in der das Stück endet« (301).

  50. Eder beschreibt in ihrer Analyse der späteren Griechendramen Hofmannsthals Verfahren der Mythosvariation als eine Dynamik von Figuration und (gewaltsamer) Defiguration: Eder (Anm. 25), bes. 20 f. Im Zusammenhang mit dem frühen Übergangsdrama Der Abenteurer und die Sängerin würde ich eher das überhistorisch-postmythologisch gleitende Überschreiten des ›alten‹ Mythos durch »choreographiertes Zitieren« akzentuieren.

  51. D’Annunzios Nachruf auf Kaiserin Elisabeth von Österreich, ›La Vertu du fer‹, erschien in Hofmannsthals Übersetzung am 15. Oktober 1898 in »Die Zukunft«. Vgl. SW XXXII, 215–218 (siehe auch 695, 3 ff. dieses Bandes).

  52. Vgl. Hofmannsthal an Bahr, Venedig, 28. Sept. 1898, in: Elsbeth Dangel-Pelloquin (Hrsg.), Hugo und Gerty von Hofmannsthal – Hermann Bahr. Briefwechsel 1891–1934, Göttingen 2013, 129 f.

  53. In einer Aufzeichnung aus Venedig im September 1898 schreibt Hofmannsthal unter den Namen »d’Annunzio« folgende zwei Zeilen: »Mythenbildende Zeit: in die Zauberwildniss der Renaissance greifen wir/ die Vergangenheiten und die Jahreszeiten vermählen wir symbolisch« (SW XXXVIII, 402). In einer Notiz Hofmannsthals zu dem Aufsatz aus dem Nachlass Die neuen Dichtungen Gabriele d’Annunzios heißt es dann: »die Renaissance der Renaissance wie die erste eine italienische Nationalthat/ damals aus Standbildern jetzt aus Bildern werden die compliciertesten Lehren gezogen auf alles bezüglich« (SW XXXIX, 694).

  54. In seinen Nachlassnotizen zu Dialoge über die Kunst (1893–1894) spricht Hofmannsthal auch vom Dichter als vom »Poet-Mythenbildner«, vgl. SW XXXVII, 97.

  55. Vgl. zum »distanzierenden ›Spielcharakter‹« des Mythos (mit Blumenberg und Jamme) auch: Eder (Anm. 25), 37.

  56. Die ältere Forschung betrachtete den Abenteurer Baron Weidenstamm meist im Zusammenhang mit der anderen Casanova-Gestalt, Florindo, aus Hofmannsthals späterer Komödie Cristinas Heimreise (1907/09). Zuerst: Richard Alewyn, »Hofmannsthals erste Komödie« [1936], in: Ders., Über Hugo von Hofmannsthal, Göttingen 41967, 96–119. Alewyn beschrieb die Casanova-Figur Florindo als Verkörperung des impressionistischen Menschen. Hofmannsthal habe mit dem Schluss von Cristinas Heimreise die Problematik dieses impressionistischen Daseins endgültig bloßgestellt, indem er es mit dem sittlichen Konzept der Ehe und dem Vermögen zur Treue konfrontierte.

  57. In neuerer Zeit hat sich Marie-Josèphe Lhote eingehend mit der Gestalt des Abenteurers in Hofmannsthals Werken auseinandergesetzt. Seine Erkenntnisse in französischer Sprache wurden, soweit ich sehe, in der deutschen Forschung nicht rezipiert. Vgl. zuerst: Marie-Joséphe Lhote, »La figure de L’Aventurier dans les comédies de H. v. Hofmannsthal«, in: Ders., La Parole et l’Action, Bern 1986, 133–175; dann: Marie-Joséphe Lhote, Comédies de Hugo von Hofmannsthal. La figure de l’Aventurier, Nancy 1994. Lhote enthüllt mit viel Intuition zunächst die synkretistische Filiation der Abenteurergestalt bei Hofmannsthal: die antik-mythologischen Reminiszenzen besonders an den großen Verführer-Gott Zeus und seine Söhne (Bacchus/Dionysos, Herakles, Hephaistos), die sich – meist übersehen – mit religiösen, jüdisch-christlichen Reminiszenzen verbinden und durch weitere Anleihen, v. a. beim unschuldig-naiven Verführer-Abenteurer Casanova, zu einer Metapher des schöpferischen Lebens selbst erhoben würden (vgl. ebd., bes. 27–36). Lhote betont mit Recht, aber leider ebenfalls unter unreflektiertem Rückgriff auf Kategorien aus Ad me ipsum, dass die Gestalt des Abenteurers bei Hofmannsthal keineswegs ein Gegenentwurf zur Moral sei, sondern vielmehr gegen Verknöcherung, Versteifung im Sozialen wirke (vgl. ebd., 204). Die Gestalt fungiere aufgrund ihrer – einerseits halbgöttlich-mystizistisch-spirituellen, andererseits dem Komos zugehörigen – Struktur als eine Art Katalysator, der andere Figuren aus ihrer Erstarrung führe und zu sich selbst bringe. Seine Mittel seien der Eros, das Geld und die Rede.

    Die Affinität des Abenteurers Baron Weidenstamm zum Monetären und zum Warentausch hat auch Pickerodt interessiert, der entgegen einer anthropologischen Allgemeinheit des Typus nach dem »Sozialcharakter« der Gestalt fragte: Gerhart Pickerodt, Hofmannsthals Dramen. Kritik ihres historischen Gehalts, Stuttgart 1968, bes. 109–127.

  58. So die These Lhotes (Comédies, Anm. 57), 8–10. Vgl. zuerst: Ewald Grether, »Die Abenteurergestalt bei Hugo von Hofmannsthal«, Euphorion 48 (1954), 171–209. Grether, stark beeinflusst von Walter Rehm, schloss an Alewyn an und beschrieb die Abenteurergestalt als Impressionisten, Dekadenten, »Dilettant des Lebens« (ebd., 186), dem es an Geist und dem Vermögen zur Treue mangele. Grether versteht die Dichtergestalt bei Hofmannsthal als eine Metamorphose seiner Abenteurergestalt. Grether ist widersprochen worden von: William H. Rey, »Dichter und Abenteurer bei Hugo von Hofmannsthal«, Euphorion 49 (1955), 56–69: Bei Hofmannsthal sei »das Abenteuerliche ein Element des Dichterischen – aber nicht seine Essenz«. Der Dichter trage den Abenteurer in sich, er erlebe ihn als eine Versuchung, aber er identifiziere sich nicht mit ihm, denn er kämpfe um die Bejahung des Ethischen.

  59. Vgl. Hofmannsthal, Der Abenteurer und die Sängerin, SW V, 16 f.: »ABBATE zu Venier:/ Dies sind die Reden eines Taschenspielers/ und eines armen Teufels, der groß prahlt. BARON zu ihnen vorkommend:/ Ihr lacht!/ Den Teufel, ja, den spiel ich gern,/ den meint Ihr doch, Abbate, der den großen Goldklumpen nachts ins Netz des armen Fischers warf?« Später findet sich dieses Motiv in höchst mehrdeutiger Variation in einer Figurenrede Vittorias wieder, mit der sie über das Vermögen spricht, das sie mit ihrem Gesang ihrem Sohn bereits schaffen konnte, vgl. ebd., 172 f.: »Ja, denn ich tat nichts dazu,/ als daß ich sang. […] Ich warf mein Netz nach Liebe, und ich zogs/ mit einem Klumpen Gold empor. […] Wie sie alle,/ die Menschen, wie ein langer Maskenzug,/ fast wie die Könige aus Morgenland,/ die Gaben brachten für ein schlafend Kind,/ an mir vorüberkamen und von allen mir nichts zurückblieb, als dies viele Gold – «. Taschenspieler, armer Teufel, Verführer, Gottvater – diese Funktionen werden hier ineinander verschoben; Lhote spricht in diesem Zusammenhang von einer »Théophanie«: Lhote, Comédies (Anm. 57), 134.

  60. Vgl. die dritte Strophe von Hofmannsthals Gedicht »Manche Freilich…« (1895?), SW I, 54, Vs. 12–14: »Doch ein Schatten fällt von jenen Leben/ In die anderen Leben hinüber,/ Und die leichten sind an die schweren/ Wie an Luft und Erde gebunden:«. In der letzten Strophe heißt es vom »Dasein«, es spiele »viele Geschicke« »durcheinander« (Vs.19 f.).

  61. Im Rahmen der Frage nach Hofmannsthals dramatischer Figurenkonzeption im Allgemeinen lohnt dann doch ein Blick auf Ad me ipsum. Gleich die erste Notiz (N 1) verknüpft die Figur des Abenteurers aus dem Drama Der Abenteurer und die Sängerin mit der Mystik William Blakes und über Rudolf Kassners Blake-Deutung auch mit dem dramaturgischen Problem, wie eine Figur zum Schicksal einer anderen Figur werden kann. Die Pointe dieser stichwortartigen Zusammenstellung liegt darin, dass die Gestalt des Abenteurers hier als »state« gedeutet wird (vgl. SW XXXVII, 117). Aus Kassners Ausführungen zu Blakes Versen lernen wir, dass die Menschen hier Figuren sind, die »states« personifizieren. Vgl. Rudolf Kassner, »Die Mystik, die Künstler und das Leben. Über englische Dichter und Maler im 19. Jahrhundert./ Accorde (1900)«, in: Ders., Sämtliche Werke, hrsg. Ernst Zinn, Bd. I, Pfullingen 1969, 5–131, hier: 58 f.: »Sie sind, ohne es zu wollen, einander Schicksal. Es ist wie auf einer Bühne, auf der die Spieler einander nicht kennen und der eine des anderen Thun am eigenen Leiden reflektiert. […] bis wir lernen, dass es keine Menschen sind, die wir vor uns haben, sondern ›States‹, Zustände im Leben von Völkern, Stimmungen in uns selbst. […].«.

  62. Besonders in den Feuilletons um 1900, etwa von Blei, Wassermann oder Salten, wird ein Bild Casanovas als ›Meister des Lebens‹ geprägt; es werden Analogien gezogen zur Gestalt des Abenteurers, des Spielers, des Künstlers, des Dionysos, des Dichters, des Philosophen, des Mystikers, des Narren, des Aviatikers, des Rebellen. Vgl. zur Casanova-Renaissance um 1900: Lehnen (Anm. 25), hier zu Der Abenteurer und die Sängerin, 104–138. Vgl. auch Friedrich Schröder, »Materialien zu Hofmannsthals Casanova-Lektüren«, Modern Austrian Literature 24 (1991), 13–22. Vgl. z. B. Hofmannsthals Aufzeichnung von Anfang 1910, in: SW XXXVIII, 585: »Das Lebens-geniale in Casanova. – dass er das Vergängliche immerfort unbeachtet lässt, jedesmal bei jedem Abenteuer […] so handelt als hätte alles andere zu existieren aufgehört […].« Schröders Versuch, die Verführer-Gestalt bei Hofmannsthal vor dem Hintergrund von Kierkegaards Don-Juan-Typen zu interpretieren, überzeugt nicht: Friedrich Schröder, Die Gestalt des Verführers im Drama Hugo von Hofmannsthals, Frankfurt a. M. 1988.

  63. Vgl. z. B. Hofmannsthal, Der Abenteurer und die Sängerin, SW V, 166: »BARON […] Europa wird dein Haus, die Welt dein Garten,/ der Wunsch erschafft die Vaterländer,/ die Hast ist schönste Trunkenheit!«.

  64. Dass Hofmannsthals Dilettantismus-Analyse und die Definition des Dilettantismus als Anempfindungsvermögen sowohl auf Nietzsches Unzeitgemäße Betrachtungen als auch auf Paul Bourgets Essais de psychologie contemporaine zurückgehen, ist bekannt. Hofmannsthal nimmt mind. drei Dimensionen des Dilettantismus in den Blick: I. als moderne Psychopathologie, II. als Modus der Erkenntnis (Skepsis des historischen Sinns) und als Einbildungskraft (die Wahrnehmung und die Produktion betreffend), III. als Stillage, Formfrage. Seine eigene Nähe zu dieser Psychopathologie schöpferischer Intellektualität stellt er dabei nie infrage. Differenziert hierzu: Srđan Bogosavljević, »Der Amiel-Aufsatz: Zum Dilettantismus- und Décadence-Begriff des jungen Hofmannsthal«, Hofmannsthal-Forschungen 9 (1987), 207–235.

  65. Vgl. Nietzsche, Richard Wagner in Bayreuth, KSA 1, 436: »[…] wer oberflächlich hinblickte, mochte meinen, er sei zum Dilettantisieren geboren. […] Die gefährliche Lust an geistigem Anschmecken trat ihm nahe, ebenso der mit dem Vielerlei-Wissen verbundene Dünkel, wie er in Gelehrten-Städten zu Hause ist; die Empfindung wurde leicht erregt, ungründlich befriedigt […].«.

  66. Vgl. Hofmannsthals Gedicht »Erlebnis« (1892) und den Prosatext Glück am Weg (1893).

  67. Jäger-Trees spricht in diesem Zusammenhang vom »Lebensversäumnis im Aktivismus«: Corinna Jäger-Trees, Aspekte der Dekadenz in Hofmannsthals Dramen und Erzählungen des Frühwerks, Bern 1988, bes. 84 f.

  68. Der Kommentar zu dieser Textstelle zitiert lediglich den Volksglauben, nach dem der Salamander ohne Schaden zu nehmen im Feuer leben kann. Paracelsus machte daher den Salamander zu einem der Elementargeister. Vgl. SW V, 539.

  69. Vgl. auch Hofmannsthals Notizen zu einem Dialog zwischen Schauspieler und Dichter, in: SW XXXI, 210–212.

  70. Josef Kainz, der den Abenteurer in der Uraufführung in Berlin spielte, war laut Harry Graf Kessler »so brilliant, daß es schwer« fiel, »das Stück als solches zu beurteilen« (SW V, 503). Vgl. auch ebd., 505: Hofmannsthal an Emil Schlesinger, Berlin, 23. März <1899>: »Was Kainz aus dem kleineren Stück macht, ist manchmal nicht ganz meine Intention, aber wirklich unglaublich fesselnd, frech und interessant.« Vgl. auch Hofmannsthals Gedicht »Josef Kainz zum Gedächtnis« (1910): »O Geist! O Stimme! Wundervolles Licht!/ Wie du hinliefest, weißes Licht, und rings/ Ins Dunkel aus den Worten die Paläste/ Hinbautest, drin für eines Herzschlags Frist/ Wir mit dir wohnten –« (SW I, 109, Vs. 40–44).

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Wokalek, M. Hofmannsthals Der Abenteurer und die Sängerin als Maskentanz schöpferischer Lebenskunst. Dtsch Vierteljahrsschr Literaturwiss Geistesgesch 93, 309–335 (2019). https://doi.org/10.1007/s41245-019-00081-3

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