Im vorliegenden Themenheft der LiLi stehen die »Medien der Literatur« im Fokus. Die zentrale Idee pointiert das in Siegen aus der Perspektive der Allgemeinen Literaturwissenschaft bereits formulierte Programm einer Hinwendung zu den »Materialitäten der Kommunikation«Footnote 1 (Gumbrecht/Pfeiffer) im Sinne einer disziplinären Neuausrichtung. Das heißt: Kein Text ohne Medium. Keine Idee ohne ihren Träger, dessen Beschaffenheit sowohl die Gestaltung des Textes, seine Verbreitung wie auch die Rezeption maßgeblich beeinflussen kann. Ein solcher Zugang befragt die Rolle von Medialität und Materialität literarischer Kommunikation, in diesem Heft aber weniger die Reflexion der Medialität von Literatur in der Literatur (des Briefes im Briefroman, des Zeitungsstils im Roman der Neuen Sachlichkeit oder des Internets im Cyberpunk), sondern die Funktionen der medialen Umwelten von Literatur. Während eine Literaturwissenschaft, die auf Texte abstellt, dazu neigt, die konkrete, materielle Manifestation der Texte in Büchern, Journalen, E‑Book-Readern und Displays zu vernachlässigen, geht das Themenheft von der These aus, dass Literatur stets in Medien erscheint und in medialen Konfigurationen entsteht – mit weitreichenden Folgen für die Produktion, Distribution und Rezeption. Bezogen auf die gegenwärtigen Vorzeichen des digitalmedialen Medienumbruchs einerseits und einer global-ubiquitären Popkultur andererseits, ist die Literatur Dynamiken ausgesetzt, deren Folgen sich als Pluralisierung sowie als Entgrenzung beobachten lassen, die auch für die Literatur eine Vielzahl von – bislang häufig nur in Ansätzen beobachteten und beforschten – neuen Praktiken der Produktion, der Distribution, der Rezeption wie auch der Interaktion von Autoren und Autorinnen mit ihrem Publikum begründet und befördert haben.

Die kurrente Ubiquität der Audio-Bücher und Hörspiele, der weltweit verbreiteten Gadgets wie Smartphones, Reader und Tablets haben die Rezeption von Literatur noch nicht völlig entortet, jedoch den Möglichkeitsraum literarischer Rezeption enorm erweitertFootnote 2 und die Anschlussfähigkeit literarischer Kommunikation an die Popularität ihrer Medien gekoppelt. Die Selbstreproduktion von Literatur hängt nicht allein von der Form der Texte (ihrer Gattung, ihrer Vorbilder und Negationen, ihrer Schreibverfahren) ab,Footnote 3 sondern ebenso von den Affordanzen und Soziopraktiken ihrer Medien. Dies gilt bereits für die lange Zeit so erfolgreiche Kopplung von Text und Buch, fällt jedoch angesichts der Ausdifferenzierung der literarischen Medien (Romane als E‑Book, Gedichte auf Twitter) stärker auf. Weltweit verbreitete und genutzte Plattformen bzw. ihre Apps – Instagram, Facebook, YouTube, Twitter und einige andere – machen den Austausch von und über Literatur jederzeit und allerorts für (fast) alle möglich – besonders im Modus des social reading, was also den Austausch über Gelesenes und die kollaborative Aushandlung von Textbedeutungen und Bewertungen angeht. Derartige Plattformen dienen zudem der literarischen Produktion und Distribution – auch Geschriebenes kann unabhängig von Gatekeepern (Lektorate, Redaktionen, Peers, Verlegerïnnen, Herausgeberïnnen) und instantan veröffentlicht werden. Die Reichweite ist keine Frage des Buchmarktes und des Buchhandels mehr, sondern der Skalierung der Netze. Während Redaktionsmedien lokal, regional oder national verortet sind, können Social Media-Inhalte potentiell global, zumindest über einen bestimmten nationalen Kontext, einen Sprachraum, hinaus adressiert werden. Globalität wird durch das Englische als verbindende Lingua franca indiziert, primär aber durch die Plattform realisiert, die wiederum spezifische Zugänge und damit Medien (etwa Smartphones, digitale Kameras) erfordert. Plattform-Poesie ist jedoch nur die derzeit populärste, am meisten beachtete gegenüber einer Vielzahl anderer Formen digitaler Literatur. Im Spiel um die Aufmerksamkeit kommt auch der Eventisierung des Literaturbetriebs gestiegene Bedeutung zu. Neben das Buch, die primäre Warenform der Literatur, sind seit 2000 mit zunehmender Tendenz auch Live-Aufführungen getreten. Lesungen, Podiumsgespräche, Poetry-Slams und Festivals zeigen an, dass der Literatur durch die digitalen Konkurrenzen neue Orte, multimediale Praktiken und andere soziale Funktionen zukommen. Diese ›Verlebendigungen‹ ermöglichen Präsenzerfahrungen, die Autoren und Autorinnen in Werkeinheit mit ihren Texten präsentieren. Der Aufführung kommt daher sowohl produktions- wie rezeptionsseitig eine gestiegene Bedeutung zu, die in stets neue Formen der Performances überführt werden, um die (scheinbare oder tatsächliche) Singularisierung von Aufführungen zu betreiben. Die Qualitäten, mit denen Beachtung erzeugt und Distinktion gegenüber anderen geübt wird, sind auch Medienpraktiken.

Diese Phänomene sind für die Literaturwissenschaft ohne eine buch- und medienwissenschaftliche Perspektivierung nur unzureichend oder gar nicht analytisch zu erfassen. Die Plattform Instagram fungiert als Produktions‑, Distributions- und Rezeptionsmedium zugleich. Lesungs- und Poetry Slam-Beiträge sind für spezifische Aufführungs- und Interaktionssituationen konzipiert und können mit einer Vielzahl an ergänzenden Medien, an Instrumenten und Gadgets arbeiten. Auch diese Formen von Literatur sind per se mehr als nur Text. Sie bedürfen also eines (medien)integrativen Ansatzes, der über textanalytische Zugänge hinausgehen muss. Doch auch im Hinblick auf historisch weiter zurückliegende Phänomene ergeben sich signifikante Differenzen, wenn Literatur und Text als Leitbegriffe der Wissenschaft auf unterschiedliche Dimensionen abzielen. Strukturalistische Analysen interessieren sich für den Text und das ihm zugrundeliegende Konstruktionsmodell textinterner Relationen. Auch die Narratologie betreibt Textanalyse, die unabhängig vom Medium textinterne Verhältnisse wie Stimme oder Fokalisierung eines Einzeltextes bestimmt. Das Paratext-Paradigma hingegen stellt bereits auf die Medialität der Literatur ab und kann wiederum Aspekte von Produktion, Distribution und Rezeption integrieren, weil sie Text als situierten Inhalt in einer spezifischen Umgebung begreift, von der er nicht unabhängig zu betrachten ist; allerdings geht Genette wie selbstverständlich von der biblionomen Form eines Textes und der Einheit von Autor, Werk und Buch aus. Auch die Rezeptions- und Produktionsästhetik im Sinne von Iser und Jauß beobachtet Texte, nicht aber Medien und ihren Anteil an der Verfertigung und Aneignung von Literatur; und die verschiedenen Ansätze der Intertextualitätstheorie erklären Texte aus Bezügen auf andere Texte, weil sie Kultur insgesamt als textuelles Gebilde verstehen, dessen spezifische mediale Realisationen hingegen sekundär bleiben. Demgegenüber hat beispielsweise die Pop-Literaturforschung deutlich auf die Materialität und Medialität der Produktion, Distribution und Rezeption hingewiesen, nicht zuletzt auch weil sie es mit Gegenständen und Praktiken zu hat, welche die Medienspezifik reflexiv in die Produktion miteinbeziehen.Footnote 4

Vor diesem Hintergrund gilt es, Formen einer literaturwissenschaftlichen Philologie auszuarbeiten, die sich – unter dem Vorzeichen eines erweiterten Textbegriffs – literarischen Medien sowie zugehörigen Praktiken und Akteuren der Produktion, Distribution und Rezeption literarischer Texte widmet. Dabei gilt es auch den für die Literatur nach wie vor zentralen Raum biblionomer Medialität ebenso historisch und systematisch zu vermessen wie sein Außerhalb. Das Heft profiliert die Literaturwissenschaft als medienbewusste Philologie. Es umfasst sechs Beiträge, die darin einen gemeinsamen Nenner finden, dass die von ihnen behandelten literarischen Phänomene nur in einer medienspezifischen Perspektivierung in den Blick genommen werden können und zum Teil erst durch den Fokus auf ihre medialen Konstellationen zum beschreibbaren Gegenstand der Literaturwissenschaft werden.

Am Anfang dieser historischen Vermessung steht der Beitrag Sigrid G. Köhlers. Sie zeigt am Beispiel einiger Dramen des späten 18. Jahrhunderts, wie sich der Abolitions-Diskurs transnational auf der Bühne bzw. in den Textfassungen der Dramen gestaltet. Sie kann dabei eng aufeinander bezogene intermediale Beziehungen identifizieren, die ein Thema und seine Motive mehrfach materialisieren. Die medienspezifischen Unterschiede von Journal, Buch und Bühne liegen nicht zuletzt darin begründet, dass den Theaterstücken »keine geeignete Form zur Darstellung von Zeitgeschichte zur Verfügung« steht, sodass die Autoren die zeitgenössischen Gattungsformen überschreiten müssen, »indem sie Formen und Strategien der Journalberichterstattung übernehmen«. Köhler analysiert sowohl wie dies in den Texten und ihren Aufführungen realisiert wird, als auch eine Vielzahl von Paratexten – Motti und Widmungen, Illustrationen und Karten –, die den appellativen Charakter der abolitionistischen Intention unterstreichen sollen.

Im darauffolgenden Beitrag stellt Natalie Binczek am Beispiel des Goethe-Hauses in Weimar Einrichtungsgegenstände als Medien der Literatur ins Zentrum ihrer Überlegungen. Sie rekonstruiert ein wechselseitiges Verhältnis von literarischer Produktion und einem besonderen Wohn- und Lebensraum, in dem Tisch, Stuhl und Sofa (werk)konstitutive Funktionen übernehmen, weil sie von Goethe forcierte Situationen herstellen. Möbel werden dabei zum Medium und damit zum Akteur. Schließlich wird auch Eckermann, der Herausgeber und Nachlassverwalter, selbst zum ›Sachmittel‹ im Werk-Haushalt Goethes, über das die Verfügungsgewalt des Autors bestimmt.

Andrea Polaschegg nimmt in ihrer Untersuchung des alphabetischen Gedichtverzeichnisses eine systematische Neubestimmung des Verhältnisses von Text, Medium und Buch vor. Sie rekonstruiert, wie die Gestaltung von Gesangbuch-Inhaltsverzeichnissen auch auf nichtreligiöse Gedichtsammlungen übernommen wurde. Das alphabetische Modell bietet im Gegensatz zum Inhaltsverzeichnis für die Textsuche den Vorteil der Niedrigschwelligkeit und Benutzerfreundlichkeit, die jedoch andere Rezeptions- und Nutzungspraktiken bedingen, die sich wiederum in konkretem literarischen Alltagswissen niederschlagen. Dadurch steht das alphabetische Gedichtverzeichnis als »Instanz einer Heteronomisierung von Literatur« in Widerstreit zu emphatischen Werk-Konzepten, die durch die alphabetische Ordnung unterlaufen und aufgehoben werden. Praktikabilität fungiert als Gefährdung von Auktorialität. Am Beispiel einer scheinbar abseitigen medialen Konstellation zeigt Polaschegg, wie Praktiken begründet und zum Vorbild für weitere Herausgeber und Verlage werden, die schließlich eine neue mediale Normalität der Lyrik begründen.

Torsten Hahn entwirft ausgehend von einem historischen Beispiel – der Tagung Dichtung und Rundfunk im Jahr 1929 – die Frage nach dem Leitmedium der Literatur. Wie ist zu rechtfertigen, »was dem hohen Aufwand der Mitteilungsseite der Kommunikation, also dem Buchdruck, entspricht«, besonders dann, wenn die Funktion des Gedruckten in der Moderne »fraglich« geworden ist, wenn sie nicht mehr im Dienst »moralischer Unterweisung« besteht? Über die Konfrontation von Buch und Rundfunk entwickelt er einen Literaturbegriff, der die Mediendifferenz als Medienkonkurrenz dadurch überwindet, dass er als primäres Medium der Literatur Schrift und Buch setzt, die Drucksache sind. Diese wird gegen andere mediale Formen abgegrenzt, die als ›Dichtung‹ oder ›Poesie‹, abhängig von Stimme und Performance, etwas Anderes darstellen. Hahn plädiert dafür, Literatur als eine »medial-differenzierte Gattung des Poetischen« zu fassen, die nicht das Ohr, sondern den Blick adressiert, um ihn zu faszinieren.

Der Blick und die schnelle Bewertung des Gelesenen stehen in Niels Penkes Beitrag im Zentrum, der sich der Instapoetry annimmt. Instapoetry ist das häufig als Selbstbeschreibung genutzte Hyperonym für lyrische Texte, die über die Plattform Instagram veröffentlicht und distribuiert werden. Sie ist gekennzeichnet von einer Tendenz zu extremer Verknappung, die stark durch die Vorgaben der Foto-Plattform, optimierten Wiedergabe- und Anzeigebedingungen auf Smartphone-Displays sowie vor allem den kurzen Rezeptionsphasen der User und ihren instantanen Bewertungen geprägt ist. Die lyrischen Formen tendieren daher zu absoluter Kürze, denn, wie am Beispiel der Influencerïnnen der Instapoetry Rupi Kaur und R. M. Drake zu beobachten ist, sind die resonanzreichsten Beiträge zumeist die kürzesten.

Abschließend nimmt Nora Manz eine weitere Form der Gegenwartslyrik in den Blick. Sie untersucht am Beispiel von Nora-Eugenie Gomringers Gedicht »Eingedenk der Hl. Apollonia/Heute war ich beim Zahnarzt« die performativen Qualitäten einer Lyrik, die sich nicht biblionom abbilden lässt, weil die Wechselwirkung von Gedichttext, Illustration und performativem Epitext ebenso die Person und das Handeln der Autorin miteinschließt wie paraverbale Elemente. Mithilfe einer Sequenzanalyse zeigt der Beitrag zudem Lesungsroutinen auf, die letztlich bestätigen, dass sich jede Performance aus stets leicht verschiedenen Kombinationen von Texten, Bildern und Stimmen generiert, die in Abhängigkeit von lokalen Gegebenheiten stehen und darüber wiederum einzigartige Rezeptions- und Präsenz-Erfahrungen ermöglichen. Nicht zuletzt, weil das Publikum durch unmittelbare Adressierung in die Performance miteinbezogen wird. Jede Aufführung produziert somit einen singulären Einzeltext, der Produkt eines bestimmten Medien-Arsenals und dem Umgang der Autorin mit diesen Medien sowie der Interaktion mit dem Publikum ist.