1 Populäre Lyrik

Wenn von einem Lyrikband über zwei Millionen Exemplare verkauft werden, ist dies ein außergewöhnliches Ereignis. Dass seine Verfasserin Rupi Kaur über drei Millionen Follower bei Instagram hat und es sich bei ihren Lesungen um ausverkaufte Großveranstaltungen handelt, wenn sie wie ein Popstar auf roten Teppichen, in Talkshows und auf Titelseiten von Modemagazinen erscheint, dann sind dies Hinweise auf eine Popularität, die es in dieser Form bei einer Lyrikerin nie zuvor gegeben hat. Und neben Rupi Kaur gibt es weitere dieser als Instapoets bezeichneten Lyrikerïnnen, deren primäres Publikations- und Kommunikationsmedium die Social-Media-Plattform Instagram ist und deren Beachtung durch hohe Zahlen belegt wird. Damit stehen sie in auffälliger Differenz zur Resonanz von Lyrikerïnnen, die über konventionelle Kommunikationswege in die Öffentlichkeit treten und publizieren. Die Lyrik, welche via Instagram veröffentlicht wird, wäre im Unterschied dazu Teil populärer Kulturen. Populär ist, »was viele beachten«, und die sich darüber ausbildende populäre Kultur, so Thomas Hecken, »zeichnet sich dadurch aus, dass sie dies [die Beachtungserfolge, N.P.] ständig ermittelt. In Charts, durch Meinungsumfragen und Wahlen wird festgelegt, was populär ist und was nicht.«Footnote 1 Eine Folge der Digitalisierung ist die Zunahme an solchen »Valorisierungstechnologien«Footnote 2 wie Charts, Listen und Rankings, welche die Ergebnisse der »Addition von Wahlakten«Footnote 3 automatisiert auswerten und in Echtzeit kommunizieren.Footnote 4 Instagram zeigt die relevanten Zahlen jederzeit für alle offen sichtbar an und diversifiziert damit das Verfahren der klassischen, institutionell gepflegten Bestsellerliste.Footnote 5 Daher sind es nicht nur die Verkaufszahlen, sondern primär die Followerzahlen, die Likes, Shares, Kommentare und andere Reaktionsformen, die maßgeblich zur Popularität der Instapoets beitragen. Grundlage dafür sind lyrische Beiträge, die sich mittlerweile millionenfach unter den entsprechenden Hashtags versammelt finden. Sie sind, soweit sich eine solche große Textmenge überhaupt typologisieren lässt, zum einen durch ein Wechselspiel von Text- und Bildelementen, das stark von den Formatvorgaben der Plattform determiniert wird, bestimmt, wodurch sie zum anderen zur absoluten Kürze tendieren. Die Beiträge der Instapoetry folgen damit »dem kommunikativen Imperativ«Footnote 6 der Moderne schlechthin.

Dieser Komplex ist nahezu unerforscht. Es gibt weder Erklärungen für diesen exorbitanten Erfolg lyrischer Texte auf Social-Media-Plattformen noch Analysen der Formen und Verfahren, die stark von den Möglichkeiten und Affordanzen der jeweiligen Plattformen abhängen. Dabei ist auch zu berücksichtigen, in welchem (distinktiven) Verhältnis die Instapoetry zu anderen, sowohl historisch früheren Formen der digitalen Literatur als auch zu den Praktiken auf anderen Plattformen wie Facebook, Twitter usw. stehen.

Diese Konjunktur der LyrikFootnote 7 ist weder vorausgesehen noch registriert worden. »Nie seit der Antike wohl hat Lyrik weniger Leser gehabt als heute«Footnote 8, schreibt Hans-Ulrich Gumbrecht noch im Jahr 2013. Doch während einige Akteurïnnen des Buchmarktes den Rückgang der Buchverkäufe kausal mit nachlassender LesetätigkeitFootnote 9 und mit einem allgemeinen Bedeutungsschwund von Literatur insgesamtFootnote 10 verknüpfen, entstehen an anderen Orten neue mediale Formationen, die nicht nur den etablierten Phänomenen Aufmerksamkeit rauben, sondern auch neue Publika erschließen können, die der gedruckten Literatur, zumal der Lyrik, nur wenig Beachtung geschenkt haben. Dies gilt auch für die Veröffentlichung literarischer Texte, die neben kostenaufwendigen Formen des self-publishing primär über Verlage verläuft, die als Gatekeeper-Instanzen darüber entscheiden, was überhaupt auf den Markt und in die Öffentlichkeit gelangen kann. Diese Konstellation ist in besonderem Maße durch Social-Media-Plattformen und ihre Netzwerke herausgefordert. Nicht nur Instagram ermöglicht es durch seine geringen Zugangs- und Nutzungshürden allen, die über ein Smartphone und Internetzugang verfügen, kostenfrei Inhalte zu veröffentlichen. Wer möchte, kann seine Texte dort in wenigen Sekunden aus der Privatheit in die öffentliche Sichtbarkeit überführen. Damit lässt Instagram nicht nur die Fortsetzung etablierter Verfahren unter veränderten medialen Bedingungen zu, sondern es entstehen auch neue Möglichkeiten der literarischen Kommunikation. Diese äußern sich in neuen Praktiken der Produktion, Distribution, Rezeption, der reziproken Kritik wie der Netzwerkbildung, aber auch der Interaktion von Autorïnnen mit ihrem Publikum, die alle von den Affordanzen des Mediums mitbestimmt werden. Für keine literarische Gattung sind die Folgen dessen so umwälzend wie für die Lyrik. Jenseits von Schule und Universität scheinbar zum hochkulturellen Nischen-Produkt geworden, sind abseits des biblionom orientierten, institutionell gepflegten Literaturbetriebs neue, äußerst resonanzreiche Formen literarischer Kommunikation entstanden. Während das social readingFootnote 11, neue Verfahren der Literaturkritik, dem Buch-Präsentismus und dem transmedialen Erzählen bereits in den Fokus wissenschaftlicher Untersuchungen geraten sind, ist der Lyrik in Social-Media-Kontexten bislang wenig Aufmerksamkeit durch die literaturwissenschaftliche Forschung geschenkt worden.Footnote 12 An (insbesondere englischsprachigen) Feuilletons zur Instapoetry und anderen Formen digitaler Lyrik mangelt es hingegen nicht.Footnote 13

Daher versteht sich dieser Beitrag als eine erste Annäherung an die Formeninventare und Verfahren, die seit 2010 in Millionen Gedichten erprobt worden sind. Dies geht jedoch nicht, ohne auch die Möglichkeiten und Affordanzen der Plattform mit einzubeziehen; denn Instagram ist, anders als die meisten Lyrik-Foren oder auch Facebook, zuvorderst eine Bilderwelt. Instagram scheint darin den Trend zu bestätigen, dass »sich die Ästhetik des Kurzen und Knappen oft im Medienwechsel vom Wort zum Bild [manifestiert]«, weil Bilder »so viel geeigneter als die Schrift [scheinen], das Jetzt und Hier im kompakten Kondensat zu fassen.«Footnote 14 Gleichwohl gibt es in der Bilderwelt von Instagram auch Texte, denen jedoch als Bildunterschriften eine unter- bzw. beigeordnete Rolle zukommt.

2 Lyrik und Forschung zur digitalen Literatur

Zu ihrer Untersuchung kann zwar an die bereits seit den 1990er Jahren betriebene Forschung zur elektronischen bzw. digitalen Literatur, wie sie über Foren, Newsgroups und Chats organisiert wurde, angeschlossen werden, allerdings nur bedingt. Denn zum einen galt das Hauptaugenmerk der Erforschung digitaler Literatur nicht der Lyrik, sondern dem Roman und anderen, häufig kollaborativ verfassten Mitschreibeprojekten in Prosa und ihren Erzähltechniken, die mit der Erwartung beobachtet wurden, dass die Hypertextstrukturen endlich jene ›sympoetischen‹ Verfahren einlösen würden, von denen seit Friedrich Schlegel immer wieder geträumt wurde.Footnote 15 Lyrik hingegen stand kaum im Fokus, wie Überblicksdarstellungen bestätigen, in denen lyrische Texte nur periphere Betrachtung gefunden haben.Footnote 16 Dies gilt ebenso für die Forschung zur Handy- bzw. Smartphone-Literatur, die ebenfalls überwiegend prosa-fixiert ist.Footnote 17 Dafür müssen neben der zunehmenden Aufmerksamkeit für das Erzählen durch den narrative turn weitere mögliche Begründungen in Betracht gezogen werden, wie die Beteiligung bereits namhafter Autorïnnen und die Förderung durch Wettbewerbe – wie etwa den Pegasus-Literaturwettbewerb, den die Wochenzeitung Die Zeit von 1996 bis 1998 auslobte und medienwirksam präsentierte.

Zum anderen haben sich die Kommunikations- und Distributionsangebote in den vergangenen Jahren gravierend verändert. Lyrik wird zwar auch bereits seit den 1990er Jahren online veröffentlicht und gelesen, und dies, soweit sich die Zahlen im Abstand von zwanzig und mehr Jahren noch rekonstruieren lassen, in beträchtlichem Umfang. Bereits 1995 ging The Albany Poetry Workshop. An Interactive Forum for Poets and Writers an den Start, dem weitere ähnliche Projekte (z. B. Poetropolis, 1999) folgten, die zum Teil über Jahrzehnte die Möglichkeit zur Veröffentlichung von und zum Austausch über Lyrik boten.

Die partizipativen Möglichkeiten haben im Zuge von Web 2.0Footnote 18 zugenommen und die Veröffentlichung von user-generated content stark vereinfacht und damit auch das Verhältnis von Produzentïnnen und Rezipientïnnen verschoben. Im Zuge dessen ist die Mischform des Prosumers entstanden, die zunächst in Foren die digitale literarische Kommunikation bestimmt hat – die User wurden Rezipierende und Produzierende zugleich. Technische Neuerungen haben es ermöglicht, dass nicht mehr ausschließlich der bloße (literarische) Text seinen Weg auf den Screen fand, sondern dieser auch ohne Programmierkenntnisse einfacher gestaltet sowie durch bildliche Elemente ergänzt werden, auf Fotos abgebildet oder schließlich in kurzen Videoclips visuell oder performativ eingebunden werden konnte. Mit dem Smartphone wurde das Telefon zum »relevanten operativen Element« literarischer Kommunikation, »das es zuvor nicht gewesen ist«.Footnote 19 Mit dem Wechsel vom Desktop-PC zum mobilen Vademecum geht eine durch den popc-Status – permanently online, permanently connectedFootnote 20 – beförderte Entgrenzung einher. Mit dem Smartphone ist es möglich, jederzeit und (nahezu) allerorts Inhalte abzurufen oder zu veröffentlichen. Ohne die Zäsur des Ein- und Ausloggens gibt es für viele Userïnnen kaum noch eine spürbare Trennung von realem und virtuellem Raum, wird die »tele-literarische[ ] Öffentlichkeit«Footnote 21 grenzenlos, wie sich nicht zuletzt an der Omnipräsenz des Smartphones in vielen Lebensbereichen ausdrückt.Footnote 22 Auch wenn die Möglichkeit besteht, Instagram am Computer über einen Web-Browser aufzurufen, wird die Plattform von ca. 80 %Footnote 23 der Userïnnen primär als App auf mobilen Geräten wie Smartphones und Tablets genutzt, die von den überwiegend jungenFootnote 24 Userïnnen bisweilen permanent mitgeführt werden.

Die leichte Bedienbarkeit der Plattformen als auch der Status permanenten Online-Seins haben die Rollen-Konstitution in Social-Media-Kontexten in der Doppelfunktion als Prosumer mitbestimmt. Allerdings entstehen über die hervorstechende Popularität mancher Userïnnen dennoch Hierarchien, die sich in den Relationen der Follower-Zahlen ausdrücken, aber auch in der Wahrnehmbarkeit niederschlagen. Dennoch ist Instagram die Plattform, auf der die meisten Userïnnen zugleich auch Content-Creatorïnnen sind – die Kamera eines jeden Smartphones macht dieses möglich.

Durch diese gesteigerten interaktiven Möglichkeiten hat sich im Social-Media-Kontext eine Popularität lyrischer Texte eingestellt, die nicht nur die auflagenstärksten und ökonomisch einträglichsten Lyrikveröffentlichungen überhaupt hervorgebracht hat, sondern gerade über Instagram Beachtung erzeugt hat, die hinter den bisherigen peaks lyrischer Massenproduktion – vor allem im Ersten Weltkrieg als bisheriger HochphaseFootnote 25 – nicht zurückstehen, sondern diese quantitativ sogar noch übertreffen. Die relevanten Hashtags zeigen an, dass es sich um eine analog unüberschaubare Textmenge handelt, die durch das Englische als lingua franca eine globale Zirkulation und Kommunikation ermöglicht. Allein unter dem Hashtag #poetry finden sich über 31 Millionen Beiträge versammelt, die von über 15 Mio. #writersofinstagram zu einer #poetrycommunity (8,5 Mio. Einträge) beigetragen werden. Doch nicht hinter jedem #poet (9,7 Mio.) steckt ein #instapoet (2,7 Mio.) – bzw. im Plural #poets (2,8 Mio.) gegenüber #instapoets (286.000) –, denn gegenüber den allgemeinen 31,1 Mio. #poetry-Beiträgen gibt es ›lediglich‹ 2,5 Mio. Beiträge zu einer spezifischen #instapoetry.Footnote 26 Diese Zahlen sind daher im Folgenden zu differenzieren.

3 Instagram: Eine kurze Geschichte des Mediums und seiner Affordanzen

Instagram, ein Portmanteau von Instant Camera und Telegram, trägt die Unmittelbarkeit bildlicher Kommunikation bereits im Namen. Seit seiner Produkteinführung im Oktober 2010 hat die Plattform zahlreiche Veränderungen erfahren, die das Spektrum an Möglichkeiten zur Gestaltung und Verbreitung von Bildern sukzessive erweitert haben. Die Affordanzen der Plattform haben sich daher wiederholt geändert. Unter Affordanz verstehe ich zum einen den AngebotscharakterFootnote 27, der »situativ bemessene […] Handlungsmöglichkeiten«Footnote 28 eröffnet. Im Zusammenhang mit sozialen Medien bedeutet dies vor allem das Angebot der Partizipation, im Falle Instagrams die Möglichkeit zur Veröffentlichung eigener Fotos und die Aussicht auf Verbreitung und Resonanz. Nimmt man Teil, setzt man sich den Affordanzen der technischen Möglichkeiten und schließlich auch den Funktionslogiken des Mediums aus. Affordanz bezeichnet dann zum anderen auch den Aufforderungscharakter: eben so zu handeln, wie die medialen Möglichkeiten es vorgeben und durch idealtypisches Verhalten in den Kampf um Aufmerksamkeit, um Likes und Follower, mit seinem Content einzutreten. Damit begeben sich Userïnnen nicht nur in Netzwerke, um von diesen Kontakten wie auch immer zu profitieren, sondern es geht stets auch darum, diese Netzwerke »für andere sichtbar zu machen«Footnote 29. Instagram bedeutet somit auch ständige wechselseitige Beobachtung in der permanenten Konnektivität. Die Anzahl der »mitgeteilten und auch angeschauten, kommentierten und bewerteten Leseaktivitäten« erhöht indessen »die Wahrscheinlichkeit, dass man wahrgenommen wird.«Footnote 30

Jede technische Neuerung auf Instagram hat das Spektrum dieser Affordanzen – zumeist als Erweiterung – verändert und instantan auch zu veränderten Nutzerpraktiken geführt. Eine wesentliche Neuerung war die Einführung von Hashtags im Januar 2011. Diese Verschlagwortungen stellten umgehend, wie bereits beim Vorbild Twitter, die wichtigste Möglichkeit dar, Inhalte netzwerkartig zu organisieren. Denn Hashtags »bündeln«Footnote 31 Aufmerksamkeit und ermöglichen es, einen »Überblick über ein bestimmtes fotografisches Wechselspiel«Footnote 32 zu gewinnen. Zugleich tragen sie maßgeblich zur Gruppenbildung bei, sich »unabhängig von administrativen Konstrukten […] einem größeren Zusammenhang anzuschließen«Footnote 33, (Mikro‑)Diskurse zu eröffnenFootnote 34 und einfacher an diesen zu partizipieren. Auf diese Weise ist es möglich, ›parasitär‹Footnote 35 an der Popularität bestimmter Aufmerksamkeitserfolge anderer Userïnnen zu partizipieren. Dies gilt auch für alle Hashtags, die in Verbindung mit literarischen Inhalten stehen. Unter allgemeinen Hashtags wie #literature oder #poetry versammeln sich neben Produkten des individuellen self-publishings auch Beiträge, die Texte Dritter, deren Bandbreite von Shakespeare über Margaret Atwood bis zu Film-Zitaten reicht, in besonderer Gestaltung ausstellen.

Später traten die Funktionen, auf Fotos Verlinkungen anderer Userïnnen bzw. ihrer Accounts vorzunehmen (im Juli 2013), sowie das direct-Feature (eine Weiterleiten-Funktion, im Dezember 2013) hinzu. Im August 2016 wurde die an Snapchat orientierte Funktion Kurzvideos, sogenannte Stories zu posten, eingeführt, die wiederum ab November 2016 um die Funktion von Live-Videos zur Direktübertragung ergänzt wurde. Im Februar 2017 kam schließlich das Feature der Slideshow hinzu, das es ermöglicht, unter einem Beitrag mehrere Fotos zugleich zu posten, die durch seitwärtiges Scrollen nacheinander angesehen werden können. Im Juni 2018 gab Instagram an, dass weltweit über eine Milliarde aktiver Accounts in Verwendung seien.Footnote 36

Dabei ist Instagram von Beginn an primär visuell ausgerichtet (in den Stories und Videos später audiovisuell) und bis heute hinsichtlich seines (von Twitter übernommenen) Ordnungsmusters stabil: Es gibt User-Profile mit der Funktion anderen Accounts zu ›folgen‹ (follow) und somit deren Inhalte in den eigenen individuellen Feed zu bekommen sowie schließlich die Möglichkeit der Querverbindung über Hashtags. Bei all dem sind Bilder die »Universalsprache«Footnote 37 Instagrams, denn über diese wird nicht nur die (scheinbare) »Privatheit« hergestellt, sondern auch der demokratische Effekt befördert, »dass jeder ihrer Teilnehmer und jede Fotografie formal und funktional gleichgesetzt wird«Footnote 38. Die immer gleiche Reihung quadratischer Fotografien hat den Effekt, dass jedes Unbekannte in bekannter Form erscheint und daher den Eindruck von »Gleichheit und Vergleichbarkeit«Footnote 39 befördert, was den Anschein einer egalitären Plattform verstärkt. Angesichts dieser vom Medium gestellten gleichen Bedingungen, entscheiden daher umso stärker feine Unterschiede über Erfolg und Nicht-Erfolg, also die angestrebte Beachtung, die sich in Likes und Follower-Zahlen ausdrückt. Von dieser Logik sind alle Accounts unabhängig von ihren Inhalten und Zielsetzungen gleichermaßen betroffen. Das symbolische und soziale Kapitel ist durch Interaktion mit anderen Userïnnen zu erwerben, durch das Folgen ihrer Accounts, durch Kommentare zu ihren Inhalten, durch Verlinkungen und Reposts, die allesamt das Ziel verfolgen, auf sich und seinen eigenen Account aufmerksam zu machen. Wer schneller eine erhöhte Sichtbarkeit für sich und seine Inhalte herstellen möchte, kann auch gesponserte Beiträge oder Likes kaufen und auf diese Weise seine scheinbare Popularität steigern, die sich wiederum auf die Vorschläge für andere Nutzerïnnen auswirkt.

Die Arten wie Literatur auf Instagram inszeniert wird und wie über verschiedene Formen von Literatur gesprochen werden kann, sind divers. Noch vor der Veröffentlichung und Präsentation eigener literarischer Texte steht die Fremdinszenierung der Texte anderer, von vor allem in Buchform veröffentlichter Literatur, die ausgestellt, kommentiert und diskutiert wird. Diese Beiträge artikulieren sich vor allem im Zusammenhang mit literarischen Neuerscheinungen oder den eigenen Buchbeständen der Userïnnen, die in aufwendig arrangierten Settings – inmitten von gut ausgeleuchteten und oft vielfältig dekorierten Bücherregalen (shelfies), Nachttischen oder Sofaleseecken – präsentiert und zu »Selbstplatzierungen der Leser«Footnote 40 genutzt werden. Noch vor der individuellen Evaluation – ob das Buch gefallen hat, ob eine Leseempfehlung ausgesprochen werden kann, mitunter auch eine konkrete Bepunktung anhand einer 5‑, 10- oder 100-Punkte-Skala – steht die Inszenierung im Zentrum, da die Rezension optionaler Bestandteil eines Postings ist; das Bild hingegen ist die unbedingt notwendige Grundlage. Erika Thomalla beschreibt die Szene dieser Social-Media-Rezensentïnnen als »Vielleser«, die sich über Challenges, Stapel ungelesener Bücher (SuB) in freundlicher, dennoch »kompetitiver Atmosphäre« in Wettstreit um »quantitativ messbare Ergebnisse«Footnote 41 begeben und dabei einen »unwahrscheinlichen Konservatismus«Footnote 42 pflegen. Viel zu lesen erscheint als uneingeschränkt positiver Wert und ist nahezu ausschließlich auf das gedruckte Buch fokussiert, dessen Sinnlichkeit – Haptik, Olfatorik, farbliche Kombinatorik in SuBs und Regalarrangements – eine große Rolle spielt. Auch ist »das analoge Buch mit spürbaren, visuell wahrnehmbaren, physikalischen Eigenschaften, mit ansprechend gestaltetem Cover und sichtbaren Lesespuren«Footnote 43 einfacher im Bild festzuhalten als das eBook. Die »Repräsentation der Leseerfahrung«Footnote 44 lässt sich am physischen Objekt einfacher zeigen.

Das Buch als stark aufgeladenes Symbol garantiert Zuverlässigkeit, Entschleunigung und Langsamkeit in einer flüchtigen (digitalen) Welt. Durch die Verknüpfung mit anderen organischen Materialien soll einer ›gemütlichen‹ und naturnahen Lebensweise Ausdruck verliehen werden.Footnote 45 Diese Vorstellungen und ihre Bilder sind in »traditionellen Bildungsidealen und Lesepraktiken verankert«Footnote 46: Nur das Buch ermöglicht, so die Darstellungsprämisse der Bookstagrammer, eine »empathische, ganzheitliche Lektüre«, die wiederum zur Bedingung für Identifikation und emotionale Anteilnahme, »Empathie, Rührung, Betroffenheit« wird.Footnote 47 Daraus erwachse der normative Druck, Lektüre nicht nur bewusst zu wählen, sondern Bücher auch unbedingt zu Ende zu lesen.Footnote 48 Eine wichtige Rolle dabei spielt die »Empathiekette«Footnote 49, die zwischen Bookstagrammern, ihren Followern oder auch ganzen Netzwerken entsteht, zu denen neben anderen Gleichgesinnten auch Autorïnnen gehören. Im Zusammenhang mit diesen Praktiken der Inszenierung und Besprechung von Büchern, die in den allermeisten Fällen Romane sind, sieht der Katalog relevanter Hashtags auch anders aus; #instapoetry spielt in diesen Zusammenhängen, soweit dies über Stichproben qualitativ überprüft werden kann, nur eine untergeordnete Rolle. Mögen diese Praktiken und das darin inkorporierte Wertungssystem, das sich über Zuverlässigkeit, Beständigkeit und physische Materialarrangements mitteilt, dem der Instapoetry-Szene zuwiderlaufen, lassen sich einige dieser Beobachtungen dennoch übertragen.

Bestätigen lässt sich der ästhetische Konservatismus. Dieser lässt sich auch in der Bildsprache der (vor allem professionellen) Instapoets erkennen, die häufig auf analoge Medien und Materialien zurückverweist. Auch die ›Empathiekette‹, die wohlwollende und identifikatorische Lektüren befördert und demnach Wert auf ›sympathische‹ Autorïnnen legt, spielt eine Rolle, wie im weiteren Verlauf noch zu zeigen sein wird. Entscheidende Abweichungen lassen sich hinsichtlich des Hangs zur Vielleserei als auch in Bezug auf Gattung und Genre feststellen, denn während für Buchpäsentationen in Shelfies primär der umfangreiche Roman im fotogenen Hardcover mit Schutzumschlag zentral ist, zeichnen sich die Instapoems zumeist durch ihre Kürze aus. Dabei stehen sie wiederum in den allermeisten Fällen in keiner bewussten formalen Tradition, zumindest keiner, die explizit para- und/oder metatextuell ausgestellt wird. Formale Irritationen liegen der Instapoetry fern – ihre Beiträge sollen voraussetzungslos les- und konsumierbar sein, so wie die Sentenz, die dem Kalenderspruch, dem Slogan auf Stickern und T‑Shirts verwandt ist.

Eine weitere Differenz lässt sich monetär ziehen: Bookstagrammer sind nicht nur Vielleser, sondern auch Vielkäufer, die wiederum andere zur Lektüre und damit implizit zum Kauf von Büchern und thematisch verwandten Waren anregen wollen. Dies geschieht auch über den aktuellen Bedarf hinaus; der Stapel ungelesener Bücher ist nicht nur eine Selbstverpflichtung, sondern auch eine finanzielle Investition in die Zukunft.

Unter diesem Vergleichsparameter ist die Instapoetry zunächst ein Gegenprogramm: wer seine Texte auf Instagram postet, kauft zwar auch Stifte, Papier und Bastelwaren, aber zunächst eben kein über Verlagswege veröffentlichtes Buch, das präsentiert werden könnte. Diese Formen des Besitzpräsentismus sind erst dann möglich, wenn die ersten Instapoets Bücher veröffentlichen, die sich materiell erwerben und herzeigen lassen. Durch die notwendige Verortung der Inhalte außerhalb des Mediums, die jedem Beitrag vorgängig sind, stellt sich die Frage, inwiefern die Instapoetry Fortsetzung früherer Formen von digitaler Literatur bzw. Netzliteratur ist oder ob es sich um etwas grundlegend Neues handelt. Geht man von einem weiten Begriff von Netzliteratur aus, der alle Texte bezeichnet, die in »elektronischen Kommunikationsnetzen zugänglich sind«Footnote 50, dann wäre dies ein Argument für die Fortsetzungs-These. Legt man hingegen einen engeren Begriff an, der nur »Projekte, die sich ausschließlich in computerbasierten Medien realisieren lassen«Footnote 51 umfasst, wäre die Instapoetry keine Netzliteratur, weil die sie generierenden Texte allesamt eine vorgängige materielle Basis haben: das Blatt Papier, der Post-It, das Notizbuch, ein auf dem Fußboden arrangiertes Set einzelner Buchstaben, das Display eines Laptops oder Tablets.

Durch die Vorgabe der Plattform, dass sämtliche Hauptinhalte aller Beitragsformen in einem Foto-Format verfasst sein müssen, um überhaupt eingestellt werden zu können, muss es ein vorgängiges Textträger-Medium geben, das überhaupt abfotografiert werden – oder ein Bildformat wie JPEG oder PNG erzeugen – kann. Dabei folgt die Plattform-Logik von Instagram einer ästhetischen Ökonomie, deren Zweck nicht die Befriedigung von Bedürfnissen, sondern von Begehrnissen ist, die sich ständig neu erfinden und wiederholt bedienen lassen, ohne einen natürlichen Sättigungsgrad zu kennen.Footnote 52 Der dieser Ökonomie zugrunde liegende Wert ist daher der »Inszenierungswert«Footnote 53, der über Erfolg und Misserfolg eines Gegenstandes, eines Produkts entscheidet; im Falle Instagrams wären dies die Reichweite von Sichtbarkeit und Beachtung sowie die Resonanz in Form von Likes, Kommentaren und Followern. Da es »für Ausstattung, Glanz und Sichtbarkeit« eben »keine natürlichen Grenzen« gibt, sind diese potenziell grenzenlos steigerbar.Footnote 54 Diese Binnen-Logik der Plattform korreliert indessen auch mit ökonomischer Kapitalbildung, denn ab einer gewissen Reichweite eines Accounts kann dieser durch platzierte Werbung ökonomisch einträchtig werden. Neben bereits außerhalb von Instagram prominent gewordenen Werbeträgerïnnen (Fußballspielerïnnen, Sängerïnnen, Schauspielerïnnen und Politikerïnnen) machen Influencerïnnen, also reichweitenstarke Accountinhaberïnnen, die für Produkte eines bestimmten Segments, wie z. B. Nahrungsmittel, Sportbekleidung oder Hundezubehör, mittlerweile einen großen Teil der Plattform aus. Bookstagrammer übernehmen Teile der Verlagswerbung, während die populärsten Instapoets für Modefirmen und Hotels werben.

4 Medienbedingtes Schreiben

Anders aber als im Umfeld der Bookstagrammer geht es bei der Instapoetry auch weniger um »Besitzmodernismus«Footnote 55 und »Besitzpräsentismus«Footnote 56, sondern um die Präsentation individuell gestalteter Texte. Somit gilt für die Instapoetry, was bereits für die Telefon- bzw. Handyliteratur festgestellt wurde, dass die Texte unter der »Maßgabe einer ›displaytauglichen‹ Schreibweise«Footnote 57 entstehen. Bei Smartphone-Displays mit durchschnittlich 4 bis 6 Zoll Bildschirmdiagonale bedeutet dies eine spezifische Raum- und daraus folgend auch eine Zeichen-Ökonomie, um die Inhalte bestmöglich sicht- und lesbar zu gestalten. Instagram stellt durch seine Bildfixiertheit eine besondere Herausforderung für Texte dar, um überhaupt gelesen zu werden. Die Kürze der Texte wird also zum einen von den Bedingungen des Darstellungsmediums mitbestimmt. Mitbestimmt, weil es zum anderen auch eine rezeptionsseitige Begründung für die absolute Kürze der Beiträge gibt: diese sollten sich, um im Kampf um Aufmerksamkeit aussichtsreich zu sein, en passant im Scrollen auf einen Blick lesen und in Sekundenschnelle begreifen lassen. Der Hirnforscher Ernst Pöppel hat in seinen Untersuchungen festgestellt, dass jene Informationseinheiten, die binnen eines Drei-Sekunden-Intervalls rezipierbar sind, große Vorteile besitzen.Footnote 58 Die Schnelligkeit, mit der die Inhalte bei Instagram für gewöhnlich über das Display bewegt werden, kommt diesem Intervall sehr entgegen. »Shorter is better online«,Footnote 59 lautet die Maxime der Online-Kommunikation. Der Konkurrenzkampf um Aufmerksamkeit verpflichtet zur brevitas, zur Kürze.Footnote 60 Erstaunlich ist dabei, mit welcher Selbstverständlichkeit dieser »Imperativ der Kürze« akzeptiert wird, der somit »gleichsam ›naturalisiert‹ erscheint«.Footnote 61 Naturalisiert erscheint er vor allem dadurch, dass dieses Diktat weder in den auf das Medium hin entworfenen Texten noch in den begleitenden Paratexten expliziert wird. Es kommt, in wenigen Ausnahmen, nur in Metatexten, z. B. in Interviews zur Sprache.Footnote 62

Zumindest wenn ein Account auf Reichweitenvergrößerung angelegt ist, sind Beiträge von Vorteil, die schnell, auf einen Blick rezipier- und sogleich evaluierbar sind: gefällt mir oder gefällt mir nicht, wobei nur im ersten Fall auf like gedrückt und sichtbare Aufmerksamkeit registriert wird. Damit scheint für Instagram zu gelten, dass dort »nicht nur unterschiedlich gelesen, sondern auch anders geurteilt wird«Footnote 63. An die Stelle des durch diskursive Abschweifungen gekennzeichneten ›peripatetischen‹ LesensFootnote 64 tritt die Registratur der im Feed in den immer gleichen Abständen auftauchenden, potenziell endlosen Bilder. Besonders kurze lyrische Texte lassen sich daher weit besser als andere literarische Gattungen zur Geltung bringen. Texte sollten sich auf einem Bild darstellen lassen, um ohne Vergrößerungsfunktion gut lesbar zu sein. Dieses Diktat der Aufmerksamkeitsökonomie schränkt die eigentlich unbegrenzten Möglichkeiten, was den Umfang, die Auswahl von vorhandenen Schrift-Typen wie auch der Gestaltung von Handschriften wiederum stark ein. Allerdings besteht durch die Fotografie aber die Möglichkeit, nahezu alles ins Bild zu setzen und damit die Format- und Schrifttypenvorgaben anderer Plattformen und konventionellen schriftdarstellenden Medien – zumindest tentativ – zu überwinden. Eine »Tendenz zur Kalligraphie«, die bereits für den Film, der in Konkurrenz zu digitalen Produktionsverfahren zum Teil auch eine Rückwendung zur »Handarbeit« nimmt,Footnote 65 lässt sich auch für viele Instapoets bestätigen. Sie stehen im Zeichen einer »Verfeinerungsdynamik«,Footnote 66 die sich auch dort beobachten lässt, wo es nicht um die Inszenierung originärer lyrischer Texte geht. Denn es handelt sich bei der Mehrheit der unter Instapoetry geposteten Gedicht nicht ausschließlich um den ›nackten‹ literarischen Text, sondern seine Einbindung in verschiedene visuelle Formationen. Diese können in Gestalt handgeschriebener Manuskripte, in Fotografien oder Bilderrahmen, von Zeichnungen und cut ups daherkommen, die den Text nicht nur rahmen, sondern auch illustrieren, kommentieren oder im Hinblick auf die Rezeption vereindeutigen können. Viele der Gedichte korrespondieren daher mit Verfahren der visuellen Poesie, ohne vollends in der Visualität aufzugehen. Ohne sich explizit auf Vorbilder zu beziehen und in entsprechende Traditionslinien zu stellen, verdankt die Instapoetry den Bild-Text-Experimenten mehr als den vielen gescheiterten Hypertext-Projekten.

Zwar werden auch biblionome Veröffentlichungsformen – z. B. alte, ledergebundene Bücher durch entsprechend gestaltete Notizbücher – simuliert, doch weit stärker ist der Zug zur Imitation bzw. die Abbildung schreibmaterieller Formen, die den Schreibprozess erkennen lassen und das Manuskript ausstellen: Über das einzelne, mitunter (scheinbar) durch den Gebrauch gezeichnete Blatt, das persönliche Notizbuch, in dem das abfotografierte Gedicht in der eigenen Handschrift niedergeschrieben ist, und über die ergänzenden Zeichnungen und künstlerischen Arrangements wird das Handwerkliche dieser Dichtung betont. Die den kurzen Formen vorausgehende Mühe und das liebevolle Arrangement werden als Sympathie-heischende Faktoren ausgestellt.Footnote 67 Jeder dieser Bestandteile dient der Singularisierung, dem Nachweis der Einzigartigkeit der Produkte kreativer Arbeit, wie sie z. B. der Account @thetypewriterdaily ausstellt. Diese Dauer verheißenden Materialen stehen im Kontrast zur Flüchtigkeit und Vorläufigkeit der Plattform-Inhalte. Es handelt sich bei Instagram um ein prekäres Abrufmedium, da seine Inhalte mit unbestimmter Verfügbarkeitsdauer erscheinen – Fotos können jederzeit wie auch der gesamte Account vom Urheber oder vom Anbieter zugriffsbeschränkt oder gelöscht werden. Eine wichtige Rolle für die Kommunikation wie für den individuellen Umgang mit relevanten Inhalten spielen daher Screenshots, mit denen jeder Inhalt wiederum zeitlich unbegrenzt speicherbar wird.

Die Frage, ob Instapoet mehr als ein bloßer Differenz-, nämlich ein Abwertungsbegriff ist, wurde bereits mehrfach aufgeworfen.Footnote 68 Ich verstehe und benutze diesen neutral zur Bezeichnung jener Lyrikerïnnen, die über Instagram publizieren – zumal der Begriff als Selbstbeschreibung in einer großen Community keine negative Konnotation besitzt. Das Netzwerk der Instapoets ist zunächst als eine »Art geschlossenes Ökosystem« zu begreifen, das vor der Buchveröffentlichung seinen eigenen Resonanzraum, »in dem sich Leser und Leserinnen gegenseitig zeigen, was sie tun und sich dabei lesend, kommentierend, verknüpfend anerkennen.«Footnote 69 Dabei gibt es wenig Interferenzen mit Shelfie- und Bookstagram-Community; Instapoetry ist stark von Influencerïnnen des eigenen Feldes geprägt, die zunächst im Abseits des offiziellen Literaturbetriebs ihre Texte veröffentlichten. Mit diesen aber haben sie nicht nur zahlreiche Nachfolgerïnnen inspiriert, sondern mitunter auch den Sprung aus dem Interface der Bilder ins gedruckte Buch und den Literaturbetrieb mit Lesungen, Festivals und Autogrammstunden vollzogen. An einigen exponiertenFootnote 70Instapoets lässt sich nachvollziehen, wie aus vermeintlichen Hobby-Lyrikerïnnen Profis mit Influencer-Status geworden sind.

5 Mediale Potenziale und Account-Ästhetik: Rupi Kaur und R.M. Drake

Unter den Lyrikerinnen auf Instagram trifft auf keine die Bezeichnung Influencerin so sehr zu wie auf Rupi Kaur, die sich mit ihren Texten als stilbildend erwiesen hat. Nachdem sie bereits einige Zeit auf der Plattform Tumblr aktiv gewesen ist, veröffentlicht die Autorin unter ihrem Account @rupikaur_ seit Mai 2013 auf Instagram. Zunächst allerdings nur mit einem unsystematisch geführten Foto-Account, der selbstgeschossene Fotos, Porträtaufnahmen Kaurs und einige von ihr gemalte Bilder versammelt. Ein gezeichnetes »self portrait« am 14.11.2013 markiert die Grenze zwischen diesem unsystematischen, für die Plattform allerdings typischen Posting-Verhalten und dem fortan planmäßig gepflegten Account einer nun selbst- wie formbewussten Lyrikerin. Am 18. November 2013 beginnt Kaur damit, ihre literarischen Texte einzustellen. Den Auftakt markiert das fünfstrophige Gedicht »you trace the bruises on your ribs«Footnote 71 (s. Abb. 1, das die für Kaurs weiteres Schaffen zentralen Themen von Missbrauch, familiärer bzw. häuslicher Gewalt und Alkoholismus aus Sicht eines weiblichen Textsubjekts behandelt.

Abb. 1
figure 1

Rupi Kaur: »you trace the bruises on your rips«

Der Beginn ihrer Autorschaft wird dabei ebenso offen ausgestellt wie der Medienwechsel: ohne Hashtag ist das Gedicht in der Bildunterschrift mit der Angabe »November 18 12:21 am« versehen, dem Datum, das als Geburtsstunde bzw. -minute der öffentlichen Lyrikerin Rupi Kaur lesbar wird. Auch die Medialität dieses Aktes wird forciert, denn das Gedicht ist, wie die Funktionsleiste am oberen Bildrand noch zeigt, aus einem Textverarbeitungsprogramm auf einem Computerbildschirm abfotografiert. Es ist jedoch nicht irgendein Programm, sondern es handelt sich, wie am spezifischen Design der Funktionsleiste zu erkennen ist, um Scrivener, ein von Keith Blount begründetes, speziell auf die Bedürfnisse von Autorïnnen ausgerichtetes Schreibprogramm.Footnote 72 Bereits mit der allerersten Veröffentlichung zeigt Rupi Kaur damit ihre Ambition an, eine professionelle Autorin zu sein. Alle später veröffentlichten Gedichte geben hingegen keinen Hinweis mehr darauf, auf welcher materiellen Grundlage sie verfasst worden sind. Das erste Gedicht ist zudem mit dem Kürzel (rk) gezeichnet; diese Kurzform wird nur ein einziges Mal verwendet. Ab dem zweiten Gedicht am 06.12.2013 unterzeichnet sie mit ›rupi kaur‹ und behält diese Signatur bis heute (Stand 05/2019) bei.

Nach dem Auftakt-Gedicht postet Kaur regelmäßig eigene Gedichte auf weißem Grund. Ab dem neunten Januar 2014 treten auch Kombinationen von Gedicht-Text und Zeichnungen hinzu. Diese zum Teil engen Verschränkungen von Text und Bild werden zum dominanten Darstellungsverfahren Kaurs. Die Texte verfasst sie dabei wie auch R.M. Drake in konsequenter Kleinschreibung, allerdings mit explizitem Bezug auf die Gurmukhi-Schrift, die ebenfalls durch durchgängige Kleinschreibung gekennzeichnet ist und als einziges Satzzeichen den Punkt verwendet. Ihre Intention ist es dabei, Gleichheit (»equalness«) herzustellen und zudem ihren familienbiographischen Hintergrund (»tying in my history and heritage«) zu forcieren.Footnote 73

Am 18.11.2013 beginnt nicht nur Kaurs Autorschaft, sie eröffnet mit ihrem ersten Gedicht zugleich ein Posting-Verfahren, das sie bis heute als corporate identity ihres Accounts durchhält. Gedicht und (Selbst‑)Porträts der Autorin werden seitdem (mit geringen Abweichungen in Form von Rückenansichten oder Handporträts, die jedoch nie ohne den Körper der Autorin auskommen) im steten Wechsel gepostet (s. Abb. 2).

Abb. 2
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Screenshot @rupi_kaur (Ansicht der Beiträge vom 16.11.2018 bis 25.10.2018)

Sowohl beim Zugriff über einen Webbrowser wie auch über die App entsteht auf diese Weise ein Muster, das zum genuinen Kennzeichen von Kaurs Account geworden ist. Der Instagram-Account wird damit selbst zum Kunstwerk erhoben, das durch eine bestimmte Ästhetik distinktiv – gegenüber anderen Accounts, aber auch anderen Social-Media-Präsenzen auf FacebookFootnote 74 und Tumblr – zur Geltung gebracht werden kann. Dieses alternierende Posting-Praxis wird vom ersten Vollzug (November 2013) seit über fünf Jahren streng ohne Ausnahme durchgehalten. Von den aktuell 837 (Stand 16.05.2019) geposteten Beiträgen liegen 820 innerhalb dieses Foto-Gedicht-Foto-Musters und stellen darüber eine Gleichrangigkeit von Autorin und Text her. Darunter finden sich auch mehrere Beiträge, in denen Kaur ihr analoges Schreibmaterial (z. B. 21.04./01.06./06.10.2014, 13.01.2017) – Notizbücher, Stifte, fliegende Blätter – und sich selbst und ihre Manuskripte in Schreibszenen (z. B. 14.02./11.12.2014) zeigt.

Hinsichtlich ihrer literarischen Texte ist keine durchgängige Veröffentlichungsstrategie zu erkennen. Es dominieren Gedichte kürzeren Umfangs, selten von mehreren Strophen, dazu einige Prosastücke ebenfalls kürzeren Umfangs sowie sentenzenhafte Zweizeiler. Kaurs Follower-Zahlen sind seit ihren Anfängen beständig gestiegen. Bereits im Herbst 2014 veröffentlicht Kaur daher eine Auswahl ihrer Gedichte unter dem Titel milk and honey im Selbstverlag. An dieser Stelle kann nicht die gesamte Popularisierungsgeschichte Rupi Kaurs nachgezeichnet werden, zwei besonders resonanzreiche Ereignisse sollten allerdings erwähnt werden. Zum einen ist dies eine »Menstruation-themed photo series«Footnote 75 im März 2015, die zunächst zu Konflikten mit den Zensurbestimmungen der Plattform führte, eine netzfeministischeFootnote 76 Debatte auslöste und international große Beachtung fand. Kaurs Beiträge gewannen dabei vor allem zahlenmäßig und erreichten erstmals über 100.000 Likes. Nachdem unterdessen mehr als 15.000 Exemplare von milk and honey verkauft wurden, vermeldet sie als Bestätigung dieser Aufmerksamkeitserfolge, dass ihr erster Gedichtband fortan bei Andrews McMeel Publishing in einer überarbeiteten Fassung erscheinen (ab 10/2015) und international vertrieben wird. Zeitgleich entsteht und erscheint eine spanische Übersetzung (leche y miel). Schon am 07.10.2015 berichtet Kaur in einem Beitrag, dass die Erstauflage bereits vielerorts vergriffen sei und bedankt sich für diese »power of the people« mit einer Text-Bild-Kombination: »It took a community to get here – thank you«Footnote 77, in dessen Mitte eine (Honig‑)Biene abgebildet ist.

Für das gedruckte Buch werden die bis dahin chronologisch fortlaufend veröffentlichten Gedichte in eine feste Form überführt und visuell fixiert. Dazu werden sie erstmals arrangiert und auf vier thematische Kapitel verteilt. Dadurch entstehen neue Verbindungen zwischen einzelnen Texten und eine Kohärenz auf der Makroebene, da diese ein narratives Schema (the hurtingthe lovingthe breakingthe healing)Footnote 78 aufstellt, das die Entwicklung eines Ichs beschreibt. Ihr allererstes Instagram-Gedicht ist nicht in diesen Band übernommen worden. Die versammelten Gedichte lassen sich drei verschiedenen Typen zuordnen. Von primärer Bedeutung sind bekenntnishafte Ich-Gedichte, in denen stets ein »I« von erlittenen Demütigungen, von Liebe und Hoffnung spricht. Daneben stehen zahlreiche appellative Du-Gedichte, die ein zumeist unbestimmtes »You« zu Imagination oder Identifikation aufrufen. Ein dritter Typus besteht aus besonders kurzen, sentenzenhaften Stücken.

Besonders diese kurzen Stücke wirken fort, da sich an das Buch Merchandise-Produkte knüpfen, welche die Texte abbilden. Kaur bietet auf Leinwand abgezogene Siebdrucke (die günstigere Variante zu 300$) oder handschriftliche Abzüge (die exklusive Variante zu 3000$) an. Neue Begehrnisse, die durch sekundäre Produkte geweckt werden und zusätzliche Einnahmen generieren sollen. Im Erfolgsfall geht es also auch bei den Instapoets wie bei anderen Influencerïnnen um die Vermarktung von Produkten. Aber auch für die Leinwand gilt, dass es eine der Form angemessenen Raum- und Zeichenökonomie bedarf, um den Text gut lesbar und das Produkt dekorativ zu gestalten. Kürze ist auch hier der oberste Primat.

Die Buchveröffentlichung ist als erster Gipfel der Popularität der Instapoetry zugleich ein medialer Umschlagspunkt, der die Gedichte aus der Virtualität der Bilder in die Materialität des Buches überführt. Der Druck vollzieht eine gegenläufige remediationFootnote 79, die das Smartphone als »Werkmedium erster Ordnung«Footnote 80 überwindet und das Buch in die zweite Ordnung verlegt. Diese wird wiederum dadurch überhoben, dass aus dem Buch heraus Gedichte abfotografiert und erneut gepostet werden, wodurch sie eine dritte Stufe der Verwertung erreichen. Kaur, und auch andere nach ihr im Print verlegte Lyrikerïnnen, betreiben eine Strategie der potenziell ewigen Rückkopplungsschleife: das digital verbreitete Gedicht wird zum Printerzeugnis, das wiederum digitalisiert wird, bis sich diese Spielform um Aufmerksamkeit eines Tages erschöpft haben wird. Am Ende der zunächst intra-medialen Popularität steht für die Erfolgreichsten aber das Buch als Nachweis einer Qualität, die sich dem sozialen Kapital verdankt.

Dass milk and honey der mit 2,5 Millionen (Stand 03/2019) verkauften Exemplaren bis dato erfolgreichste Lyrikband des 21. Jahrhunderts wurde, hat viel mit den Aufmerksamkeits- und Verbreitungsmechanismen von Social Media, besonders mit den Praktiken von Online-Lesekreisen und Buchclubs zu tun. Alleine auf der Plattform Goodreads hat milk and honey über 22.000 Rezensionen bekommen und wurde von über 500.000 Userïnnen geadded, also dem virtuellen Bücherregal hinzugefügt.Footnote 81 Die algorithmisierten Empfehlungen (Readers also enjoyed) tragen dazu bei, dass Aufmerksamkeitserfolge verstärkt und anderen, noch ahnungslosen Userïnnen bekannt gemacht werden. Eine besonders verstärkende Rolle hat auch die Schauspielerin Emma Watson (Hermione Granger in den Harry-Potter-Filmen) gespielt, die Kaur im August 2018 in den von ihr begründeten ›Intersectional Feminist Bi-monthly Book Club‹ Our Shared Shelf eingeladen und mit ihr über Literatur und Feminismus gesprochen hat. Allein Kaurs kurzer Video-Beitrag zu dieser Veranstaltung wurde auf Instagram über 1,3 Millionen mal angesehen.Footnote 82

An diese Erfolge versuchen andere Instapoets zum Teil explizit anzuknüpfen. Dies reicht bis in die Buchgestaltung hinein, wie etwa bei Caroline Kaufmans (@poeticpoison) Light filters in (2018), die bzw. auch ihr Verlag sich in einem Verhältnis ›parasitärer‹ Popularität auf das Vorbild Rupi Kaur beziehen, jedoch nicht an die Aufmerksamkeitserfolge und hohen Zahlen Kaurs heranreichen. Deren Instagram-Performance und ihre Resonanz bleiben von solchen Nachahmungen unbeeinträchtigt. Ihre Zahlen steigen weiterhin.

Dies ist angesichts der Kommunikationsformen Rupi Kaurs umso bemerkenswerter. Zunächst sieht es so aus, als praktiziere sie ein ausschließlich starkesFootnote 83, rein monologisches Autorschaftsmodell, das allein auf Sendung ausgerichtet ist. Derzeit hat der Account 3,69 Millionen Follower (Stand 16.05.2019) und gewinnt täglich im Durchschnitt 500 neue Follower hinzu,Footnote 84 sie selbst hingegen folgt keinem einzigen Account. Selbst bei Follower-starken Accounts von Fußballspielern, Politikerïnnen und Influencerïnnen ist es äußerst seltenFootnote 85, dass überhaupt keinen anderen Accounts gefolgt und ihre Inhalte abonniert werden, da der Interaktion über die eigenen Inhalte hinaus eine große Rolle in der Logik der Plattform zukommt. Auf der Oberfläche des Accounts ist dies eine genuine Praxis Kaurs, die nicht nur von der grundsätzlich auf Interaktivität ausgerichteten Logik des Mediums abweicht, sondern auch von den Präsentations- und Kommunikationsformen anderer Autorïnnen und Instapoets. Wer nicht die Beiträge anderer liked, diese kommentiert und ihren Accounts folgt, hat es eigentlich schwer, Sichtbarkeit zu erzeugen und eigene Follower zu requirieren. Kaur jedoch interagiert auf zweierlei Arten, die jedoch nicht die Oberflächen-Ästhetik des Accounts eingreifen und erst auf untergeordneten Ebenen sichtbar werden. Zum einen kommuniziert sie über den Kommentarbereich unter ihren Gedichten, in dem sie bisweilen eine hohe Interaktivität beweist. Sie erreicht mit einer Engagement Rate von 4,28 %Footnote 86 einen überdurchschnittlich hohen WertFootnote 87 im Vergleich zu anderen A‑Level-Accounts. Zum anderen wendet sich Kaur aber auch über die Stories, also den jeweils für 24 Stunden verfügbaren Fotos und kurzen Video-Clips, die in einer gesonderten Kategorie angezeigt werden, an ihre Followerïnnen.

Dass Kaur damit eine vergleichsweise hohe Zahl an Followern erreicht hat, ist daher erstaunlich, da der primäre Grund nicht in der Kommunikation, sondern den Inhalten zu suchen ist. Viele weit interaktivere Autorïnnen stehen auf Instagram deutlich hinter der Resonanz Kaurs zurück. Andere als official account deklarierte und verifizierte Profile, die also nicht von Fans angelegt und betrieben werden, kommen bei weitem nicht an die Follower- und Engagement-Zahlen Rupi Kaurs heran. Populäre Autorïnnen wie Stephen King (1,1 Mio.), Krysten Ritter (1 Mio.) Neil Gaiman (315.000), J.K. Rowling (186.000, seit 2016 inaktiv) oder Miranda July (143.000) liegen größtenteils weit außerhalb der A‑Level-Accounts. Der deutsche Bestseller-Autor Sebastian Fitzek kommt auf 72.400 Follower (Stand 16.05.2019) – gerade einmal ein Fünfzigstel Rupi Kaurs.

Im Gesamtdurchschnitt erzielen Kaurs Beiträge 156.749 LikesFootnote 88 – signifikante Abweichungen nach unten gibt es vor allem bei Ankündigungen ihrer Lesungs-Termine und längeren, teils in Prosa gehaltenen Texten. Abweichungen nach oben scheinen mit der absoluten Kürze der Beiträge zu korrelieren. Der bis dato erfolgreichste Post Kaurs ist ein Text vom 04.02.2019, der auf über 352.000 Likes kommt und gerade einmal aus sechs Wörtern besteht: »fall / in love / with your solitude«Footnote 89, mit ›rupi kaur‹ unterzeichnet und einer Illustration versehen, die eine vermutlich weibliche Figur in Rückenansicht vor einem stilisierten Gebirge zeigt.

Dass ausgerechnet dieser kürzeste Beitrag Kaurs die größte Resonanz erfahren hat, scheint die Annahme zu bestätigen, dass auf Instagram die absolute Kürze reüssiert – und die visuellen Elemente einen zusätzlichen Mehrwert generieren, der zur Beachtung und zur positiven Bewertung eines Textes beiträgt, was sich wiederum im offen sichtbaren Like manifestiert. Kaur ist bislang diejenige, die im vollen Bewusstsein der Affordanzen der Plattform am souveränsten mit dieser heteronomen Pragmatik umgeht. Sie bekennt in einem Interview, dass sie die Frage nach der größt- bzw. bestmöglichen Verknappung umtreibt: »How do I minimise it to the very core?«Footnote 90 Auch die Betonung ihrer lyrischen Vorbilder – Sharon Olds, Maya Angelou und Khalil Gibran, dessen Gedichtzyklus The Prophet sie 2019 für Penguin Classics, mit einem emphatischen Vorwort versehen, herausgibtFootnote 91 – stehen im Kontext von Kürze und Lakonie. Über den Traditionsbezug wird zugleich Legitimität für die eigenen kurzen Formen hergestellt.

Diese Tendenz zur äußersten Kürze lässt sich aber auch bei anderen Instapoets feststellen. Neben Rupi Kaur ist Robert Marcias alias R.M. Drake einer der nächstpopulären. Er verzeichnet 2 Millionen Follower auf der Grundlage von 4.937 Beiträgen (Stand 16.05.2019). Sein Account @rmdrk ist seit dem 13.10.2013 aktiv. Nach zwei Selfies postet er am 09.11.2013 – neun Tage vor Rupi Kaur – sein erstes Gedicht. Auch Drakes Performance lässt erkennen, dass er von Beginn eine planmäßige Publikationsstrategie betreibt. Der erste, ebenfalls in Kleinschrift verfasste Text (»if you tell me we«) wird bereits mit einer Raute (#1) nummeriert. In der Anfangsphase nutzt er noch regelmäßig die Farb-Filter-Optionen, sodass seine Beiträge bis zum Dezember 2013 eine heterogene Farbgebung aufweisen.Footnote 92 Ansonsten ist bereits bei den ersten veröffentlichten Texten zu erkennen, dass diese auf einer Schreibmaschine verfasst und abfotografiert worden sind. Auch Drake stellt sein Schreibgerät mehrfach aus: eine Royal Schreibmaschine aus den 1940er Jahren steht am 29.11.2013, am 10.12. sowie am 11.12.2013 im Zentrum seiner Postings. Am 20.01.2014 zeigt er schließlich noch eine Rover 5000 Comfort Matic aus den 1970er Jahren. Nachdem er den Einsatz der Farb-Filter aufgegeben hat, werden seine kurzen Texte häufig mit Zeichnungen, vor allem von menschlichen Gesichtern und Körpern, teils einzelne, teils zweisame, gerahmt. Zudem beinhalten seine Fotos wiederholt ›organische‹ Bildelemente wie Rosen, Tee- und Kaffeetassen, Kekse und Kuchen, Dielenfußböden, Haustiere (Hasen, Katzen, Hunde) oder Strand- und Gartenszenen. Motive, mit denen Drake an die Bildsprache der Bookstagrammer- und der Shelfie-CommunityFootnote 93 anknüpft, deren ästhetische Affinität zum Nicht-Digitalen seine Fotos teilen. Dies kommt besonders dann zum Ausdruck, wenn die Nähe zur analogen Fotografie gesucht bzw. nachgeahmt wird. Wiederholt stellt Drake (medial gebrochene) Bezüge zur Ästhetik von Polaroid-Fotos her; wiederholt postet er auch Fotos von Polaroid-Kameras (z. B. am 30.05.2018). Anders als Rupi Kaur bemüht sich Drake permanent um solche nicht-digitalen Objekte, die er für seine Follower-Gemeinde in Kombination mit seinen Texten inszeniert. Diese Strategie, durch forciert »›kunstlose[]‹ Repräsentationen«Footnote 94 nicht nur Authentizitäts-Effekte zu erzielen, sondern auch die Distanz zwischen sich und seinem Publikum gering zu halten, scheint erfolgreich zu sein. Sie harmoniert mit seinen Texten, die zunächst als #poems und #poetry rubriziert werden, aber durch den starken Fokus auf das Zitat als Ich-Aussagen Drakes lesbar werden und, wie die Reaktionen seiner Follower bestätigen, auch als solche gelesen werden. Zu Beginn werden seine Texte auch als #inspirationalquotes, #sadquote oder einfach nur als #quote verschlagwortet.Footnote 95 Hashtags wie #sadquote, #emotional oder #painFootnote 96 implizieren Leseanweisungen, welche Stimmung aus einem bestimmten Text – allerdings laut, wie der Hashtag #spokenword suggeriert – herauszulesen ist. Zugleich wird diese Stimmung auf ihren Urheber gewendet, der als empfindsamer, häufig melancholischer Dichter erscheint, der sich vor stetig wachsendem Publikum zu seinen schwankenden Stimmungen bekennt. Drake partizipiert mit diesen Texten wiederum an einer weiteren resonanzreichen Praxis, den Stimmungsbildern, die über den Hashtag #instamood zu einer der populärsten Kategorien zählen.Footnote 97 Individuelle Stimmung wird aber nicht selbstzweckhaft ausgestellt, sondern daraus soll zugleich Inspiration (#inspirationalquotes, #happyquotes) für sich und andere gezogen werden.Footnote 98 In diesem Kontext geht es um die Botschaft des wohlformulierten Motivationsspruchs, weniger darum, lyrische Formen zu erproben, weshalb die Gattungsbestimmung seiner Texte mitunter schwierig ist. Drake selbst verwendet mittlerweile auch keine Hashtags zur paratextuellen Bestimmung seiner Texte mehr.

Obwohl Drake mit zwei Millionen Followern zu den populärsten Instapoets gehört, pflegt er dennoch eine betont freundschaftliche Kommunikation mit seinen Followerïnnen und stellt die persönliche Beziehung zu seinen Leserïnnen häufig ins Zentrum seiner Postings: Die Begleittexte seiner Beiträge eröffnet er mit der Anrede »Hi loves«, interagiert häufig mit den Kommentierenden seiner Texte und bedankt sich für die ihm erfahrene Wertschätzung. Unter seinen Beiträgen finden sich auch zahlreiche Re-Posts von Fotos von Leserïnnen, die sich Drake-Zitate haben tätowieren lassen.Footnote 99 Seine inspirational quotes sind somit tatsächlich zum Gegenstand von Inspiration und Tröstung geworden. Der belächelteFootnote 100 Motivationsspruch wird für Angehörige der Zielgruppe zum Lebensmotto. Diese Kommunikationsformen sind Teil der Plattform-spezifischen Verfahren, die Drake allerdings ganz anders handhabt als Rupi Kaur. Auch betreibt er mit seinem Account keine streng einheitliche Veröffentlichungsstrategie. Neu- und wiederveröffentlichte Texte wechseln sich mit Werbung für die eigenen, ab 2013 erscheinenden Bücher und den bereits genannten Re-Posts ab. Dabei ist auch hier festzustellen, dass die allerkürzesten, epigrammartigen Beiträge die meiste Resonanz erfahren. Dies lässt sich beispielhaft an einer Reihe von Beiträgen aus der Zeitspanne vom 16.06.2018 bis zum 19.06.2018 zeigen (s. Abb. 3). In Leserichtung von (links oben nach rechts unten) entfallen auf die sechs Beiträge, fünf Texte sowie ein Star-Wars-Fan-Art-Meme zum Vatertag (links unten) 38.500 / 12.600 / 31.900 / 15.700 / 19.300 / 12.700 Likes. Die beiden kürzesten Texte (links sowie rechts oben) bekommen dabei mit über dreißigtausend Likes die meiste positive Resonanz, der mit Abstand längste Beitrag (oben mittig) mit 12.600 am wenigsten.Footnote 101

Abb. 3
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Screenshot R.M. Drake (Beiträge 19.06.218 bis 16.06.2018)

Mit dieser Logik bestätigt sich auf Instagram ein Trend, der schon seit Jahren zu beobachten ist. Lyrik werde, so eine wiederholt vorgebrachte These, nicht mehr primär gelesen, sondern von den meisten Rezipientïnnen gehörtFootnote 102 oder »gesehen«Footnote 103. Instagram als Plattform des Visuellen ist damit einer der zentralen Orte, an denen sich der »Aufstieg einer anderen Lesekultur«Footnote 104 manifestiert, die durch ein neues, weitgehend noch uneingehegtes, nicht kanonisiertes »Überangebot«Footnote 105 unter den relevanten Hashtags gekennzeichnet ist. Aus dem unüberschaubaren Angebot auszuwählen, ist nicht nur eine immer wieder herausfordernde Aufgabe, sie wird auch mit durch den Zufall bestimmt, was zum Abrufzeitpunkt gerade als aktuelle oder populäre Beiträge zur Empfehlung sowie schließlich zur Anzeige gebracht werden. Bestimmten Accounts zu folgen und damit ihre Beiträge zu abonnieren, erfüllt in dieser Hinsicht die Funktion einer Vorab-Selektion. Wenn das Lesen im Netz allgemein dadurch geprägt ist, dass es durch die hypertextuelle Entgrenzung »dynamischer« und »komplexer« wird, dann reagiert die Instapoetry darauf mit der größtmöglichen Verknappung. Die erfolgreichsten Beiträge dieser mediumsspezifischen extrem kurzen Form von Literatur sind entsprechend schnell rezipierbar. Kaurs und Drakes Texte sind die bis dato resonanzreichsten Experimente mit diesen Formen lyrischer Produktion, ihrer Präsentation sowie der Lektüre durch ihre Follower. Experimente sind es gleichwohl nur unter den Bedingungen von Instagram, denn die alleinigen Textpraktiken der Verknappung gibt es bereits weit länger als das Internet und die hier behandelte Plattform.Footnote 106

Dieser Beitrag ist eine erste Annäherung an ein junges Phänomen der Lyrik-Geschichte, die durch weiterführende empirische Untersuchungen zu ergänzen wäre. Auf Basis einer breiteren Datenlage könnte geklärt werden, woher dieser globale Trend kommt, welche Ereignisse seinen Aufschwung befördert haben und in welchem Zusammenhang die Praktiken der Instapoets mit den Affordanzen der verschiedenen Plattformen wie Twitter, Tumblr und anderen stehen. Woher kommen die vielen Instapoets und wo lagen ihre früheren Aktionsfelder? Literatursoziologisch wäre zu fragen, woher die Bereitschaft von Millionen Userïnnen kommt, sich in neuen Umgebungen mit lyrischen Texten auseinanderzusetzen und in welchem Verhältnis sich die Teilgruppen von Produzentïnnen, die zugleich Rezipientïnnen sind, überschneiden.

Ist Instagram schlicht zufällig zu der Plattform geworden, auf der sich vergleichsweise einfach Inhalte einstellen lassen, sodass, weil mit der Zeit ohnehin alles seinen Weg in die Bildbestände findet, zwangsläufig auch Lyrik den Weg hineinfinden musste? So wie eben millionenfach fotografierte Sonnenuntergänge, Altstadthäuser und Flusslandschaften aus der Sphäre der privaten Fotoalben in die potenziell unbegrenzte öffentliche Sichtbarkeit überführt werden, so könnte auch Instagram viele Texte aus der Privatheit intimer Entstehens- und Verwahrungszusammenhänge – Nachttisch- und Schreibtischschubladen, Poesiealben und Tagebücher ohne vorherige Veröffentlichungsabsicht – entheben. Viele Instapoetry-Beiträge machen den Eindruck von Gelegenheits- und Gefühlslyrik, wie sie auch vordem, zumeist auf den privaten Bereich beschränkt geblieben, verfasst, und, wenn überhaupt, in geringen Auflagen publiziert wurde. Der Unterschied läge dann in der Überwindung und/oder Aufhebung der Schwellen der ›alten‹, vor-digitalen Öffentlichkeit in einer neuen, digitalen, in deren Möglichkeitsspielraum Texte veröffentlicht und sichtbar werden können, die unter Bedingungen des traditionellen Literaturbetriebs und Verlagswesens an den Gatekeeper-Instanzen scheiterten. Macht Instagram insofern nur das sichtbar, was an vielen Orten schon früher praktiziert wurde, aber nie über die Beachtungsgrenze von Familien- und Freundeskreisen, von beschränkter intimer Kommunikation also, hinausgelangt ist? Kurz gefragt: ob es analog zur Kultur der »Veröffentlichung des privaten Lesens«Footnote 107 auch eine Kultur der Veröffentlichung des ›privaten Schreibens‹ gibt? Es wäre also empirisch zu prüfen, ob es sich bei der Instapoetry um eine »ins Netz gewanderte«Footnote 108, also lediglich digital sichtbar gewordene Literatur handelt; oder, wie ich es im Zusammenhang mit den Affordanzen der Plattform und seiner Communitys sehe, um eine Literatur »des Netzes«Footnote 109, die erst im Kontext dieser neuen Veröffentlichungsmöglichkeiten motiviert wurde und somit »im Netz« entstanden ist? Unbetroffen davon bleibt die Feststellung, dass es sich bei der Instapoetry um die bis dato zahlenmäßig erfolgsreichsten »digitale[n] Mikroformate der Gegenwart«Footnote 110 handelt, an deren Produktion, Distribution und Rezeption aktuell mehr Menschen partizipieren als an jeder bisherigen Form lyrischer Literaturen.