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Die Lücke im Gesetz

Zur Gegensätzlichkeit von Schuld- und Moralbewusstsein in Kafkas Prozeß

The Gap in the Law

About the Oppugnancy of Morality and Guiltiness in Kafka’s The Trial

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Zusammenfassung

Das Gesetz der Türhüterparabel ist nicht dasselbe wie dasjenige, nach dem Josef K. der Prozess gemacht wird. Jenes erstrahlt im Glanz der Ewigkeit, letzteres dagegen ist das Gesetz der Lüge und der Korruption. Weil es vom Gesetz der Gesetze losgelöst ist, ist der Einblick in seine Wirkungsweise verstellt. Das zweite Gesetz symbolisiert nicht die Unendlichkeit, sondern reproduziert unendlich nur sich selbst. Seine Genese ist im Prügler-Kapitel, das im Innern der Bank verortet ist, dargestellt. Schuld- und Moralbewusstsein sind im Prozeß, anders als die dekonstruktivistische Kafka-Lektüre annimmt, nicht dasselbe, sondern stehen in einem reziproken Verhältnis. Dieses Szenario aber hat Kafka nur vor dem Horizont des einen, mit sich selbst identischen und transzendenten Gesetzes entwerfen können.

Abstract

The law in the parable of the door-keeper is not the same as the one according to which Josef K. is brought on trial. The first one blazes in the clarity of eternity, the other one is the law of falsehood and corruption. Since it’s uncoupled from the ordinance of laws, the insight in its effectiveness is manipulated. The second law doesn’t symbolize infinitude, but infinite reproduces itself. Its origin is illustrated in the chapter »The Whipper« which is performed inside the bank. Guiltiness and Morality are not identic in The Trial, different from the assumption by deconstructivistic Kafka-interpretation, but are inversely related. But Kafka was enabled to devise this scenario merely against the horizon of the identical and transcendent law.

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Notes

  1. Adorno, Theodor W.: »Aufzeichnungen zu Kafka«. In: Claudia Liebrand (Hg.): Franz Kafka. 2. Aufl. Darmstadt 2010 (1. Aufl. 2006), S. 27.

  2. Zitiert wird aus der Ausgabe: Franz Kafka, Der Prozeß. Mit einem Kommentar von Heribert Kuhn. 8. Aufl. Frankfurt a.M. 2013 (1. Aufl. 2000) = Suhrkamp BasisBibliothek 18. Im fortlaufenden Text in Klammern zitiert mit der Sigle P + Seitenzahl.

  3. Vgl. Grözinger, Karl Erich: Kafka und die Kabbala. Das Jüdische im Werk und Denken von Franz Kafka. 5. aktualisierte und erweiterte Aufl. Frankfurt/New York 2014, S. 67.

  4. Vgl. Hiebel, Hans H.: Franz Kafka: Form und Bedeutung. Würzburg 1999, S. 107.

  5. Voigts, Manfred: »Franz Kafka im Spannungsfeld von jüdischen Strömungen und talmudischem Schriftverständnis.« In: Gernot Wimmer (Hg.): Franz Kafka zwischen Judentum und Christentum. Würzburg 2012, S. 124.

  6. Voigts (s. Anm. 5), S. 138.

  7. Vgl. Neumann, Gerhard: »Dom und Synagoge. Kafkas Deutungsräume der Religion«. In: Manfred Engel und Ritchie Robertson (Hg.): Kafka und die Religion in der Moderne. Würzburg 2014. S. 279: »Kafkas Verhältnis zur Religion, ja zu Religionen war gebrochen. Was ihn interessierte, waren weniger religiöse Inhalte als vielmehr Techniken religiöser Hermeneutik.«.

  8. Vgl. Voigts (s. Anm. 5), S. 130 ff.

  9. Adorno (s. Anm. 1), S. 29.

  10. Schneider, Jost: Einführung in die Roman-Analyse. 4. Aufl. Darmstadt 2016, S. 120.

  11. Vgl. Pikulik, Lothar: Frühromantik. Epoche – Werk – Wirkung. München 1992, S. 162.

  12. Schlegel, Friedrich: Gespräch über die Poesie. In: Friedrich Schlegel Werke in zwei Bänden. Berlin/Weimar 1980, Bd. 2, S. 179.

  13. Neumann (s. Anm. 7), S. 284 f.

  14. Adorno (s. Anm. 1), S. 25.

  15. Zitiert wird nach der Ausgabe: Franz Kafka, Brief an den Vater. Mit einem Nachwort von Wilhelm Emrich. Frankfurt a.M. 1978. Im fortlaufenden Text in Klammer zitiert mit der Sigle BV + Seitenzahl.

  16. Vgl. Mettler, Dieter: Werk als Verschwinden. Kafka-Lektüren. Würzburg 2011, S. 131.

  17. So der Titel der Kafka-Biografie von Peter-André Alt. München 2005.

  18. Nach Peter Pfaff verstößt eine Interpretation, die dieses und andere Motive nicht als Zeichen deutet, sondern auf sich beruhen lässt, »gegen die Regel der hermeneutischen Konsequenz«. Pfaff, Peter: »Die Erfindung des Prozesses«. In: Frank Schirrmacher (Hg.): Verteidigung der Schrift. Kafkas »Prozeß«. Frankfurt a.M. 1987, S. 11.

  19. Derrida, Jacques: »Préjugés. Vor dem Gesetz«. In: Claudia Liebrand (Hg.): Franz Kafka. Neue Wege der Forschung. 2. Aufl. Darmstadt 2010, S. 48.

  20. Lyotard, Jean François: Pragmatik des Judentums. Zit. n. Derrida (s. Anm. 19), S. 48.

  21. Derrida (s. Anm. 19), S. 48.

  22. Hiebel (s. Anm. 4), S. 110.

  23. Derrida (s. Anm. 19), S. 49 f.

  24. Vgl. Grözinger (s. Anm. 3). Grözinger hat mithilfe minutiöser Quellenstudien den Einfluss kabbalistischen Gedankenguts auf den Prozeß lückenlos nachgewiesen. Insofern er jedoch aus Motivparallelen auf die Aussageabsicht des Autors geschlossen hat, ist seine Untersuchung interpretatorisch nicht hilfreich.

  25. Vgl. Grözinger (s. Anm. 3), S.102.

  26. Wie der Schauspieler und Dramaturg Hanns Zischler rekonstruiert hat, war Kafka leidenschaftlicher Kinogänger, so dass eine Inspiration durch dieses Medium naheliegend ist. Zischler, Hanns: Kafka geht ins Kino. Reinbek bei Hamburg 1996.

  27. Vogl, Josef: Ort der Gewalt. Kafkas literarische Ethik. Zürich 2010, S. 189.

  28. Vgl. Grözinger (s. Anm. 3), S. 225: »Diese Motive, die Korruption der Gerichte, der Schmutz der Gerichtsorte, erscheinen im Lichte der jüdischen Theologie als Redeweisen für das Vorhandensein einmal entstandener Schuld. Der Schmutz und die Korruption der Gerichte ist [sic] demnach nichts anderes als ein Spiegelbild und Gradmesser für die von den Menschen aufgehäufte Schuld.«.

  29. Hiebel (s. Anm. 4), S. 112: Hiebel deutet hiermit allerdings die Parabel von »den kleinen Advokaten«. Die Prüglerszene hat er als Parabel der Verdrängung nicht erkannt.

  30. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 67 f. In: Immanuel Kant: Werke in zehn Bänden. Hrsg. Von Wilhelm Weischedel. Darmstadt 1983. Bd. 6, S. 61 f.

  31. Derrida (s. Anm. 19), S. 49: »Offenbar dürfte das Gesetzt als solches niemals irgendeiner Erzählung stattgeben. Seine kategorische Autorität kommt dem Gesetz nur zu, wenn es ohne Genese, ohne Geschichte, ohne mögliche Ableitung ist. Dies wäre das Gesetz des Gesetzes. Die reine Moralität hat keine Geschichte, das ist es, was uns Kant zunächst in Erinnerung zu rufen scheint, keine ihr innerliche Geschichte.«.

  32. Dieselbe Ungreifbarkeit von Schuld liegt in Kafkas Verhältnis zu seinem Vater vor, wenn er diesem im Brief an den Vater attestiert, dass es ihm ausdrücklich nicht um Schuldzuweisung geht, obwohl es vordergründig so aussieht. Vgl. Mettler (s. Anm. 16), S 123 f.

  33. Vgl. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Kafka. Für eine kleine Literatur. Frankfurt a.M. 2014 (1. Aufl. 1976), S. 61: »Die Geschichte vom Türhüter vorm Gesetz bleibt recht vieldeutig, und K. bemerkt selbst, daß er Geistliche, der sie erzählt, ein Mitglied des Justizapparats ist, ein Gefängniskaplan, also einer, der in einer Reihe mit anderen steht, ohne jedes Privileg, da ja nicht einzusehen ist, wieso die Reihe gerade bei ihm enden sollte.«.

  34. Der jüdische Religionsphilosoph und Freund Kafkas Martin Buber sieht in ihr »ein sachkundiges Mädchen«, das in der Verhaftung K.s eine Herausforderung von existenzialer Reichweite erkennt. Damit ist jedoch die offensichtliche Seite des Gerichts, der institutionalisierte Unrechtszusammenhang, außer Acht gelassen. Buber, Martin: »Schuld und Schuldgefühle«. In: Nikolaus Petrilowitsch (Hg.): Die Sinnfrage in der Psychotherapie. Darmstadt 1972, S. 358.

  35. Nach Hiebel sind ihre Worte »in naiv-dümmlicher und zugleich unernst-mechanischer Weise« gesprochen. (S. 97).

  36. Kaul, Susanne: Einführung in das Werk Franz Kafkas. Darmstadt 2010, S. 98.

  37. Gräff, Thomas: Franz Kafka, Der Proceß. Stuttgart 2015, S. 61.

  38. Gräff (s. Anm. 36), S. 61.

  39. Zweig, Stefan: Die Welt von gestern. Erinnerungen eines Europäers. Gesammelte Werke in Einzelbänden. Hamburg 1982 (Erstausg. Stockholm 1944), Bd. 6, S. 104.

  40. Zweig (s. Anm. 39), S. 103.

  41. Pfaff (s. Anm. 18), S. 12 f.

  42. Ebd., S. 11.

  43. Ebd., S. 11.

  44. Ebd., S. 11.

  45. Ebd., S. 12.

  46. Ebd., S. 12.

  47. Pfaff (s. Anm. 18): »Vorwort des Herausgebers«, S. 7.

  48. Nietzsche, Friedrich: Die fröhliche Wissenschaft. Werke. Kritische Gesamtausgabe. Hg. Von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Berlin/New York 1967 ff. Vgl. Robertson, Ritchie: Franz Kafka. Leben und Schreiben. Darmstadt 2009, S. 135.

  49. Mettler (s. Anm. 16), S. 123 f.

  50. Plass, Ulrich: Franz Kafka. Wien 2009, S. 88 f. Plass hat den Zusammenhang zwischen Gericht und ökonomischem Denken auf den Punkt gebracht. Dass dieser allerdings in der Prügler-Episode dargestellt ist, ist nicht Gegenstand seiner Untersuchung.

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Braeuer-Ewers, I. Die Lücke im Gesetz. Z Literaturwiss Linguistik 49, 493–515 (2019). https://doi.org/10.1007/s41244-019-00142-2

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