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»Cio ch’io vidi« – Italien und Italienanspielungen in Thomas Manns Doktor Faustus

Close reading zu Verbrechen und Schuld

»Cio ch’io vidi« – Italy and Italian allusions in Thomas Mann’s Doktor Faustus

A close reading of crime and guilt

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Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte Aims and scope Submit manuscript

Zusammenfassung

Ausgehend von Michael Maars Das Blaubartzimmer begibt sich der Autor auf eine kriminologisch-hermeneutische Spurensuche im Werk Thomas Manns, speziell im Doktor Faustus und dessen Italien-Motivik, und entdeckt vor dem Hintergrund von Lebensschuld und Werksühne ein obsessives Insistieren auf geografischen, physiognomischen und agonalen Details und damit ein spannungsreiches Montage- und Chiffrierverfahren zwischen Bekenntnislust und Verkleidungsspiel. In dieser Lesart des Faustus-Romans tritt die oft beschriebene Deutschland-Allegorie hinter die Schwerdtfeger-Handlung und damit hinter ein möglicherweise erlittenes persönliches Trauma zurück.

Abstract

Taking Michael Maar’s Das Blaubartzimmer as a starting point the author embarks on a criminological and hermeneutical investigation in the oeuvre of Thomas Mann, focusing particularly on Doktor Faustus and the Italian theme. Against the background of guilt and atonement he discovers an obsessive insistence on geographical, physiognomic and agonal details. The result is a structure of revelation and mystification that creates tension between the urge to confess and the delight in concealment. In this reading of Doktor Faustus the frequently discussed German allegory takes second place to the Schwerdtfeger plot and thus to the possibility of a personal experienced trauma.

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Notes

  1. Michael Maar, Das Blaubartzimmer. Thomas Mann und die Schuld (Erweiterte Taschenbuchausgabe), Frankfurt a.M. 2003.

  2. Ruprecht Wimmer, »Schuld und Rechtfertigung«, in: Andreas Blödorn, Friedhelm Marx (Hrsg.), Thomas Mann Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2015, 337–338.

  3. Maar (Anm. 1), 72.

  4. Alfred Döblin, »Von Leben und Tod, die es beide nicht gibt«, in: Ders., Schriften zu Leben und Werk, hrsg. Erich Kleinschmidt, Freiburg 1986, 465–508, hier: 498.

  5. Die Werke Thomas Manns werden zitiert nach Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Frankfurt a.M. 21974 (GW). Die Angaben zu den Tagebüchern beziehen sich auf Thomas Mann, Tagebücher 1918–1955, 10 Bde., hrsg. Peter de Mendelssohn, Inge Jens, Frankfurt a.M. 1977–1995 (Tb). Ebenfalls in den Text eingelassen werden die Notizbücher zitiert nach Thomas Mann, Notizbücher. Edition in zwei Bänden: Notizbücher 1–6, 7–14, hrsg. Hans Wysling, Yvonne Schmidlin, Frankfurt a.M. 1992 (Nb).

  6. Erika Mann, Thomas Mann. Autobiographisches – Das letzte Jahr. Bericht über meinen Vater, Frankfurt a.M. 1968, 7.

  7. Hermann Kurzke, Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk, München 1999, 517.

  8. Golo Mann, Erinnerungen und Gedanken. Eine Jugend in Deutschland, Frankfurt a.M. 1986, 523.

  9. Zur Geschichte des Koffers siehe Jürgen Kolbe (Hrsg.), Heller Zauber. Thomas Mann in München 1894–1933, Berlin 1987, 414 f. Die frühen Tagebücher Thomas Manns bis 1933 existieren nicht mehr; vermutlich fielen sie mit der Ausnahme der Hefte von September 1918 bis Dezember 1921 den Autodafés vom Juni 1944 und Mai 1945 zum Opfer. Siehe die Vorbemerkung des Herausgebers der Tagebücher (Anm. 5).

  10. Thomas Mann, Selbstkommentare: ›Doktor Faustus‹ und ›Die Entstehung des Doktor Faustus‹, hrsg. Hans Wysling, Frankfurt a.M. 1992, 302.

  11. Maar (Anm. 1), 16–32.

  12. Reinhard Baumgart, »Keine Leiche, nirgends« (Rezension zur Erstausgabe von Michel Maars Das Blaubartzimmer), Die Zeit, 16.11.2000.

  13. Thomas Mann, Essays. Nach den Erstdrucken hrsg. Hermann Kurzke, Stephan Stachorski, 6 Bde., Frankfurt a.M. 1993–1997, Bd. VI, 160.

  14. Hans Wollschläger, Wiedersehen mit Dr. F. Beim Lesen in Letzter Zeit, Göttingen 1997, 22.

  15. Thomas Mann (Anm. 13), Bd. VI, 18–20.

  16. Thomas Mann, Briefe I. 1889-1913, hrsg. Thomas Sprecher, Hans R. Vaget, Cornelia Bernini (Große kommentierte Frankfurter Ausgabe Bd. 21), Frankfurt a.M. 2002, 296.

  17. Briefe vom 16.4.1950 an Ernst Loewy und vom 27.4.1943 an Klaus Mann. Siehe Selbstkommentare 1992 (Anm. 10), 8, 302.

  18. Siehe die weiteren in dieselbe Richtung weisenden Beschreibungen von Leverkühns Sprechweise wie »eintönig«, »stockend«, »leise«, »murmelnd« (GW VI, 657).

  19. Thomas Mann – Heinrich Mann. Briefwechsel 1900–1949, hrsg. Hans Wysling, Frankfurt a.M. 1984, 18 f.

  20. Zu Thomas Manns Teufelsvision in Palestrina siehe Peter de Mendelssohn, Das Leben des deutschen Schriftstellers Thomas Mann. Erster Teil 1875–1918, Frankfurt a.M. 1975, 292 ff.

  21. Maar (Anm. 1), 45.

  22. Bereits im Stelldichein mit Diane Philibert wird der Liebesakt nahezu mit einer Art Tötung auf Verlangen gleichgesetzt (GW VII, 442).

  23. Zu Thomas Mann und Italien siehe immer noch Ilsedore B. Jonas, Thomas Mann und Italien, Heidelberg 1969, zudem Elisabetta Mazzetti, ThomasMannunddieItaliener, Frankfurt a.M. 2009.

  24. Siehe auch Notizbuch 7, 45: »Tierblick der Südländer... Diese Romanen haben kein Gewissen in den Augen!« (Nb II, 41).

  25. Eine (prominente) Hieb- und Stichwaffe dagegen hatte Thomas Mann mitten in Italien in den Betrachtungen eines Unpolitischen zumindest musikalisch aufblitzen lassen. Als junger Mann in einer Menschenmenge auf der Piazza Colonna stehend, unter einem »dickblauen Himmel« (GW XII, 80), der ihm ebenso auf die Nerven fällt, wie später Leverkühn die »Pracht des Abendhimmels« in Italien (GW VI, 286) verachten wird, erwartet Mann mit äußerster Spannung die Darbietung des »Munizipal-Orchesters« – auch Adrian »fehlte selten bei den Nachmittagskonzerten der Munizipalkapelle auf der Piazza Colonna« (GW VI, 291) – wobei feststeht, dass es Skandal geben wird, denn ein nicht geringer Teil des italienischen Publikums lehnt sich gegen die auf dem Programm stehende »Wagner-Demonstration« auf. Man gibt die »Totenklage um Siegfried« (GW XII, 80), der Kampf indes wogt zwischen ostentativem Beifall und nationalem Protest. »Aber nie vergesse ich, wie unter Evvivas und Abbassos zum zweiten Male das Nothung-Motiv heraufkam, wie es über dem Straßenkampf der Meinungen seine gewaltigen Rhythmen entfaltete, und wie auf seinem Höhepunkt, zu jener durchdringend schmetternden Dissonanz vor dem zweimaligen C‑Dur-Schlage, ein Triumphgeheul losbrach und die erschütterte Opposition unwiderstehlich zudeckte, zurücktrieb« (81). Thomas Mann zückt hier literarisch und nicht ohne erzählerische Aggression das Schwert (man erinnert sich an Gladius Dei) gegen eine ganze Kulturnation. Ist das dem selbstauferlegten Kriegsdienst am Schreibtisch geschuldet? Oder gehen diese Gewaltsamkeiten vollständig und unabhängig von den zeitgeschichtlichen Umständen auf zum Teil unter Verschluss gehaltene persönliche Erfahrungen in Italien zurück?

  26. Brief an Fritz Kaufmann vom 14.8.1948, siehe Selbstkommentare 1992 (Anm. 10), 218.

  27. Zur Frage von Adrian Leverkühns Schuld im strafrechtlichen Sinn an dem Tod Rudolf Schwerdtfegers siehe Jörg Tenckhoff, »Schuld und Mitverantwortung. Eine strafrechtliche Problematik in Thomas Manns Roman ›Dr. Faustus‹«, Jahrbuch der juristischen Zeitgeschichte 3 (2001/2002), 465–489.

  28. Michael Maar, Geister und Kunst. Neuigkeiten aus dem Zauberberg, Frankfurt a.M. 1997, 249 ff.

  29. In den Augen Walter Benjamins besteht die Kardinalsünde der Kunst gerade darin, ihre Beschwörungen mit Erschaffung zu verwechseln oder vielmehr sie dafür auszugeben. Benjamin rückt mit der vehementen Distanzierung von den Ideen des George-Kreises und dem Einspruch gegen Nietzsches ästhetische Rechtfertigung des Lebens als der einzig möglichen Thomas Mann durchaus nahe. Siehe dazu Burkhardt Lindner (Hrsg.), Benjamin Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2006, 472–493, hier: 487 ff.; Wolfgang Matz, Eine Kugel im Leibe. Walter Benjamin und Rudolf Borchardt: Judentum und deutsche Poesie, Göttingen 2011, 44, 46 f., 52, 79, 104, 111.

  30. Maar (Anm. 28), 212 ff.

  31. Selbstkommentare 1992 (Anm. 10), 118, 139, 141.

  32. Ebd., 100.

  33. Man erinnere sich nicht nur an Tonio Krögers Nachdenken über den Zusammenhang von Kunst und Verbrechen, sondern auch an das Wort von der »reichlich peinlichen Verwandtschaft« mit Bruder Hitler (GW XII, 849).

  34. Selbstkommentare 1992 (Anm. 10), 11.

  35. Selbstkommentare 1992 (Anm. 10), 154. Vgl. die gleichlautende Formulierung von der »blutigen Angelegenheit« ebd., 151.

  36. Hierher gehört auch die Notiz TMA, A‑II-Msv 33, Bl. 194, die ein weiteres, bislang unbeachtetes Detail einbringt, die blauen Augen des Mordopfers. Dazu weiter unten.

  37. Selbstkommentare 1992 (Anm. 10), 7.

  38. Siehe die Entstehungsgeschichte in Thomas Mann, Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn erzählt von einem Freunde, Kommentar Ruprecht Wimmer unter Mitarbeit von Stephan Stachorski (Große kommentierte Frankfurter Ausgabe Bd. 10.2), Frankfurt a.M. 2007, 11 ff.

  39. Siehe die zahlreichen Belege in Selbstkommentare 1992 (Anm. 10), 236 f., 277, 288, 299, 303, 307, 309, 315, 319, 337, 344.

  40. Ebd., 8.

  41. Ebd., 14.

  42. Für weitere Stellen vgl. ebd., 120, 133, 176, 179, 184, 186.

  43. Zuerst am 2.1.1948 an Fritz Kaufmann. Von seinem »wildesten« Werk hatte Mann bereits im Dezember des Vorjahres gesprochen, das erste Mal gegenüber Ida Herz, 11.12.1947 (ebd., 145, 136).

  44. Ebd., 23, 35.

  45. Ebd., 67.

  46. Ebd., 70.

  47. Ebd., 72.

  48. Ebd., 118.

  49. Ebd., 155.

  50. Ebd., 163. Das Wort vom »unheimlichen Buch« fällt bald darauf wieder im Brief an Agnes E. Meyer vom 17.2.1948 (ebd., 165). Bereits im Vorjahr hatte Thomas Mann Jacques Mercanton gegenüber bekannt, etwas »unheimlich Erregendes« liege dem Buch zugrunde und schlage auch bei den »schleppendsten Langweiligkeiten immer wieder durch« (ebd., 113 f.).

  51. Ebd., 170. So erneut am 14.6.1952 an Frank Donald Hirschbach (ebd., 331). Siehe auch die Formulierung »praemeditierter [...] Mord«, an Friedrich Sell, 14.7.1948 (ebd., 213).

  52. Maar (Anm. 1), 92.

  53. Nb II, 42. Vgl. Hans Wysling, »Zu Thomas Manns ›Maja‹-Projekt«, in: Paul Scherrer, Hans Wysling, Quellenkritische Studien zum Werk Thomas Manns, Bern, München 1967, 23–47.

  54. Selbstkommentare 1992 (Anm. 10), 131.

  55. Man ist im Hinblick auf die thematischen »Beschwerungen« des Faustus-Romans geradezu an die Worte des minäischen Kaufmanns erinnert, der Joseph nach Ägypten führt: »Ja, oft kam mir’s vor, als ob die Welt nur darum so voller lauten Geredes sei, daß sich besser darunter verberge das Verschwiegene und überredet werde das Geheimnis, das hinter den Menschen und Dingen ist.« (GW IV, 676).

  56. Reinhard Baumgart, »Der erotische Schriftsteller«, in: Ders., Thomas Mann und München. Fünf Vorträge, Frankfurt a.M. 1989, 20; Maar (Anm. 1), 52.

  57. Auch wenn bislang noch keine Verbindungen zwischen Thomas Mann und Thomas de Quincey ausgemacht zu sein scheinen, so ist man doch an dessen Essay On Murder Considered as One of the Fine Arts (1827) erinnert.

  58. Der ausdrückliche Hinweis auf den zentralen Gesellschaftsroman findet sich im Roman selbst, freilich an scherzhaft-vertuschender Stelle, wenn Schildknapp räsoniert, »einen Leipziger Gesellschaftsroman sollte man schreiben« (GW VI, 226). Ihm mangelt es in dieser Hinsicht an Entschlusskraft, nicht aber dazu, Adrians Beispiel folgend, gleichfalls nach München zu verziehen (267), um dort gewissermaßen am Münchner Gesellschaftsroman teilzuhaben.

  59. Liebe, insbesondere sinnliche Liebe ist für den Menschen von »hoher und reiner Geistigkeit« entehrend; in ihrer Erfüllung gewährt sie ein Glück, das den Schaffensprozess beeinträchtigt oder unterbindet. Die im Doktor Faustus mehrfach erwähnte »Eifersucht der Hölle« ist demnach nichts anderes als geistiger Hochmut und ein hieraus gezogenes Pathos der Einsamkeit (siehe GW VI, 142, 299 und 331 f., dann 552 mit Anspielung auf 266, 632, 636; zuletzt 664).

  60. Selbstkommentare 1992 (Anm. 10), 89; vgl. ebd., 242.

  61. Ebd., 38: »Eine Frau wartet im Hintergrund, seien Sie unbesorgt, aber daß sie zur Erlöserin wird, läßt der Teufel so wenig zu, wie im Volksbuch, als Faust auf Freiersfüßen geht. Wir müssen dem Verhängnis seinen Lauf lassen.«

  62. Selbstkommentare 1992 (Anm. 10), 211 f., 241, 261, 277.

  63. Zu denken ist an Leverkühns Worte aus dem musiktheoretischen Kapitel XXII, das zu der Konfrontation mit Arnold Schönberg und dem bekannten urheberrechtlichen Nachtrag geführt hat: »Organisation ist alles. Ohne sie gibt es überhaupt nichts, am wenigsten Kunst.« (GW VI, 254). Zu der Auseinandersetzung mit Schönberg siehe Selbstkommentare 1992 (Anm. 10), 166 ff., hier: Anm. 497.

  64. Der Begriff hier im Sinne von Walter Benjamins Goethes Wahlverwandtschaften verstanden, d. h. Bestandteil der Textkritik, als Gegenbegriff zum Schein des Kunstwerkes, als etwas der Dichtung Einwohnendes und als Anerkennung einer Bedeutungssphäre, die über den Text hinausweist. Die Einbruchstelle liegt weniger im dargestellten Geschehen als vielmehr in der Erzählhaltung und narratologischen Konzeption. Siehe Walter Benjamin, Gesammelte Werke, hrsg. Rolf Tiedemann, Hermann Schweppenhäuser u. Mitw. Theodor W. Adorno, Gershom Scholem, 7 Bde. in 14 Tl.-Bdn., Frankfurt a.M. 1974–1989, Bd. I.1, 123–201; dazu Sigrid Weigel, Walter Benjamin. Die Kreatur, das Heilige, die Bilder, Frankfurt a.M. 2008, 113 ff. Thomas Mann vertrat selbst die Ansicht, der Faustus-Roman, der kein Roman mehr sei, habe viel von jenem »Abwerfen des Scheines der Kunst«, von dem Leverkühns Lehrer Wendell Kretzschmar spricht. Siehe Selbstkommentare 1992 (Anm. 10), 156, vgl. GW VI, 75.

  65. Siehe dazu Guido Löhrer, »Der perfekte Mord. Eine metaphysische Fiktion und ihre antirealistische Herausforderung«, Conceptus 30/77 (1997), 165–180.

  66. Siehe Thomas A. Sebeok, Jean Umiker-Sebeok, »You know my method. A Juxtaposition of Charles S. Peirce and Sherlock Holmes«, Semiotica 26 (1979), 203–250; Umberto Eco, Thomas A. Sebeok, Im Zeichen der Drei. Dupin, Holmes, Peirce, München 1985, 7 ff., 35; Carlo Ginzburg, Spurensicherung. Die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst, Berlin 1995, 7–57.

  67. Siehe in der hier gekennzeichneten Weise auf Norbert Elias’ Über den Proceß der Zivilisation (1939) und Die höfische Gesellschaft (1969) fußend Barbara Stollberg-Rilinger, Des Kaisers alte Kleider. Verfassungsgeschichte und Symbolsprache des Alten Reiches, München 2008.

  68. Zu der Rolle Dantes im Doktor Faustus siehe Thomas Vormbaum, Zauberberg und Läuterungsberg. Dante-Rezeption bei Thomas Mann, Münster, Berlin 2016, 82 ff. Vormbaum nennt die Bilderwelt von Michelangelos Riesenfresko den Schilderungen Dantes verpflichtet und sieht folglich »Dante’s Gedicht«, von dem in den Augen Serenus Zeitbloms wiederum Leverkühns »tönendes Gemälde« viel in sich aufnimmt, als die äußeren »Brückenköpfe« und den »Mittelpfeiler« des gesamten Romans (ebd., 92). Dem ist nicht zu widersprechen; es ist jedoch festzuhalten, dass alle diese Bezugnahmen ebenso als strukturelle Italien-Dominanz in der Tektonik des Buches gelesen werden können.

  69. Vgl. Thomas Schneider, Das literarische Porträt. Quellen, Vorbilder und Modelle in Thomas Manns Doktor Faustus, Berlin 2005, 173 f.

  70. Diether de la Motte, Harmonielehre, Kassel 162011, 89.

  71. Jakob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 20, Leipzig 1942, Sp. 477.

  72. Siehe Thomas Mann, Briefe I (Anm. 16), 79 ff. Diese Lesart nimmt es ungescheut mit der Bezugnahme auf die angebliche Vorlage von Dürers Negerin Katherina auf, für deren Anziehung es m. E. keinen hinreichenden Anlass gibt. Diese Einschätzung gilt jedoch nicht für die ferner ermittelten auf Dürer zurückgehenden Bildquellen im Doktor Faustus. Siehe Hans Wysling (Hrsg.), Bild und Text bei Thomas Mann. Eine Dokumentation, Bern, München 1975, 364 f., 368 f. Die von Leverkühn erwähnten Mandelaugen scheinen eher auf einen asiatischen Typus hinzuweisen. Der Epikanthus medialis ist charakteristisch für viele Angehörige der ost- und südostasiatischen Bevölkerung von der Mongolei bis Thailand. Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass Asien bei Thomas Mann ein Platzhalter und Surrogat für das Südländische sein kann. Außerdem hat man beispielsweise auch bei der in Rom gebürtigen, in Pozzuoli und Neapel aufgewachsenen Sofia Villani Scicolone, die später als Sophia Loren bekannt wurde, von Mandelaugen gesprochen. Übrigens sind auch im Doktor Faustus die »Mandelaugen« Saul Fitelbergs »voll mittelmeerischen Schmelzes« (GW VI, 529).

  73. Briefe I (Anm. 16), 81.

  74. Ebd., 85 f., 90.

  75. Jesse A. Johnston, »The Cimbál (Cimbalom) and Folk Music in Moravian Slovakia and Valachia«, Journal of the American Musical Instrument Society 36 (2010), 78–117.

  76. Den Dante-Vertonungen folgt später eine Verarbeitung der Ode to a Nightingale von Keats, und Zeitblom wundert sich über Leverkühns Affinität zu dem in der Dichtung sich aussprechenden »Verlangen nach südlicher Lebenssüße« (GW VI, 351), da Leverkühn doch in Italien kaum Anteilnahme an Landschaft und Leuten genommen habe. Die Italien-Erfahrung war offenbar doch eindrücklicher als zunächst vermutet.

  77. Maar (Anm. 1), 105.

  78. Zu Paul Ehrenberg siehe Mendelssohn (Anm. 20), 376 ff.

  79. In Die Geliebten sollten Albrecht und Adelaide auf ihrer Hochzeitsreise nach Italien geschickt werden (Nb II, 55); ihre endgültigen Verkörperungen im Doktor Faustus, Helmut und Ines, gelangen aufgrund des Krieges bemerkenswerterweise nur bis Dresden (GW VI, 430).

  80. Es gibt noch eine weitere heimliche Verbindung zwischen der Schwerdtfeger- und der Glöcknerskind-Geschichte. In jenem entscheidenden Gespräch in Pfeiffering behauptet Leverkühn scheinheilig, er habe völlig übersehen, dass auch Rudolf empfänglich für die Vorzüge Marie Godeaus sein könnte und »nicht in Asbest gewickelt gegen die Reize des Holden und Schönen« (GW VI, 583). Ein sonderbar hergeholter Vergleich, dieser Asbest, hergeholt im wahrsten Sinne. Der Vettel nämlich, die der armen Bärbel die »Liebessalbe« andreht, hatte der Teufel versprochen, sie mit einem »asbestenen Panzer« fest gegen die Flammen der Hölle zu machen (146). In der Pfeiffering-Szene sind wohl die dem ewigen Höllenfeuer entgegengesetzten Flammen der Liebe gemeint, an denen sich zu wärmen Adrian nicht erlaubt ist.

  81. Weitere Erwähnungen der aufgeworfenen Lippen im Doktor Faustus siehe GW VI, 386, 571. Zur Physiognomie der aufgeworfenen Lippen siehe auch Nb II, 56.

  82. Siehe Die Entstehung des Doktor Faustus, GW XI, 165. Es handelt sich dabei um freilich eine »versteckte« Montage im Gegensatz zur »offenen« Montage, wie sie etwa der Poetologie Alfred Döblins angehört. Vgl. Oliver Bernhardt, Alfred Döblin und Thomas Mann. Eine wechselvolle literarische Beziehung, Würzburg 2007, 168.

  83. Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens (Münchner Ausgabe), 21 Bde. in 33 Tl.-Bdn., München 1985–1998, Bd. 3.2, 103.

  84. Hertha Simon, »Domino«, in: Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte, Bd. IV (1955), Sp. 154-157.

  85. GKFA 10.2 (Anm. 38), 624.

  86. Maar (Anm. 28), Heinrich Detering, Das offene Geheimnis. Zur literarischen Produktivität eines Tabus, Göttingen 1994.

  87. Schwerdtfeger sitzt bei dieser Gelegenheit übrigens in dem vor Leverkühns Schreibtisch stehenden »Savonarola-Sessel« (GW VI, 464). Der Sessel wird zuvor schon einmal erwähnt (343), gehörte aber vor Adrians Einzug im Haus Schweigestill nicht zur Ausstattung der Abtsstube (vgl. 277). Wird sich Leverkühn später nicht zum strengen Richter aufspielen und sich Selbstkasteiung auferlegen wie der von Thomas Mann bereits in Fiorenza neben Lorenzo de’ Medici zur Hauptfigur gemachte Prior? Zu denken ist natürlich auch an das Savonarola-Portrait, das zum Zubehör auf Manns Schreibtisch gehörte.

  88. Dass Schwerdtfeger ebenso wie Saul Fitelberg in Wirklichkeit nichts weniger als ein Dummkopf ist, zeigt sich in seiner klaren Erkenntnis, dass Leverkühns Musik ihre künstlerische Größe und Bedeutung ihrer »Unmenschlichkeit« verdankt (GW VI, 579).

  89. Maar (Anm. 28), 135 ff.

  90. Zitiert nach Hans Christian Andersen, Sämtliche Märchen, übers. v. Julius Reuscher, Leipzig [ca. 1900], 319.

  91. Ebd., 320 f., 324, 326, 328, 333.

  92. Siehe Michael Schattenhofer (Hrsg.), 100 Jahre Münchner Straßenbahn 1876–1976 (Neue Schriftenreihe des Stadtarchivs München 60), 21976, 344 ff.

  93. Vgl. Berthold Monasch, Der elektrische Lichtbogen bei Gleichstrom und Wechselstrom und seine Anwendungen, Berlin 1904, 174. Selbstverständlich behält die Heranziehung des Märchens von der Eisjungfrau aufgrund der oben genannten Aspekte bis hin zur vereisten Oberleitung der Straßenbahn ihre volle Gültigkeit. Hinzuzufügen ist noch, dass bei Rudis Sturz kurz vor dem ersten frostigen Kuss der Eisjungfrau die Wassertropfen an den Eiswänden in »blauweißen Flammen« strahlen.

  94. Vgl. GKFA 10.2 (Anm. 38), 807 ff.

  95. Wenn es in dem Brief an Fritz Kaufmann vom 14.8.1948 heißt »Haben Sie wahrgenommen, daß Adrian Leverkühn ihn [Schwerdtfeger] tötet, weil er ihn schließlich liebt? Die Situation der Shakespeare-Sonette hat dabei Modell gestand«, so ist dies irreführend, da Mann zu kurz greift und die volle Wahrheit – oder doch die vollständigen Vorlagen – nicht aufdeckt. Siehe Selbstkommentare 1992 (Anm. 10), 218.

  96. TMA, A‑II-Msv 33, Bl. 194.

  97. Andersen (Anm. 90), 344.

  98. Einer genauen Lektüre kann übrigens nicht entgehen, dass gerade auch die vier großen Deutschen, deren Leben und Werk nach Thomas Manns eigenen Angaben in dem Roman vertreten sind und den Hintergrund der Deutschland-Thematik stützen – Dürer, Goethe, Wagner und Nietzsche –, neben den bekannten, z. T. auch direkt erwähnten biografischen Beziehungen zu Italien (GW VI, 303: »Wie wirds mich nach der Sonne frieren«) im Buch auch solche zum Bordellthema unterhalten. Offenkundig ist dies im Fall Nietzsches, denn die Kölner Anekdote ist das direkte Vorbild für Adrians unverhofften Leipziger Bordellbesuch, die syphilitische Steigerung und die finale Paralyse. In den drei anderen Fällen ist die Verknüpfung viel unscheinbarer, wird in Nebenbemerkungen und konversationellen Teilen des Romans versteckt. Bei seinen von Vergleichen mit »vertrauten Kulturmonumenten« überbordenden Beschreibungen eines der beiden zentralen Werke Leverkühns, des Oratoriums Apocalipsis cum figuris, das sich an Dürers Apokalypsen-Zyklus orientiert, weiß Zeitblom als »Mann der Bildung« (476) zu berichten, dass Dürer sich bei der Darstellung der Hure Babylon »heitererweise geholfen hat, indem er die mitgebrachte Portraitstudie einer venezianischen Kurtisane dazu benutzte« (475). Hier erklingen das Bordell- und das Italienmotiv gleich zusammen. Versteckter noch ist die Art, in der Wagner mit der Sphäre des Bordells in Verbindung gebracht wird. Es geschieht an drei Stellen des Romans. Gegen Ende des Leipziger Briefes spielt Leverkühn Chopin gegen Wagner aus, indem er den chromatischen Wohlklang des cis-moll-Nocturne op. 27, Nr. 1 den »Tristan-Orgien« entgegenhält, die er als »Hauptschlacht der Wollust« bezeichnet und zu erkennen gibt, wie sehr er das »Corridahafte einer in der Verderbtheit robusten Theatermystik« (192) verabscheut. Zuvor schon hatte Lehrer Kretzschmar die Musik und ihren inneren Hang zu »berückender Versinnlichung«, Wagner gedenkend, als eine »Kundry« bezeichnet, die »weiche Arme der Lust um den Nacken des Toren schlinge.« (85). Zudem erfolgt die Verknüpfung in der intelligenten Suada des Saul Fitelberg, wenn dieser, den Türgriff schon in der Hand, kenntnisreich über die melancholischen »Uneinheitlichkeiten des Geistes« kontempliert und amüsiert davon erzählt, wie Franz von Lenbach den Parsifal »ein Tingel-Tangel nannte – und zwar in des Meisters Gesicht hinein.« (538). Wahrscheinlich wäre es durchaus nach dem strengen Geschmack Leverkühns, den Blumenmädchen-Akt des Parsifal mit einem »Tingeltangel fünfter Ordnung« zu vergleichen, in dem Christian Buddenbrook zu London einmal den Heiligen Abend verlebte (GW I, 532). Doch spricht Leverkühn in einem »Versuch der Leutseligkeit – von äußersten Hochmuts wegen« (GW VI, 430), beflügelt von Schwerdtfegers Gegenwart, ausdrücklich von einer zukünftigen »Kunst mit der Menschheit auf du und du« (429), die der sinnlichen Reize und einer gewissen Einfachheit und Fasslichkeit nicht entbehren könne. In derselben Verfassung fühlt Leverkühn sich berufen, im Gegensatz zu der »gestrengen Mittelmäßigkeit« des Numismatikers Kranich, eine Lanze für das Sinnliche in der Kunst zu brechen. Es solle, meint der Komponist, nicht außer Acht gelassen werden, dass der Geist sich durchaus nicht nur von Geistigem angesprochen fühle, sondern auch von der »animalischen Schwermut sinnlicher Schönheit« ergriffen werden könne. Sogar der »Frivolität« habe er mitunter seine Huldigung gemacht: »Philine ist doch am Ende nur ein Hürchen«; aber Wilhelm Meister, der seinem Autor nicht fernstehe, zolle ihr dennoch eine erstaunliche Achtung (547). Damit ist nun schließlich auch Goethe auf versteckte Weise mit dem Bordellthema in Verbindung gebracht worden.

  99. Schwerdtfeger wird sogar einer erstaunlichen Verjüngungskur unterworfen, indem Zeitblom eigens darauf hinweist, jener habe zu dem Zeitpunkt, da er sich Adrian in entscheidender Weise nähert, »merkwürdigerweise« noch »bedeutend jünger« ausgesehen als zur Zeit der ersten Bekanntschaft (GW VI, 463).

  100. Beim Blick in die gängigen Konversations- und Kunstlexika ergibt sich schnell, dass der Basilisk als fabelhaftes Mischwesen aus Hahn und Eidechse bzw. Schlange oder Hahn und Kröte auf Demokrit und die Beschreibungen von Plinius d. Ä. in seiner Naturalis Historia zurückgeht. Dem Mittelalter wurde der Basilisk entweder durch Plinius oder durch die Etymologiae Isidors von Sevilla bekannt. Sein Atem und sein Blick galten als todbringend. In der Symbolik gilt das Fabeltier als Sinnbild für die Sünde (Wollust) und den Antichrist. Die gegen Ende des 15. Jahrhunderts sich ausbreitende Syphilis (Lues) wurde auch als »Basiliskenkrankheit« bezeichnet, da vermeintlich vom Basiliskengift hervorgerufen.

  101. Möglicherweise sind auch Nepomuks »Bienenlippen«(GW VI, 613) eine Reminiszenz an Schwerdtfegers alla napoletana aufgeworfene Lippen. Das sonderbare Wort ist ansonsten nur bei Ludwig Uhland in dessen Theelied (1815) belegt.

  102. Gegenüber Ludwig Muth mahnt Thomas Mann am 27.5.1951, man dürfe Adrian Leverkühn weder als Allegorie für Deutschland noch als Platzhalter für die allgemeine Kulturkrise nehmen. In einem Brief an Enzo Paci spricht Mann im August 1950 gar vom Charakter des Buches »als autobiographische Dichtung«. »Mittelbares Selbstbekenntnis« sei »alles in dem Roman«, hieß es bereits in dem ausführlichen Brief an Jonas Lesser vom 29.1.1948. Siehe Selbstkommentare 1992 (Anm. 10), 319, 307, 155. Die insistierenden Kennzeichnungen »direkt«, »leidenschaftlich«, »persönlich« und »biographisch« finden sich in etlichen weiteren Briefen. Siehe ebd., 134, 156, 163 f., 179, 181, 185 f.

  103. Roland Barthes, »Der Tod des Autors«, in: Ders., Das Rauschen der Sprache, Frankfurt a.M. 2005, 57–63.

  104. Es ließe sich geradezu von einer fortwährenden Wiedergeburt nicht eigentlich des Lesers, sondern des Textes selbst sprechen. Zugleich ist nicht von der Hand zu weisen, dass, wie George Steiner in seinem zeitkritischen Essay Real Presences schreibt, ein Gedicht, ein Roman, eine Statue, eine Sonate nicht so sehr gelesen, angeschaut oder gehört, sondern vielmehr in einer persönlichen Phänomenalität der Begegnung er-lebt werden und damit auch Sinn und Bedeutung erhalten. Vgl. George Steiner, Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt?, München, Wien 1990, 21. Bevor also die Bedeutung des Textes zu verschwimmen beginnt, ist es an dem Leser, der mit einem Text lebt und ihn wieder durchlebt, wie Zeitblom die Lebensgeschichte Adrian Leverkühns (GW VI, 576), einen »Herrensignifikanten« zu bestimmen. Lacans strukturierender und organisierender Endsignifikant geht letztlich auf die Begriffe der Zäsur und des Gestischen bei Walter Benjamin zurück. Sie sind Teile von Benjamins Textkritik und dürfen auch als Mut und Verpflichtung zur Deutung verstanden werden. Siehe dazu Benjamin Handbuch 2006 (wie Anm. 29), 88 f., 465 ff.; Robert Pfaller, »Das Unendliche und das Gute. Der Herrensignifikant in Philosophie, Alltagskultur und Politik«, in: Ivo Gurschler, Sándor Ivády, Andrea Wald (Hrsg.), Lacan 4 D. Zu den vier Diskursen in Lacans Seminar XVI, Wien 2013, 85–106. Für uns besteht der Herrensignifikant in dem Wort, das Wendell Kretzschmar kaum über die stotternden Lippen bringt (GW VII, 74), das Jonathan Leverkühn unter Tränen den osmotischen Gewächsen zuschreibt (32), mit denen sein Sohn Adrian später seine eigenen Werke vergleichen wird (314, 322), das der Erzähler an einer Stelle fallen lässt, wie ein Mensch von einer Klippe fällt, als er Schwerdtfegers frühes Ende vorwegnimmt (526), das Leverkühn selbst in jenem geharnischten Brentano-Gedicht in Töne setzt – »Einen kenne ich... Tod so heißt er« (243 f.) – und Nepomuk Schneidewein in seinen sonderbar alten Gebeten zu bannen versucht: »Kein Ding hilft für den zeitling Tod« (615). Der Tod ist überaus stark im Doktor Faustus, und viel wird darin gestorben: von mehr oder weniger wichtigen Randfiguren wie Jonathan Leverkühn, Max Schweigestill und Dr. Erasmi über bedeutsame Nebenfiguren wie Clarissa Rodde, Baptist Spengler und Nepomuk Schneidewein bis zu den Hauptpersonen Rudolf Schwerdtfeger und Adrian Leverkühn. An der Tatsache des Todes hat die Deutung des Faustus-Romans sich zu bewähren; nicht an dem in mystischer Weise anziehend wirkenden Tod, dem der Mensch nach dem Zauberberg-Lehrsatz keine Herrschaft über seine Gedanken einräumen soll, sondern namentlich an dem blutigen Tod Rudolf Schwerdtfegers.

  105. Dieses erzählerische Verfahren war Gegenstand der Herbsttagung der Deutschen Thomas-Mann-Gesellschaft 2016 in Lübeck mit dem Thema »On myself. Autobiografisches Schreiben bei Thomas Mann«. Siehe Thomas Mann Jahrbuch, Bd. 30 (2017).

  106. Vgl. Maar (Anm. 1), 98 f.

  107. Ebd., 132 f.

  108. Siehe Bernd Hamacher, »Norden-Süden/Osten-Westen«, in: Blödorn, Marx (Anm. 2), 259–261.

  109. Nicht vergessen werden sollten diesbezüglich auch die »zischelnden Händler«, die den Neapel Besuchenden belagern, »bis man grob wird.« Siehe Briefe I (Anm. 16), 81. Auch gegen sie könnte sich eine aggressive Reaktion »aus guten Gründen« (GW VIII, 160) gerichtet haben.

  110. Michael Maar hat noch ein weiteres, möglicherweise mit dem Italienaufenthalt zusammenhängendes Geheimnis vorgeschlagen: Thomas Mann könnte in Neapel bei einer Schwarzen Messe, einer seinerzeit nicht untypischen Touristenfalle, zugegen und dabei Zeuge einer rituellen Hundeschlachtung gewesen sein, durchaus mit Bezügen zum Stricher- und Rotlichtmilieu. Die vielen, teilweise sakralisierten Tierschlachtungen in seinem fiktionalen Werk unter besonderer Bevorzugung von Hunden sprächen ebenso dafür wie das perennierende Teufelsmotiv. Siehe Michael Maar, »Der Teufel möglicherweise«, in: Ders., Leoparden im Tempel, Berlin 2007, 48–61 nebst Anm. 124. Eine regelrechte Hundeschlachtung gibt es im autobiografischen Geheimwerk des Doktor Faustus zwar nicht. Abgründe tun sich aber auf, wenn man an die Hundemetapher denkt, mittels derer Schwerdtfegers neapolitanische Physiognomie beschrieben wird (»bulldoggenhaft oder möpslich«, GW VI, 266, 395). Somit unterläge auch dem Rachemord Leverkühns das von Maar aufgespürte Motiv der Hundeschlachtung.

  111. Thomas Mann scheint damit, so wie Zeitblom es für Shakespeares Love’s Labour’s Lost diagnostiziert, einem »zwanghaften, um Kunstfehler unbekümmerten Drang [zu folgen], persönliche Erfahrungen unterzubringen« (GW VI, 288). Thomas Mann hat diesen Kunstfehler selbst wiederum künstlerisch gestaltet und verwoben; dennoch bleibt der Eifersuchtsmord eine erratische Stelle.

  112. Unzweifelhaft sind Beichte und Buße das Anliegen des Doktor Faustus; der Roman fungiert geradezu als Bußinstitut: Die Erkenntnis der Schuld liegt zunächst bei Erzähler Zeitblom. Über die nächste Stufe, die contritio cordis (wahre Reue), disputiert Leverkühn mit dem Teufel in Palestrina. Die confessio oris erfolgt in Leverkühns großer Bekenntnisrede, mit der er zugleich Fausts oratio ad studiosus nachahmt. In dieser Rede erweist sich die satisfactio operum, die Genugtuung und Rechtfertigung durch gute Werke, als das Argument, das Zeitblom ganz zuletzt dazu veranlasst, für Leverkühn um die absolutio, den Zuspruch der Vergebung zu bitten. Zu Beichte und Buße siehe Eberhard Hahn, »Ich glaube... die Vergebung der Sünden«. Studien zur Wahrnehmung der Vollmacht zur Sündenvergebung durch die Kirche Jesu Christi, Göttingen 1999, 161 ff. Zugleich ist die ernsthafte Werksühne des Romans jedoch ein verwirrendes Vagieren zwischen »Bekenntnislust und Verkleidungsspiel« (Heinrich Detering in einer E‑Mail an den Verf.). Der Autor verbirgt sich im zitaten- und anspielungsreichen Gewebe des Werkes, scheint selbst kaum davon zu trennen zu sein. Bei dieser Art Beichte geht es nicht um Ruhm und Unsterblichkeit, wie Proust anlässlich des Todes Bergottes, sondern um Nachsicht und Gnade. Findet das Werk Gnade, dahin geht die Spekulation, so auch der Mensch im Werk. Das ist der eschatologische Trick hinter dem Prinzip, das Leben als Kunstwerk zu verstehen. Den unterschiedlichen im Faustus wirksamen Begriffen der Gnade, etwa dem römisch-katholischen oder dem Lutherischen Begriff, zugleich synthetisiert und parodiert in den letzten Worten der mit dem ohnmächtigen Adrian Leverkühn in ihren Armen eine Pietà bildenden Mutter Schweigestill (GW VI, 667), kann hier nicht weiter nachgegangen werden. Siehe dazu z. B. Werner Wienand, Größe und Gnade. Grundlagen und Entfaltung des Gnadenbegriffs bei Thomas Mann, Würzburg 2001, 317 ff.

  113. Vgl. George Steiner, »Shakespeare – eine Gegendeutung«, in: Ders., Der Garten des Archimedes. Essays, München, Wien 1997, 66–95, hier: 88.

  114. Auf Vergil wird bereits in den von Leverkühn nach seiner Reise nach Graz und Pozsony vertonten Versen aus dem 22. Gesang des Purgatorio mit dem »Gleichnis« von dem Mann mit einem »Licht auf seinem Rücken« verwiesen, das ihm selbst nicht leuchtet, aber hinter ihm den Weg der Kommenden erhellt (GW VI, 217). Vgl. Purgator. XXII, 68. Mit dem Bild hat Dante seine Sicht der Stellung Vergils beschrieben. Siehe dazu Lea Ritter-Santini, »Das Licht im Rücken. Dante, ein Vorbild für Thomas Mann«, in: Dies., Lesebilder. Essays zur europäischen Literatur, Stuttgart 1978, 86–111.

  115. Robert Musil, Briefe 1901–1942, hrsg. Adolf Frisé, Reinbek bei Hamburg 1981, Bd. 1, 505. In dem Brief an Johannes von Allesch vom 15.3.1931 bezieht Musil sich freilich auf den Zauberberg.

  116. Walter Benjamin, Berliner Kindheit um neunzehnhundert, in: Ders., Gesammelte Schriften (Anm. 64), Bd. IV.1, 262 f.

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Notthoff, T. »Cio ch’io vidi« – Italien und Italienanspielungen in Thomas Manns Doktor Faustus. Dtsch Vierteljahrsschr Literaturwiss Geistesgesch 93, 191–238 (2019). https://doi.org/10.1007/s41245-019-00077-z

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