Verkaufsgespräche in Hans Falladas "Kleiner Mann-was nun?"


Hausarbeit (Hauptseminar), 2011

41 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

1 Einleitung

2 Analyse und Interpretation der einzelnen Verkaufsgespräche
2.1 Gesprächssituation 1: „… wie Pinneberg keine Pleiten schiebt“
2.2 Gesprächssituation 2: „… und Heilbutt einen Tippel rettet“
2.3 Gesprächssituation 3: „Der Schauspieler Schlüter […]“
2.4 Historische und intertextuelle Bezüge

3 Ergebnisse und Zusammenfassung

Literaturverzeichnis

Monographien

Internetquellen

Anhang
Anhang 1
Anhang 2
Anhang 3
Anhang 4
Anhang 5
Anhang 6 Biografischer Hintergrund

Eidesstattliche Versicherung

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1 Einleitung

In dem sozialen Zeitroman „Kleiner Mann – was nun?“ von Hans Fallada, alias Rudolf Ditzen, Erstveröffentlichung 1932 in der Vossischen Zeitung, später bei Rowohlt, finden sich in Verkaufsgesprächen Stellungnahmen zu verschiedenen zeitbezogenen sozialen und kulturellen Themenbereichen. Zu fragen ist dabei, welche Perspektiven dem Leser angeboten oder welche Themen angesprochen werden, welche sozialen Beziehungen und Machtverhältnisse dabei wie abgebildet werden, wie der Bezug zur realen Welt dargestellt wird und worauf die dargestellten ‚Szenen‘ inhaltlich abzielen. Nicht unwesentlich erscheinen hier der biografische und historisch-kulturelle Horizont des Autors für die Ausgestaltung der „story“ und des „discourse“.[1] In diesem Zusammenhang muss auch nach intertextuellen Bezügen z.B. zu Siegfried Krakauers „Die Angestellten“[2] gefragt werden. Speziell zu untersuchen wäre, welche Bedeutung die Kommunikationsebene zwischen Erzähler und Leser und die Kommunikationsbeziehung in Dialogen der Figur des Verkäufers Pinnebergs in der Herrenkonfektionsabteilung des Kaufhauses Mandel in Berlin haben könnte. Welche Charakteristika und Positionen der Figur Pinnebergs ergeben sich daraus? Benimmt sich der Protagonist, wie Fallada behauptet, wie ein „Pendel“? Von Interesse ist in diesem Zusammenhang auch, ob sich die ausgewählten drei Textstellen[3] z.B. mit einem Dramentext bzw. filmischen Szenen vergleichen lassen und/oder ob diese Erzähltechnik nicht eher ein typisches Stilmittel der „Neuen Sachlichkeit“ ist. Aus der Vielfalt möglicher Ansätze zur Interpretation der ausgewählten Textstellen wird die Narratologie ausgewählt. Gängige Theorien und Modelle (Stanzel, Genette u. a.) sowie die neuesten Forschungsrichtungen nach Martinez/Scheffel, Nünning, Fludernik u. a.[4] bieten insgesamt in der Erzähltheorie (Narratologie) logisch erscheinende konstitutive Strukturen, mit denen fiktionale Texte betrachtet werden können, die hier teilweise der Terminologie von Gérard Genette[5] zugeordnet sind. Die Handlung (histoire/story), „die Gesamtheit der handlungsfunktionalen Elemente des Erzählten“[6] , und die Darstellung (discours, ersetzt bei Genette durch récit/Erzählung und Narration) der Szenen wird nach Ordnung, Dauer, Frequenz, Modus und Stimme untersucht.

Auf eine Inhaltsangabe wird auf Wunsch der Dozentin verzichtet. Beginnen wird die Hausarbeit direkt mit der Untersuchung und Interpretation der Szenen. Wichtige historische, kulturelle und intertextuelle Bezüge sowie biografische Hintergrundinformationen werden kurz benannt, die Ergebnisse der gesamten Untersuchung anschließend zusammengefasst.

2 Analyse und Interpretation der einzelnen Verkaufsgespräche

2.1 Gesprächssituation 1: „… wie Pinneberg keine Pleiten schiebt“

Der Protagonist Pinneberg befindet sich in dieser Szene in der Herrenkonfektionsabteilung des Kaufhauses Mandel, bei dem er als Verkäufer angestellt ist, und sortiert Hosen nach aufsteigendem Preis.[7]

Schon die Kapitelüberschrift enthält (in Umgangssprache) einen zusammenfassenden, kompletiv-anachronischen, den Erzählfluss des Romans durchbrechenden Flashforward[8] (Prolepse).[9] Alle wichtigen metanarrativen Informationen zum Inhalt des Kapitels sowie zur Dreiteilung[10] werden genannt. Zum anderen folgen zu Beginn des ersten Teils, nun in Standardsprache, szenisch wertvolle Hinweise, die recht detailreich sind. Nicht nur Datum und Uhrzeit (31.10., 9.30 Uhr) werden genau genannt, sondern auch die Handlung des Protagonisten Pinneberg (er sortiert Hosen) sowie die in die Handlung des Protagonisten einbezogenen Gegenstände werden exakt beschrieben.[11] Anschließend folgt in direkter Rede ein Monolog Pinnebergs.[12] Schon hier entsteht der Eindruck eines dramatischen Modus bzw. einer filmischen Inszenierung, dessen sich der extradiegetische Erzähler bedient, um das Setting und damit auch Spannung aufzubauen. Auffällig ist, dass sämtliche Angestellten-Figuren im Geschäft, allen voran der Protagonist, lediglich mit dem Nachnamen benannt werden.

Die erste Verkaufsszene (ab Z. 23) ist ebenfalls dreigeteilt mit Einführung (Z. 23-31), Handlung (Z. 88) und Schluss (Z. 89-94). Zunächst erfolgt die detaillierte Handlungsbeschreibung der Verkäufer-Figuren als Einführung zum zweiten Teil des Kapitels.[13] Hier ist das Setting [(Verkaufs-) Raum[14] , Zeit (9.30 am 31.10.)] bereits arrangiert und Figuren (Wendt, Lasch, Heilbutt, Keßler) werden mit Handlungsverben[15] verbunden eingeführt. Die Figuren Pinneberg, ein Student und Keßler, imaginiert durch Pinneberg,[16] treten dann in dieser Szene handelnd oder scheinen im Hintergrund auf. Erzählzeit und erzählte Zeit wirken fast identisch, wobei die eigentliche Verkaufshandlung maximal 10 Minuten dauert bzw. zwei Seiten lang ist.[17] Das Tempo der Handlung wird, nach der wie eine Pause in der erzählten Zeit wirkenden Beobachtungsszenerie zu Beginn des Kapitels aus der Perspektive Pinnebergs, nun erhöht. Schnell wirkende, kurze Adverbialsätze werden gefolgt von knappen, elliptischen Nominalsätzen.[18] Sie wirken wie eine Schleuse zum folgenden zweiten Teil im dramatischen Modus. Während der Verkaufsszene behält der extradiegetische, heterodiegetisch-auktoriale Erzähler nun seinen gleichzeitig Unmittelbarkeit hervorrufenden Blickwinkel bei,[19] wobei Figurenrede als direkte Rede und die Gedankenwiedergabe vorherrschen. Kommentare des Erzählers erscheinen als erlebte Rede des Protagonisten.[20] Erzähler und Protagonist wirken wie eine Person. Der Leser kann sich so unmittelbar mit dem Protagonist identifizieren. Die Charakterisierung z.B., die den jüngeren Herrn als Student ausweist, erfolgt nur über die Beschreibung der Äußerlichkeiten aus Pinnebergs Blickwinkel.[21] Die wie eine komödiantische Filmszene wirkende Handlung wird nun vorangetrieben durch Pinnebergs dominantes Verkaufs-Verhalten.[22] Pinneberg wird charakterisiert wie ein fintenreicher Jäger in seinem Jagdrevier.[23] Floskelhafte Servilität in Sprache und Verhalten demonstrierend,[24] und damit seine „Identität [als Verkäufer, Anm. A. Lorenz-R.] in der Serie von Unterwerfungsakten“[25] offenbarend, setzt er unter der Oberfläche souverän-dominantes Verhalten gegen einen eindeutig geäußerten Kaufwunsch des Kunden ein[26] , um sein Verkaufs-Ziel zu erreichen und seine Verkäuferfähigkeiten zu beweisen. Zentrale Motivation seines Handelns ist, seine Stellung und Reputation im Konkurrenzkampf gegenüber dem Kollegen Keßler zu behaupten,[27] der dadurch ständig anwesend ist[28] (als Kontext) und Pinnebergs Kommunikation mit dem Kunden beeinflusst. Deshalb manipuliert er den Kunden wider dessen Kenntnis und Willen, indem er ihm zunächst dessen Wunsch nach einem blauen Trenchcoat mehrfach bestätigt,[29] um ihm dann, unter Vorspiegelung falscher Tatsachen, einen klassischen Ulster anzuziehen und diesen positiv hervorzuheben[30] . Im folgenden Textausschnitt (ab Z. 45) kann beispielhaft ein Wechsel der Perspektiven und der Darstellung beobachtet werden. Da die sprachlich vermittelten Informationen den Kunden nicht allein überzeugen, setzt Pinneberg zusätzliche paralinguistische Phänomene (Körpersprache) ein, die vom Erzähler im Beobachter-Bericht[31] beschrieben werden. Um seinen Verkauf zu sichern, hier wird Gedankenwiedergabe erkennbar[32] , fügt Pinneberg einen Verkaufs-Trick hinzu, der auf allgemeingültigen und auktorialen (Erzähler-/Fokalisierer-) Erkenntnissen basiert[33] . Offensichtlich ist der Trick schon mehrfach erprobt.[34] Dieser führt zum Schluss (ab Z. 89) wie erwartet auch zum Kaufabschluss[35] und hinterlässt sogar einen zufriedenen Kunden,[36] was wiederum als direkte Rede und Beobachter-Bericht inklusive Gedankenwiedergabe aus Pinnebergs Blickwinkel als Reflektorfigur erfolgt. Vom Gesamteindruck vermittelt dadurch die Szene einen filmreifen Komödien-Auftritt, der bis ins kleinste Detail der Handlungs-Chronologie und der Perspektivenwechsel in Form der stilistischen Darstellungswechsel zielstrebig durchdacht wirkt. Der Leser hat den Eindruck, gleichzeitig von verschiedenen Kameraperspektiven aus und objektiviert Pinnebergs Handeln und Denken vermittelt zu bekommen, was den Unmittelbarkeitseffekt und die Glaubwürdigkeit erhöht. Der Leser darf schmunzeln, denn der kluge, vom Leben bevorzugte Student wird vom kleinen Angestellten Pinneberg an der Nase herum geführt, ohne dass er etwas merkt, und freut sich sogar noch darüber. Pinneberg wirkt wie ein Komödiant, ein Schalk, der den Leser zum Lachen bringt, während er fast die soziale Hierarchie auf den Kopf stellt, ohne das wirklich selber zu wollen. Er hat lediglich sein Ziel vor Augen: sich gegenüber Keßler zu beweisen. Hier findet sich noch eine spielerische Leichtigkeit beim Verkaufsverhalten Pinnebergs, motiviert durch die Konkurrenz, die Pinneberg später, nach der Rationalisierung, verlieren wird.[37] Anklänge an Charly Chaplins Stummfilmkomödien sind nicht auszuschließen.[38] Pinnebergs Verkaufsgebaren entspricht aber wohl dem der realen Welt.[39] Das positive Fazit der gesamten Szene äußert Pinneberg in innerem Monolog.[40] Er bestätigt sich, und damit auch dem Konkurrenten Keßler, seinen Verkaufs-Erfolg und damit seinen hohen Verkäuferrang.

2.2 Gesprächssituation 2: „… und Heilbutt einen Tippel rettet“

Szene 2 (Z. 95-251) schließt unmittelbar an. Das Setting ist das Gleiche. Lediglich erzählte Zeit und Erzählzeit sind um ca. 10 Minuten (zwei Seiten) auf ca. 9.40 Uhr vorangeschritten. Die Szene ist ebenfalls dreigeteilt mit Einführung (Z. 95-105), Hauptteil (Z. 106-240) und Schluss (Z. 241-251). Der Hauptteil selber unterteilt sich wiederum in drei Abschnitte[42] . Als Personen treten wieder die Konkurrenten Keßler und Pinneberg auf, beide zu Beginn kundenfrei, sowie drei Damen und ein Herr, die in engem Verwandtschaftsverhältnis stehen. Sprachebene ist die Standardsprache. In einer Pause der erzählten Zeit fährt der auktorial-extradiegetische, heterodiegetische Erzähler/Fokalisierer in der Einführung wie mit einer Kameralinse aus dem Blickwinkel der Reflektorfigur Pinneberg kurz abtastend über den Verkaufsraum,[43] dann bleibt er bei Keßler stehen, fokussiert dessen Fluchtverhalten.[44] Anschließend kommentiert er in erlebter Rede Pinnebergs das Verhalten Keßlers.[45] Schließlich wechselt er zum eindeutigen inneren Monolog Pinnebergs,[46] thematisch wieder die Konkurrenzsituation behandelnd und Keßler gleichzeitig abwertend.[47] Dieser fortschreitend perspektivisch sich verengende Erzählstil konzentriert sukzessive auf die Figur Pinnebergs. Die Identifikation des Fokalisierers mit Pinneberg ist eindeutig, vermittelt seine Gedanken, begleitet ihn. Dadurch ist der Leser ‚gezwungen‘, automatisch mitzugehen. Pinneberg leitet die Handlung „mit einer sehr tiefen Verbeugung“[48] und seinem Dienstangebot ein. Er demonstriert seine servile Haltung, die diesmal betont und devot wirkt. Aus der gewählten Pinneberg-Perspektive fährt der Blick von einer der Kunden-Figuren zur nächsten. Erzählzeit und erzählte Zeit sind jetzt wieder identisch. Der Figurendialog wird dann bis Z. 133 durch den Erzähler vermittelt und kommentiert. Hier erfährt der Leser aus der Sicht Pinnebergs und durch die Redeanteile der Figuren, welche Hierarchien zwischen den Figuren herrschen, wer wen dominiert und wer inhaltlich welche Position vertritt.[49] Pinneberg versucht sich durch das Dickicht der Beziehungen seine ausschlaggebende Gesprächspartnerin herauszufiltern, indem er „vorsichtig“ (Z. 118) sondiert. Für ihn ist der Herr schon als „Wurm“[50] abzuqualifizieren, kommt nicht mehr in Betracht. Doch offenbart der Erzähler in einem auktorialen Nebensatz, der erlebter Rede ähnelt, dass hier der Kernkonflikt der Handlung verborgen liegt.[51] Für Pinneberg steht der Mann eindeutig an der untersten Stufe der Nahrungskette, die Frauen sind für ihn maßgeblich, doch da irrt er. Mit dem Wort „Smoking“[52] ist Pinneberg bereits in ein ‚Fettnäpfchen‘ getreten. Die Damen reagieren „empört“.[53] Pinneberg laviert, wie der Erzähler mit seinen Gedankenberichten deutlich macht, zwischen dieser Damen-Gesellschaft hin und her. Hierbei offenbart der Erzähler die Hierarchiebeziehungen mit dem Wort „Rechte“ auf den Mann.[54] Pinneberg wirkt unsicher, kann nicht einschätzen, wer hier was zu sagen hat. Sein folgender Jackett-Vorschlag wird deshalb abgelehnt[55] , weil er sich bereits in einer untergeordneten Machtposition befindet.[56] Nun steigert sich das Tempo der Handlung, denn von Z. 134 – 192 bleibt die Figurenrede unkommentiert, sodass nicht deutlich wird, wer spricht. Es kommt zu einer Verwirrung Pinnebergs und damit gleichzeitig des Lesers. Die abwechselnden, kommentarlosen Gesprächsanteile der Figuren deuten auf eine Absenz des Erzählers, die aber nur als völliges Zurücktreten gedeutet werden können, da er an anderer Stelle immer wieder durch Beschreibungen die Handlungen oder Gedanken Pinnebergs sichtbar macht. Hier fehlt dem dramatischen Modus die personalbezogen-auditive Form des lautsprachlichen Vortrags. Lediglich Pinneberg ist anhand seiner servilen Sprachebene[57] und seinen inhaltlichen Äußerungen[58] aus dem Gesprächschaos leidlich identifizierbar. Anhand der vorher einführend und personal zugeordneten Sprachinhalte muss der Leser nun selber auf die Sprecher schließen.[59] Gleichzeitig erhöht die Darstellung das Komödiantisch-Ironische der Szene, nähert sich textuell dem filmischen Slapstick, tritt aus der typischen romanhaften Erzählform völlig heraus. Dieses tempoorientierte Gesprächsdurcheinander prallt auf die Reflektorfigur Pinneberg, spiegelt deutlich mittels freier direkter Rede dessen ‚Kopfchaos‘. Pinnebergs Redeanteile bleiben zumeist knapp, elliptisch und fokussieren schließlich (kommentiert durch den Fokalisierer) auf die Ehefrau[60] des verächtlich von Pinneberg/Erzähler als „Eierschädel“[61] bezeichneten Mannes. Er „tippt“[62] falsch, d.h. er orientiert sich an einem falschen Verhandlungspartner, der Ehefrau. Dadurch verschärft er unfreiwillig den zwischen Ehefrau, Ehemann und den beiden anderen Damen ausbrechenden Machtkonflikt, der nun ungebremst und in schnellem Tempo, deutlich gemacht durch die erneut unkommentierten Figurendialoge, auf eine Krisensituation[63] , das Verlassen des Geschäftes ohne Kauf, hinsteuert.[64] Über personalisierende Passiv-Verben[65] , die die Wahrnehmung der harschen Umgangsweise mit den Jacketts beschreiben, wird die Krisenhaftigkeit und Not der Situation Pinnebergs metaphorisch vermittelt, grenzt aber aufgrund der damit einhergehenden Übertreibung ans Komödiantische. Hier spielt ein ironischer Erzähler mit den thematischen Gegenpolen „Notsituation“ und „übertriebener Spaß“, tendiert aber eindeutig zur Clownerie oder Burleske[66] , was zu Beginn der Szene schon durch die stilistisch übertriebenen Figurenbeschreibungen deutlich wird.[67] Nicht die Jacketts, sondern eigentlich Pinneberg wird hier „geschoben“ und „gezerrt“, kann sich nicht wehren, kommt nicht mehr zu Wort.[68] Die Figur Pinneberg scheint als Verkaufsprofi demontiert, muss Heilbutt um Hilfe ersuchen.[69] Sein „Hilfeschrei“,[70] erfolgt ebenfalls ohne Worte, nach drei Gedanken andeutenden Punkten, als begegnender Blick mit dem Heilbutts. Dieser muss als Steigerung vom vorher genannten Suchenden ‚um sich blicken‘ und ‚Sehen‘ gedeutet werden.[41]

Die ‚Gedanken-Punkte“ werden häufiger benutzt. Sie ersetzen fehlende Worte, beenden elliptische Sätze bei den Personen, die zeitweilig weniger Dominanz im Dialog oder aber Verblüffung in Form von Sprachlosigkeit zeigen.[71] Besonders in den Zeilen 220-222 häufen sich diese Ellipsen, nachdem Pinneberg doch noch einmal ‚verzweifelt‘ in das Geschehen der Hierarchiestreitigkeiten um den „Eierkopf“ erfolgreich eingreift.[72] Dieses Mal hat er den richtigen Partner angesprochen, was die Damen offensichtlich sprachloser macht und das Handlungstempo abbremst (angezeigt durch die Punkte). Genau hierhin platziert der Erzähler Heilbutts Erscheinen, der wie ein Geist aus dem Nichts neben Pinneberg auftaucht. Zunächst ist Heilbutt nur als „sanfte, aber bestimmte Stimme“[73] wahrnehmbar. Plötzlich entsteht ein Bruch in der Handlung, es redet niemand mehr.[74] Es ist eine Pause, ein Anhalten, ein Luftholen in dieser hektisch-fortschreitenden, verwirrenden Szenenhandlung und in der erzählten Zeit. Hier hat sich gleichzeitig der Blickwinkel der Wahrnehmung verändert. Nicht mehr Pinneberg ist Reflektorfigur, sondern nun die drei Damen.[75] Heilbutt bleibt ein undefinierbarer Geist, der wieder „entschwindet“[76] - wie ein Mandel-Messias, unangreifbar überirdisch und über den Dingen schwebend, die eigentlich nicht mehr vorhandenen Wogen glättend, die Pinneberg ja schon abgebremst hat. Die Ironie der Szene wird dadurch immens gesteigert. Plötzlich sind alle Beteiligten sich einig, der Kauf des Jacketts und sogar passender Hosen vollzieht sich schnell und ohne weitere Diskussionen, was im Zeitraffer durch den Erzähler beschrieben wird.[77] Der Blickwinkel hin zu Pinneberg ändert sich erst wieder ab Z. 245. Pinneberg wird im Schlussteil mit einer devoten „Extraverbeugung“[78] erwähnt. Sein Abschlussfazit wird auktorial als „stolz wie ein Feldherr“ und „zerschlagen wie ein Soldat“[79] vermittelt. Er hat eine große, ihn geistig verwirrende Schlacht geschlagen und sein hilfsbereiter Geist Heilbutt hat ihm im rechten Augenblick zum Sieg verholfen. Das wirkt übertrieben und ironisch. Doch kann die „Schlachtmetapher“[80] auch Pinnebergs Gefühle wiedergeben und auf seinen täglichen Kampf ums Überleben hindeuten.[81] Die Sprache ist militärisch nur auf der kommentierenden Erzählerebene. Im Figuren-Dialog mit Heilbutt überwiegt durchweg eine Verkäufer-Angestellten-Sprachebene[82] . Heilbutt spricht Pinneberg abschließend zu, der „geborene Verkäufer“[83] zu sein, doch weiß der Leser nicht, ob dies nicht eher ironisch oder zur Tröstung Pinnebergs gemeint ist, der die Situation zunächst völlig falsch eingeschätzt hat. Heilbutt bietet sein souveränes Verhalten gegen das verunsicherte von Pinneberg und zeigt ihm damit einen besseren Weg im täglichen Überlebenskampf auf.

[...]


[1] Wenzel, Peter (2004): Übergreifende Modelle des Erzähltextes. In: Wenzel, Peter (Hrsg.) (2004): Einführung in die Erzähltextanalyse. Trier, S. 9.

[2] Kracauer, Siegfried (112009): Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland. Erstveröffentlichung 1929. Frankfurt am Main.

[3] siehe Anhang 1-3.

[4] Wenzel (Hrsg.)(2004): S. 231.

[5] Genette, Gérard (21998): Die Erzählung. München.

[6] Martinez, Matias/Scheffel, Michael (52003): Einführung in die Erzähltheorie. München, S. 25.

[7] siehe Anhang 1: Z. 1 - 94.

[8] Wenzel (Hrsg.)(2004): S. 93.

[9] Genette (21998), S. 45f.

[10] Fallada (71979): S. 92. Teil 1: hier Z. 1-22; Teil 2: Z. 23-94; Teil 3: Z. 95-251).

[11] „Es ist der einunddreißigste Oktober […] graue, gestreifte Hosen“: (Z. 1-3).

[12] „Sechzehn fünfzig …“: (Z. 4-7).

[13] (Z. 23-31). Leben als Gegensatz zu Tod verdeutlicht Pinnebergs positive Einstellung zur Aktivität des Verkaufens als Lebensgrundlage, über die er sich definiert.

[14] Für die Zeit um 1932 ist der große Verkaufsraum eines zentralen Berliner Großbetriebs (Warenhaus) durchaus üblich. Siehe dazu im Anhang 5: „[…] indem wir uns nicht scheuten, unsere Räumlichkeiten umfassend zu vergrössern […]z.B. fast die gesamte Herrenausstattung zusammenlegten […]“. b.2.

[15] (Z. 23-25).

[16] (Z.29).

[17] Fallada (1950/71979), S. 93-95.

[18] (Z.24-25).

[19] (Z.29-31).

[20] (Z.68-69).

[21] (Z. 29f.). Grundannahme des Erzählers ist, dass der Leser Kenntnis davon hat, dass Studenten häufig bestimmten ‚schlagenden Verbindungen‘ zuzuordnen sind, durch die die „Schmisse“ (Verletzungen vom ‚Schlagen‘, einem Fechtduell) im Gesicht verursacht werden.

[22] (Z.32).

[23] Obwohl noch nicht lange im Geschäft, kennt er sich schon mit den angebotenen Waren aus, weiß sogar über die „Ladenhüter“ genau Bescheid (gelber Trenchcoat) und welche Wirkung sie auf Kunden haben. „die Maus ist beinahe in der Falle“ (Z. 68).; Lethen, Helmut (1975): Neue Sachlichkeit 1925-1932. Studien zur Literatur des „Weissen Sozialismus“. Stuttgart, S. 158.

[24] (Z.33-34); (Z.36-37); (Z.90-91).

[25] Lethen, Helmut (1975): Neue Sachlichkeit 1924-1932. Studien zur Literatur des „Weissen Sozialismus“. Stuttgart, S. 158.

[26] (Z.29-31); (Z. 35).

[27] Lethen (1975), S. 159.

[28] (Z.30-31).

[29] (Z. 32f.).

[30] (Z.36-37).

[31] (Z.45); (Z.61-62).

[32] (Z.68-69).

[33] (Z.77-79); (Z.84-86) zeigt die Wirkung des Mantels, was als Kontext wertbar ist.

[34] (Z. 84f.)

[35] (Z.89).

[36] (Z.92-93).

[37] siehe Szene 3.

[38] Beispielsweise zeigt die Szene mit dem Chaplin-Film „Der Ladenaufseher“ von 1916 durchaus Ähnlichkeiten, wenn Pinneberg z.B. das Lächeln des Studenten spiegelt (Z. 50-51) oder mit Jänecke als „Aufseher“ in Gesprächssituation 3, Fallada(1950/71979), S. 217.

[39] Hier besteht ein möglicher intertextueller Bezug zu Kirsch (1931). Der Verkaufsakt ist laut Dr.-Ing. Kirsch, Albert (1931) (Kaufen und Verkaufen. Eine Darstellung der Beziehungen zwischen den Subjekten und Objekten des Tausches an Hand des Tauschdiagramms. Leipzig.) ein Tauschakt zwischen Tausch-Subjekten (Käufer und Verkäufer), der von beiden beabsichtigt und begehrt ist (Kirsch 1931, S. 25ff.). Weiter: „Nur derjenige Geschäftsmann wird Erfolg haben, der seine Kundschaft zufriedenstellt […]“ (Kirsch 1931, S. 153). Angestellte im Verkauf sind Dienstleister am Kunden. Soziale Hierarchie darf nicht in Frage gestellt werden. (Deshalb muss sich Pinneberg servil verhalten.) Kundenzufriedenheit ist ein wichtiges Ziel, das mit dem Verkauf erreicht werden soll, um Kunden zu binden. Pinneberg kommt aber hier quasi mit einem Betrug und der Ironisierung der sozialen Machtverhältnisse hinterrücks zum Ziel.

[40] (Z. 94).

[41] siehe Anhang 2: (Z. 95 – 251).

[42] (Z. 106-133; Z. 134-211; Z. 212-240).

[43] (Z. 95).

[44] (Z. 96-99).

[45] (Z. 99-104).

[46] (Z. 104-105).

[47] „Du feiges Aas“: (Z. 104).

[48] (Z. 106).

[49] Die jüngeren Damen haben die meisten Redeanteile (Else mit 27 Äußerungen in 39 Sätzen, die Schwester mit 18 Äußerungen in 23 Sätzen), während der Herr die wenigsten Redeanteile (13 Äußerungen in 14 Sätzen) hat und ständig unterbrochen wird. Auch Pinneberg kann nur kurze Satzstrukturen äußern (15 Äußerungen in 21 Sätzen). Somit haben Ehefrau und Schwester mehr zu sagen und dominieren das Gespräch. Siehe auch Williams, Jenny (2009): „Was bitte steht zu Diensten, meine Herrschaften?“. Dialogische Erzähltechnik als neusachliche Darstellungsweise am Beispiel einer Szene im Kaufhaus Mandel. In: Gansel/Liersch (2009): Hans Fallada und die Literarische Moderne. Göttingen, S.82.

[50] (Z. 120).

[51] (Z. 120-121).

[52] (Z. 118).

[53] (Z. 122).

[54] (Z.126-128).

[55] (Z. 132-133).

[56] Williams (2009), S. 84.

[57] (Z. 142).

[58] „Wenn wir vielleicht dies Jackett anprobieren dürften …“: (Z. 152); „Fünfundfünfzig Mark.“: (Z. 156).

[59] Die strohblonde Ehefrau Else ist die resolute, interessierteste Käuferin, die dunkle Schwägerin will immer ‚was Vornehmes‘, das ‚was hermacht‘, während die ältere Schwiegermutter alle von Mandel zu ‚Obermeyer‘ dirigieren will.

[60] (Z. 184f).

[61] (Z. 193).

[62] (Z. 184-185).

[63] (Z. 204-212).

[64] (Z. 186-203).

[65] (Z. 205).

[66] Lange, Sigrid (2007): Einführung in die Filmwissenschaft. Darmstadt, S. 88.

[67] (Z. 101-104).

[68] (Z. 212).

[69] (Z. 212-216).

[70] (Z. 214).

[71] Z. 138; Z. 149; Z.173; Z. 195; Z. 206; Z. 211, Z. 220-222; Z. 226.

[72] (Z.215-219).

[73] Z. 227.

[74] „Stille.“: (Z. 229).

[75] (Z. 231-232).

[76] (Z.232-234).

[77] Z. 235-244.

[78] Z. 246.

[79] Z. 246-247.

[80] Williams, Jenny (2009): „Was bitte steht zu Diensten, meine Herrschaften?“. Dialogische Erzähltechnik als neusachliche Darstellungsweise am Beispiel einer Szene im Kaufhaus Mandel. In: Gansel/Liersch (2009): Hans Fallada und die Literarische Moderne. Göttingen, S.86.

[81] Williams (2009) in. Gansel/Liersch (2009), S. 86.

[82] (Z.249-251).

[83] Z. 251.

Ende der Leseprobe aus 41 Seiten

Details

Titel
Verkaufsgespräche in Hans Falladas "Kleiner Mann-was nun?"
Hochschule
Universität Trier  (Fachbereich II, Neuere Deutsche Literatur)
Veranstaltung
Hauptseminar "Arbeit und Wirtschaft in Texten der Zwischenkriegszeit", SS 2011
Note
1,7
Autor
Jahr
2011
Seiten
41
Katalognummer
V202263
ISBN (eBook)
9783656403395
ISBN (Buch)
9783656405375
Dateigröße
7325 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Bemerkung der Dozentin: Eine präzise narratologische Analyse, die die Machtverhältnisse konsequent mit der Darstellungsform verbindet.
Schlagworte
Hans Fallada, Kleiner Mann-was nun?, Zwischenkriegsliteratur, Verkaufsgespräche, Narratologie, Wirtschaft in Texten, Genette, Angestellte
Arbeit zitieren
Angela Lorenz-Ridderbecks (Autor:in), 2011, Verkaufsgespräche in Hans Falladas "Kleiner Mann-was nun?", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/202263

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