Sensation Seeking und Stressverarbeitungsstile bei Bergsteigern

Eine empirische Analyse am Mustagh Ata (7546m) und Pik Lenin (7134)


Examensarbeit, 2009

92 Seiten, Note: 2,7


Leseprobe


Inhalt

1 Einleitung

2 Sensation Seeking
2.1 Definition
2.2 Historischer Kontext
2.3 Aktuelle Entwürfe des Konzepts
2.4 Biopsychologische Fundierung des SS - Konzepts
2.4.1 Die psychophysiologische Ebene:
2.4.2 Die Neurochemische Ebene:
2.4.2.1 Monoaminooxidase (MAO):
2.4.2.2 Dopamin:
2.4.2.3 Serotonin:
2.4.2.4 Noradrenalin:
2.4.2.5 Sexualhormone:
2.4.2.6 Endorphine:
2.4.3 Die genetische Ebene:
2.5 Beziehungen zu anderen Persönlichkeitskonstrukten
2.5.1 Impulsivität
2.5.2 Hypomanie
2.5.3 Psychotizismus, Delinquenz, Hostilität
2.5.4 Psychopathy
2.5.5 Novelty Seeking
2.5.6 Weitere Zusammenhänge
2.6 Zusammenfassung und Kritik

3 Stress
3.1 Das Allgemeine Adaptionssyndrom
3.2 Stressverarbeitung (Coping)

4 Anlage der Untersuchung
4.1 Ableitung der Hypothesen
4.1.1 Forschungsstand zum Sensation Seeking im Kontext (Risiko-) Sport
4.1.1.1 Zusammenhänge von Sensation Seeking und sportlicher Aktivität
4.1.1.2 Sensation Seeking, gesundheitsbezogene Kognitionen und Parizipation am Risikosport
4.1.2 Hypothesen zum Senssation Seeking (SS)
4.1.2.1 Hypothese 1
4.1.2.2 Hypothese 2
4.1.2.3 Hypothese 3
4.1.3 Forschungsstand zu Stress im Kontext Höhenbergsteigen
4.1.3.1 Untersuchungen zu Stresserleben und Stressverarbeitungsstilen bei Bergsteigern
4.1.4 Hypothesen zu Stressverarbeitungsstilen (SVS)
4.1.4.1 Hypothese 4
4.1.4.2 Hypothese 5
4.1.4.3 Hypothese 6
4.1.4.4 Hypothese 7
4.2 Durchführung der empirischen Analyse
4.2.1 Erhebungsinstrumente
4.2.1.1 SSS - V
4.2.1.2 SVF 120
4.2.1.3 Eigene Klassifizierungsskala
4.2.2 Forschungsdesign der Untersuchung
4.2.2.1 Zuordnung der Variablen
4.2.3 Datenanalyse
4.2.3.1 Rücklauf der Fragebögen
4.2.3.2 Untersuchungsstichprobe
4.2.3.3 Ergebnisse zum Sensation Seeking
4.2.3.4 Ergebnisse zu den Stressverarbeitungsstilen (SVS)
4.2.4 Zusammenfassung und Diskussion der Ergebnisse
4.2.4.1 Das Persönlichkeitskonstrukt Sensation Seeking der Untersuchung.
4.2.4.2 Coping innerhalb der vorliegenden Untersuchung

5 Résumé – Versuch einer ganz persönlichen Reflexion

6 Literaturverzeichnis

7 Verzeichnis der Abbildungen

8 Anhang
8.1 Anschreiben vor der Expedition (Pik Lenin)
8.2 Anschreiben nach der Expedition (Pik Lenin)
8.3 Fragebogen „Vorerfahrungen Kontrollgruppe“
8.4 Fragebogen „Vorerfahrungen Bergsteiger“
8.5 SSS-V
8.6 SVF 120

1 Einleitung

Was treibt Menschen an, die höchsten Berge der Erde besteigen zu wollen? „Gäbe es einen Gott, dann hat er die Berge so hoch gemacht, weil er nicht will das Menschen dort oben rumlaufen“, hat meine Schwester mir einmal gesagt, als ich von einer Bergtour zurückkam.

Warum bringen sich Menschen durch Risikosport, von denen Bergsteigen nur eine von vielen Extremsportarten ist, bewusst in gefährliche Situationen und riskieren Kopf und Kragen?

Nach einem tragischen Canyoning – Unfall im Sommer 1999 in der Saxet - Schlucht in der Schweiz, bei dem 21 Wassersportler zu Tode kamen, gingen Medien und Fachöffentlichkeit auf die Suche nach den Ursachen. Das Ergebnis war desillusionierend: Auf der Suche nach auffälligen Persönlichkeitsmerkmalen von Bungee – Jumpern, Drachenfliegern und anderen Extremsportlern stießen die Forscher auf – nichts [...] (Opaschowski, 2000, S.10f.).

Keine Auffälligkeiten? Das kann nicht ganz stimmen, denn bereits seit den 60er Jahren des letzen Jahrhunderts gibt es Untersuchungen in der Psychologie, die das individuelles Bedürfnis nach neuartigen, intensiven und komplexen Reizen und Situationen, unter freiwilliger Inkaufnahme hoher Risiken thematisieren. Ist „Sensation Seeking“, ein psychologisches Persönlichkeitsmerkmal, ein Grund, warum Menschen Extremsituationen aufsuchen? Und wie nehmen solche Menschen Stress wahr? Bringt einen „Adrenalin-Junkie“ überhaupt noch irgendetwas aus der Ruhe? Sind Bergsteiger nicht eine Extremform solcher „Abenteurer“? Sie treiben sich – provokativ formuliert - freiwillig über Wochen in lebensfeindlichen Hochgebirgszonen herum, in denen es manchmal noch nicht einmal genug Luft zum atmen gibt und der Tod hinter jedem Steilabbruch, unter jeder Lawine und in jeder Gletscherspalte lauert.

Über die Anpassung des menschlichen Organismus an ungewöhnliche Höhen wurde schon viel berichtet. Seit den Olympischen Spielen 1968 ist das alpine Hochgebirge ein Forschungsplatz für Leistungssport und Adaptionsmedizin geworden (vgl. Auer 1976, Wagner 1991). Damals stellte man die leistungsfördernde Wirkung des sportlichen Trainings in Höhen von 1500 m – 2500 m fest, die aber erst nach einiger Zeit und nach Ablauf entsprechender Adaptionsprozesse des Körpers eintritt (Höhenakklimatisation). Im modernen (Hoch-) Leistungssport hat dieses Wissen beim Training von Ausdauerbelastungen (z.B. Laufen, Radfahren, aber auch Rudern und Fußball) Einzug erhalten und auch beim so genannten „Blut-Doping“ macht man sich diesen Effekt zu nutze, indem man gelagertes, „akklimatisiertes“ Blut (mit einem stark erhöhtem Hämoglobinanteil) vor Wettkämpfen in den Organismus des Sportlers injiziert (vgl. Nelson et al., 2003).

Doch die psychologischen Prozesse, die sich beim Bergsteigen in extremen Höhen abspielen, sind so gut wie unerforscht. Dies kann vermutlich einerseits damit erklärt werden, dass Bergsteigen keinen Leistungssport im herkömmlichen Sinne darstellt und Medien- und Publikumsinteresse nicht so stark ausgeprägt sind, wie beispielsweise bei olympischen Sportarten. Andererseits gestaltet sich aufgrund der extremen Bedingungen im Hochgebirge die Forschung auf diesem Gebiet sehr schwierig. Nach Stück et al. (2001, S. 421) dienen Forschungsexpeditionen in Gebiete, die extreme Lebensbedingungen darstellen (Weltraum, Hochgebirge, Arktis und Antarktis, Tiefsee, Wüste und Taiga), nicht nur dem Forscherdrang und dem Streben nach Höchstleistungen, sondern sind - teilweise gepaart mit Abenteuerlust - auch geeignet, die Grenzen der Leistungs- und Adaptionsfähigkeit der physischen und psychischen Prozesse des gesunden Menschen zu erforschen. So hat sich nach Stück et al. (2001, S.422) in den letzten Jahren in der Forschung eine Disziplin herausgebildet, die als „Extremmedizin“, „Extrempsychologie“ oder „Wissenschaft von Leben und Arbeiten des Menschen unter extremen Bedingungen“ bezeichnet wird. Zu dieser Entwicklung hat nach Stück et al. (2001, S.422) die Raumfahrtmedizin wesentlich beigetragen.

Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich nicht nur (theoretisch) mit den psychologischen Konstrukten Stressverarbeitung (engl. Coping) und Sensation Seeking, sondern es geht um die praktische Verbindung dieser Themen mit der Risikosportart Bergsteigen. Damit werden drei sportwissenschaftliche Themenbereiche angeschnitten. Die praktische Untersuchung dieser Arbeit wurde in Teilen auch als Feldstudie unter extremen Bedingungen im hochalpinen Pamirgebirge in Zentralasien durchgeführt. Vereinfacht ausgedrückt beschäftigt sich die vorliegende Arbeit mit folgender Thematik:

Es soll einerseits versucht werden, die Frage zu beantworten, warum sich Menschen freiwillig in lebensfeindliche Umgebungen bringen - Beispiel Bergsteigen - und sich objektiven Gefahren und hohen Risiken aussetzen. Dabei geht es auch darum, zu untersuchen, ob sich Bergsteiger in Teilen ihrer Persönlichkeit von „gewöhnlichen“ Menschen unserer modernen westlichen Gesellschaft unterscheiden.

Andererseits soll untersucht werden, ob und wie sich Bergsteiger in ihren Stressverarbeitungs-Strategien unterscheiden und ob sich diese Strategien im Verlauf einer mehrwöchigen Bergexpedition verändern. Es gibt bisher kaum Forschung in diesem Bereich. Die vorliegende Arbeit versucht ein wenig die Lücke zu füllen und erfahrungswissenschaftliche, empirische Erkenntnisse über Höhenbergsteiger im Feld des extremen Hochgebirges zu sammeln. In der vorgegebenen Bearbeitungszeit konnte wegen der Fülle der Zugänge nicht der gesamte theoretische Rahmen bearbeitet werden. Es macht aber auch inhaltlich Sinn einzugrenzen und den Fokus auf Sensation Seeking zu legen. Dies begründet sich einerseits durch ein persönliches Interesse, anderseits verspricht dieser Zugang, der in der Psychologie längst nicht so gut erforscht ist, wie Stress, gegenstandsbezogene Erkenntnisse. Anders ausgedrückt: Sensation Seeking kann neben der Stressthematik ergänzend Sinn und Unsinn des Bergsteigens erklären. Im empirischen Teil wurden beide Zugänge mit gleichem Anteil bearbeitet, wobei der Forschungsanteil zur Stressverarbeitung leicht überwiegt. Ob eine Begründung für den Wunsch, extreme Bergserlebnisse zu suchen, wissenschaftlich erfasst werden kann, bleibt auch nach meinen Untersuchungen noch offen. Vielleicht kann sie auch folgendermaßen beschrieben werden.

Die Sonne ging unter, und ihr Purpurschein erlosch auf den Westhängen des Mustagh Ata. Als der Vollmond über der Zinne der Felswand an der Südseite des Gletschers aufstieg, trat ich in die Nacht hinaus, um eines der großartigsten Schauspiele zu bewundern, die ich je in Asien gesehen habe.

Die ewigen Schneefelder auf der höchsten Kuppe des Berges, das Firnbecken, das den Gletscher speist, und seine höchsten Regionen badeten im Silberschein des Mondes, aber wo der Eisstrom in seiner tiefen Felsrinne lag, herrschte nachtschwarzer unergründlicher Schatten, über die gewölbten Schneefelder zogen weiße dünne Wolken, und man glaubte die Geister des Berges zu sehen, die im Freien ihre Tänze aufführten. Ich stand so hoch wie der Gipfel des Chimborazo oder des Mount McKinley und höher als der Kilimandscharo, der Montblanc und alle Bergspitzen dreier Erdteile; nur die höchsten Gipfel Asiens und der Anden waren höher. Bis zur Spitze des höchsten Berges der Erde, des Mount Everest, fehlten noch 2.600 Meter. Aber ich glaube dennoch, dass das Bild, das sich vor mir entrollte, an wilder, phantastischer Schönheit alles übertraf, was ein Sterblicher auf Erden erblicken kann.

Sven Hedin (1885 – 1952) über seine Expedition zum Mustagh Ata

2 Sensation Seeking

Sensation Seeking (SS) wird, vereinfacht ausgedrückt, als individuelles Bedürfnis nach neuartigen, intensiven und komplexen Reizen und Situationen verstanden. Nach Schumacher & Roth (2004) geht die aktive Suche nach solchen Eindrücken und Erfahrungen mit der prinzipiellen Bereitschaft einher, dafür Risiken in Kauf zu nehmen und hat die Funktion einen als aversiv erlebten Zustand der Langeweile in einen positiv erfahrenen Zustand der Wachheit und Anspannung zu überführen. Das Konzept des SS ist eng an seinen Begründer Marvin Zuckerman gekoppelt.

2.1 Definition

Die Entwicklung des SS – Konzeptes basiert auf den Untersuchungen von Marvin Zuckerman (1979, 1994). Zuckerman hat das Konzept entwickelt, selbst immer wieder in empirischen Studien angewandt und in zahlreichen Übersichten dargestellt (Zuckerman, 1994). Er definiert SS wie folgt:

Sensation Seeking is a trait defined by the seeking of varied, novel, complex and intense sensations and experiences, and the willingness to take physical, social, legal, and financial risks for the sake of such experiences (Zuckerman, 1994, S. 27).

Zuckermann beschreibt SS also als ein Persönlichkeitsmerkmal, das durch das Bedürfnis nach wechselhaften (abwechslungsreichen), neuen, komplexen, intensiven Eindrücken und Erfahrungen, und der dazugehörigen Bereitschaft körperliche, soziale, gesetzliche und finanzielle Risiken in Kauf zu nehmen gekennzeichnet ist. Die Bedeutung der Wechselhaftigkeit steht dabei nach Zuckerman (1994)[1] im Vordergrund. Es wird deutlich, dass es bei dieser Definition von SS nicht mehr um sinnliche Reize allein geht. Der Begriff „Sensation Seeking“ ist im Englischen und Deutschen mehrdeutig, da er sowohl sensorisch, gefühlsmäßige Reize im engeren Sinne als auch besondere „Events“ im sensationellen Sinne thematisiert, wobei letztere sich nicht vorrangig bzw. vordergründig auf Sinneseindrücke beziehen, sondern auf solche, deren kognitive Bewertung besonders interessant, neu, unwahrscheinlich, ungewöhnlich oder selten ist. Gniech (2002) nennt dieses Phänomen daher Sensationslust.

2.2 Historischer Kontext

Nach Hammelstein & Roth (2003, S.1) hat die psychologische und psychiatrische Forschung vor allem im angloamerikanischen Raum ein anhaltend großes Interesse an dem persönlichkeitspsychologischen Konstrukt des Sensation Seeking, was durch die hohe Anzahl von Publikationen zu diesem Thema belegt werden kann. Im deutschsprachigem Raum dagegen sind, bis auf eine Ausnahme (Andresen, 1986), bis Ende der 80er Jahre kaum Arbeiten zu diesem Thema erschienen.

Nach Möller & Huber (2003), die in ihrem Aufsatz eine ausführliche historische Analyse der Entwicklung von SS vorstellen, begann die Konzeptualisierung von Sensation Seeking in den frühen 1960er Jahren. Damals wurde erstmals angenommen, es gäbe ein optimales Niveau der Stimulation oder auch Aktivierung (Optimal Level of Arousal = OLA) (vgl. z.B. Hebbs, 1955; Berlyne, 1960). Zuckerman konnte sich damals bereits auf Literatur beziehen, die auf interindividuelle Unterschiede in der Reaktion auf Isolationsbedingungen in Weltraumkapseln hingewiesen hat (z. B. Holt & Goldberger, 1961). Diesen Ergebnissen zu Folge bewirke eine Reduktion der von außen kommenden Stimulation eine Person zu einem aktiveren Verhalten auf der Suche nach aktivierenden Stimuli. Umgekehrt bewirke aber eine Überflutung mit Reizen einen Rückzug der Person aus solchen Situationen. Nach Möller & Huber (2003) nahm Zuckerman diese Ergebnisse als Grundlage und führte Studien über die Auswirkungen sensorischer Deprivation beim Menschen durch, in denen er erhebliche interindividuelle Unterschiede in der Toleranz solcher experimentalpsychologischen Situationen fand. Diese Beobachtungen waren Anlass, nach einer möglicherweise veranlagten Verschiedenheit im Hinblick auf die „Mittellage“ jenes OLA zu suchen.

Die psychologische Erforschung interindividueller Unterschiede in der Suche nach bestimmten, als „anregend“ erlebten Stimuli und die Entwicklung entsprechender psychometrischer Verfahren war Anfang der 1960er Jahre in den USA durchaus häufig bearbeitetes Thema. Möller und Huber (2003) verweisen in diesem Kontext auf den psychologiehistorischen Hintergrund der „Reiz-Reaktions-Theorie“, des damals in den USA vorherrschenden behavioristischen Paradigmas. Zuckerman waren vor diesem Hintergrund maßgeblich zwei Annahmen für die Konzeption des Sensation Seeking wichtig:

1. Die Annahme, dass der Reiz an sich keine Bedeutung hat und sich diese erst durch Gewohnheiten und Lernerfahrungen ergeben muss.
2. Die Annahme des vitalisierenden Momentum eines Antriebs, der einen Zustand der Ausgeglichenheit intendiert (z.B.: Hungerà Sättigung).

Vor diesem Hintergrund konnte Zuckermann bereits damals auf eine Vielzahl psychometrischer Verfahren zurückgreifen, welche die Beziehung von Stimulus und Person zu erfassen versuchten. Auf dieser Basis entwickelte er ein eigenes Testverfahren, die „Sensation Seeking Scale“ (SSS). Die SSS wurde von Zuckerman stetig weiterentwickelt, die „SSS V“ ist, nach Möller & Huber (2003, S. 12), das in der Praxis am häufigsten verwendete Inventar zur Erfassung von SS. Neben der SSS gibt es noch andere diagnostische Testverfahren[2], die versuchen SS zu erfassen und zu klassifizieren. Dank dieser Inventare und den dadurch ermöglichten Veröffentlichungen ist Sensation Seeking in der modernen differentiellen Psychologie ein fester Terminus geworden, der allerdings nicht unumstritten ist (siehe Kapitel 2.6).

2.3 Aktuelle Entwürfe des Konzepts

Das Model des Sensation Seeking differenziert sich immer weiter aus. Abhängig von Autor, Begrifflichkeit und jeweiliger Definition werden verschiedene Subkategorien hinter dem Begriff des SS unterschieden[3]. Die gängigste Differenzierung stammt von Zuckerman (1994), leitet sich aus der SSS ab und kann zunächst in vier Subskalen unterschieden werden:

1. Thrill and Adventure Seeking (TAS) (Gefahr- und Abenteuersuche):

Diese Skala beschreibt die Tendenz, sportliche und andere Aktivitäten durchzuführen, die Gefahr oder Geschwindigkeit beinhalten, wie z.B. Klettern, Fallschirmspringen, Rennfahren o. Ä.

2. Experience Seeking (ES) (Erfahrungssuche):

Diese Skala bezeichnet und beschreibt die Suche von Erfahrungen durch einen nonkonformistischen Lebensstil, der z.B. Reisen, Musik aber auch Drogenkonsum beinhaltet.

3. Disinhibition (DIS) (Enthemmung):

Diese Skala erfasst die Tendenz zu sozial und sexuell enthemmten Verhalten, wie z.B. soziales Trinken oder Parties.

4. Boredom Susceptibility (BS)

(Die unangenehme Empfindlichkeit für Langeweile):

Diese Skala erfasst eine Abneigung gegen Wiederholung und Routine.

Zuckerman (1994, S. 385) beschreibt noch eine weitere Dimension, das impulsive Sensation Seeking (ImpSS).

Die Einordnung von ImpSS in das Gesamtkonzept gestaltet sich schwierig, da es einerseits als Subskala von SS angesehen werden kann, andererseits aber auch als Weiterentwicklung des Konzepts und als Teil eines breiter gefassten Trait - Merkmals verstanden werden kann. ImpSS ordnet Sensation Seeking, Impulsivität und Soziabilität einem gemeinsamen Verhalteskomplex zu, dem so genanntem „Approach“. Approach meint in diesem Zusammenhang ein „Auf- Objekte-(Lebewesen)- Zugehen“ (Möller & Huber, 2003, S. 18). Da die Integration verschiedener neurophysiologischer, neuroendokriner und neurobiochemischer Befunde von Zuckerman (1994, S. 22) selbst als problematisch angesehen wird, konstruiert er diesen Begriff . Das Konzept kann in Verbindung mit Impulsivität eher biowissenschaftlich fundiert werden. ImpSS fasst die Grenzen des Trait - Merkmals aber so weit, dass eine Abgrenzung zu anderen Konstrukten kaum mehr möglich ist. Durch den Begriff des ImpSS ist kein wirklich erkennbarer Unterschied zu den verschiedenen anderen Konzepten von Impulsivität (siehe Kapitel 2.5.1) oder Extraversion mehr gegeben. Daher wird ImpSS in einem weiteren Model von Zuckerman zu Psychoticism Unsocialised Sensation Seeking ausdifferenziert, um den Begriff einzugrenzen. Dieses Model ist allerdings stark klinisch und forensisch eingegrenzt und es ist umstritten, ob es sich noch als Erklärung für Persönlichkeitsunterschiede bei Menschen eignet, die weder delinquent sind, noch andere psychische Störung aufweisen. Insgesamt scheinen die Grenzen der verschiedenen Ausdifferenzierungen zu verschwimmen, was eine Präzisierung erschwert. Je nach Sachverhalt, könnte man also von verschiedenen Formen des SS sprechen, je nach dem ob es sich z. B. um klinische, forensische oder sportwissenschaftliche Inhalte handelt. Im weiteren Verlauf dieser Arbeit soll SS als „einfacher“ persönlichkeitspsychologischer Trait verstanden werden, der sich von „Impulsive Sensation Seeking“ und „Psychoticism Unsocialised Sensation Seeking“ abgrenzt.

2.4 Biopsychologische Fundierung des SS - Konzepts

Zuckerman (1994) unterstreicht den Anspruch, dass es sich bei SS um ein „basales“, psychologische und neurobiologische Befunde zusammenführendes (Persönlichkeits-)Merkmal mit genetischer Fundierung handelt. Zuckermann (1990) selbst stellt in Grundzügen ein Sieben-Ebenenschema vor, das den Aufbau biopsychologischer Persönlichkeitstheorien grob beschreiben kann und so als Grundlage für jeden Trait, als Basisdimension der Persönlichkeit, gelten soll. Das Schema kann wie folgt skizziert werden:

Ebene 1: Beschreibung des Merkmals.

Ebene 2: Beschreibung konsistenter Muster sozialen Verhaltens und habituelle kognitive Reaktion in bestimmten Situationen.

Ebene 3: Lerntheorien zu diesem Muster.

Ebene 4: Physiologische Besonderheiten, bzgl. des Merkmals.

Ebene 5: Besonderheiten biochemischer Systeme bzgl. des Merkmals. (z. B. Neurotransmitter, Enzyme, Hormone)

Ebene 6: Neurologische Systeme und Kerne des Merkmals.

Ebene 7: Genetische Informationen bzgl. des Merkmals.

In der Theorie des SS sind diese sieben Ebenen des Modells und ihre Verbindungen nicht vollständig und systematisch spezifiziert, bzw. ausgearbeitet. So liegen nach Brocke, Strobel & Müller (2003, S.30) gegenwärtig keine neuroanatomischen Befunde (Ebene 6), mit Bezug auf SS im engeren Sinne vor.

Auf den anderen biologischen Ebenen gibt es aber verschiedene Forschungsansätze, die versuchen physiologische Zusammenhänge für die individuellen Unterschiede im SS zu finden. Brocke et. al (2003) geben einen Überblick:

Psychophysiologische Ansätze (Ebene 4): Es wird angenommen, dass High Sensation Seeker ein niedrigeres tonisches Arousal-Niveau ( Teilaspekt des OLA) haben .

Neurochemische Ansätze (Ebene 5): Es wird angenommen Zusammenhänge von SS mit folgenden Systemen an: Dopamin, Serotonin, Noradrenalin, Monoaminoxidase (MAO), Geschlechtshormone, Endorphine.

Genetische Ansätze (Ebene 7): Es gibt Vermutungen, dass eine hohe oder niedrige Ausprägung von SS zum gewissen Teil erblich bedingt ist.

Es ist umstritten, ob die SS-Theorie physiologisch-empirisch belegt ist. Im Folgenden werden die wichtigsten Erkenntnisse kurz zusammengefasst:

2.4.1 Die psychophysiologische Ebene:

Weder in Untersuchungen durch Elektroenzephalografie (EEG) oder in Untersuchungen der elktrodermalen Aktivität (Hautwiderstand) konnten einheitliche Ergebnisse zum OLA gefunden werden. Auch die Befunde zu tonischen Herzraten-Maßen (HR) stützen diese Annahme nicht (vgl. Brocke et. al., 2003, S. 31).

So fanden etwa Ridgeway und Hare (1981) und Robinson und Zahn (1983) auch niedrige HR-Werte bei Personen mit hohen Sensation-Seeking-Werten im Sinne der Annahme. Auf der Basis der Befundlage insgesamt erscheint jedoch die Annahme unterschiedlicher tonischer Arousal – Niveaus von Personen mit hohen gegenüber niedrigen Sensation-Seeking-Werten nicht haltbar (Brocke, Strobel & Müller, 2003, S. 31).

Allerdings gibt es Hinweise, dass neuartige Reize mittlerer Intensität abhängig vom SS unterschiedliche Reaktionen auslösen. Neue Reize geringer Intensität führen bei den meisten Individuen zu einer HR – Abnahme, neue Reize hoher Intensität zu einer HR – Zunahme. Die Abnahme kann als Orientierungsreaktion, die Zunahme als Defensivreaktion oder Schreck-Reflex verstanden werden. High Sensation Seeker zeigen bei neuen Stimuli mittlerer Intensität eine Orientierungsreaktion, Low Sensation Seeker aber eine Defensivreaktion. Da dieser Effekt nur bei tatsächlich neuen Reizen auftritt, ist er auch nicht als Habituationseffekt zu erklären. Ähnliche Befunde konnten auch bei elektrodermalen Untersuchungen festgestellt werden, wenn die Art des mittleren und neuen Reizes persönliche Relevanz für die Versuchspersonen hatten. Nach Brocke et. al. (2003, S. 32) stützen diese Befunde, die postulierten interindividuellen Unterschiede bei der Ausbildung von Orientierungs- und Defensivreaktionen.

Auch bei speziellen EEG Untersuchungen, zur Darbietung von Reizen ansteigender Intensität, fand man Hinweise zum Zusammenhang mit SS. Dabei wurden sehr starke visuelle und auditive Reize (z.B. Blitze und laute Töne) dargeboten und es zeigten sich interindividuelle Unterschiede bei der Reaktion auf diese Stimuli: einige Personen reagieren mit einer Zunahme der ereigniskorrelierten oder evozierten Potential- (EP-) Amplituden (engl. Augmenting), andere mit einer Abnahme (engl. Reducing), wobei auch eine relativ geringe Zunahme der Amplitude als Reducing verstanden wird.

Augmenting / Reducing reflektiert somit individuelle Unterschiede in der kortikalen Reizverarbeitung, die zeitlich stabil sind [...] und daher als Trait – Maß aufgefasst werden können. Vor dem Hintergrund individueller Unterschiede in der Präferenz für intensive Reize, die Zuckerman im Zusammenhang mit Sensation Seeking postuliert, liegt ein Bezug von Augmenting/Reducing und Sensation Seeking nahe. (Brocke, Strobel & Müller, 2003, S. 32f).

Die Befundlage zu diesem Bezug ist allerdings nicht einheitlich. Brocke et. al. (2003, S.33f) verweisen in diesem Kontext auf mehrere Augmenting / Reducing- Untersuchungen, die zwar alle Hinweise, aber keine einheitlichen und replizierten Ergebnisse lieferten. Von besonderer Bedeutung sei in diesem Rahmen aber die Annahme einer primär serotonergenen Modulation von individuellen Unterschieden, nach denen Augmenting eine niedrige zentrale Serotonin - Aktivität widerspiegeln soll. Dies unterstütze Zuckermans Hypothese einer niedrigeren serotonergenen Aktivität bei Personen mit hoher SS Ausprägung (siehe unten: Neurochemische Ebene).

Brocke et. al. (2003, S.33) verweisen in diesem Kontext auf mehrere klinische Studien, die für eine Gültigkeit dieser Annahme sprechen, aber noch keine einheitlichen und zufrieden stellenden Ergebnisse zeigen. Auch wenn die Interpretation der Resultate sich aufgrund methodischer Mängel als schwierig erweise, spreche eine Reihe von Befunden für einen Zusammenhang von Augmenting / Reducing, zumindest mit Subskalen von SS und für individuelle Unterschiede in der serotonergenen Aktivität als vermittelnder Faktor.

2.4.2 Die Neurochemische Ebene:

Für einen kleinen Überblick soll im Folgenden kurz der Forschungstand zum Zusammenhang von SS mit den genannten Körpereigenen Substanzen erläutert werden.

2.4.2.1 Monoaminooxidase (MAO):

Eysenck (1983) behauptet, dass für die Unterschiedlichkeit in der Ausprägung des Merkmals sowohl erfahrungsbedingte als auch biologische Ursachen verantwortlich gemacht werden können. Er bezieht sich dabei auf Forschungsergebnisse von denen auch Zuckerman (1984) berichtet. Zuckerman (1984) stellte ein durchschnittlich geringeres Niveau einer neurochemischen Substanz (Monoaminooxidase, kurz: MAO), fest die sich hemmend auf Neurotransmitter auswirkt, die wiederum Aktivität und Emotionen regulieren. Auch nach Brocke et. al. (2003, S. 39), kann von einer gesicherten empirischen Basis für die Annahme einer niedrigen MAO-Aktivität bei Personen mit hohen SS-Werten ausgegangen werden.

2.4.2.2 Dopamin:

Brocke et. al. (2003) beschreiben die Funktion des Dopamin wie folgt:

Ein Verhaltensaktivierungs- oder Approach-System wird in einer Reihe von Modellen angenommen[...]. Zentrale Bestandteile dieses Systems sind dopaminerge Projektionen von der Area Ventralis Tegmentalis (VTA) zu Nucleus Accumbens, Amygdala und Hippocampus (mesolimbisches Dopaminsystem) sowie zu verschiedenen Regionen des Frontalkortex (mesokortikales Dopaminsystem) und dopaminergene Bahnen von der Substantia Nigra zu Nucleus Caudatus und Putamen (nigrostriatales Dopmaninsystem) [...]. Diese Systeme spielen eine wichtige Rolle bei Aufmerksamkeits-, Lern- und Gedächtnisprozessen sowie bei der Umsetzung motorischer Programme. Ihre Hauptfunktion kann als Verhaltensaktivierung in Antwort auf Hinweise für Anreize oder positive Verstärker oder allgemeiner als Vermittlung von Anreizmotivation zusammengefasst werden (Brocke et. al, 2003, S. 35).

Bei genauerer Betrachtung dieses Zitats scheint es, dass Dopaminsysteme für nahezu alle psychophysischen Phänomene verantwortlich gemacht werden können. Die Zusammenhänge von Dopamin auf die Funktionen des Körpers sind hochgradig Komplex und werden gegenwärtig noch nicht vollständig verstanden. Allein aus diesem Grund ist Vorsicht im Umgang mit dem Thema geboten. Außerdem werden Zusammenhänge von Dopamin- (und Serotonin-)Systemen für eine Vielzahl psychischer Modelle herangezogen werden.

Auch Brocke et. al (2003, 35ff.) verweisen auf die Komplexität dieses Kontextes und kommen zu dem Schluss, dass die Annahme einer hohen Dopamin-Aktivität bei Personen mit hoher SS-Ausprägung durch aktuelle Forschungsansätze nur bedingt gestützt werden kann.

Insgesamt lässt sich festhalten, dass individuelle Unterschiede in der Aktivität und Ansprechbarkeit dopaminergener Systeme zwar eine wichtige Rolle bei der Vermittlung von Unterschieden in Verhaltensdispositionen bzw. Persönlichkeitsdimensionen mit Bezug zu Sensation –Seeking spielen, dass jedoch ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen dopaminer Aktivität und Ansprechbarkeit auf der einen und individuellen Unterschieden in Sensation Seeking auf der anderen Seite zumindest im Humanbereich nur vereinzelt und allenfalls für Subkonstrukte von Sensation Seeking aufgezeigt werden konnte (Brocke et. al.. 2003, S. 37).

Eine Ausnahme stellen Ergebnisse auf molekulargenetischer Ebene dar, die weiter unten (genetische Ebene) erläutert werden.

2.4.2.3 Serotonin:

Bei einer Betrachtung von konkreten Zusammenhängen zwischen serotonerger Funktion und SS treten ähnliche Probleme wie beim Dopamin auf. Auch hier zählen Brocke et. al. (2003) eine Anzahl von Studien auf, die mit Serotonin und SS in Verbindung gebracht werden können und einen Zusammenhang nahe legen. Bisher fehlt aber der empirische Beleg.

Die [...] angeführten Befunde sprechen somit im Ganzen betrachtet für eine Rolle von Serotonin bei der Vermittlung von Sensation Seeking. Hinsichtlich der Gültigkeit der gerichteten Annahme einer geringen Serotonin – Aktivität bei Personen mit hoher Ausprägung ins Sensation Seeking scheinen jedoch durchaus Zweifel angebracht (Brocke et. al., (2003, S. 38).

2.4.2.4 Noradrenalin:

Auch bei der Betrachtung des Botenstoffes Noradrenalin zeigt sich dieselbe Problematik wie bei Dopamin und Serotonin beschrieben. Befunde zum Zusammenhang zwischen noradrenergener Aktivität und Sensation Seeking stammen primär aus Studien zu Niveaus von Noradrenalin und seinem Hauptmetaboliten (Zwischenprodukten), sowie von Dopamin-Beta-Hydroxylase (DBH). Dabei wurden in einigen Arbeiten (z.B. Balenger et al., 1983) negative Korrelationen zu SS festgestellt.

Dies stützt die Annahme, einer niedrigen Noradrenalin – Aktivität bei hohen Sensation Seeking und scheint darauf hinzudeuten, dass niedrigen Noradrenalin – Niveaus bei Personen mit hohen Werten in Sensation Seeking zum Teil zurückzuführen sein könnten auf eine verminderte Aktivität von DBH, das Noradrenalin aus Dopamin synthetisiert (Brocke et. al, 2003, S.38f.)

Allerdings gibt es auch widersprüchliche Ergebnisse. Gerra et al. (1999) fanden z.B. positive Korrelationen von Noradrenalin (im Blutplasma) mit Sensation Seeking und „Novelty Seeking“, einem ähnlichen Konzept wie das des SS (siehe Kapitel 2.5.5). Insgesamt lässt nach Brocke et. al (2003) die Datenlage keine sinnvolle Bewertung der Validität der Annahme einer niedrigen noradrenergenen Aktivität bei Personen mit hoher SS-Ausprägung zu.

2.4.2.5 Sexualhormone:

Daitzman & Zuckerman (1980) fanden bei männlichen Personen mit erhöhten Disinhibition-Werten einen höheren Level von Testosteron und Östrogen, was mit dem Befund korreliert, dass Sensation Seeker über ein höheres Ausmaß und eine größere Variation sexueller Erfahrungen berichten. Diese Befunde konnten nach Brocke et. al. (2003, S.40) repliziert werden.

2.4.2.6 Endorphine:

Es liegen kaum Studien zum Einfluss der Endorphinaktivität und auf SS vor, obwohl auch endogene Opiate (Endorphine) genauso wie Dopamin (z. B. nach Van Ree et. al., 2000; Solms, 2003) eine bedeutende Rolle bei positiver Verstärkung, Suchtverhalten und Anreizmotivation haben. Nach Brocke et. al. (2003) verdient der mögliche Einfluss von Endorphinen auf SS weitere Beachtung in der zukünftigen Forschung.

2.4.3 Die genetische Ebene:

Auf der (populations-)genetischen Ebene gibt es empirische Ergebnisse, die einen Erklärungsansatz für individuelle Unterschiede in SS bieten. So könne nach Schneider und Rheinberg (1996) aufgrund von Zwillingsuntersuchungen eine genetische Basis als sicher angenommen werden und auch Brocke et. al (2003, S. 42) berichten in ihrem Forschungsüberblick, dass trotz methodischer Mängel in den jeweiligen Studien, individuelle Unterschiede in SS zu einem bedeutendem Teil durch genetische Faktoren beeinflusst werden. Allerdings gibt es auf molekulargenetischer Ebene noch keine ausreichenden Ergebnisse. Ebstein et. al. (1996) und Benjamin et. al. (1996) fanden einen Zusammenhang zwischen einem Polymorphismus, in der dritten kodierten Region (Exon III) des Dopamin-D4-Rezeptor-Gen (DRD4 Exon III) und dem „Novelty Seeking“. Die Ergebnisse konnten aber bisher nicht auf SS übertragen werden. Dennoch belegen sie die Annahme, dass es einen Zusammenhang zwischen SS und Dopamin gibt.

2.5 Beziehungen zu anderen Persönlichkeitskonstrukten

In der Fachliteratur werden oft Zusammenhänge von SS mit anderen Persönlichkeitskonstrukten oder bestimmten Verhaltensweisen erwähnt, deren wissenschaftliche Begründungen aber nicht immer ausreichend dargestellt werden. Für einen Überblick werden im Folgenden Persönlichkeitskonstrukte und Verhaltensweisen genannt, bei denen Zusammenhänge mit SS entdeckt wurden.

2.5.1 Impulsivität

Es besteht ein Zusammenhang zwischen SS und Impulsivität. Impulsivität ist eine von J. Kagan stammende Bezeichnung für einen „kognitiven Stil“, der sich in der raschen, jedoch unpräzisen Informationsnutzung bei Wahrnehmungs- und Denkaufgaben zeigt, sobald es auf die besondere Beachtung geringfügiger Details ankommt. Impulsivität steht der „Reflexivität“ polar gegenüber, die als Inbegriff überlegter, Details berücksichtigender und daher verzögerter Urteilsabgaben verstanden werden kann. Impulsivität wird eine Strategie der Globalanalyse zugeschrieben, die z. B. schnelle Antworten mit hoher Fehlerquote zur Folge hat. Klinisch kann Impulsivität als Verhaltensdisposition definiert werden, die zu „überwältigend durchschlagenden (ausgeführten), unreflektierten Handlungen als Folge eines freiheitseinschränkenden imperativen Dranges führt“ (Scharfetter, 1991, S. 276). Im Konzept der „Big Five“ könnte man Impulsivität der „Gewissenhaftigkeit“ gegenüberstellen, denn nach Watson et al. (1994), gehen „gewissenhafte“ Personen planerisch und selbstdiszipliniert vor, verfolgen langfristige Ziele und zeigen insoweit eine Präferenz für ein analytisches Entscheidungsverhalten, das dem funktionalem Verhaltenstil des „Impulsiven“ gegenüber gestellt werden kann.

Von allen mit SS in Zusammenhang gebrachten Persönlichkeitsmerkmalen kann, nach Möller & Huber (2003), am ehesten Impulsivität auf ein relativ konsistentes Muster neurobiologischer Befunde bezogen werden. So gebe es Erkenntnisse, dass impulshafte Verhaltensstörungen mit einer Fehlfunktion der serotonergenen Neurotransmitter zusammenhängen. Außerdem würden Zwillingsuntersuchungen darauf hinweisen, dass Impulsivität und SS wesentlich genetisch fundiert werden (siehe Kapitel 2.4) und gemeinsame biologische Grundlagen haben dürften.

In einem Modell von Impulsivität mit Unterscheidung von impulsiven Antrieb und Impulskontrolle geht Herpertz (2001) unter anderem davon aus, dass es eine vorwiegend dispositionell bestimmte affektive Hyperreagibilität auf Stimuli und einen hohen Verhaltensantrieb im Zusammenhang mit Stimuli gäbe. In diesem differenziertem Modell [...] wäre Disinhibition in Zusammenhang mit verminderter Impulskontrolle, Thrill and Adventure Seeking in Zusammenhang mit einem erhöhten Verhaltensantrieb zu sehen. Experience Seeking wäre dann möglichwerweise nur mehr dimensional von jenem „impulsiven Antrieb“ und seiner gesteigerten Reagibilität auf Stimuli verschieden (Möller & Huber, 2003, S. 18).

Zuckermann (1994) thematisiert die Beziehungen zwischen SS und Impulsivität mit seinem Konstrukt des ImpSS, er ordnet dabei beides seinem Verhaltenskomplex des „Approach“ zu (siehe Kapitel 2.3). Approach (Annäherungsverhalten) steht polar dem sozialen Rückzugsverhalten gegenüber. SS soll dabei die „optimistische Tendenz“ der Exploration neuer Objekte und Situationen kennzeichnen. Impulsivität steht in diesem Kontext für eine rasche Entschlussbildung[4].

2.5.2 Hypomanie

Zuckerman et. al (1966) fanden einen signifikanten positiven Zusammenhang von SS und Hypomanie, als sie damals eine Befragung mit dem MMPI (Minnesota Multiphasic Personality Inventory), einem sehr häufig verwendetet Persönlichkeitstest, und der SSS durchführten. Hypomanie ist eine leichte Form der Manie.

Manie ist die Bezeichnung für ein Zustandsbild, das durch das Vorherrschen einer unbegründet heiteren, optimistischen Stimmungslage gekennzeichnet ist, die mit Gefühlen des uneingeschränkten körperlichen Wohlbefindens, der Selbstüberschätzung sowie mit einem allgemein gesteigerten Aktivitätsdrang einhergeht und nicht selten in unkontrollierte, enthemmte Verhaltensweisen und/oder erhöhte Irritierbarkeit, Reizbarkeit [...] einmündet (Fröhlich, 2002, S. 290).

Die Ergebnisse konnten nach Möller & Huber (2003, S. 8) später repliziert werden, Zuckerman (1968) beschreibt den „hypomanen“ Sensation Seeker allerdings als Extremtypus.

2.5.3 Psychotizismus, Delinquenz, Hostilität

Der Begriff Psychotizismus ist aus heutiger Sicht missverständlich, legt er doch eine Verwandtschaft zu psychotischen Störungen nahe. Neben Extra-/Introversion, Neurotizismus und Intelligenz ist er ein Faktor in Eysencks Dimensionssystem zur Beschreibung der Persönlichkeit. Eysenck & Eysenck (1972) charakterisieren den Begriff mit „cold, impersonal, hostile, lacking in empathy, unfriendly, untrustful, rude, unhelpful, unemotional, lacking in human feeling“. Diese inhaltliche Charakterisierung legt einen Zusammenhang des Begriffs mit Delinquenz nahe.

Eysenck & Eysenck (1987) fanden einen negativen korrelativen Zusammenhang der Faktoren Boredom Suceptibility und Experience Seeking mit Psychotizismus, sowie einen Zusammenhang von Thrill and Adventure Seeking und Disinhibition mit Extraversion. Nach Möller & Huber (2003) legen diese Untersuchungen nahe, dass zumindest eine Gleichsetzung von Psychotizismus und SS unzutreffend wäre.

Zuckerman (1993) sieht Psychotizismus deutlich konvergent mit der eigenen Dimension des impulsiven SS als „Major Factor“ der psychobiologischen Persönlichkeitsforschung. Der behauptete Zusammenhang mit Delinquenz ist für das „herkömmliche“ Model des SS nach Möller & Huber (2003) nicht belegbar, für das ImpSS-Model allerdings schon , wie in einer Studie mit Gefängnisinsassen gezeigt wurde. In dieser Studie (Knust & Stewart, 2002) korreliert ImpSS mit Psychotizismus und Hostilität (Feindseligkeit). Es ist allerdings schon lange bekannt, dass es Zusammenhänge zwischen Impulsivität, Psychotizismus, Hostilität und Delinquenz gibt (siehe z.B. Eysenck, 1977), daher stellen Möller & Huber (2003, S. 15) die berechtige Frage, inwieweit es denn überhaupt eines Rückgriffs auf ImpSS als einer weiteren Variable bedarf, um bei delinquenten Personen sozial abeichendes Verhalten zu erklären. Selbst Zuckerman (2002) thematisiert ImpSS mit Dissozialiät, was dem Ursprung seines Konzepts widerspricht. Denn nicht alle Sensation Seeker sind zwangsläufig delinquent oder verhalten sich stark sozial abweichend.

2.5.4 Psychopathy

Die forensisch-psychologische und –psychiatrische Diskussion wird im Bereich der Prognose- und Therapieforschung gegenwärtig weitgehend durch das von Hare et al. eingeführte Psychopathy-Konstrukt bestimmt [...]. Dieser Begriff greift auf die im angloamerikanischen Raum vorhandene Tradition von Moral Insanity. Keinesfalls dar also im Sinne der Tradition der deutschsprachigem Psychiatrie angenommen werden, es handele sich um einen Oberbegriff für abnorme Persönlichkeiten oder Persönlichkeitsstörungen um heutigen Sinn (Möller und Huber, 2003, S.16).

Inhaltlich erinnert der Begriff an Psychotizismus, denn der „Psychopath“ wird durch seinen Mangel an Empathie, sein Defizit der Gewissensbildung charakterisiert, aber durch „Erlebnishunger“ und das ständige Gefühl der Langeweile.

Möller & Huber (2003) berichten, dass signifikant positive Korrelationen von Psychopathy und ImpSS gefunden wurden. In forensischen Untersuchungsgruppen mit hoher Ausprägung von Psychopathy wurden zudem verschiedene komorbide Befunde festgestellt, in etwa 56% dieser Untersuchungsgruppe sollten Persönlichkeitsstörungen vorhanden sein. Auf der Trait-Ebene wurde in diesen Gruppen häufig Impulsivität, Hostilität, Neurotizismus und auch SS nachgewiesen (Longado-Stadler, Knorring & Hallmann, 2002), was erneut die Frage offen lässt, ob diese verschiedenen Befunde miteinander verbunden sind oder nicht. In diesem Kontext erwähnen Möller & Huber (2003) eine Studie an männlichen Erwachsenen, in der Impulsivität gepaart mit Psychopathy oder gepaart mit ImpSS als bester Prädiktor späterer Delinquenz gefunden wurde. ADHS gepaart mit ImpSS hingegen trugen in dieser Studie nur in deutlich geringerem Umfang zu späterer Delinquenz bei. Daher sei anzunehmen, dass SS durchaus als ein von Psychopathy weitgehend unabhängiges Konstrukt anzusehen ist – der High Sensation Seeker sei nicht zwangsläufig auch ein „Psychopath“.

2.5.5 Novelty Seeking

Dieser Begriff ist mit SS semantisch verwandt, und von ähnlichem (möglicherweise gleichem) Bedeutungsinhalt. Novelty Seeking wirkt sprachlich zunächst weniger auf Verhaltensextreme ausgerichtet und steht scheinbar der Offenheit für neue Erfahrungen oder dem Experience Seeking, als Subskala des SS-Konzepts, näher. Cloninger (1987) führte diesen persönlichkeitspsychologischen Ansatz ein, der ähnlich dem SS- Konzept eine Integration psychologischer, neurobiologischer und genetischer Faktoren zu sein behauptet. Novelty Seeking ist dabei einer von drei Traits (neben Harm Avoidance und Reward Dependence). So solle sich jede Persönlichkeit wie Persönlichkeitsstörung im Sinne eines basalen Beschreibungsansatzes aus einer Kombination dieser Faktoren erklären lassen. Trotz der offenkundigen Begriffsentsprechungen wird auf die SS-Forschung allerdings kein Bezug genommen, da Cloninger als Psychiater eine andere Motivation für die Entwicklung seines Konzepts hatte (er wollte einen Ansatz entwickeln, der sich als globale Persönlichkeitsdiagnostik eignet).

Die Begriffe Novelty Seeking und SS werden in der Literatur teilweise synonym gebraucht und auch die neurophysiologischen Befunde sind nach Möller und Huber (2003) mit denen von SS vergleichbar. Ähnlich wie SS wird auch Novelty Seeking als Prädiktor von Substanzmissbrauch, sozial schlecht angepasstem Verhalten, risikogeneigten Sexualpraktiken usw. gesehen.

2.5.6 Weitere Zusammenhänge

Zuckerman selbst hat einige Studien über Wahrnehmungspräferenzen bei High Sensation Seekern durchgeführt und verweist auch auf entsprechende experimentalpsychologische Untersuchungen anderer Autoren (Zuckerman, 1994, 199f.) Demnach hat SS hat Einfluss auf das ästhetische Urteil von Personen und es soll eine gewisse Verwandtschaft zur „kreativen Persönlichkeit“ vorhanden sein. So bevorzugen Personen mit hohen SS-Werten einen eher komplex-abstrakten Darstellungsstil in Design und Kunst, zeigen ein weites musikalisches Interesse und eine höhere Ambiguitätstoleranz (Mehrdeutigkeitstoleranz).

Auch andere Untersuchungen unter Einbezug verschiedener (ethnischer) Kulturen haben nach Möller & Huber (2003) den Einfluss auf das ästhetische Urteil bestätigt.

Interessant ist auch, dass Personen mit einer hohen Ausprägung von SS signifikant häufiger atheistische oder agnostische Positionen vertreten (Zuckerman, 1994, S. 118), durch Zwillingsuntersuchungen wurde nach Huber & Möller (2003) ein negativer Zusammenhang von SS und Religiosität bestätigt.

2.6 Zusammenfassung und Kritik

Nach Möller und Huber (2003) bringen die Kerninhalte des SS-Konzepts in ihrer Zusammenfassung sehr gut auf den Punkt. Demnach ist SS ein motivationspsychologischer Begriff und folgende Merkmale sind im Sinne einer Erwartungs-Wert-Theorie der Motivation von Bedeutung:

1. Bestimmte Ereignisse oder Zustände besitzen positive oder negative Valenz. Für den von Zuckerman charakterisierten Typus des Sensation Seekers besitzen monotone, reizarme Situationen eine negative Valenz. Von positiver Valenz sind durch ihre Novität und Komplexität, Novität und Wandelbarkeit charakterisierbare Stimuli.
2. Diese Tatsache ist im Organismus repräsentiert: Es bestehen deutliche interindividuelle Unterschiede in der Valenzierung dieser Stimuli, abhängig von konstitutionellen, von Alter, Geschlecht, Kulturzugehörigkeit sowie individuellen Lernerfahrungen abhängigen Merkmalen[...].
3. Der Organismus besitzt ein System von Erwartungen zu den möglichen Konsequenzen verschiedener Handlungen und eigenen Bewältigungskompetenzen: Der Sensation Seeker lässt sich durch ein Attributionssystem charakterisieren, das von Kontrollierbarkeit und geringer Gewichtung negativer Handlungskonsequenzen ausgeht. (Huber und Möller, 2003, S. 22).

Diese Annahmen sind aus verschiedenen Perspektiven kritisch zu betrachten. Die in dieser Arbeit aufgeführten physio-, neuro- und biopsychologischen Befunde erlauben (bisher) kein einheitliches Bild. Zwar gibt es viele Ansätze, die Annahmen zu biopsychologischen Zusammenhängen stützen, wissenschaftlich akzeptierte Belege fehlen aber größtenteils. Im psychophysiologischen Bereich der Grundlagen von SS kann eine Reihe von Studien mit elektrodermalen und HR- Parametern angeführt werden, die die Annahmen einer besonderen Empfänglichkeit für neuartige Reize bei Personen mit hoher SS- Ausprägung stützen. Eine weitere Ausnahme stellen die Forschungsergebnisse über SS im Zusammenhang mit Monoaminooxidase, Testosteron, und Östrogen dar. Eine genetische Fundierung des Konzepts gilt ebenfalls als gesichert, auch wenn auf molekulargenetischer Ebene noch nicht alle Zusammenhänge vollständig verstanden werden.

[...]


[1] „The only thing constant in the life of high sensations seekers is change“(Zuckerman, 1994, S.374).

[2] Zum Beispiel: Arnett (1994) oder Gniech, Oetting & Brohl (1993)

[3] Gniech, Oetting & Brohl (1993) entwickelten Beispielsweise ein weiteres Model, das sich aus den Skalen von Zuckerman ableitet und weiter ausdifferenziert.

[4] „Rapid decision making in deciding to approach“ (Zuckerman, 1994, S. 385).

Ende der Leseprobe aus 92 Seiten

Details

Titel
Sensation Seeking und Stressverarbeitungsstile bei Bergsteigern
Untertitel
Eine empirische Analyse am Mustagh Ata (7546m) und Pik Lenin (7134)
Hochschule
Technische Universität Dortmund  (Institut für Sport und Sportwissenschaft)
Note
2,7
Autor
Jahr
2009
Seiten
92
Katalognummer
V124404
ISBN (eBook)
9783640307548
ISBN (Buch)
9783640305872
Dateigröße
1631 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Sensation, Seeking, Stressverarbeitungsstile, Bergsteigern
Arbeit zitieren
Henry Kirsten (Autor:in), 2009, Sensation Seeking und Stressverarbeitungsstile bei Bergsteigern, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/124404

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